Stereotype Threat

Beeinflussung der akademischen Identität durch Stereotype und ihre Auswirkungen

Alina Wusits (SoSe 2022)

Einleitung

Bevor ich auf das eigentliche Hausarbeitsthema zu sprechen komme, möchte ich ein paar Worte zu dem Gebrauch von meiner Schrift und Sprache verlieren. Ich habe mich bewusst dafür entschieden den englischen Ausdruck People of Color (Abkürzung: PoC) zu verwenden, da es sich hierbei um eine internationale Selbstbezeichnung von Menschen handelt, welche Rassismus erfahren. Der Begriff ist emanzipatorisch, solidarisch und verdeutlicht eine politisch gesellschaftliche Position. Außerdem stellt sich die Bezeichnung gegen diskriminierende Fremdbezeichnungen durch die weiße Mehrheitsgesellschaft (Antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit, (o. D.)). Darüber hinaus verwende ich genderneutrale Sprache, da es mir sehr wichtig ist, dass sich alle Menschen, die diesen Text lesen, angesprchen fühlen.

Ich habe mich für das Thema Stereotype Threat entschieden, weil ich die Einteilung von Menschen in Kategorien und die Konsequenzen davon im Allgemeinen sehr spannend finde. Mit der Gruppierung von Menschen und der Zuschreibung von Erwartungen und Eigenschaften entstehen Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung. Der Stereotype Threat Effekt ist eine von vielen Folgen und kann weitreichende Konsequenzen für das Leben einer Person haben. Das Wissen darüber, dass es diesen Effekt gibt, regt zum Nachdenken an und ermöglicht es, diesem Phänomen, zusammen mit anderen Interventionsmaßnahmen, entgegenzuwirken.

In meiner Hausarbeit gehe ich vor allem auf eine Studie von Shelvin et al. (2014) ein, die sich mit Stereotype Threat von PoC Kindern beschäftigt. Die Auswirkungen dieses Phänomens haben beginnend im Kindesalter weitreichende Folgen auf das Leben einer Person of Color. Im Allgemeinen kann man den Effekt aber in ganz unterschiedlichen Gruppen und Situationen beobachten. Beispielsweise gibt es zahlreiche Studien, die sich mit den Auswirkungen des Effekts bei Schülerinnen[1], homosexuellen Menschen oder älteren Personen beschäftigen.

Definitionen

Definition Stereotyp

Menschen werden im Alltag ständig aufgrund bestimmter Merkmale und Eigenschaften zu sozialen Kategorien und Gruppen zusammengefasst, da Kategorisierungen dabei helfen die Realität zu ordnen, zu strukturieren und zu vereinfachen. Jede Person ist Teil mehrerer sozialer Kategorien, ganz unabhängig davon, ob dies gewollt oder ungewollt, beziehungsweise bewusst oder unbewusst geschieht. Abhängig von der jeweiligen Kategorie hat die Gesellschaft unterschiedliche Erwartungen an die Mitglieder einer Gruppe. Jedoch trifft meist nur ein kleiner Anteil der erwarteten Merkmale wie Verhaltensweisen, Vorlieben, Einstellungen etc. zu und die zusätzlichen Erwartungen werden der Gruppe fälschlicherweise zugeschrieben. Auf diesem Wege entstehen stereotype Muster, welche automatisch aktiviert werden, wenn wir mit Mitgliedern einer bestimmten Kategorie interagieren. Stereotype sind eine Kategorisierung, die den weiteren Wahrnehmungen und Informationen eine Richtung geben soll. Ein Stereotyp ist zusammenfassend gesagt eine verallgemeinernde Beurteilung, die mit bestimmten Erwartungen und Informationen einhergeht. Der Prozess der Stereotypaktivierung erfolgt meist automatisch und hilft dabei, die Beobachtungen der Realität einzuschätzen (Garms-Homolová, 2021).

Die meisten Menschen haben das Gefühl zu wissen, was Stereotype sind. Hinton (2019) bringt die Aussagen von verschiedenen Definitionen sowohl in Wörterbüchern als auch in akademischen Quellen auf den Punkt. Zusammenfassend werden Stereotype als eine fixierte, stark vereinfachte und übergeneralisierte Vorstellung über eine Person oder Personengruppe beschrieben, welche oft im Zusammenhang mit Vorurteilen und Diskriminierung stehen. Wichtig zu erwähnen ist außerdem, dass Stereotype in einer Kultur entstehen und weitergegeben werden und es sich nicht um die Vorstellungen nur eines Individuums handelt.

Die Bedeutung des Begriffs Stereotyp wird nochmal klarer, wenn man sich mit seinem sprachlichen Ursprung auseinandersetzt. Das griechische Wort stereos bedeutet starr, hart und fest; typos heißt soviel wie Entwurf, feste Norm und charakteristisches Gepräge (Petersen & Six, 2008).

Definition Stereotype Threat

Steele (1997) definiert Stereotype Threat als eine sozialpsychologische Bedrohung, die entsteht, wenn sich eine Person in einer Situation befindet oder etwas Bestimmtes tut und es ein negatives Stereotyp gegenüber der eigenen Gruppe gibt. Es handelt sich hierbei, um einen generellen situationsabhängigen Druck, der von jeder Gruppe erlebt werden kann, wenn das Wissen eines negativen Stereotyps der eigenen Gruppe in der Gesellschaft weit verbreitet ist. Zu betonen ist hier, dass die betroffene Person selbst das Stereotyp nicht glauben muss. Ausschlaggebend ist, dass der betroffenen Person bewusst ist, dass andere Menschen dieses bestimmte Stereotyp über eine Kategorie von Menschen haben.

