Die Grenze. Ein Versuch der Reflektion

Zuzanna Krysta (SoSe 2020)


1.     Einleitung

Wir sitzen in der Küche, es wird durcheinander diskutiert und Reis mit Maffé gegessen. Männer* aus Kamerun, Nigeria, Gambia, Senegal, Angola und ich, als weiße, deutsch-polnische Cis-Frau verbringen diesen Moment gemeinsam. Die Menschen um mich herum fangen an sich darüber auszutauschen, wieviel die jeweiligen Reisepässe `wert´ sind und in welchen Nationalstaaten des globalen Nordens sie ein Visum beantragen können. Ich bin mir meiner privilegierten Situation, eine deutsche Staatsbürgerschaft zu haben, bewusst und bin mir unsicher wie ich mich in diesem Gespräch klar positionieren soll. Meine Gesprächspartner machen mich bald darauf aufmerksam, dass der deutsche Reisepass einer der `besten´ der Welt ist. Ich bemerke, dass ich Argumente verwende, wie der Zufälligkeit in welchem Land man geboren ist oder der kolonialen Kontinuität der Reisepässe, jedoch kann ich zweiteres nicht konkret erläutern, um meinen Gesprächspartnern meine Haltung näher zu bringen.

Aufgrund dessen möchte ich in dem vorliegenden Essay, mit stetigen Einschüben meiner Gedanken bezüglich des Gelesenen, die Konstruktion der Grenzen und der damit einhergehenden Staatsbürgerschaften historisch, sowie theoretisch tiefer ergründen, um in zukünftigen Gesprächen bei dieser Thematik mich klarer positionieren zu können.  Ich werde betrachten, wie Grenzen in Europa entstanden sind (vgl. Tilly 1985)  und diese im kolonialen Kontext im globalen Süden aufgezwungen wurden und bis heute in neokolonialer Form andauern, dabei lege ich den Fokus auf den afrikanischen Kontext (vgl. Marx 2010). Anschließend betrachte ich die symbolische Konstruktion der Grenzen und wie diese auf unsere Gesellschaft wirken und sie in Privilegierte und Nicht-Privilegierte aufspaltet (vgl. Castro Varela 2018; Charim 2018), um abschließend einen Ausblick auf Möglichkeiten der Dekonstruktion von Grenzen zu geben. Im zweiten Teil des Essays werde ich meine persönlichen Erfahrungen mit Grenzen und Staatsangehörigkeit darstellen, dabei mein Privileg als deutsche Staatsbürgerin reflektieren und Handlungsmöglichkeiten erläutern, wie man als weiße Person damit umgehen kann (vgl. Ogette 2018; McIntosh 1992).

2.     Die Grenzen und ihre Konstruktion

Die Idee der Grenzen ist in unserer (westlichen[1]) Gesellschaft fest verankert und wirkt oft unumstößlich. Im öffentlich dominanten Diskurs wird weniger ihre Konstruiertheit diskutiert, sondern es wird, meiner Wahrnehmung nach, als `natürlich gegeben´ angesehen. Man hört oft das Argument, dass Nationalstaaten und Grenzen notwendig sind, um die politische Organisierung an eine angebbare Gruppe innerhalb eines Territoriums zu definieren und sie somit zu kontrollieren (vgl. Weber 2006).  Wenn man jedoch die Geschichte anschaut, bemerkt man, dass Grenzen keine Voraussetzungen sind und die Welt lange ohne nationalstaatliche Grenzen ausgekommen ist.

2.1 Die historische Konstruktion der Grenzen

Tilly (1985) beschreibt in seinem Artikel, wie am Ende des 18. Jahrhunderts die Anfänge der Bildung der Nationalstaaten in Europa, wie wir sie heute kennen, vonstattenging. „War makes state“ (ibid.: 170) ist der vielzitierte Satz, der die Nationalstaatenbildung in Europa zusammenfasst. Die Herausbildung der Staaten basiert auf Kriegen, in dem eine zentralisierte Macht ihre Herrschaftsansprüche in den lokalen Regionen ausgeweitet hat, sie eine staatliche Streitmacht aufgebaut haben, staatliche Institution gegründet haben, für die politische Organisierung und die Organisierung der Steuereinnahmen und bestimmte Elemente der Kultur symbolisch aufgeladen haben, damit die Bevölkerung sich zugehörig fühlt und sich gewissermaßen mit der `Nationalkultur´ identifizieren kann. In diesem Prozess ist ein wichtiger Aspekt die Entstehung der konkret gesetzten Grenzen, die in den Kriegen, ausgehandelt wurden (ibid.).

Anderen Teilen der Welt wurde dieses europäische Konzept im Zuge der Kolonialisierung aufgezwungen (vgl. Kolonialismus und heutige Staatenwelt 2012), in dem die europäischen Staaten die Welt unter sich aufteilten und diese mit Grenzen markierten. Vor der europäischen Kolonialisierung wurde die politische Organisation im afrikanischen Kontext weitgehend durch Personenverbände definiert und nicht aufgrund des Territoriums, somit gab es zum Beispiel Nomad*innengemeinschaften die sich auf ihre Gruppe bezogen und dabei ihren Lebensumfeld immer wieder wechselten. Die meisten Grenzen existieren nach der Entkolonialisierung weiter und bestehen bis heute fort. Im afrikanischen Kontext wurde 1963 in der Charta der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) entschieden, dass diese Grenzen unverrückbar sind. Das Weiterbestehen der kolonialen Grenzen beinhaltet einige Schwierigkeiten. Die `künstliche´ Grenzziehung durchtrennt Gemeinschaften und drängte afrikanische Länder nach der Entkolonialisierung dazu, Nationalstaaten im `europäischen Sinne´ zu errichten, was manche Nationalstaaten zu failed states werden ließ (Marx 2010). Außerdem wurden die staatlichen Institutionen im globalen Norden, welche Reisepässe und -beschränkungen etablierten, kurz nach der Beendigung des Sklav*innenhandels gegründet, um neue Formen der „legacy of slavery, apartheid, and diverse forms of  unfree labour“ (Anderson, Sharma, and Wright 2009, 6) zu bilden.

