Die soziale Konstruktion von Krankheit

Hysterie als Beispiel für die Reproduktion von Stereotypen in der Medizin

Julika Likus (WiSe 2023/24)

Einleitung 

Gesundheit und Krankheit spielen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene eine große Rolle im alltäglichen Leben. Im Diskurs über Gesundheit und Krankheit überschneiden sich medizinische, biologische und soziale, aber auch politische und historische Ansätze, obwohl häufig zunächst die medizinischen[1] Aspekte im Vordergrund stehen, diskutiert und als heilungsbedürftig empfunden werden. Dabei werden ebenfalls häufiger körperliche Abweichungen einer Norm stärker mit der Sphäre von Krankheit und Gesundheit verknüpft als geistige Beeinträchtigungen, die von physischen Konditionen oft als abgrenzbar dargestellt werden. Eine erweiterte Betrachtung des Feldes Krankheit und Gesundheit betrachtet Krankheit jedoch nicht als „rein-medizinischen“ Zustand, sondern als soziales Ereignis (Dross/Metzger 2018). Einerseits ist die Medizin in Bezug auf Beurteilung, Diagnose und Behandlung von Krankheit und Gesundheit von gesellschaftlichen Normen geprägt, die sich stetig wandeln, und andererseits folgt auf eine medizinische Diagnose von Krankheit und Gesundheit eine soziale Wirkung/Reaktion, die die Teilnahme an einem sozialen Alltag beeinflusst. So sind also auch gesundheitliche Unterschiede zwischen Gruppen nicht ausschließlich durch biologische Unterschiede verursacht, sondern werden durch soziale Strukturen, die mit Hierarchie und Macht zusammenhängen und Menschen privilegieren und unterdrücken, konstruiert (Short/Zacher 2022). 

In der vorliegenden Arbeit wird sich hauptsächlich auf Machtgefällen und diskriminierenden Strukturen im medizinischen Bereich beschränkt, die aufgrund des Geschlechts[2] existieren, wobei eine ganzheitliche, feministische Perspektive immer auch andere -ismen und Merkmale wie Klasse oder Race einbeziehen muss und intersektional gedacht werden muss. 

Daten wissenschaftlicher Forschungen, die zur Entwicklung medizinischer Definitionen und Behandlungsleitlinien verwendet werden, wurden jahrhundertelang anhand einer hauptsächlich cis-männlichen[3] Untersuchungsgruppe gewonnen und deren Erkenntnisse dann geschlechts- und gruppenübergreifend angewandt. Die Abwesenheit von Frauen in klinischen Studien bedeutet das Zuschneiden des Wissens auf Männer und festigt die Norm eines cis-männlichen Körpers. Die Aufschlüsselung nach Geschlecht[4] wurde zunehmend in medizinischer Forschung etabliert, weitere soziale Realitäten und intersektionale Perspektiven werden jedoch weiterhin größtenteils außer Acht gelassen (Kuhlmann 2016). 

Frauen erhalten auch heute noch regelmäßig andere Diagnosen und Behandlungsempfehlungen wie Männer, bei ihnen werden zum Beispiel häufiger psychische Dinge als Ursache für Symptome angesehen und körperliche Probleme dadurch übersehen (Short/Zacher 2022). Ein historisch interessanter Fall, der die Verflechtung von Stereotypen, Krankheit und Gesundheit aufzeigt und zur Reproduktion patriarchischer Strukturen führt, ist die hauptsächlich Frauen zugeschriebene und lange als Krankheit angesehene Hysterie. In den nächsten Kapiteln wird zunächst die soziale Konstruktion von Krankheit und Gesundheit näher erläutert und anschließend die Entstehung und Konzeption der Hysterie als Beispiel für die Verknüpfung sozialer Norm und Geschlechtsvorstellungen mit medizinischer Diagnostik und Behandlung thematisiert. Es wird sich zeigen, dass sich die Symptomatik und Behandlungsmethoden der Symptome mit sich verändernden Werten und zugeschriebenen Eigenschaften und Erwartungen an Geschlechter ebenfalls verändert haben und besonders die Benachteiligung im medizinischen Bereich für diskriminierte Gruppen der Gesellschaft folgenschwere Auswirkungen hat. 