Steele and Aronson (1995) nehmen an, dass Menschen Bedrohung verspüren, wenn sie in einer bestimmten Situation die Befürchtung haben, auf der Grundlage von negativen Stereotypen beurteilt zu werden. Folglich wird versucht, durch das eigene Handeln diese negativen Stereotype der Eigengruppe nicht willentlich zu bestätigen.

Schmader et al. (2008) gehen davon aus, dass die Bedingung der Stereotype Threat die Leistung über drei verschiedene und miteinander verbundene Mechanismen stört. Zum einen beeinträchtigt eine physiologische Stressreaktion die präfrontale Verarbeitung und zum anderen haben Menschen die Tendenz ihre Leistung aktiv zu überwachen. Als dritter Punkt kommen die Bemühungen, negative Gedanken und Emotionen als Selbstregulation zu unterdrücken, hinzu. Diese drei Mechanismen verbrauchen alle exekutive Ressourcen, welche jedoch für eine gute Leistung bei kognitiven, aber auch bei sozialen Aufgaben gebraucht werden. Darüber hinaus stört die aktive Überwachung der Leistung die Ausführung von sensomotorischen Aufgaben.

Ausgewählte Studie zu Stereotype Threat

Stereotype threat in African American children: The role of Black identity and stereotype awareness

Kristal Hines Shelvin, Rocío Rivadeneyra, Corinne Zimmerman (2014)

Shelvin et al. (2014) gehen davon aus, dass für das Auftreten der stereotypen Bedrohung entscheidend ist, dass die Teilnehmenden wissen, dass ihre Leistung bewertet wird. PoC Kinder sind sich sehr bewusst, dass ihre Fähigkeiten und Leistungen im Schulkontext kontinuierlich bewertet werden. Aus diesem Grund hat jeder Schultag das Potenzial, eine stereotype Bedrohungssituation mit sich zu bringen und es ist zu erwarten, dass PoC Kinder schlechter bei einer akademischen Aufgabe mit stereotyper Bedrohung abschneiden, verglichen mit einer Kontrollbedingung ohne stereotyper Bedrohung. Nach Schmader et al. (2008) wird die stereotype Bedrohung durch eine Diskrepanz zwischen dem Selbstkonzept einer Person, der Gruppe, zu der sich die Person zugehörig fühlt, und ihren Fähigkeiten ausgelöst.

Die Studie von Shelvin et al. (2014) untersucht die Auswirkungen von stereotypen Bedrohungen auf die schulischen Leistungen von 186 PoC Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren. Die Autor*innen gehen davon aus, dass die Kinder in diesem Alter schulischen Erfolg wertschätzen sollten und sich ausreichend in der Schule engagieren. Darüber hinaus wurde auch das Wissen spezifischer rassistischer Stereotype und die Identitätsprofile von den Teilnehmenden untersucht, welche das Potenzial haben, die Anfälligkeit für das Gefühl einer Bedrohung durch Stereotype zu mildern.

Die teilnehmenden Kinder haben den Multidimensional Inventory of Black Identity-Teen Test ausgefüllt, der Aspekte der Black racial identity misst. Die Fragen beziehen sich auf Gefühle zu PoC als eine Gruppe, Ansichten über die gesellschaftliche Meinung zu PoC, die Wichtigkeit der Hautfarbe für das Selbstkonzept und den Umgang mit Problemen, die PoC haben. Die Teilnehmenden haben verschiedene Aussagen, wie zum Beispiel „I am proud to be Black“ auf einer Likert Skala von 1 (really disagree) bist 5 (really agree) bewertet.

Im Stereotype Awareness Task sollten die teilnehmenden Kinder alle Stereotype, die sie über PoC wissen, auflisten. Die Teilnehmenden haben durchschnittlich 5,1 Stereotype aufgelistet, wobei sieben Kategorien besonders oft vorgekommen sind: “Blacks are less intelligent than Whites”, “Blacks are worthless”, “Blacks are poor”, “Blacks are unattractive”, “Blacks are criminals”, “Blacks are violent”, “Blacks are good athletes”. Das Stereotyp “Blacks are less intelligent than Whites” war mit 44% das am meist genannte Stereotyp und ist darüber hinaus das relevanteste in Bezug auf die Stereotype Threat Aktivierung bei der Absolvierung akademischer Aufgaben. Dies zeigt sehr gut, dass viele Kinder bereits im Alter von 10 Jahren, das in der Gesellschaft verbreitete Wissen von Stereotype über ihre ethnische Gruppe besitzen.

Für die akademische Aufgabe wurde der Subtest Lesen / Vokabular, welcher 30 Items umfasst, des Test of Adolescent Langugae TOAL verwendet. Der Auftrag bestand darin, aus einer Zielwortliste mit fünf Wörtern, jene zwei Wörter auszuwählen, die am ehesten zu dem durch die Zielwortliste repräsentierten Konzept passen. Beispielsweise enthält die Zielwortliste die Begriffe Blau, Grün, Orange und Braun und die Kinder mussten aus der folgenden Liste (z.B. Fuchs, Auto, Rot, Computer, Schwarz) die passenden Wörter auswählen. In diesem Bespiel wäre die richtige Antwort Rot und Schwarz, da in der Zielwortliste verschiedene Farben aufgezählt werden. Die Schwierigkeit der Items steigt mit der Testlänge. Eigentlich ist der Test für Kinder von 12 bis 18,5 Jahren konzipiert. Er wurde dennoch ausgewählt, weil das Ziel der Studie darin bestand, eine Aufgabe zu haben, welche gleichzeitig herausfordernd und akademisch ist.

