Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Eine Verzählung vom Vergreisen und Versprachen

Binsenweisheit des Tages: Wir werden alle nicht jünger. Das gilt auch für Belgien. Vor allem in Flandern, so meldete vor einiger Zeit der Standaard, nimmt der Anteil der Rentner an der Bevölkerung rapide zu. Vlaanderen vergrijst. Eindrucksvoll sieht man das auf der Karte – Brüssel und Wallonien scheinen nicht so schnell zu altern. Auf Deutsch spricht man am ehesten von überaltern. Ein Begriff, der sehr drastisch andeutet, es sei irgendwann zu viel mit den ganzen Alten. Alternativ dazu, auch nicht viel freundlicher, könnte man sagen: Das Land vergreist. Womit man an vergrijzen wieder sehr nah dran wäre, auch etymologisch. Der deutsche Greis und die niederländische Farbe grijs teilen die gleiche Wurzel. Die Analogie ist simpel und liegt auf der Hand, denn wer greis ist, wird meistens auch grijs. Das Adjektiv greis ist aus dem Niederdeutschen in den hochdeutschen Standard eingegangen und genau deshalb dem Niederländischen so auffallend ähnlich.

Auch Asien vergreist: „Vier Unsterbliche grüßen die Langlebigkeit“. (商喜, PD)

Vergrijzen bezeichnet dennoch den Vorgang, grau zu werden und nicht den Vorgang, greis zu werden. Man müsste also um genau zu sein übersetzen: Flandern ergraut. Das klingt schon etwas freundlicher. Wieder einmal liegt der kleine Unterschied zwischen vergrijzen und ergrauen im v- am Wortanfang. Das er- drückt eine Zustandsänderung aus, die das Niederländische üblicherweise mit ver‑ angibt. Das deutsche ver- dagegen fühlt sich stärker an wie eine Entwicklung hin zum Übermaß oder zur vollständigen Zustandsänderung. Ein Land, das vergreist ist, besteht (zumindest gefühlt) nur noch aus Greisen oder hat jedenfalls zu viele davon.

Der Artikel im Standaard fußt auf dem vergrijzingscoëfficient der belgischen Bevölkerung. Ein entsprechender Überalterungskoeffizient scheint sich in der deutschsprachigen Demographieforschung bisher nicht durchgesetzt zu haben. Aber wer weiß, welches deutsche Wortmonstrum man in dieser Ecke der Wissenschaft stattdessen benutzt, das ich vielleicht nur nicht gefunden habe…

Wie man auf den vergrijzingscoëfficient kommt, ist nicht besonders kompliziert. Man prüft in der Bevölkerungsstatistik, wie viele Ältere über 67 Jahre auf genau 100 Jugendliche unter 18 kommen. Man darf sich dabei nur nicht verzählen, denn das wäre wieder eine Änderung zum Unerwünschten. Was dagegen hin und wieder sehr erwünscht ist, ist das Erzählen. Das machen viele der Schriftsteller/innen besonders gut, die wir kürzlich mit unserer Serie und unserer Ausstellung in der Philologischen Bibliothek vorgestellt haben. In meinem heimatlichen Dialekt hingegen verzählen wir auch alles Mögliche: Geschichten, Tratsch oder Lügen. Das standarddeutsche er- ist wieder ein saarländisches ver-. Natürlich genauso ein niederländisches (vertellen) oder ein niederdeutsches. Zum Beispiel im Westmünsterland, wie man in unserem Online-Wörterbuch auf NEON nachlesen kann. Dort findet sich der ebenso trockene wie wahre Spruch:

Well fain vertällen kann, de kann ook fain leegen.

Wer gut erzählen kann, der kann auch gut lügen.