Krankheit als soziales Konstrukt 

Das Verständnis von Krankheit und Gesundheit beruht auf sozialen Vorstellungen über den Zustand von Personen oder Dingen. Die Medizin nimmt in der Gesellschaft eine Art Doppelrolle ein, die als Hauptinstanz zur Trennung von Krankheit und Gesundheit gilt, dadurch aber gleichzeitig auch ihr eigenes Handeln begründet (Dross/Metzger 2018). Krankheit wird in der Literatur ursprünglich häufig als Abweichung eines als „normal“ betrachteten Körpers definiert, der das Einwirken von Mediziner:innen zur Stellung einer Diagnose und eines Behandlungskonzepts mit dem grundsätzlichen Ziel der Heilung und Wiederherstellung von Gesundheit erfordert. Einem strukturfunktionalistischem Ansatz nach gilt körperliche und geistige Gesundheit als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsstruktur. Krankheit wurde zunehmend als Prozess verstanden, der keine klare Grenze zu „Gesundheit“  hat (Ullrich 2014). Einige Krankheitsbilder hängen stark mit der gesellschaftlichen Konstruktion und Vorstellung von Körper, Geschlecht und Sexualität zusammen, die Geschichte bestimmter Krankheitsbilder zu verstehen, erfordert deshalb die Auseinandersetzung mit der Veränderung klinischer und psychologischer Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht (Kleinplatz 2018, Schroer/Wilde 2016). Werte und Normen enthalten oft stereotypische Vorstellungen von Menschen, die in der Medizin zu ausbleibender oder fehlerhaften Diagnostik und Behandlung führen. Neben der medizinischen Komponente greifen diverse sozio-politische Aspekte in den Bereich von Krankheit und Gesundheit; soziale Beziehungen, Abhängigkeitsverhältnisse und politische Setzungen, die von gesellschaftlichen Normen geprägt sind (Ullrich 2014). Erkrankungen prägen soziale Beziehungen und Konnotationen von Krankheiten wirken sich auf den gesellschaftlichen Umgang mit einer erkrankten Person aus. Besonders schwerwiegende oder ansteckende Krankheiten werden zum Beispiel häufig mit Armut in Verbindung gebracht und können zur sozialen Ächtung, Abscheu, Ausgrenzung oder ,Aussatz‘ führen. Allgemeine Definition von Krankheiten, die auf der ,Norm‘ basieren, ignorieren Gesundheit- und Lebensrealitäten vieler marginalisierter und diskriminierter Gruppen wie zum Beispiel BIPoCs, LGBTQIA+-Menschen und Frauen, da aufgrund von Stereotypen und tatsächlichem Ausschluss aus medizinischer Betrachtung und Forschung unterschiedliche Maßstäbe zur Bewertung und Behandlung gleicher Umstände je nach Patient:in angelegt werden (Dross/Metzger 2018). „[S]oziale Strukturen werden durch wissenschaftliche Autorität im Körper der Betroffenen veranker[t]“ (Dross/Metzger 2018), was folgenschwere Auswirkungen für die Personen haben kann. 

Hysterie als Beispiel für stereotypisierte medizinische Diagnostik und Behandlung 

Hysterie[5] ist ein historischer medizinischer Begriff, der im Laufe der Zeit verschiedene Bedeutungen hatte und in der modernen Medizin nicht mehr als diagnostische Kategorie verwendet wird. Ein Blick auf die Geschichte der Hysterie ist dennoch hilfreich, um die Entwicklung medizinischer Konzepte und Behandlungsmethoden im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen zu verstehen und wie gesellschaftliche Vorstellungen von Frauen und ihrer Rolle in der Medizin sich im Laufe der Zeit verändert haben. 

Die Hysterie leitet sich aus dem altgriechischen Wort für Gebärmutter histéra ab (Günther 2023).

Lange Zeit galt die produktive Gebärmutter als Hauptmerkmal einer körperlich und geistig gesunden Frau und als ursächliches Organ für psychiatrische Krankheiten im Zusammenhang mit Hysterie, die sich allgemein durch ein sozial unerwünschtes Verhalten äußerten (Short/Zacher 2022). Das zugrundeliegende Frauenbild ist das der Frau als Mutter und Hausfrau für den Mann. 