Es durften nur jene Kinder an der Studie teilnehmen, welche eine schriftliche Zustimmung der Eltern erhalten und ihre eigene Zustimmung gegeben haben. Im ersten Abschnitt der Studie füllten die Kinder den Stereotype Awareness Task, den Multidimensional Inventory of Black Identity-Teen Test und ein demografisches Formular aus. Der zweite Abschnitt fand ein bis zwei Wochen später statt. Die Teilnehmenden wurden per Zufall einer stereotypen Bedrohungsbedingung oder einer Kontrollgruppe zugeordnet. Daraufhin absolvierten die Kinder in beiden Gruppen den Test of Adolescent Langugae TOAL. Der Stereotype Threat Gruppe wurde gesagt, dass der Test die Intelligenz misst und die Ergebnisse von PoC und weißen Kindern verglichen werden. Der Kontrollgruppe wurde gesagt, dass einzelne Fragen getestet werden, um zu entscheiden, ob sie auch in zukünftigen Tests verwendet werden sollten. Abschließend wurde allen Kindern mitgeteilt, dass sie ihr Bestes geben sollten.

Die Ergebnisse des Test of Adolescent Language TOAL wurden einer 2 (Stereotype Threat: threat vs. neutral) x 2 (Intelligence Stereotype Awareness: stereotype listed vs. stereotype not listed) ANCOVA unterzogen. Man hat einen Haupteffekt der Stereotype Threat gefunden. Kindern in der Threat Bedingung haben niedrigere Ergebnisse im TOAL, im Vergleich zur neutralen Bedingung, erzielt. Eine Analyse des Einzeleffekts hat gezeigt, dass der Stereotype Threat Effekt nur dann eine Wirkung hatte, wenn das Intelligenzstereotyp salient war.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Stereotype Threat ein Faktor im akademischen Alltag von PoC Kindern spielt. Jene Kinder, die in der klassischen Stereotype Threat Bedingung waren, erzielten schlechtere Ergebnisse in akademischen Aufgaben verglichen mit jenen Kindern, die einer neutralen Bedingung ausgesetzt waren. Außerdem wurde gefunden, dass individuelle Differenzen, wie das Bewusstsein von Stereotypen und das Identitätsgefühl mit der Gruppe von PoC den Effekt der Stereotype Threat moderieren. Wie Steele (1997) in seiner Definition schon gezeigt hat, muss den Individuen das Stereotyp bezüglich der Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, bewusst sein, damit es zu einem Stereotype Threat Effekt kommt. Dies wurde auch in der Studie gezeigt, denn nur jene Kinder, die spontan das Stereotyp “Blacks are less intelligent than Whites“ aufgelistet haben, haben die erwarteten Leistungsunterschiede in der akademischen Aufgabe gezeigt. Auch wenn es Unterschiede in der Leistung gab, ist die Studie von noch stärkeren Diskrepanzen, auf Basis von älteren Studien, ausgegangen.

Unter dem Stereotype Threat Effekt kommt es auch dazu, dass PoC es vermeiden, Vorlieben für stereotype Aktivitäten, wie zum Beispiel das Mögen von Jazz, Hip Hop und Basketball, zu äußern. Diese Vermeidung zeigt den Wunsch auf, nicht durch den Blickwinkel von rassistischen Stereotypen gesehen werden zu wollen (Steele & Aronson, 1995).

Folgen von Stereotype Threat

Vulnerable Faktoren

Situationsbedingte Hinweisreize können sowohl die Aktivierung von Stereotypen der eigenen sozialen Identität beeinflussen, als auch die Wahrscheinlichkeit von schlechteren Leistungen als Folge des Stereotype Threat Effekts (Fuligni, 2007). Sowohl akademische Stereotype als auch akademische Selbstkonzepte beeinflussen und formen die akademischen Identitäten von Kindern (Bowe et al., 2017). Wenn eine Person of Colour als Minderheit in einer Gruppe versucht, sich den Text einer verbalen Präsentation zu merken, gelingt dies nicht so gut. Im Vergleich dazu lässt sich dieser Effekt nicht beobachten, wenn die Mehrheit der Teilnehmenden auch PoC sind (Sekaquaptewa & Thompson, 2002).

Die alleinige Angabe des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft vor der Durchführung eines Tests kann zu geringerer Leistung führen, da dadurch die soziale Identität der Gruppe salient gemacht wird. (Fuligni, 2007)

Protektive Faktoren

Das Auffinden von protektiven Faktoren ist der Schlüssel zum Durchbrechen von Stereotype Threat, der Nichtidentifikation mit akademischen Leistungen und somit der Weg, die Lücke von Leistungsunterschieden zu schließen (Shelvin et al., 2014).

Aronson et al. (2002) haben in einer Feldstudie gezeigt, dass PoC Studierende der Stanford Universität signifikant höhere Noten in dem Semester hatten, in dem ihnen gelehrt wurde, dass Intelligenz verformbar ist. Darüber hinaus ist der Aspekt interessant, dass die Personen nicht weniger Stereotype aus ihrer Umwelt berichten. Das bedeutet, dass die Interventionsmaßnahme nicht die Wahrnehmung der stereotypen Umwelt verändert hat, sondern die Vulnerabilität gegenüber Stereotype.