Auch wer kein Platt kann, versteht den Satz vielleicht mit etwas Nachdenken. Und falls nicht, haben wir ja zum Glück eine Übersetzung, eine vertaling. Ursprünglich war übrigens auch das vertalen nichts anderes als das vertellen, gewissermaßen ‚etwas zur Sprache bringen‘ oder ‚in Sprache kleiden‘. Erst viel später ging die Bedeutung vom bildlichen Versprachlichen zum Versprachen über, zum Übertragen von einer Sprache in die andere. Spätestens dann war es vorbei mit dem ver- als Zustandsänderung zum Schlechten. Einem wirklich guten vertaler gelingt es, in der Zielsprache auch ein guter verteller zu sein. Deshalb war es uns wichtig, in unserer Ausstellung Wat wij delen auch die Übersetzer/innen der Werke zu nennen, die wir vorstellen wollten. Zugegeben, ein bisschen Stolz ist auch dabei. Denn im Laufe der Jahre hat unser Institut eine ganze Reihe erfolgreicher Übersetzer/innen hervorgebracht, die dafür sorgen, dass der Weg vom Niederländischen ins Deutsche alles andere ist als eine Zustandsverschlechterung. Diese talentierten Federn sind noch lange nicht vergreist und haben dennoch für ihr Werk schon längst Würdigung verdient. Deshalb werden wir einige von ihnen in unserer nächsten Serie Alumnis laus vorstellen.

Appeltjes van oranje – bis

U weet nu hoe appeltjes van oranje eruit zien. Maar zeg me hoe u die zelf noemt, en ik zeg u waar u geboren bent!

Kan dat? Het woord dat u gebruikt geeft veel over u prijs. Of u nu Duits spreekt of Nederlands.

Kiest u voor Orange? U kiest voor het Standaardduits. Als u dit woord zo’n dertig jaar geleden ook al, bijvoorbeeld in de lagere school gebruikte, bent u wellicht opgegroeid ten zuiden van de Grote Rivieren. De Duitse versie van de Grote Rivieren, uiteraard, die Duitsland in een noordelijke en zuidelijk deel opdelen. Hier heet de grens de Mainlinie, spottend ook de Weißwurstäquator, in de linguïstiek de Spierse linie (Speyerer Linie). Het is een grens die verwijst naar een historisch vaak verschuivende grens tussen verschillende hoofdinvloedsferen (bijvoorbeeld Pruisen versus Habsburgers).

J. S. Elsholtz: Diaeteticon Oder Neues Tischbuch, 1682 (PD Old)

Intussen trekt de Orange zich niets meer aan van die grens en heeft ze zich over heel Duitsland verspreid. Een duidelijk voordeel dat dit woord heeft, is dat het veel mensen chiquer in de oren klinkt dan de pendant, Apfelsine.

Als u toch voor Apfelsine kiest, bent u waarschijnlijk geboren ten noorden van de Main. Op deze kaart ziet u de verspreiding van Orange en Apfelsine in 2004/2005. De Apfelsine heeft het hard te verduren, en heeft in heel het Duitstalige gebied concurrentie gekregen van de Orange. Als u fan bent van underdogs, gebruik dan voortaan wat vaker Apfelsine.

Of appelsien. Want ook in het Nederlands heeft deze kranige dame het hard te verduren. Hoewel ze adelsbrieven kan voorleggen die veel verder teruggaan dan die van haar concurrente, de sinaasappel, is het gebruik van appelsien bijna uitsluitend beperkt tot het Belgisch Nederlands.

Sinaasappel is ontstaan als woordmetathese, dat wil zeggen dat de twee delen van appelsien omgekeerd werden en zo een nieuw woord ontstond. In het begin werden de sinaasappelsprekers wellicht op hoongelach onthaald – een vernieuwing wordt nogal vaak als een taalfout aanzien. Dat kennen we toch uit andere contexten (Hun hebben!)… Maar na een tijdje werd sinaasappel het gewone woord, tenminste in Nederland, en is appelsien een van de typisch Belgisch-Nederlandse woorden geworden, en daarom het ongewonere woord. Dit harde lot deelt de appelsien met de Duitse Apfelsine, een woord dat overigens via het Nederlands in het Duits kwam. Een dubbele underdog, dus.

Ook de pompelmoes heeft het hard te verduren (einen schweren Stand haben) door de concurrerende grapefruit. Red eens een citrusvrucht!

Het Wilhelmus? De Wilhelmus?