Meiner Ansicht nach belegt die europäische Kolonialgeschichte die Absurdität und Konstruiertheit der Grenzthematik, ohne sich auf kritische Weise damit auseinanderzusetzen; in der kollektiven Erinnerung unserer Gesellschaft wird das Thema nicht reflektiert. Ein Beispiel dafür ist die mangelnde Thematisierung von Kolonialgeschichte in deutschen Schulen – hier wird Schüler*innen die Chance genommen, Grenzen als Konstrukt in Frage zu stellen. Die Entscheidung, keine kritische Auseinandersetzung zu fördern, ist eine politische und dient dem Zweck, die Basis unseres politischen Systems zu stabilisieren. Jedoch wird die Gesellschaft somit daran gehindert, eigene Vorstellungen von Organisation zu entwickeln, die nicht auf Ein- und Ausgrenzung basieren. Auch stellt sich mir die Frage, inwieweit die Errichtung von staatlichen Institutionen in einem Kriegskontext dazu führt, dass Mechanismen und Strukturen auf Krieg ausgerichtet sind. Die Regierung `verkauft´ an uns als Gesellschaft die Idee von Sicherheit und treibt somit die Identifikation mit dem eigenen Nationalstaat voran, was zu nationalistischen Strömungen innerhalb der Gesellschaft führt.

Auf der anderen Seite sieht man im afrikanischen Kontext, dass das Fortbestehen der kolonialen Grenzen nach der Entkolonialisierung eine eindeutige Kontinuität des Kolonialismus beinhaltet und somit den Neokolonialismus des globalen Nordens stabilisiert. Durch die jahrelange und bis heute andauernde gewaltvolle Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden und das Nicht-Benennen dieser Geschichte und heutigen Situation, fällt es uns als Gesellschaft schwer, uns Utopien vorzustellen, in denen Menschen ihr Dasein in Würde leben und sich frei bewegen können, basierend auf ihren eigenen Entscheidungen.

2.2 Die symbolische Konstruktion der Grenzen

Grenzen sind keine objektiven Tatsachen, sondern sie „bestimmen die Wahrnehmung unserer Welt. Grenzen symbolisieren, begründen und stabilisieren Macht und sind daher Herrschaftsinstrumente. Es ist eine begrenzte Welt, die wir bewohnen“ (Castro Varela 2018, 23). Sie produzieren zwei unterschiedliche Subjektivitäten, in welchen jede*r sich auf verschiedene konstruierte Räume bezieht. Charim (2018) verwendet dafür die Begriffe des paradoxen Raumes und der Festung. Den paradoxen Raum bewohnen die Menschen, die das Privileg haben, einen Reisepass zu besitzen, der viel `wert´ ist, wie der deutsche Reisepass (vgl. Kaelin and Kochenov 2018). „Diese [sogenannten] Vernetzten leben nur mit symbolischen Grenzen, also gewissermaßen ohne Grenze. Für sie bedeutet das Überschreiten einer Grenze nur eine Anerkennung ihres Status“ (Charim 2018, 18–19). Hingegen bewohnen die Menschen, deren Reisepass weniger `wert´ ist, wie Migrant*innen des globalen Südens, die Festung. Sie haben nicht die Möglichkeit sich zwischen Ländergrenzen frei zu bewegen, sondern müssen sich entweder in einem komplizierten, oft auch erfolglosen Verfahren auf ein Visum bewerben oder illegalisiert reisen. Auch innerhalb der Grenzen, zum Beispiel im Schengen-Raum, sind für diesen Bevölkerungsteil Grenzen allgegenwärtig, in Form von Asylgesetzen, Verwehrung des Zugangs zum Arbeits- oder Wohnungsmarkt und vielen anderen neokolonialen Exklusionsmechanismen (ibd.). Dieser theoretische Ansatz verdeutlicht die stetige (Re-) Produktion der Konstruktion der Grenzen, die die Menschheit in zwei Gruppierungen teilt: Der eine Bevölkerungsteil, der bis zu einem sehr hohen Grade das Privileg der Bewegungsfreiheit genießen darf und der andere -teil nicht.

Diese Problematik lässt mich an Bruno Latour (vgl. 1993) denken, der in seiner Modernitätskritik aufzeigt, wie die sogenannte `Moderne´ die Welt immer stärker dichotomisiert und alles in Gegensätzen ordnet. Somit ist die politische und rechtliche Praktik der dichotomisierenden Grenzen existent, um die Vorherrschaft des globalen Nordens zu stabilisieren. Dieser Prozess, den Latour Work of Purification nennt, wird stetig vom globalen Norden aus versucht, aufrecht zu erhalten. Ich denke, dass es wichtig ist, die agency der jeweiligen Menschen in Betracht zu ziehen, die trotz der Schwierigkeiten und Beschränkungen ihr Recht auf Bewegungsfreiheit als Menschenrecht in Realität umsetzen, auch wenn ich mir bewusst bin, dass die Gründe unterschiedlich sind und manche Migrant*innen aufgrund von prekären Lebensverhältnissen fliehen.