Eine andere mögliche Interventionsmaßnahme könnte darüber hinaus noch die Förderung der wahrgenommenen Ähnlichkeit zwischen den Gruppen sein. Rosenthal and Crisp (2006) haben in drei Experimenten die Hypothese untersucht, dass das Verwischen von Intergruppen-Grenzen den Stereotype Threat Effekt verringern wird. Die erste Studie hat ergeben, dass Frauen[2], die Charakteristiken, die von beiden Geschlechtern geteilt werden, aufgelistet haben, weniger Präferenzen für stereotyp weibliche Berufskarrieren haben, als Teilnehmende der Kontrollbedingung. Im zweiten Experiment wurde offenbart, dass Versuchspersonen, die über gemeinsame Charakteristiken nachgedacht haben, mehr richtige mathematische Fragen beantwortet haben. Im dritten Experiment wurde eine spezifische Bedrohungsmanipulation hinzugefügt. Teilnehmende, die die Aufgabe zu geteilten Charakteristiken vor der Stereotype Threat Bedingung durchgeführt haben, haben signifikant mehr mathematische Fragen richtig beantwortet als in der Kontrollbedingung und der ausschließlichen Threat Bedingung. All diese Ergebnisse unterstützen die Idee, dass Interventionsmaßnahmen zur Reduzierung von Intergruppenvoreingenommenheit erfolgreich zur Reduktion des Stereotype Threat Effekts eigesetzt werden können.

Konsequenzen von Stereotype Threat

Eine sehr weitreichende und langfristige Konsequenz von Stereotype Threat für die soziale Identität kann sein, dass sich Personen in einer akademischen Gemeinschaft unwohl oder sogar fehl am Platz fühlen. Stereotype können in Individuen ausreichend negative Gefühle erzeugen, dass diese ihre professionellen Identitäten ändern. Dies kann zur Folge haben, dass sich professionelle und berufliche Karrieren ändern und neue Karrierewege in einem anderen Feld gesucht werden. Wenn das Gebiet jedoch so fundamental, wie beispielsweise Mathematik ist, schließt diese Vermeidung viele Türen für potenziell lukrative Karrieren, beispielsweise im Bereich der Wissenschaft oder Technik. Eine kurzfristige psychologische Anpassungsfunktion an Stereotype Threat wäre die Strategie des Disengagements[3]. Bei dieser Strategie wird das Selbstwertgefühl psychologisch von den Bereichen gelöst, in denen Personen das Ziel von negativen Stereotypen, Vorurteilen und Benachteiligung sind. Diese defensive Distanzierung des Selbstwertgefühls von Erlebnissen in einem bestimmten Bereich führt dazu, dass das Selbstwertgefühl nicht von Erfolgen oder Misserfolgen in diesem bestimmten Bereich abhängt (Major et al., 1998). Hier wird die Abhängigkeit der eigenen Selbstansichten auf die eigene Leistung abgeschwächt (Fuligni, 2007). Die Strategie des Disengagements wird vor allem in Situationen angewendet, in denen eine relativ schlechte Leistung erwartet wird. Darüber hinaus kann die Abgrenzung des Selbstwertgefühls vom Feedback ebenfalls in Situationen auftreten, in denen das gegebene Feedback als voreingenommen gegen die stigmatisierte Gruppe wahrgenommen wird. In manchen Fällen kann dieser Mechanismus auch einen protektiven Faktor darstellen. Beispielsweise waren PoC nicht von negativem Feedback nach einem Intelligenztest betroffen, nachdem sie auf die Möglichkeit einer rassistischen Voreingenommenheit des Tests geprimed wurden. In unserer Gesellschaf sind PoC von Vorurteilen und Diskriminierung betroffen und die Folgen von sich wiederholenden Erfahrungen mit rassistischer Voreingenommenheit und Diskriminierung kann dazu führen, dass sich das Selbstwertgefühl chronisch von der Leistung in intellektuellen Bereichen löst (Major et al., 1998). Dennoch glauben Major et al. (1998), dass es möglich ist, das Selbstwertgefühl von der eigenen Leistung bei beispielsweise einem Intelligenztest zu lösen, gleichzeitig aber Intelligenz zu schätzen und das Gefühl zu haben, dass Intelligenz ein zentraler und wichtiger Teil des Selbstkonzeptes ist.

Literaturverzeichnis

Antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit. (o. D.). Amadeu Antonio Stiftung. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/juan-faecher.pdf [Abruf am 6.8.2022]

Aronson, J., Fried, C. B., & Good, C. (2002). Reducing the Effects of Stereotype Threat on African American College Students by Shaping Theories of Intelligence. Journal of Experimental Social Psychology, 38(2), 113-125. https://doi.org/https://doi.org/10.1006/jesp.2001.1491

Bowe, A. G., Desjardins, C. D., Covington Clarkson, L. M., & Lawrenz, F. (2017). Urban Elementary Singel-Sex Math Classroom: Mitigating Stereotype Threat for African American Girls. Urban Education, 52(3), 370-398. https://doi.org/10.1177/0042085915574521

Fuligni, A. J. (2007). Contesting Stereotypes and Creating Identities: Social Categories, Social Identities, and Educational Participation. Russell Sage Foundation.