Die niederländische Nationalhymne hat nicht nur eine bewegte Geschichte, sondern ist überdies auch eine Quelle von allerlei Verwechslungen. Zunächst stolpert man beim Zuhören oder Lesen über die ersten beiden Verse:

Wilhelmus van Nassouwe

In der Sint-Janskerk in Gouda kommt Wilhelm von Oranien etwas farbenfroher daher als seine Hymne vermuten lässt. (J. Köhler, CC-BY-SA-3.0)

ben ik, van Duitsen bloed

Nicht nur die Betonung der deutschen Herkunft des alten Monarchen mag hierzulande überraschend klingen – erst recht weil es zur Zeit dieses Wilhelm von Nassau noch kein Deutschland im heutigen Sinne gab. Auch die Aussage in der ersten Person ist bemerkenswert. Nationalhymnen neigen von Natur aus gerne zu Texten mit Selbstaussagen: Wie treu bin ich gegenüber meiner Nation, die doch von allen die beste ist. Aber sich selbst per Liedtext mit Wilhelm von Oranien zu verschmelzen ist doch ein besonders starker Akt der Identifizierung mit Land und Monarchie. Erst recht weil das Lied in der dritten Strophe auch noch diejenigen anspricht, die es eigentlich singen sollten:

Lijdt u, mijn onderzaten
die oprecht zijt van aard,
God zal u niet verlaten,
al zijt gij nu bezwaard.

In der Rolle als Wilhelm singt das Volk sich quasi selbst an. Vielleicht wegen dieser seltsamen Personenkonstellation wird die dritte Strophe selten gesungen.

Außerdem verwirrend: Wie heißt denn nun die Nationalhymne? Natürlich het Wilhelmus, denn es ist schließlich het volkslied der Niederlande. Es droht wieder einmal die Falsche-Freunde-Falle: das volkslied ist die Nationalhymne, also kein Volkslied. Der Unterschied liegt im Detail und zudem – wie sollte es anders sein – zusätzlich im Diminutiv. Auf Niederländisch kann ein traditionell gesungenes Lied durchaus een volkslied sein, aber hét volkslied ist in jedem Fall die Hymne. Wenn der Unterschied besonders deutlich werden soll, kann man das traditionelle Liedgut auch unter volksliedje fassen. Wer het Wilhelmus als volksliedje bezeichnet, steht zwar nicht unbedingt sofort wegen Majestätsbeleidigung mit einem Fuß im Knast, schlägt aber zumindest einen antinationalistischen Ton an.

Trotzdem mag es seltsam klingen, wenn man bei das Wilhelm-Lied den zweiten Teil des Kompositums weglässt und nur noch das Wilhelm übrig ist. Es hat nichts mit Gender-Gerechtigkeit zu tun, dass es neben het Wilhelmus auch noch de Wilhelmus gibt. Denn de Wilhelmus hat keinen niederländischen Artikel, sondern einen luxemburgischen. Die Nationalhymne für das Land an sich ist Ons Heemecht (‚Unsere Heimat‘), während de Wilhelmus die Hymne für den Großherzog ist. Die Melodie des luxemburgischen Wilhelmus ist anders, der Text seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch, aber insgesamt ist der getragene, komplexe Rhythmus vergleichbar. Und auch der Wilhelm ist derselbe: der von „deutschem“ Blut – trotz lateinischer Endung –, auf den sich Luxemburger und Niederländer gemeinsam berufen. Fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch war der König der Niederlande in Personalunion zugleich Großherzog von Luxemburg, also stets ein Nassauer, dessen Urvater man mit einem Wilhelmus ehrte. So kommt es, dass beim Staatsbesuch von Beatrix in Luxemburg das Orchester zuerst de Wilhelmus spielte (für das eigene Staatsoberhaupt) und danach het Wilhelmus (für den Staatsgast).

Was wir teilen | Wat wij delen – 8

Flandern und die Niederlande sind gemeinsam die diesjährigen Ehrengäste der 68. Frankfurter Buchmesse.
Wir stellen unsere Favoriten vor.

 

Könnte Liebe sein | Lijken op Liefde (1997)
Astrid H. Roemer, aus dem Niederländischen von Christiane Kuby

 

Es ist vielsagend, dass man Lijken op Liefde auch mit Liebe, unter Leichen begraben hätte übersetzen können.

VitrineRoemer (2)

Was wir teilen – Wat wij delen Ausstellung Philologische Bibliothek

Cora Sewa geht am 8. Dezember 1999 auf Reisen, um die Wahrheit über den Mord an einer schwangeren Frau sowie über den ungeklärten Tod von Onno Sewa – dem weißen Adoptivbruder ihres Mannes – zu erfahren. Die Reise, die sie nach Rotterdam, London, Miami und Willemstad (Curaçao) führt, bestreitet sie aus dem Schweigegeld, das sie in den 70er-Jahren von ihrem Arbeitgeber für das Waschen des Leichnams der ermordeten Schwangeren erhalten hatte. Es wird eine Reise in die Vergangenheit.