In diesem Abschnitt möchte ich abschließend Bewegungen und Gedanken aufzeigen, die gegen Grenzen arbeiten und aufzeigen, dass eine andere Welt möglich ist. Die No-Border-Bewegung ist eine lose und heterogene Zusammensetzung von verschiedenen Organisationen und Einzelpersonen auf der ganzen Welt, die durch unterschiedliches und selbstorganisiertes Engagement versuchen, eine Welt ohne Grenzen für alle zu gestalten, sei es durch politische Arbeit und Widerstand gegen Abschiebungen, ärztliche Versorgung für illegalisierte Personen oder offene Küchen für alle (vgl. Anderson, Sharma, and Wright 2009). Die Ebene der konkreten Handlungen ist äußerst wichtig, doch erscheint es mir genauso notwendig, uns im Verstehen und Träumen zu üben, denn man muss die jetzige Situation erst verstehen, um sich Utopien vorzustellen. Vor ein paar Tagen las ich das Essay Nadie la tiene von Morales (1998, 97–109), in welchem sie das Konstrukt des privaten Eigentums von Land kritisiert. Privates Eigentum ist zwar eine andere Thematik, jedoch beinhaltet sie genauso Grenzen, inkludierende und exkludierende Mechanismen, sowie Menschen, die die Macht über ein Gebiet für sich beanspruchen. Morales beschreibt wie Land außerhalb dieser Grenzen lebt, sich darüber hinwegbewegt und seinen eigenen Regeln befolgt, zwar immer in Reziprozität mit den Bewohner*innen dieses Gebietes, jedoch ohne auf menschlich gemachte Grenzen achtend. Dies lies mich daran denken, dass Menschen immer migrieren werden, so wie sie es schon immer gemacht haben, egal ob bedingt durch Prekarität im Herkunftsland oder weil sie einfach in einem anderen Land leben möchten und Grenzen sind in der Realität nicht fähig, Migration zu verhindern und werden dies auch nicht mit den bestausgerüsteten Sicherheitstechnologien von Grenzstreitkräften tun. Aufgrund dessen sehe ich keine andere Möglichkeit, als Grenzen abzuschaffen, wenn wir in einer besseren Welt leben möchten.

3.      Meine persönliche Grenzerfahrungen

Mein Vater migrierte kurz vor dem Ende des Kalten Krieges aus Polen nach Deutschland. Die Geschichten, die er mir darüber erzählte, klingen für mich nach einer sehr schwierigen Realität, jedoch nahm ich sie als Kind wie Abenteuergeschichten aus einer fernen Zeit wahr, welche entkoppelt waren aus der Realität, in die ich hineingeboren wurde. Er erzählte von prekären Verhältnissen aus seiner Herkunftsstadt. Laut ihm war die Migration in das damalige Westdeutschland die einzige Möglichkeit Perspektiven für die Zukunft zu erlangen. Er reiste gegen Bezahlung illegalisiert nach Deutschland ein und bekam aufgrund der damaligen politischen Situation sehr bald den deutschen Aufenthaltsstatus. Einige Jahre später kam meine Mutter aufgrund der Heirat mit meinem Vater problemlos nach Deutschland. Beide lebten damals in prekären Verhältnissen in Köln. Als meine Schwester und ich geboren wurden, hatte sich die Situation jedoch verändert und wir konnten in einer gewissen Stabilität aufwachsen. Somit hat dieser Teil der Migration nie zu meiner Gegenwart dazugehört, sondern war stets ein Teil der Vergangenheit, dort wo ich herkam.

Als ich klein war, sind wir jeden Sommer nach Polen gefahren, um die dortigen Familienmitglieder zu besuchen. Ich erinnere mich an die stundenlangen Wartezeiten im Stau an der deutsch-polnischen Grenze, die prüfenden und unangenehmen Blicke der Grenzpolizist*innen, als wir am Grenzposten ankamen. Als im Jahr 2007 die Grenze zwischen Deutschland und Polen aufgrund des Schengen-Abkommens aufgelöst wurde, war es eine Erleichterung auf der langen Fahrt, nicht eine bewachte Grenze zu passieren. Als ich immer älter wurde, genoss ich die Reisefreiheit innerhalb Europas, die ich ausgiebig auskostete. Ich machte mir damals nicht viel Gedanken darüber, da es mir in meiner europäischen Welt normal erschien, mich frei bewegen zu können.

Das Privileg wurde mit erst bewusst, als ich nach Mexiko ging. Mein problemloses Einreisen in dieses Land und der späteren Möglichkeit des Erkaufens eines Touristenvisums, um mich dort `legalisiert´ zwei Jahre aufhalten zu können, standen im Kontrast zu dem sehr präsenten Thematik der Migrant*innen aus Lateinamerika, welche Mexiko durchreisten, um in die Vereinigten Staaten von Amerika einzureisen und dabei oft ihr Leben riskierten. Zur gleichen Zeit drangen die Nachrichten der sogenannten europäischen `Flüchtlingskrise´ zu mir durch, welche gezeichnet waren von inhumanen Reisekonditionen von Menschen, die den Wunsch hatten, nach Europa zu gelangen.

Auch wenn es viele BIPoC gibt, die zum Beispiel eine deutsche Staatsbürgerschaft haben oder weiße Menschen, die dieses Privileg nicht innehaben, denke ich, dass der `Wert´ eines Reisepasses stark mit rassistischen Strukturen verschränkt ist, und wie oben aufgezeigt, koloniale Kontinuität beinhaltet. Es wird oft angenommen, dass BIPoC aufgrund von Rassismus in vielen Bereichen benachteiligt werden, jedoch wird seltener darüber reflektiert, welche Vorteile eine weiße Person[2] aufgrund der Konstruktion und Ideologie rund um ihre Hautfarbe hat und dies wird dem weißen Bevölkerungsteil in seiner Sozialisation beigebracht (vgl. McIntosh 1992). Bis zu meiner Reise nach Mexiko war mir dies auch nicht bewusst. Erst durch die direkte Konfrontation bemerkte ich, was es bedeutet, einen deutschen Reisepass zu besitzen. Dies zeigt auf, dass eine weiße Person sich frei entscheiden kann, ob sie sich mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen will oder nicht (Ogette 2018, 60). Ich denke, es ist wichtig, in Gesprächen mit weißen Personen darauf hinzuweisen, was es bedeutet, in den Karibikurlaub für zwei Wochen zu fliegen oder entscheiden zu können, nach Madagaskar zu ziehen[3].