Garms-Homolová, V. (2021). Sozialpsychologie der Informationsverarbeitung über das Selbst und die Mitmenschen: Selbstkonzept, Attributionstheorien, Stereotype & Vorurteile. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62922-2_4

Hinton, P. R. (2019). Stereotypes and the Construction of the Social World (1 ed.). Routledge. https://doi.org/https://doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.4324/9781315205533

Major, B., Spencer, S., Schmader, T., Wolfe, C., & Crocker, J. (1998). Coping With Negative Stereotypes About Intellectual Performance: The Role of Psychological Disengagement [Article]. Personality & Social Psychology Bulletin, 24(1). https://link.gale.com/apps/doc/A76020698/ITOF?u=43wien&sid=bookmark-ITOF&xid=85022606

Petersen, L.-E., & Six, B. (2008). Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung: Theorien, Befunde und Interventionen. Beltz Verlag. .

Rosenthal, H. E. S., & Crisp, R. J. (2006). Reducing Stereotype Threat by Blurring Intergroup Boundaries. Personality and Social Psychology Bulletin, 32(4), 501-511. https://doi.org/10.1177/0146167205281009

Schmader, T., Johns, M., & Forbes, C. (2008). An Integrated Process Model of Stereotype Threat Effects on Performance. Psychological Review, 115(2), 336-356. https://doi.org/10.1037/0033-295X.115.2.336

Sekaquaptewa, D., & Thompson, M. (2002). The Differential Effects of Solo Status on Members of High- and Low-Status Groups. Society for Personality and Social Psychology, 28(5), 694-707. https://doi.org/10.1177/0146167202288013

Shelvin, K. H., Rivadeneyra, R., & Zimmerman, C. (2014). Stereotype threat in African American children: The role of Black identity and stereotype awareness. Revue internationale de psychologie sociale, 27(3), 175-204.

Steele, C. M. (1997). A Threat in the Air: How Stereotypes Shape Intellectual Identity and Performance. The American psychologist, 52(6), 613-629. https://doi.org/10.1037/0003-066X.52.6.613

Steele, C. M., & Aronson, J. (1995). Stereotype Threat and the Intellectual Test Performance of African Americans. Journal of personality and social psychology, 69(5), 797-811. https://doi.org/10.1037/0022-3514.69.5.797


[1] Ich habe hier bewusst nicht die genderneutrale Ausdrucksform gewählt, da die Studien meist von einer binären Geschlechtseinteilung ausgehen.

[2] Ich verwende hier die binäre Einteilung in Männer und Frauen absichtlich, da die Autor*innen in ihren Studien ebenfalls von einem binären Geschlechtssystem ausgegangen sind.

[3] Ich habe mich hier absichtlich für den englischen Begriff entschieden, da ich der Meinung bin, dass die deutsche Übersetzung nicht vollkommen treffend ist.


Quelle: Alina Wusits, Stereotype Threat: Beeinflussung der akademischen Identität durch Stereotype und ihre Auswirkungen, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.10.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=281

Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte im Bildungsplan Baden-Württembergs mit Fokus auf den Völkermord der Herero und Nama

Constanze Luise Selegrad (SoSe 2022)

1. Einleitung

Diese Hausarbeit schließt an eine Gruppenarbeit zum Thema „Rassismus“ im Seminar „Gender, Diversity und Gender Mainstreaming“ an.

Um die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, gibt es viele unterschiedliche Möglichkeiten, eine der effektivsten und auch gesamtgesellschaftlichsten ist und bleibt jedoch die Schule. Deswegen soll im Folgenden betrachtet werden, wie im Bundesland Baden-Württemberg Kolonialismus am Gymnasium behandelt wird und, ob in dem Bildungsplan Raum für Verbesserung besteht.

Dazu soll zuerst der Begriff des Kolonialismus eingegrenzt werden, und dann der Weg zum Aufstand und Genozid der Herero und Nama in der ehemaligen Kolonie Südwestafrika des Deutschen Reiches nachgezeichnet werden. Dies soll als Beispiel für die Grausamkeit des Deutschen Reiches als Kolonialmacht dienen und verdeutlichen, warum es wichtig ist, sich heute mit diesem Teil der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Anschließend daran werden erst die relevanten Punkte des Bildungsplanes von Baden-Württemberg vorgestellt und auch Punkte zur besseren Einarbeitung der kolonialen Erinnerung in den Bildungsplan aufgeführt. Außerdem werde ich meine eigenen Erfahrungen im Schulsystem in Bezug auf die deutsche Kolonialgeschichte nachzeichnen. Zum Schluss werden die resultierenden Schlussfolgerungen aufgeführt.

2. Kolonialismus

2.1 Begriffseingrenzungen

Zu Beginn soll der Begriff des Kolonialismus eingegrenzt und definiert werden. Dieser Begriff wird von Trutz von Trotha wie folgt definiert

„Kolonialismus ist ein Prozeß überregionaler Herrschaftsbildung und Herrschaftsausübung. Auf der Grundlage von kriegerischer Gewalt oder der Drohung mit ihr wird ein Herrschaftsverhältnis von einem Staat oder einer ihm direkt verbundenen, organisierten Gruppe von Menschen über eine Gesellschaft errichtet, die in einem Land beheimatet ist, das typischerweise von dem Territorium des imperialen, besitznehmenden Staates durch einen Ozean getrennt ist, sich mindestens in seiner sozio-kulturellen Ordnung von der Gesellschaft des imperialen Staates in wesentlichen Merkmalen unterscheidet und eine eigene Geschichte besitzt. Das Herrschaftsverhältnis ist territorial bestimmt. Die unterworfene Gesellschaft verliert nach außen ihre politisch-diplomatische und, mehr oder minder vollständig, ihre völkerrechtliche Selbständigkeit und gerät in direkte formelle Abhängigkeit von der Kolonialmacht oder ihren Repräsentanten. Die Ziele der kolonialistischen Herrschaft sind in ausgeprägter Einseitigkeit an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen und der Kultur der Kolonialmacht orientiert.“ (Trotha, 2004, p. 50).