Zur gleichen Zeit findet in Paramaribo ein Tribunal statt, das die Wahrheit über die Dezembermorde von 1982 ans Licht bringen soll. In Suriname leben nebst Indianern u.a. die Nachkommen von Sklaven und Sklavenhaltern, von Indern, Javanern, Chinesen sowie Nachkommen aus (un)ehelichen Beziehungen all dieser Menschen.
An der Schwelle zum neuen Jahrtausend sind alle irgendwie miteinander verbunden – und niemand ist unschuldig.
In ihrer Romantrilogie, deren zweiter Teil Könnte Liebe sein ist, entwirft die 1947 in Paramaribo geborene Autorin ein eindrucksvolles Bild von dem seit 1975 unabhängigen Suriname.

Johanna Ridderbeekx

Neen is neen!

Njet betekent meer dan nee, dat las u hier al. Naar aanleiding van het strenger maken van de wet op seksuele misdrijven in Duitsland publiceerde deredactie.be de kop: „Neen is neen!“ Voor achtergrondinformatie en duiding van de wet, die hier momenteel voor een groot sociaal debat zorgt, zie bijvoorbeeld Die Zeit of Der Spiegel).

Foto: Joost J. Bakker (CC-BY-2.0)

Voor mij waren neen en nee lang synoniemen, zoals ook in het artikel van De Standaard. Ik had nooit enige restrictie in het gebruik geleerd of aangevoeld, en vermoed dat ik ook in mijn eerste colleges taalverwerving de twee als synoniem aangeboden heb.

Tot ik een stukje van Paulien Cornelisse las*,waarin ze beschreef hoe ouders in de trein, ergens tussen Antwerpen en Brussel, tegen hun kleuter „neen!“ zeiden. En dat ze dat hilarisch vond, die gekke Belgen die nog steeds Nederlands uit de zeventiende eeuw spreken!

Natuurlijk moet je als taalwetenschapper daar iets tegen inbrengen. Een klein college met als bottom line: het is niet omdat het in Nederland niet meer gebruikelijk is, dat het ook in Vlaanderen automatisch ouderwets is – denk aan ge/gij. Je eigen ervaring van taal is niet per se geldig voor een ander.

Maar voor dit ene inzicht ben ik Paulien wel dankbaar. Het heeft me geleerd dat je altijd kan bijleren.


*Ik kan het stukje nergens terugvinden, dus dit is een staaltje van selfreported memory, en kan dus afwijken van de werkelijkheid.

Was wir teilen | Wat wij delen – 7

Flandern und die Niederlande sind gemeinsam die diesjährigen Ehrengäste der 68. Frankfurter Buchmesse.
Wir stellen unsere Favoriten vor.


Rachels Röckchen
| Rachels Rokje (1994)
Charlotte Mutsaers, aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas

 

Röcke werden unterschätzt. Spätestens nach der Lektüre dieses Romans werden Sie dieser Aussage beipflichten.VitrineMutsaers (2) Das Faltenröckchen ist nämlich nicht nur essentielle Ausstattung der Protagonistin Rachel Stottermaus, es ist auch Kompositionsprinzip des Buches, das sich, anstatt in Kapiteln, in verschiedenen Rockfalten darbietet. Und weil ein Röckchen rund ist, sollte man von diesem Roman auch keinen linearen Handlungsverlauf erwarten.
Trotzdem sei so viel verraten: Rachel Stottermaus, eine Figur auf halbem Wege zwischen Pippi Langstrumpf und Penthesileia, muss damit zurechtkommen, ihren eigenen pubertären Gefühlen zu ihrem Lehrer auch im fortgeschrittenen Alter nicht entwachsen zu können. Einen möglichen Ausweg bietet nur die Rolle als Erzählerin der Geschichte.
Neben dieser Liebesgeschichte lugen aus den Falten des Textgewebes außerdem noch munter hervor: diverse berockte Frauen von Flauberts Madame Bovary bis zu Canettis Therese, eine Verhandlung der Frage, wie schuldig sich Erzähler eigentlich machen, Tannengrün und Vogelsang, eine Abrechnung mit kastrierenden Müttern und eine Wiederauferstehung. Und das alles flirrend, tanzend, leicht, wie ein Röckchen im Frühlingswind. Großartig übersetzt von Marlene Müller-Haas.