Die persönlichen Erfahrungen zu teilen und dem Gegenüber diese Thematik zur Reflektion zu überlassen. Auch denke ich, dass wir uns als weißer, im globalen Norden geborener Bevölkerungsteil im größeren Umfang mit unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen müssen. Ich bin mir sicher, dass man in fast jeder Familie eine Migrationsgeschichte entdecken würde. Was bedeutet es, seinen Wohnort zu wechseln? Was für Gründe sind die Motivation dafür und wie waren die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu der Zeit? Wenn wir diese Fragen in unserer eigenen Geschichte ergründen würden, würde es uns als Gesellschaft vielleicht leichter fallen, dieses Privileg anzuerkennen und dies für alle zu fordern.

Jedoch ist es in diesem beschriebenen Fall kein individueller Rassismus, den man einfach reflektieren kann, um seine Handlungsweise zu verändern, sondern ein institutioneller Rassismus, welchen man als Person aktiv kritisieren muss. Gleichermaßen ist es ein Privileg, seine politische Meinung frei äußern zu können, ohne dafür aufgrund seiner Hautfarbe verurteilt oder nicht ernstgenommen zu werden (McIntosh 1992, 32). Bewegungen wie die Black-Lives-Matter-Bewegung oder No-Border-Bewegungen können für weiße Personen eine Möglichkeit bieten, sich dem Widerstand gegen den institutionellen Rassismus anzuschließen, jedoch denke ich, dass es als weiße Person wichtig ist, keine öffentliche Rolle einzunehmen oder den Diskurs innerhalb der Gruppe zu leiten, sondern auf die Bedürfnisse der Gruppierung einzugehen und sie in den `hinteren Reihen´ zu unterstützen. Die Motivation des Engagements sollte nicht aus Altruismus resultieren, sondern

„[s]olidarity comes from the inability to tolerate the affront to our own integrity of passive or active collaboration in the oppresion of others (…). From the recognition that, like it or not, our liberation is bound up with that of every other beings on the planet, and that politically (…) we know anything else is unaffordable“

Levins Morales 1998, 125

Denn letztendlich sind alle unsere Leben miteinander verflochten und bedingen sich gegenseitig und für ein würdevolles Leben für alle sollten wir uns verbünden.


[1] Im darauffolgenden Text kann ich mich nur auf meine Wahrnehmungen der Gesellschaft beziehen, in der ich aufgewachsen bin, auch wenn es innerhalb dieser Gesellschaft auch subjektive Unterschiede gibt, die ich nicht alle wiedergeben kann. Bei diesem Beispiel bin ich mir sicher, dass es Gemeinschaften gibt, die in ihrem Lebensumfeld Grenzen weniger präsent haben wie wir, auch wenn heutzutage, global gesehen, alle Menschen in einem Nationalstaatensystem eingebunden sind.

[2] Mit einer Staatsbürgerschaft aus dem globalen Norden.

[3] Auch wenn dieses Thema mit der Diskriminierungsform des Klassismus verschränkt ist, auf welches ich in diesem Text nicht eingehen werde.


Quelle: Zuzanna Krysta, Die Grenze. Ein Versuch der Reflektion, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.04.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/04/22/die-grenze-ein-versuch-der-reflektion/

„Was hat das alles mit mir zu tun?“- Plädoyer für einen diversen Geschichtsunterricht

Marcus Schäfer (SoSe 2020)


Als ich neulich in einem Seminar für lateinamerikanische Geschichte saß, in dem viele Aspekte dieses spannenden Kulturkreises behandelt wurden, teilweise auch unter feministischen Vorzeichen, da versuchte ich mich zu erinnern, ob ich während meiner Schulzeit jemals etwas anderes gelernt hatte als europäische und vor allem deutsche Geschichte. In diesen Erzählungen behandelten wir meist weiße Männer, die vermeintlich große politische Dinge taten. Das war zweifellos bedeutsam, aber sollte es da nicht noch mehr geben? Das folgende Essay wird sich mit diesem Gegenstand fehlender Diversität im Geschichtsunterricht tiefergehend befassen und danach fragen, wie eine Darstellung und Perspektivierung von Geschichte mit Bezug zu Gender und Diversity im Unterricht aussehen könnte. Und was genau könnte mit solch einer Neujustierung eigentlich erreicht werden? Welche Umstände stehen dieser Neujustierung oder De- und Rekonstruktion des Bildungssystems möglicherweise im Weg? Fest steht, dass in diesem so elementaren Sektor trotz einer sichtbaren und kaum bestreitbaren Werte- sowie Normenverschiebung innerhalb der Gesellschaft definitiv Nachholbedarf besteht. Und nicht nur dort, auch bzgl. anderer Thematiken, wie ich sie dieses Semester kennenlernen durfte, seien es Self-Awareness, Vielfalt, Heteronormativität, Rassismus, Intersektionalität, Mechanismen der Diskriminierung im Allgemeinen, Feminismus und andere Gender & Diversity-Faktoren sieht es trotz sicherlich vorhandener Fortschritte in den letzten Jahrzehnten noch einigermaßen düster aus und bedarf es vielschichtiger Reformbestrebungen. Und dies ist keine einfache Aufgabe, wie die Professorin für Sozialpädagogik Christine Riegel feststellt:

„ Der Umgang mit sozialen Differenzen und sozialer Ungleichheit stellt eine gesellschaftliche und auch pädagogische Aufgabe und Herausforderung dar.“[1]

Eine intersektionale Perspektive wäre für ein solches Bildungsangebot, wie es auch für das deutsche Bildungswesen insgesamt notwendig ist, unabdingbar: „Intersektionalität stellt eine Analyseperspektive dar, um hegemoniale und selbstverständliche Grenzziehungen und Kategorisierungen, Normierungen und Normalisierungen zu hinterfragen.“[2] Eine Neuperspektivierung muss als Kernelement moderner, zeitgemäßer Bildung gelten. Das Hinterfragen der eigenen Position und Denkmuster muss hier unbedingt miteinbezogen und als Kernkompetenz gelehrt werden. Die Historikerin Christiane Kohser-Spohn betont im Zuge didaktischer Überlegungen, dass bspw. Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte im Geschichtsunterricht unbedingt gelehrt werden sollte. Sie stellt aber auch fest, dass, obwohl diesbezüglich bereits eine breitgefächerte Einsicht vorhanden ist, kaum vernünftige Konzepte vorliegen, diese Einsicht in eine gute Praxis umzusetzen, welche dem Themenkomplex würdig wäre. So beschränken sich derartige Versuche oftmals damit, in Schulbüchern hier und dort ein zusätzliches Kapitel anzuhängen, welches „Aspekte im Leben der Frau“ erwähnt.[3] Der Historiker und Geschichtsdidaktiker Vadim Oswalt nennt diesen frühen Ansatz „additiv-kompensatorisch“ – das Hinzufügen eines „ergänzenden“ aber schlussendlich auch isoliert dastehenden „Frauenthemas“. Die eingangs genannte Einsicht, Geschlechtergeschichte in den Geschichtsunterricht miteinzubeziehen, ist natürlich vernünftig, dennoch erscheint ein Ansatz wie der gerade genannte doch recht plump und kontraproduktiv. Bärbel Kuhn, Professorin für Didaktik der Geschichte an der Universität Siegen, spricht sich für eine Vertiefung bzgl. eines geschlechtergerechten Geschichtsunterrichts durch die Nutzung oder „Integration autobiografischer Quellen“ aus, da durch deren Nutzung Individuen betrachtet werden und keineswegs lediglich anonyme Beispielpersonen und „statische Lebenswelten“. Stattdessen würden Schüler*innen Menschen kennenlernen, welche „[…] mit ihren Erfahrungen, ihren Leiden, ihren Gegensätzen, ihren Normen und Wertevorstellungen, ihrer Weltauffassung und ihrer subjektiven Darlegung von Ereignissen […]“ einen tiefen Eindruck hinterlassen könnten und gerade so zum Nach- und/oder Umdenken bewegen könnten. Sie sollen nicht nur ein Alltagsleben zeigen, sondern eben die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Einzelperson aufzeigen, und auch, wie ein solches Individuum möglicherweise geschichtliche Prozesse empfunden hat. Des Weiteren sei die Behandlung des Entstehens und Fortbestehens von „Klischees und Stereotypen“ hier möglich, betont Kuhn.[4] Solch ein „persönlicher“ und diverser Unterricht würde der Schülerin oder dem Schüler eben auch mehr Identifikationspotenzial bieten und ein erweitertes Spektrum an Lebensformen aufzeigen (und somit auch der so lebenswichtigen Orientierung von Jugendlichen dienen, die ja oftmals nicht wirklich gegeben ist), als das schlichte Abhandeln von Politik- und Zeitgeschichte und dem eindimensionalen Auswendiglernen von Daten und Namen: „Ein Unterricht, der dem Menschsein und den menschlichen Erfahrungen eine zentrale Rolle zuspricht, antwortet mit Leichtigkeit auf die Frage: „Was hat das alles mit mir zu tun?“[5] Die hier zitierten Ausführungen beziehen sich zwar „nur“ auf die Beziehung von Mann und Frau, dennoch können sie auf alle möglichen Personenkreise bezogen werden und somit Homosexuelle, Transgender-Personen, andere Nationalitäten, u.a. miteinbeziehen. Ich habe in meinem 3. Semester an der Freien Universität ein Seminar zu Migration im 19. und 20. Jahrhundert belegt, in welchem multiperspektivisch nach diversen Migrationserfahrungen in verschiedensten Nationen und Kulturen gefragt wurde, welche sich nicht nur auf Deutschland bezog. Solch ein Geschichtsunterricht sollte Standard an wirklich jeder Schule sein, um Verständnis für andere Lebenslagen zu entwickeln. Dann würden vielleicht auch in Deutschland einmal weniger Flüchtlingsheime brennen. Gerade das Fach der Geschichtswissenschaft kann ein „Vermittler der Heterogenität“ sein, wie es Oswalt ausdrückt: „Nur wer die Verschiedenheit sozialer und kultureller Lebensbedingungen und Wertvorstellungen als einen Normalfall menschlicher Gesellschaften begreift, kann ein reflektiertes historisches Denken entwickeln.“[6] Somit sind es wohl gerade die Geschichtswissenschaften, die sich perfekt dazu eignen (könnten), Schüler*innen u. a. ein tiefergehendes Verständnis von Gender und Diversity zu vermitteln.