2.2     Deutsche Kolonialgeschichte

Die von Bismarck geprägte Außenpolitik des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert führte dazu, dass Deutschland erst 1884 anfing zu kolonialisieren. In diesem Jahr änderte Bismarck seine Meinung zum Thema Kolonisation (Gründer, 2018, p. 55). Er verfolgte allerdings immer eine Politik, die eine offene Auseinandersetzung mit anderen europäischen Ländern, vor allem Großbritannien, vermied (Gründer, 2018, pp. 92–93). Denn die guten Beziehungen zu den europäischen Nachbarstaaten hatten für ihn eine höhere Priorität als die Kolonien (Gründer, 2018, p. 103).

Mit der Ablösung Bismarcks als Reichskanzler durch Graf Leo von Caprivi änderte sich auch die Außenpolitik des deutschen Kaiserreichs was die Kolonialpolitik betraf. Denn Caprivi wollte die in Südafrika unter „Schutzverträgen“ stehenden Gebiete in „Kolonialgebiete“ umwandeln (Gründer, 2018, p. 121).

Die in diesen Gebieten lebenden Nama-Stämme widersetzten sich von Beginn an gegen die neuen Verträge, da durch diese ihr bisheriges Nomadenleben nicht mehr möglich wäre (Gründer, 2018, p. 121). Im Gegensatz dazu widersetzten sich die Herero zu Beginn nicht gegen die „deutsche Schutzherrschaft“, da sie sich von dieser Schutz vor den Expansionsideen der Nama versprachen (Gründer, 2018, pp. 121–122). Eben diese bereits bestehenden Konfliktlinien zwischen den Herero und Nama wurden vom deutschen Kaiserreich ausgenutzt, um eine „deutsche Oberherrschaft“ schaffen zu können. Außerdem nutzten sie die Stellung der Stammeshäuptlinge, indem sie diesen eine Rente versprachen im Gegenzug für die Gebietsverluste der Stämme und Einflussverluste der Häuptlinge (Gründer, 2018, pp. 122–123). Während das Ziel der Regierung in Deutschland noch eine „Schutzherrschaft“ war, forderten die Siedler*innen [1] vor Ort längst eine „Siedlerkolonie“ (Böcker, 2020, p. 50). Die eskalierende Brutalität sowie die ausbeuterischen Geschäftspraktiken der weißen Siedler*innen gegenüber den Herero und Nama, als auch die Morddrohungen gegen den Oberhäuptling der Herero, Samuel Maharero, werden als die Auslöser für den Aufstand der Herero und Nama gewertet (Gründer, 2018, p. 129).

Der Aufstand begann am 12.01.1904 (Böcker, 2020, p. 51). Im Januar 1904 führten die Herero einen Überraschungsschlag gegen eine Stationsbesatzung, außerdem zerstörten sie Eisenbahnlinien und Telegraphenverbindungen. Die Herero waren bis Juni 1904 erfolgreich, bei Waterberg wurde ein Großteil der Herero-Gruppen eingekesselt, es folgte ein Vernichtungsschlag. Diejenigen, die überlebten, wurden in ein Dürregebiet zurückgedrängt, wo sie dem Wetter und Wassermangel zum Opfer fielen (Gründer, 2018, p. 130).

Nach der Niederlage der Herero widersetzten sich auch die Nama ab Oktober 1904 den deutschen Truppen. Allerdings hatten die Nama nach dem Tod von Hendrik Witbooi keinen gemeinsamen Anführer mehr. So konnten manche Stammesanführer dazu bewegt werden, die Waffen niederzulegen, andere widersetzten sich weiter, bis sie bis 1906 besiegt wurden (Gründer, 2018, p. 131). Am 31.03.1907 wurde der Kriegszustand in Südwestafrika offiziell als für beendet erklärt, manche Stämme hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht am Aufstand beteiligt (Gründer, 2018, p. 131).

Durch die vom Kaiserreich verfolgte Vernichtungsstrategie überlebten von den Herero etwa 25% den Aufstand, bei den Nama waren es in etwa 50%. (Gründer, 2018, p. 131). Die Stammesverbände waren nach dem Aufstand de facto kein Machtfaktor mehr (Gründer, 2018, p. 133). Das Stammesvermögen wurde aufgelöst, für den Besitz von Vieh und Land wurde nicht nur eine Obergrenze eingeführt, es wurde auch eine Genehmigung der Kolonialmacht benötigt. Dies, und der Arbeitsvertragszwang und die Passpflicht, schufen ein System der Abhängigkeit, Überwachung und Kontrolle (Gründer, 2018, pp. 133–134). Außerdem wurden Konzentrationslager für die Herero und Nama geschaffen, die 1908 nur wegen des Arbeitskräftemangels aufgelöst wurden (Böcker, 2020, p. 51). Es wurde versucht, die Herero und Nama davon abzuhalten, Lesen und Schreiben zu lernen und ihre eigenständigen Identitäten aufzulösen, um eine „einheitliche Arbeiter*innenklasse“ zu schaffen (Gründer, 2018, p. 137). 