Johanna Bundschuh-van Duikeren

Ein Kind des Feldlagers

Wer sich geistig gegen die politischen Wirren seiner Zeit wappnen will, dem sei die Lektüre der Essais (erstmals 1580) Michel de Montaignes wärmstens empfohlen. Neben dem Esprit, mit dem diese Texte verfasst wurden, überzeugen sie durch ihre tiefe Humanität. Sie gestehen dem Menschen vor allem eines zu: seine Widersprüchlichkeit. Montaigne ist Anhänger des antiken Skeptizismus, es kann seiner Meinung nach nicht nur eine, nein es muss viele Wahrheiten geben. Daher hält er sich an das Konzept der epoché, den bewussten Verzicht auf ein ausgesprochenes Urteil oder eine Festlegung der eigenen Meinung. Freiheit des Denkens ist das Ziel. Diese Tatsache überrascht, wenn man erwägt, dass der im Jahre 1533 geborene Montaigne ein Altersgenosse Wilhelms von Oranien war. Die Bürgerkriege in Frankreich und den Niederlanden während des 16. Jahrhunderts, oft mit dem Kampf für den Glauben begründet, sollten doch jedem eine Stellungnahme aufnötigen, möchte man meinen.

Ähnlich verhält es sich mit der computergestützten Textforschung. Die Digital Humanities scheinen dem Ja-/Nein-Schema des Computers verpflichtet. Wurde ein Text von einem bestimmten Autor verfasst oder nicht? Wir warten natürlich auf endgültige Antworten. Mike Kestemont von der Universität Antwerpen hat mit stilometrischen Mitteln herausgefunden, dass ein neuer Kandidat für die Verfasserschaft des anonym überlieferten Wilhelmus in Frage kommt. Nicht Marnix von St. Aldegonde, der von vielen als Autor dieses bekanntesten Streitliedes des niederländischen Aufstandes angesehen wurde, das seit 1932 die Nationalhymne der Niederlande ist, sondern der relativ unbekannte Petrus Datheen (geb. 1531/32) könnte der Verfasser sein. Kestemont kann nachweisen, dass Datheens Werke stilistisch viel mehr Übereinstimmungen mit dem Wilhelmus aufweisen als die aller anderen Autoren, die bisher als mögliche Schreiber genannt wurden. Nachdem er diese Tatsache im Mai 2016 auf der ersten Louis-Peter-Grijp-Lesung der KNAW verkündete, begann sofort eine breite Diskussion, ob Datheen der wahre Verfasser sein könne. Dabei hatte Kestemont sich eines endgültigen Urteils klug enthalten. Bis nicht weitere historische Argumente auftauchen, kann die Autorschaft nicht völlig bewiesen werden. Selbst der Computer verschafft uns also kein Entweder-oder.

Diese historischen Argumente gibt es allerdings. Petrus Datheen verließ mit neunzehn Jahren das Karmelitenkloster in Ypern und schloss sich der calvinistischen Bewegung an.

Petrus Datheen (1531/32-1588); (fiktives) Porträt aus dem 18. Jht (CC-PD-Mark)

Vor den Glaubensverfolgungen in den Niederlanden flüchtete er unter anderem nach Frankenthal in der Pfalz und gründete dort mit Erlaubnis des Kurfürsten Friedrich des Frommen eine calvinistische Flüchtlingsgemeinde. Mit Friedrichs jüngerem Sohn Johann Kasimir (geb. 1543; für manche ist er der Jäger aus Kurpfalz; über das Lied siehe hier) zog er als Feldprediger mit einem pfälzischen Heer zur Unterstützung der Hugenotten nach Frankreich. Dort, bei der Belagerung der Stadt Chartres im Frühjahr 1568, hörte er vermutlich einen katholischen Soldaten ein Spottlied auf den Prinzen Condé singen, einen der Hugenottenführer: „O la folle entreprise/ Du prince de Condé!“ („O welch närrische Unternehmung/Des Prinzen Condé!“) Denn die Katholiken waren sicher, Chartres verteidigen zu können. Die aufmunternde, optimistische Weise des Liedes hinterließ wohl im ganzen Heerlager Eindruck und wurde schnell bekannt. Datheen benutzte sie vermutlich, um ein Lied auf einen anderen seiner Gönner zu schreiben – Wilhelm von Oranien, Führer der niederländischen Aufständischen, die sich im Kampf gegen das katholische Spanien befanden und mit den französischen Hugenotten ebenso enge Verbindungen besaßen wie mit den deutschen Calvinisten.