Als typische Symptome der Hysterie wurden einerseits ein bestimmtes „theatralisches“/ „dramatisches“ Verhalten angesehen, aber auch sensorische Ausfälle wie Krämpfe, plötzliche Blindheit, Ohnmacht oder chronischer Müdigkeit (Dross/Metzger 2018). Der Psychiater Richard von Kraft-Ebing beschreibt Hysterikerinnen als Frauen, die

„ihre Leiden übertreiben, zu simulieren, sich um jeden Preis interessant […] machen [,] wobei ihre krankhaft gesteigerte Phantasie gute Dinge leistet und ihre geschwächte Sittlichkeit vor keinem Betrug und keiner Lüge zurückschreckt.“

Kraft-Ebing 1883, S.212

Der Diskurs über Hysterie beschäftigte sich zunächst hauptsächlich mit Frauen, erweiterte sich aber zunehmend auch auf Männer, die anhand ,zu weiblicher Eigenschaften‘ oder ,Feigheit‘ durch die Diagnose der Hysterie ebenfalls stark abgewertet wurden (Westhoff 2013). Bereits in der Antike wurde Hysterie als eine 

„Veränderung der Position der Gebärmutter gesehen, welche, durch sexuelle Abstinenz hungrig geworden, auf der Suche nach Befriedigung die Reise durch den Körper antrat und auf ihrem Weg andere Organe in Unordnung brachte.“

Zaudig 2015, S.28

Platon sagt über die Gebärmutter: 

„Die Gebärmutter ist ein Tier, das glühend nach Kindern verlangt. Bleibt dasselbe nach der Pubertät lange unfruchtbar, so erzürnt es sich, durchzieht den ganzen Körper, verstopft die Luftwege, hemmt die Atmung und drängt auf diese Weise den Körper in die größten Gefahren und erzeugt allerlei Krankheiten.“

Zaudig 2015, S.28

Es wurde davon ausgegangen, dass die Verlagerung der Gebärmutter die mentale Situation einer Frau verändert und das Nichtnachkommen Können oder Wollen ihrer ,natürlichen‘ Aufgaben eine Frau, zum Beispiel Mutterschaft oder Tätigkeiten im Haushalt, krank macht. Die antike Säftelehre besagt, dass weibliches Blut einer monatlichen Reinigung (Periode) unterzogen wird und beim Ausbleiben der Periode richtet die Materie im Inneren Unheil an (Westhoff 2013). Trotz der historischen Fokussierung auf die Gebärmutter und die Reproduktionsfähigkeit der Frau wurden tatsächliche, schmerzhafte und lebensverändernde Krankheiten der Gebärmutter wie Endometriose in der Forschung und Gesellschaft wenig beachtet und erhalten auch heute im Vergleich zu nicht „nur Frauen betreffenden Krankheiten“ wenig Aufmerksamkeit (Westhoff 2013). 

Im viktorianischen Zeitalter dominierte ein Geschlechterideal, das die Rolle der Frau stark von traditionellen Normen und den Bedürfnissen des Ehemanns abhängig machte. Weibliche Sexualität galt als kontrollierbar und sollte vorrangig die Bedürfnisse des Mannes befriedigen, Abweichungen von diesem normativen Verhalten wurden als sexuelle Störung betrachtet. Die psychologischen Probleme von Frauen wurden häufig auf angebliche Störungen der Fortpflanzungsorgane zurückgeführt, insbesondere durch die Diagnose der „Hysterie“, was die Kontrolle über weibliche Psyche und Sexualität weiter institutionalisierte (Kleinplatz).

“The underlying assumption that women were dominated by their reproductive organs led some physicians to blame virtually all women’s diseases and complaints on disorders of these organs.”  