Der Problematik eines allzu homogenen Geschichtsunterrichts könnte auch mithilfe von Projektwochen begegnet werden: Ich plädiere für eine ein- oder mehrwöchige Projektwoche pro Schuljahr, in welcher Informationsangebote zu verschiedenen Kontinenten, Ländern und Bevölkerungsteilen angeboten werden, die sonst eher seltener im Fokus stehen, so eben Asien, Afrika oder auch Südamerika und hier eben nicht in der uns allen bekannten einseitigen Darstellung. Hier sollte sich umfassend mit möglicherweise dem Individuum noch „fremden“ oder vielmehr unbekannten Kulturen beschäftigt werden, vor allem natürlich mit ihren Geschichten und auch Leidenswegen, so beispielsweise mit Rassismus, Kolonialismus und Postkolonialismus. Aber nicht ausschließlich. Denn ein Kontinent oder Land definiert sich nicht ausschließlich durch ihre Unterdrücker oder Kolonialismus. Was definiert das Selbstbild einer Kultur? Ihre Traditionen, Strukturen, Religion, Musik, Film, Literatur und so vieles mehr. Es könnte also auch abseits von Klischees eine reichhaltige Geschichte erzählt werden. Und diese Betrachtung muss differenziert geschehen. Warum nicht einmal einen kubanischen Film zur sozialistischen Revolution schauen und den historischen Hintergrund analysieren? Oder wie wäre es mit Straßentouren, in denen geschichtsträchtige Orte besucht werden, deren Besuch äußerst pädagogisch sind? Die „Berliner Spurensuche“ bietet Straßenführungen im Wedding an („Kolonialer Wedding“), in denen diverse Straßen abgeklappert werden und die historischen Hintergründe einiger Straßennamen mit kolonialem Hintergrund erklärt werden. Dort erfahren wir, was der Kolonialismus eigentlich war und was Deutschland hiermit zu tun hatte (und hat!). Der regelmäßige Besuch solcher Veranstaltungen sollte ein Pflichtprogramm werden. Und auch der Austausch mit Korrespondenten oder Besuchern aus dem jeweiligen Land könnte sinnvoll sein. Von Menschen, die von ihrer Welt und ihrem Leben erzählen. Gerade durch eine multiperspektivische und diverse Betrachtung von Geschichte, Kulturen, Gesellschaften, Geschlechtern, Lebenswegen, Lebensmodellen, etc. kann auch eine Inklusion geschaffen werden, die einer Ausgrenzung vorbeugen kann. Deutschland ist ein Einwanderungsland und dies nicht erst seit gestern. Warum sollte beispielsweise nicht auch türkische oder griechische Geschichte behandelt werden? Und wenn schon über weltbewegende Individuen gesprochen werden muss, warum nur über Winston Churchill, Richard Löwenherz und Napoleon Bonaparte reden, wenn es auch weltbewegende Frauen, wie Indira Ghandi, Isabella I. oder Ulrike Meinhof gab und gibt? Diese aber nur als Beispiel.

Auf der Gegenseite steht natürlich die Frage nach dem Zeit- und Kostenfaktor. Hier müsste verstärkt in ein veraltetes und gegenwärtig sowieso relativ marodes Bildungssystem investiert werden, welches dringend einer Generalüberholung bedarf. Hierbei wünscht man sich die Offenheit und das Verantwortungsbewusstsein der verantwortlichen staatlichen Institutionen, eben solche neuen Projekte in Angriff zu nehmen. Des Weiteren lassen sich bei genauerer Betrachtung immer wieder auch Ungleichgewichte in unserem klassifizierten Bildungssystem finden; zwar gibt es bereits in einigen Bundesländern zahlreiche Gesamtschulen, welche das veraltete dreigliedrige Schulsystem – Hauptschule, Realschule & Gymnasium – obsolet gemacht haben, sodass alle den gleichen Stoff lernen, dennoch ist diese Dreigliederung weiterhin fester Bestandteil des reformbedürftigen deutschen Bildungssystems. Zwar sterben Hauptschulen laut einem Artikel der Süddeutsche Zeitung teilweise aus bzw. gehen in Gesamtschulen oder im Verbund mit Realschulen in sog. Regional- oder Sekundarschulen auf, die aber – genau wie Realschulen – eher praxisorientiert sind, wodurch gerade dort solche Konzepte eher hinten anstehen.[7] Als ich nun in meinem Lateinamerika-Seminar saß, wurde mir als ehemaligem Realschüler bewusst, dass eine Bildung, wie sie hier besprochen wird, immer noch eher für bildungsbürgerliche Schichten erreichbar ist, dem entgegengesetzt stehen Personen aus dem „unteren“ Bildungssektor, welche mit Gender & Diversity keinerlei Kontakt und möglicherweise auch privat keine Motivation oder Gelegenheit haben, dieser Thematik nachzugehen. Also ist es wohl nur richtig, zu beanstanden, dass bei einer Reform des Schul- und Bildungssystems alle Schulformen gleichmäßig behandelt werden müssen. Haupt- und Realschüler beispielsweise sollten diese essentiellen Theorien ebenfalls nähergebracht werden und nicht nur, wie man Vogelhäuschen zimmert oder Schrauben sortiert. Die Fragmentierung des deutschen Bildungssystems muss also generell neu bewertet und überdacht werden, damit die Vorteile modernisierter Bildungsinhalte auch jeden Menschen erreichen, und eben nicht nur bildungsbürgerliche Schichten hiervon profitieren. Des Weiteren darf auch ein ideologischer Faktor nicht ausgeblendet werden: In einer Zeit, in der eine Partei wie AFD versucht, Minderheiten und marginalisierte Gruppen zu diskreditieren und rückständige Meinungen, Werte und Normen in der Mitte der Gesellschaft zu integrieren, ist es einerseits natürlich ein Indiz dafür, dass in einer angeblich sehr aufgeklärten bundesdeutschen Gesellschaft noch einiges an Nachholbedarf besteht. Andererseits wird klar, dass es bei angestrebten Reformen, wie sie dieses Bildungssystem nötig hätte, auch darum gehen muss, hearts and minds der Menschen für einen modernisierten und somit zeitgemäßen Unterricht zu gewinnen. Und hier besteht eine grundlegende Schwierigkeit, da derzeit eben auch ein stark reaktionärer und rückwärtsgewandter Wind weht, der in die entgegengesetzte Richtung bläst. Auch Riegel sieht hier ein Problem:

„Auch wenn es inzwischen ein gewisses Bewusstsein für eine Vielfalt an Lebensformen, für heterogene Lebenslagen sowie für gesellschaftliche Diskriminierungs- und Ungleichheitsverhältnisse gibt, erweist sich der Umgang damit als höchst ambivalent und umstritten – und bleibt allzu oft in vorherrschenden Macht- und Normalitätsverhältnissen gefangen.“[8]

Solch eine Ablehnung oder doch zumindest Reserviertheit sei in den Geschichtswissenschaften keine Seltenheit. Erst vor wenigen Tagen wurde ich von einem Historiker am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität darauf hingewiesen, dass es gerade in den Geschichtswissenschaften wohl eine bisher eher ablehnende Haltung gegenüber der Anwendung einer geschlechtergerechten Sprache gäbe – Gründe hierfür konnte er mir leider keine geben. Als er die Frage ins Plenum warf, wer denn bereits in seiner Schulzeit mit dem Gendern in Berührung gekommen sei, war die Antwort negativ, sprich: Es war einfach kein Thema, welches auf den meisten Gymnasien aktiv behandelt wurde, was im Jahr 2020 schon einigermaßen schockierend ist. Da passt es wohl, wenn Kohser-Spohn meint, dass Geschlechtergeschichte als solche (auch im Bildungssektor) mit Argwohn betrachtet werden würde: „Nevertheless, innovations brought by gender history are considered with reserve.“[9]

Die Vorteile einer Vertiefung des Gender & Diversity – Komplexes liegt ganz klar auf der Hand: Durch entsprechende Bildungsangebote könnte bereits frühzeitig Verständnis für andere Flecken dieser Erde und Situationen diverser Charaktere mit intersektionalen Erlebnissen und Erfahrungen geschaffen werden. Bzgl. des geschichtswissenschaftlichen Studiums an der Freien Universität Berlin wird bereits versucht, den in vorigen Generationen noch sehr populären Eurozentrismus abzulegen, neue Perspektiven einzunehmen und andere Fragen zu stellen. In vielen Schulen sieht es meist noch nicht ganz so positiv aus. Und dieser Eurozentrismus kommt somit einer Degradierung anderer Kontinente und Länder gleich, als ob diese einer näheren Untersuchung die Zeit nicht wert wären. Was natürlich falsch ist. Durch die Beschäftigung mit möglicherweise „fremden“ oder noch unbekannten Kulturen werden Distanzen abgebaut, eine Nähe zur jeweiligen Thematik hergestellt. Kinder und Jugendliche würden so besser verstehen, Verständnis entwickeln, Ängste und Vorurteile abbauen, die eh völlig unsinnig sind, und somit bereits früh zu weltoffeneren Menschen werden. So zumindest meine Hoffnung. Weiterhin würden die Projektideen Kinder und Jugendliche zur Selbstständigkeit erziehen und ihr Selbstbewusstsein stärken. Sie müssen ihre Interessen selbstständig kommunizieren und sich mit einer Kultur beschäftigen, welche ihnen in diesem oder jenem Moment interessant erscheint. Wenn sich die Person mit dieser anderen Kultur auseinandersetzt, und diese besser versteht, wird sie gleichzeitig auch offener dafür, andere Interessen und Befindlichkeiten zu verstehen und zu respektieren.

Der Vermittlung bspw. der Erkenntnisse der Geschlechterforschung auch im Geschichtsunterricht muss generell größerer Raum zugestanden werden. Dies befürwortet auch der Geschichtsdidaktiker und Historiker Martin Lücke, der die „Genderkompetenz als Teilkompetenz des historischen Lernens“ im gleichnamigen Kapitel behandelt:

„Das von der Geschlechterforschung produzierte Wissen über die sozialen und kulturellen Ungleichheiten der Geschlechter und die damit verbundene Erkenntnis einer Geschlechter-Ungerechtigkeit dient der Forschung jedoch nicht als bloßer Selbstzweck, sondern soll für die Behebung dieser Missstände in der Gegenwart nutzbar gemacht werden.“[10]

Dieses Zitat bringt es ziemlich akkurat auf den Punkt. Somit ist es im Sinne einer aufgeklärten Gesellschaft und im Zuge des Gender Mainstreaming auch alles andere als falsch, Genderkompetenz im geschichtswissenschaftlichen Kontext tiefergehend zu behandeln. Beispiel: In Tagen, in denen wir über die Ungleichbehandlung der Geschlechter und toxische Männlichkeit sprechen, in denen diese Probleme immer noch gegenwärtig sind, ist es mehr als angebracht, diese Problemfelder historisch zu dekonstruieren, ihr Zustandekommen und die Hintergründe zu untersuchen, und eben auch, wohin dies alles führen kann. Nur wer die Vergangenheit erforscht, kann die Gegenwart verstehen und eine bessere Zukunft designen. Zwar gibt es bereits vernünftige Ansätze, wie sie bereits in der schönen Toolbox[11]der Freien Universität zu finden sind, doch wird der Forschungsgegenstand vor allem im außeruniversitären Bildungsbereich noch verhältnismäßig stiefmütterlich behandelt, so zumindest mein bisheriger Eindruck. Dennoch ist davon auszugehen, dass die heterogenen Betrachtungsweisen von Gender & Diversity einen zunehmend breiteren Raum im Bildungssektor zugeschrieben bekommen werden, wie es auch Oswalt für möglich hält, denn die gesellschaftlichen Einflüsse auf die Betrachtung und Bewertung der Geschichte sind erheblich:

„Aus dem starken Einfluss der Gegenwart auf die Wahrnehmung der Vergangenheit wird deutlich, dass jeder wie auch immer geartete gesellschaftliche Veränderungsprozess auch einen profunden Einfluss auf alle Formen geschichtlichen Denkens haben muss. Die Zunahme gesellschaftlicher Heterogenität muss insofern profunde Auswirkungen auf alle Aspekte historischer Deutung haben.“[12]

Diesem Zitat ist eigentlich nichts weiter hinzuzufügen, außer, dass zu hoffen bleibt, dass die zunehmend heterogene und diverse Betrachtung von Geschichte sich auch tatsächlich bald im Geschichtsunterricht und der Pädagogik im Allgemeinen niederschlagen wird.