Willem van Oranje (Circa 1579, PD-old-100)

Jedenfalls waren Johann Kasimir und Wilhelm von Oranien miteinander verwandt, und Datheen arbeitete damals für beide Fürsten. Das neue Lied zu Ehren Wilhelms von Oranien, „nach der Weise von Chartres“, später Wilhelmus genannt, wurde jedenfalls auch in Deutschland sehr viel gesungen, die älteste bekannte Fassung (1573) ist sogar auf Deutsch überliefert. In einer jüngeren deutschen Liedersammlung wurde das Werk als „Reuterliedlein“ („Reiterlied“) bezeichnet, was seine militärische Herkunft noch deutlich anzeigt. So hätte das Feldlager die heutige Nationalhymne der Niederlande kurz nach 1568 erzeugt.

Im Jahre 1568 erbte Michel Eyquem das Schloss Montaigne von seinem Vater, nach dem er sich fortan benannte. Nach dem dritten von acht(!) Hugenottenkriegen zog er sich 1571 ins Privatleben zurück und verließ seine berühmte Turmbibliothek nur noch unter Zwang. Petrus Datheen überwarf sich später mit Wilhelm von Oranien und starb im Exil, während sein berühmter Gönner 1584 von einem katholischen Eiferer ermordet wurde. Der niederländische Aufstand, bekannt auch als achtzigjähriger Krieg, dauerte noch bis 1648 fort.


Für diesen Beitrag wurde u.a. mündliches Material von Mike Kestemont und Els Stronks verwendet.

Bettina Noak


Naschrift van de redactie

 

Bettina Noak zal na afloop van dit zomersemester de FU verlaten. We zien deze zeer gewaardeerde en bovendien altijd goed geluimde collega node (sehr ungerne) gaan. We danken haar voor de immer goede en vruchtbare samenwerking, voor collegiale kritiek, goede raad en niet in de laatste plaats voor haar hartelijke lach.
We pinken een traantje weg.

 

Een dikke bos VERGEETONSNIETJES voor Bettina Noak!

 

Ungezogenes Völkchen

Nach dem Brexit ist vor dem Brexit: Die Abstimmung ist vorbei, aber erledigt ist die Angelegenheit noch lange nicht. Die Verhandlungen müssen erst einmal beginnen. Währenddessen schauen viele Niederländer und Belgier über die Nordsee und sagen sich: Wat een stout volkje!

Was sie damit meinen, da sind sie sich wahrscheinlich nicht unbedingt einig. Die Einen denken wie ein gewisser Jemand mit stark gegelten blonden Haaren und sehen in den Briten die klarsichtigen Vorbilder. Sie halten sich an die althergebrachte Bedeutung des Wörtchens stout, das mit dem deutschen stolz verwandt ist: Die Briten seien ein tapferes, wackeres Volk, das die Krake Europa endlich abgeschüttelt hat. Sie fühlen sich vielleicht an Karel de Stoute (dt. Karl der Kühne) im 15. Jahrhundert erinnert, der die Finger nicht von den umliegenden Landen lassen konnte und alles seinem Machtbereich einverleiben wollte – ziemlich genau das Bild, das stoute Brexit-Kämpfer von Brüssel zeichnen.

Wie man aus Trotz nicht der EU angehört, macht Norwegen den Briten schon lange vor – etwa dieses „stoute kind“ im Osloer Vigelandpark. (Henning1956, CC-BY-SA-3.0)

Die Pro-Europäer stehen dagegen auf der progressiven Seite, jedenfalls was die Bedeutung von stout angeht. Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung wie kühn, unerschütterlich oder wagemutig spricht man inzwischen auch von stoute kinderen: ungezogene Kinder (keinesfalls zu verwechseln mit Onnozele kinderen). Die bewundernde Komponente des Wortes hat sich in eine vorwurfsvolle gewandelt. Das stoute volkje, diese Bande von Aufmüpfigen und Undankbaren, zerhaut mir-nichts-dir-nichts die Zukunft Europas wie ein Kind, das aus Trotz sein eigenes Spielzeug an die Wand schmeißt.