Heute fällt der Massenmord an den Herero und Nama unter die von der UN gegebene Definition von Genozid (Böcker, 2020, p. 51). Seit 1999 versuchen Vertretungen der Herero vor verschiedenen Gerichtshöfen Klage auf Schadensersatz zu erheben, diese sind bis jetzt allerdings immer wieder gescheitert (Böcker, 2020, p. 52). Die deutsche Politik versucht beständig den Fokus nicht auf den Genozid zu legen, sondern auf die Geldmittel, die Namibia von Deutschland seit der Unabhängigkeitserklärung erhält. Diese Gelder gingen allerdings nicht and die Opfer des Völkermordes (Böcker, 2020, p. 52). Am 14.08.2004 entschuldigte sich die Bundesministerin Wieczorek-Zeul ausdrücklich bei der Gedenkfeier für die Schlacht von Waterberg (Lutz and Brumlik, 2005, p. 23). Bis heute folgte allerdings noch keine Entschuldigung des Regierungs- oder Staatsoberhauptes von Deutschland. In Afrika wird der Aufstand der Herero und Nama heute als Freiheitskrieg interpretiert (Gründer, 2018, p. 132).

3. Koloniale Erinnerung im deutschen Bildungswesen

Um herausarbeiten zu können, inwieweit und in welcher Form koloniale Erinnerung im deutschen Bildungswesen existiert, wird der Bildungsplan Baden-Württembergs von 2016 der Fächer Geschichte, Gemeinschaftskunde und Ethik an Gymnasien untersucht. Es soll herausgearbeitet werden, an welchen Stellen im Bildungsplan auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands besser eingegangen werden kann. Anschließend werde ich darauf eingehen, wie das Thema kolonialer Erinnerung in meiner Schulzeit behandelt wurde.

3.1 Baden-Württemberg

Im Fach Geschichte wird in der 7. Bis 8. Klasse das Konzept des Imperialismus am Beispiel Afrikas eingeführt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Allerdings ist hier weder vorgeschrieben, auf die Lebensrealität in den damaligen Kolonien einzugehen, noch das Deutsche Reich im Speziellen als Kolonialmacht.

In der 9. und 10. Klasse liegt der Fokus beim Thema Imperialismus auf dem Vergleich ehemaliger Imperial-Mächte mit einem Fokus auf Russland, China, dem osmanischen Reich und der Türkei (Bildungspläne Baden-Württemberg). Die Entwicklung der ehemaligen Kolonien, und wie diese bis heute vom Kolonialismus geprägt sind, wird hier nicht thematisiert. Um in Deutschland das Verständnis der Kolonialgeschichte des Landes zu stärken, könnte das Deutsche Reich unter diesem Punkt ebenfalls als Imperiale Macht betrachtet werden, mit einem Fokus auf bis heute andauernden Folgen des Kolonialismus in den ehemaligen deutschen Kolonien.

Im zweiten Halbjahr der 12. Klasse steht die Behandlung postkolonialer Räume auf dem Bildungsplan. Ein Unterpunkt sind antikoloniale Bewegungen, die sich nach 1918 ereigneten, unter anderem mit dem Aspekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker nach dem ersten Weltkrieg (Bildungspläne Baden-Württemberg). Deutschland verpflichtete sich mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages 1918 allerdings alle Kolonien aufzugeben, deswegen können antikoloniale Bewegungen oder Widerstand gegen das Deutsche Reich in den Kolonien mit diesem Zeitrahmen nicht betrachtet werden. Wird allerdings auch die Zeit vor 1918 betrachtet, ist dies ein guter Rahmen, um den Genozid an den Herero und Nama in Schulen zu thematisieren, der vom Deutschen Reich verübt wurde. Den Schüler*innen soll ebenfalls die Kompetenz vermittelt werden, Dekolonialisierungsprozesse beschreiben und aktuelle Probleme auf den Kolonialismus zurückführen zu können (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieser Punkt kann erweitert werden, indem die Rolle Europas in der Kolonisation und Dekolonisation in den Fokus gerückt wird, damit Europa stärker in die Verantwortung gezogen werden kann.

Im Fach Gemeinschaftskunde wird in der Mittelstufe im Bereich Internationale Beziehungen die Bewältigung heutiger Konflikte thematisiert, zum Beispiel unter dem Aspekt des Ziels der universalen Umsetzung der Menschenrechte (Bildungspläne Baden-Württemberg). Wird neben der Konfliktbewältigung auch die Konfliktursache bearbeitet, können auch an dieser Stelle die Folgen des Kolonialismus thematisiert werden, da viele heutige Konflikte auf die Kolonialzeit zurückzuführen sind. So zum Beispiel Grenzkonflikte, die erst durch Grenzziehungen von Europa auf anderen Kontinenten entstanden.

In der Oberstufe wird in Gemeinschaftskunde die Außenpolitik Deutschlands behandelt mit der UN und der NATO als Schwerpunkt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieser Punkt kann um die heutigen Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia erweitert werden, indem zum Beispiel die Gelder thematisiert werden, die von Deutschland nach Namibia fließen, oder die in Deutschland geführte Debatte um eine offizielle Entschuldigung der Bundesrepublik an die Herero und Nama. Auch die bisher stattgefundenen Rückführungen von Gebeinen kann an dieser Stelle eingearbeitet werden.

In der Oberstufe wird auch gesellschaftlicher Wandel behandelt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Derzeitig ändern sich viele Aspekte der Gesellschaft in Deutschland, einer dieser Aspekte ist die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reich als Kolonialmacht und welche Verantwortungen Deutschland heute aus dieser Geschichte übernehmen soll oder muss. So kann zum Beispiel die Kontroverse um die ethnologische Ausstellung des Humboldt Forum und die dort zu besichtigende Raubkunst diskutiert werden.