Folgende Arbeiten bzgl. der Thematik könnten sich perspektivisch auf eine grundständigere Ebene der Pädagogik zubewegen und hierbei nicht unbedingt die Lerninhalte behandeln, sondern den Zugang zu diesen, welcher nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht. Wie Bernd Wagner feststellt, besteht beispielsweise noch ein starker Handlungsbedarf bzgl. einer „individuellen Lernberatung für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern“.[13]

Literaturverzeichnis

Ebitsch, Sabrina, Wo ihr Kind am besten lernt, 2017, https://www.sueddeutsche.de/bildung/schulformen-in-deutschland-wo-ihr-kind-am-besten-lernt-1.1482236-2 (abgerufen am 6. Juli 2020).

Kohser-Spohn, Christiane, Die Kategorie Geschlecht in der Geschichtswissenschaft und in der Geschichtsdidaktik in Deutschland. Rückblick und Ausblick, in: ebd., Farkas-Baumann, Dorothea, Internationale Schulbuchforschung. Frauen- und Geschlechtergeschichte im Unterricht aus europäischer Perspektive / Teaching the history of women and gender in Europe, 2005, Vol. 27, No. 2, S. 157-166.

Lücke, Martin, Walk on the wild side. Genderkompetenz, Zeitgeschichte und Historisches Lernen, in: Barricelli, Michele, Hornig, Julia, Aufklärung, Bildung, „Histotainment“. Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt / Main u. a. 2007, S. 223-236.

Oswald, Vadim, Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung, in: Beckmann, Christof (Hrsg.), Qualitätsmanagement und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2009, S. 167-192.

Riegel, Christine, Diversity-Kompetenz? – Intersektionale Perspektiven der Reflexion, Kritik und Ver-änderung, in: Faas, Stefan, Bauer, Petra, Treptow, Rainer (Hrsg.), Kompetenz, Performanz, soziale Teilhabe. Sozialpädagogische Perspektiven auf ein bildungstheoretisches Konstrukt, Wiesbaden 2014, S. 183-198.

Toolbox. Gender und Diversity in der Lehre. https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/index.html (abgerufen am 07. Juli 2020).

Wagner, Bernd, Intersektionalität und Inklusion im Sachunterricht, in Backhaus, Joanna, Blmer, Daniel, u. a. (Hrsg.), Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen, Wiesbaden 2015, S. 65-70, hier: S. S.65.


[1] Vgl. Riegel, Christine, Diversity-Kompetenz? – Intersektionale Perspektiven der Reflexion, Kritik und Ver-änderung, in: Faas, Stefan, Bauer, Petra, Treptow, Rainer (Hrsg.), Kompetenz, Performanz, soziale Teilhabe. Sozialpädagogische Perspektiven auf ein bildungstheoretisches Konstrukt, Wiesbaden 2014, S. 183-198, hier: S. 183.

[2] Vgl. ebd., S. 189.

[3] Vgl. Kohser-Spohn, Christiane, Die Kategorie Geschlecht in der Geschichtswissenschaft und in der Geschichtsdidaktik in Deutschland. Rückblick und Ausblick, in: ebd., Farkas-Baumann, Dorothea, Internationale Schulbuchforschung. Frauen- und Geschlechtergeschichte im Unterricht aus europäischer Perspektive / Teaching the history of women and gender in Europe, 2005, Vol. 27, No. 2, S. 157-166, hier: S. 161.

[4] Vgl. ebd., S. 163.

[5] Vgl. ebd., S. 164.

[6] Vgl. Oswalt, Vadim, Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung, in: Beckmann, Christof (Hrsg.), Qualitätsmanagement und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2009, S. 167-192, hier: S. 175.

[7] Vgl. Ebitsch, Sabrina, Wo ihr Kind am besten lernt, 2017, https://www.sueddeutsche.de/bildung/schulformen-in-deutschland-wo-ihr-kind-am-besten-lernt-1.1482236-2 (abgerufen am 6. Juli 2020).

[8] Vgl. Riegel 2014, S. 183.

[9] Vgl. Kohser-Spohn 2005, S. 157.

[10] Vgl. Lücke, Martin, Walk on the wild side. Genderkompetenz, Zeitgeschichte und Historisches Lernen, in: Barricelli, Michele, Hornig, Julia, Aufklärung, Bildung, „Histotainment“. Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt / Main u. a. 2007, S. 223-236, hier: S. 226.

[11] Vgl. https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/index.html (abgerufen am 02. Juli 2020).

[12] Vgl. Oswalt 2009, S.  171.

[13] Vgl. Wagner, Bernd, Intersektionalität und Inklusion im Sachunterricht, in Backhaus, Joanna, Blmer, Daniel, u. a. (Hrsg.), Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen, Wiesbaden 2015, S. 65-70, hier: S. S.65.


Quelle: Marcus Schäfer: „Was hat das alles mit mir zu tun?“- Plädoyer für einen diversen Geschichtsunterricht, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.04.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/04/22/was-hat-das-alles-mit-mir-zu-tun-plaedoyer-fuer-einen-diversen-geschichtsunterricht/