Man tritt der britischen Trinkkultur wahrscheinlich nicht zu nahe wenn man sagt, dass diese Wahlentscheidung stark danach aussieht, als sei sie nach ein paar stouts zu viel getroffen worden. Bei einer schwierigen Stimmabgabe kann ein bisschen Dutch courage nicht schaden. Das englische Bier, wer hätte es gedacht – hat seine Benennung von genau derselben Urbedeutung erhalten: stark, schwer, was für Standfeste.

Einige besonders bekannte englische Biertrinker dagegen wollten nicht de stoute schoenen aantrekken (dt. ihren Mut zusammennehmen; sich ein Herz fassen) und Verantwortung übernehmen. Sie haben sich flugs aus dem Staub gemacht, nachdem sie das Schlamassel angerichtet haben. Nicht gerade stoute mannen.

Was wir teilen | Wat wij delen – 6

Flandern und die Niederlande sind gemeinsam die diesjährigen Ehrengäste der 68. Frankfurter Buchmesse.
Wir stellen unsere Favoriten vor.

 

Kongo: Eine Geschichte | Congo: een geschiedenis (2010)
David Van Reybrouck, aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert

 

VitrineMulischReybrouck (2)

Was wir teilen – Wat wij delen Ausstellung Philologische Bibliothek

Dass David Van Reybroucks monumentales Buch über die Geschichte Kongos, erschienen zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit der ehemaligen belgischen Kolonie, in Belgien und den Niederlanden über 200.000 Mal verkauft wurde, mag in erster Linie ein Zeichen dafür sein, wie nah dieses Thema vielen Menschen geht. Es zeigt jedoch auch, wie gut es dem Autor gelungen ist, die Geschichte zur spannenden Lektüre zu machen.

Statt eines systematischen Überblicks der Geschichte wird dem Leser hier eine zugegebenermaßen eingeschränktere, dafür aber persönlich gefärbte Perspektive geboten, was auch eine lebendige, plastische Erzählweise ermöglicht. Damit begeistert Van Reybrouck: man liest hier neben Geschichte auch Geschichten – von einem entführten Kind, von einem uralten Greis, vom ersten Akademiker im Land – , die geschickt miteinander verknüpft und in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.

Seine Herangehensweise würde ich als anthropologisch bezeichnen: er beschreibt, er erzählt – er urteilt nicht. Er will den Kongo nicht retten, er will nicht intervenieren. Er zeigt. Und die Geschichte bewegt.

Truus De Wilde

Friesisch ohne Schriftsprache?

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In einem Beitrag für die Leeuwarder Courant plädiert Hans Van de Velde, Soziolinguist und Mitarbeiter der Fryske Akademy, für eine Neuorientierung der friesischen Sprachpolitik. Nicht das geschriebene Friesisch, sondern die gesprochene Sprache sollte dabei seiner Meinung nach im Mittelpunkt stehen.

Ausgangspunkt sind die weit verbreiteten Sorgen um die Zukunft des Friesischen. Das Westfriesische ist der Zweig des Friesischen, der in der niederländischen Provinz Fryslân (Friesland) von ca. 500.000 Menschen gesprochen wird. Es hat dort den Status einer zweiten Amtssprache (neben dem Niederländischen), steht aber — wie fast alle Minderheitensprachen — unter ständigem Druck.

Van de Velde meint nun, dass man darauf am besten reagieren kann, indem man die Verwendung des gesprochenen Friesisch fördert. Nur ca. 15% der Friesischsprachigen kann Friesisch auch lesen und schreiben, und Van de Velde ist der Auffassung, dass es „een verloren zaak“ ist (also aussichtslos), das ändern zu wollen. Wenn das Friesische eine Zukunft hat, dann als gesprochene Sprache.