Im Fach Ethik wird das Konzept der Freiheit unter naturalistischen und anthropologischen Blickwinkeln in der Oberstufe behandelt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieses Gebiet kann über die Fragen, wie Menschen Freiheit definieren und welchen Stellenwert Freiheit für einzelne Individuen hat, hinweg erweitert werden, dahin zu fragen, was es bedeutet, dass manchen Menschen während der Kolonialisierung nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihr Menschsein abgesprochen wurde und wie verhindert werden kann, dass dies wieder passiert.

3.2 Persönliche Erfahrungen

In der Schule belegte ich Geschichte in der Oberstufe als Leistungskurs und schrieb auch eine Abiturprüfung in diesem Fach. Allerdings konnte ich mich nicht daran erinnern, je das Thema Kolonialismus, geschweige denn den Genozid der Herero und Nama, im Geschichtsunterricht behandelt zu haben. Mein Wissen zu diesem Thema hatte ich mir außerhalb des Rahmens des Schulsystems angeeignet.

In dem Kursbuch für Geschichte, das wir zur Vorbereitung für das Abitur in der Schule nutzten, beschränkt sich die Erwähnung der deutschen Kolonialgeschichte auf einen Absatz mit neun Sätzen (vgl. Berg, 2010, p.209). Hier wird betont, dass das Deutsche Reich später als andere europäische Länder zu Kolonialmacht wurde. Auch werden Bismarcks wirtschaftliche Interessen an den Kolonien erwähnt (Berg, 2010, p. 209). Über die Grausamkeiten, die während der deutschen Kolonialbesetzung stattfand oder dem Genozid, wird kein Wort verloren.

Neben dem Absatz zur Kolonialpolitik bietet das Buch allerdings einen Verweis für LEMO („Lebendiges Museum Online“), der dort verlinkte Beitrag führt zu einem Text über die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches. In diesem Text wird der Aufstand der Herero und Nama zumindest erwähnt, vor allem werden die Opferzahlen der Herero, Nama und auch die der Siedler*innen aufgezählt. Allerdings wird es nicht als Genozid beschrieben (Asmuss, 2011), obwohl es offiziell von der UN als Genozid eingestuft ist.

3.3  Schlussfolgerung

Der Bildungsplan von Baden-Württemberg bietet genug Ansatzstellen, um sich in der Schule mehr mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands und die daraus resultierenden Folgen für die Gegenwart auseinanderzusetzen. Allerdings muss dies explizit in den Bildungsplan festgeschrieben werden, damit es auch in den Schulen umgesetzt wird. Darüber hinaus müssen auch die für den Schulunterricht zugelassenen Schulbücher dahingehend überarbeitet werden, dass der Kolonialismus einen angemessenen Stellenwert erhält und nicht weiterhin in einem Absatz abgehandelt werden kann. 

4. Fazit

Die Schule ist ein Ort, in dem viele junge Menschen den ersten Kontakt zu dem Thema Kolonialismus erhalten. Deswegen ist es wichtig, dass in diesem Rahmen grundlegendes Wissen und ein Gefühl der Verantwortung vermittelt werden kann, um gesamtgesellschaftlich ein besseres Bewusstsein für diesen Teil der deutschen Geschichte zu schaffen. Der Bildungsplan Baden-Württembergs hat bereits die nötigen Voraussetzungen, um diese Grundlagen zu vermitteln, allerdings muss die Umsetzung noch verbessert werden.

Es gilt allerdings weiterhin in allen Lebensbereichen nach neuen Wegen der Aufarbeitung und Wiedergutmachung zu suchen.

Reference list

Asmuss, B. (2011) Kolonialpolitik. Available at: https://​www.dhm.de​/​lemo/​kapitel/​kaiserreich/​aussenpolitik/​kolonien.

Berg, R. (ed.) (2010) Kursbuch Geschichte. Berlin: Cornelsen.

Bildungspläne Baden-Württemberg (no date). Available at: https://​www.bildungsplaene-bw.de​ (Accessed: 8 August 2022).

Böcker, J. (2020) ‘Juristische, politische und ethische Dimensionen der Aufarbeitung des Völkermords an den Herero und Nama’, Sicherheit & Frieden, 38(1), pp. 50–54. doi: 10.5771/0175-274X-2020-1-50

Gründer, H. (2018) Geschichte der deutschen Kolonien // Geschichte der Deutschen Kolonien. 7th edn. (Uni-Taschenbücher, Nr. 1332 // 1332). Paderborn: Ferdinand Schöningh; Schöningh.

Lutz, H. and Brumlik, M. (eds.) (2005) Kolonialismus und Erinnerungskultur: Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft. Münster: Waxmann (Niederlande-Studien, Bd. 40).

Trotha, T. von (2004) ‘Was war Kolonialismus? Einige zusammenfassenden Befunge zur Soziologie und Geschichte des Kolonialismus und der Kolonialherrschaft’, Saeculum, 55(1), pp. 49–96. doi: 10.7788/saeculum.2004.55.1.49


[1] In diesem Text wird mithilfe des Gendersternchen gegendert, um auch Geschlechtsformen, die nicht männlich oder weiblich sind, miteinzubeziehen.


Quelle: Constanze Luise Selegrad, Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte im Bildungsplan Baden-Württembergs mit Fokus auf den Völkermord der Herero und Nama, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.10.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/10/27/erinnerung-an-die-deutsche-kolonialgeschichte-im-bildungsplan-baden-wurttembergs-mit-fokus-auf-den-volkermord-der-herero-und-nama/