Groneman 1994, zitiert nach Kleinplatz 2018 S.33

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hält Hysterie für den Ausdruck verdrängter, unterdrückter Wünsche aufgrund eines ungelösten Traumas, häufig sexueller Missbrauch im Kindesalter (Kleinplatz 2018, Westhoff 2013). Frauen mit Hysterie seien unwillig/unfähig, „weiblicher“ Pflichten nachzukommen und hätten keine familiären Gefühle (Dross/Metzger 2018). Im 19. Jahrhundert waren Methoden wie ballaststoffreiche Diäten, Aderlass, kalte Einläufe, Ovarektomien (Entfernung der Eierstöcke), Klitorisablation, Auslösung paroxysmaler Krämpfe (Orgasmen) durch den Arzt üblich zur Behandlung von Hysterie.

„What is interesting, however, is the surprising manner in which the uterus is at the same time considered an essential component to womanhood and also easily removable.“

Jones 2015, S.1108

Der französische Neurologe Jean-Martin Charcot „führte seine hysterischen Patientinnen öffentlich vor und demonstrierte an ihnen die aberwitzigsten, martialischen Behandlungsmethoden wie zum Beispiel eine ,Ovarienpresse‘ oder Vibratoren ,zur Beruhigung‘.“ (Westhoff 2013). Eltern oder Ehemänner von ,hysterischen Frauen‘ veranlassten häufig Zwangseinweisungen in psychiatrische Anstalten zur Linderung der Symptome und Heilung (Dross/Metzger 2018).

„No one knew for certain how to prevent this from happening, but one cure was to anchor the uterus. This could easily be accomplished through either impregnating the woman or keeping the uterus moist through intercourse so it would not seek out the moisture of other organs.“

Meyer 1997, S.1

Im 20. Jahrhundert wurde die zunehmende diagnostische Ungenauigkeit des Begriffs Hysterie erkannt und die vielfältigen Symptome in neue Begriffe präziser klassifiziert. Der Begriff „Histrionische Persönlichkeitsstörung“ (von lat. „histrio“: Schauspieler) betonten die (intentionale) Dramatisierung von Konflikten, während die „Dissoziative Störung“ einen Zerfall der Persönlichkeit, insbesondere nach traumatischen Ereignissen, beschrieb.

Im Gegensatz zur klassischen Hysterie standen bei diesen Diagnosen psychologische Aspekte im Vordergrund, und sie wurden zunehmend unabhängig von körperlichen Symptomen betrachtet (Westhoff 2013). 

Die Zuschreibung und Interpretation bestimmter Verhaltensweisen als ,typisch weiblich‘ und die gleichzeitige Vernachlässigung körperlicher Ausfallserscheinungen führt zu einer Pathologisierung des seelischen und körperlichen Leidens von Frauen. Die Konzeption einer ,überemotionalen‘ Frau festigt historische Stereotypen, die häufig eine vermeintliche Instabilität und Irrationalität weiblicher Emotionen betonen. Hysterie als konstruierte Krankheit führte zur sozialen Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen, insbesondere solchen, die überwiegend Frauen zugeschrieben wurden, und muss auch heute noch bei der Diskussion über Gleichberechtigung und Gesundheitsversorgung mitbedacht werden.  Die heutigen therapeutischen Ansätze, denen Frauen mit sexuellen Problemen begegnen, variieren in Abhängigkeit von der aufgesuchten medizinischen Fachkraft, wobei häufig immer noch eine unzureichende interdisziplinäre Betrachtung besteht. Es bedarf einer Herangehensweise, die organische, psychische und psychosoziale Ursachen gemeinsam betrachtet und behandelt, um eine effektive Therapie zu gewährleisten (Kleinplatz 2018). 

Aktuelle Debatten 

„Not only was hysteria itself all of those things—irrational, capricious, unpredictable, and most importantly, unsolvable—but it also pathologized, sexualized, and eroticized womanhood.“

Jones 2015, S.1095

In der Medizin ist der Begriff der Hysterie aus dem wissenschaftlichen/medizinischen Sprachgebrauch größtenteils verschwunden und wird hauptsächlich alltäglich und medial verwendet. Mit „hysterisch“ wird bis heute ein bestimmtes stereotypisches Verhalten wahrgenommen, wie beispielsweise Kreischen, Weinen oder hohe Emotionalität; Eigenschaften, die vorrangig immer noch weiblichen Personen zugeschrieben werden. 