Das ist eine interessante Überlegung, denn in den mir bekannten Untersuchungen zum Status bedrohter Sprachen wird immer betont, dass es für das Überleben einer Sprache von zentraler Wichtigkeit ist, dass sie auch geschrieben und kodifiziert wird, d.h. dass (schriftsprachliche) Normen entwickelt werden, die in Wörterbüchern und Grammatiken festgelegt sind. Die geschriebene Sprache wird auch über die Literatur und die Presse verbreitet, und das Maß, in dem das geschieht, ist nach allgemeiner Auffassung, ein wichtiger Indikator für die Vitalität und die Überlebenschancen einer Sprache.

Nach Van de Velde ist das dagegen von untergeordneter Bedeutung. Viel wichtiger ist es, dass die Sprache in ’nähesprachlichen‘ Kontexten verwendet wird, dass Eltern Ihre Kinder mit und in der Sprache aufwachsen lassen, dass Kinder die Sprache untereinander verwenden und dass die Sprache beispielsweise in WhatsApp-Nachrichten verwendet wird (wo die ‚richtige‘ Schreibung weniger wichtig ist). Es geht darum, dass Menschen sich in der Sprache zuhause fühlen, ohne zu sehr von oft künstlichen schriftsprachlichen Normen und puristischen Bemühungen eingeengt zu werden.

Vergesst die normierte Schriftsprache, ruft Van de Velde den besorgten Friesen zu. Dafür habt ihr das Niederländische (und — kann man ergänzen — das Englische). Sorgt dafür, dass das Friesische zuhause und auf der Straße gesprochen wird, indem ihr es selber tut. Das ist der beste Garant für das Überleben des Friesischen. ‚Das Prestige einer Sprache war in den vergangenen 500 Jahren stark an die Schriftsprache gekoppelt‘, schreibt Van de Velde, ‚aber die Zeiten ändern sich schnell‘.

Ich bin an diesem Punkt eher skeptisch und bezweifle, dass die Verbindung von Status und Prestige mit der geschriebenen Standardsprachen schon der Vergangenheit angehört. Und ich frage mich daher, ob Van de Velde dem Friesischen mit seinem Plädoyer nicht einen Bärendienst erweist. Eine solche sprachpolitische Neuausrichtung kollidiert nämlich mit weit verbreiteten und tief verankerten sprachideologischen Überzeugungen. Die meisten Menschen halten nur normierte Standardsprachen für ‚echte‘ Sprachen. Nur wenn eine Sprache auch geschrieben wird, gilt sie als eine vollwertige Sprache, deren Schutz sich lohnt. Und so kommt man auch in Diskussionen über das Friesische immer sehr schnell an den Punkt, wo jemand (oft mit einem gewissen Stolz) darauf hinweist, dass das Friesische kein Dialekt ist, sondern eine ‚echte Sprache‘ mit einer langen schriftsprachlichen Tradition.

Wenn das nicht der Fall ist, wenn es ’nur‘ um eine gesprochene Sprache geht, dann — so die weit verbreitete Einstellung — geht es bestenfalls um einen nettes Relikt, das zu bewahren sich aber kaum lohnt. Die Konsequenz dieser sprachideologischen Auffassungen kann man in der Aufgabe der Dialekte zugunsten der Standardsprache beobachten. ‚Language suicide‘ nennen wir das: die eigene Sprache wird freiwillig zugunsten einer vermeintlich ‚besseren‘ aufgegeben, die mehr Funktionen erfüllt, die normiert ist und in der Schule unterrichtet wird (als Schriftsprache), eine ‚echte Sprache‘ eben.

Van de Velde weist auf die Tatsache hin, dass die allermeisten der weltweit ca. 7000 Sprachen nur gesprochen und nicht geschrieben werden. Für ihn ein Beweis, dass eine Sprache auch ohne Schriftsprache überleben kann. Dabei verschweigt er allerdings die düstere Prognose, dass wohl mindestens die Hälfte dieser 7000 Sprachen das Ende des Jahrhunderts nicht erleben werden (Pessimisten sprechen gar von bis zu 90%; vgl. hierzu beispielsweise das ‚Mission Statement‘ der Gesellschaft für bedrohte Sprachen).

Van de Veldes Vorstoß verlangt ein breites Umdenken, eine andere Sicht auf (den Wert von) Sprache(n) und sprachlicher Variation. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist das sehr gut vertretbar und längst überfällig, aber im gesellschaftlichen Diskurs könnte es sich als Bumerang für den Status und die Zukunft des Friesischen erweisen.