„Wer heute etwa über Krankheitssymptome klagt wird noch immer schnell mal als ,hysterisch‘ bezeichnet. Auch wenn man als Frau die Stimme erhebt oder mal so richtig ,ausrastet’, ist das vorbestrafte H-Wort nicht weit.“

Günther 2023

Auch die mediale Weiterverwendung führt also zur Reproduktion geschlechtsstereotypischen Verhaltens, wertet Eigenschaften und Verhaltensweisen ab und erinnert an historisch überholte Vorstellungen einer Frau, deren Gesundheit allein von einer produktiven Gebärmutter und dem Einfügen in gesellschaftliche Rollenbilder abhängt. Der Begriff muss sich eindeutig davon abgrenzen, dass mit ihm ein meist weiblich zugeschriebenes Verhalten als ,krankhaft‘ bezeichnet wurde und zu entmündigenden sowie menschen- und frauenfeindlichen Behandlungsmethoden geführt hat. 

Einem Ansatz der amerikanischen Professorin für Women´s and Gender Studies Cara E. Jones nach weist zum Beispiel die heutige Lebensrealität von Frauen mit Endometriose einige Parallelen zum historischen Konzept der Hysterie auf: 

„I argue that […] endometriosis has taken up a diagnostic and cultural location once occupied by hysteria: each disease pathologizes not only certain physical symptoms, but also social and cultural deviations from female gender norms.“

Jones 2015, S.1084

Jones argumentiert, dass die medizinischen Behandlungsmethoden für sogenannte ,weibliche‘ Krankheiten wie Endometriose immer noch auf veralteten Vorstellungen über die Gebärmutter beruhen und auf die ungehinderte Reproduktion von Frauen abzielt (Jones 2015).

In ihrem Beitrag liefern Short und Zacher einige Ansätze zu geschlechtersensiblerer medizinischer Diagnostik und Behandlungsmethoden. Die Betrachtung der Frauengesundheit sollte sich von der reinen Fokussierung auf Fortpflanzung und Kindergesundheit lösen, um den Frauenkörper nicht ausschließlich auf die Funktion des Kinderkriegens zu reduzieren. Es ist wichtig, die binäre Geschlechtervorstellung zu überwinden und sich nicht ausschließlich auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu konzentrieren. Geschlechter sollten als sozial konstruierte Konzepte betrachtet werden und auch geschlechtsspezifischer Unterschiede sollten nicht auf biologische Faktoren geschoben werden, sondern unter Berücksichtigung zugrundeliegender biosoziale Strukturen und Mechanismen. Es ist entscheidend, intersektionale Ansätze einzubeziehen, die die Wechselwirkungen verschiedener sozialer Benachteiligungen oder Privilegien berücksichtigen. Dazu gehören Merkmale wie Geschlecht,Sexualität, Fähigkeiten, Race, Klasse, Bildung und andere relevante Parameter (Short/Zacher 2022).  Ungleichheiten in der Medizin müssen von den treibenden Kräften der Forschung anerkannt und gezielt behoben werden. Short und Zacher berichten in ihrem Artikel über eine Studie aus dem Jahr 2021, die zeigt, dass die Forschung zu Krankheiten, von denen Männer überproportional betroffen sind, von den nationalen Gesundheitsinstituten eher überfinanziert wird, während die Forschung zu Krankheiten, von denen hauptsächlich Frauen betroffen sind, im Verhältnis zur Krankheitslast in der Bevölkerung eher unterfinanziert ist (Short/Zacher 2022).

Fazit 

Krankheit und Gesundheit sind keine rein biologischen oder medizinischen Phänomene, sondern werden stark von sozialen Strukturen und Machtverhältnissen beeinflusst. Die Entwicklung medizinischer Definitionen und Behandlungsleitlinien basierte historisch oft auf Forschungsdaten, die hauptsächlich an cis-geschlechtlichen Männern gewonnen wurden, was zu einer unzureichenden Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede führte. Frauen erhielten und erhalten immer noch unterschiedliche Diagnosen und Behandlungsempfehlungen im Vergleich zu Männern, wobei stereotype Vorstellungen über weibliche Emotionalität und Sexualität die medizinische Praxis beeinflussen.

Das historische Beispiel der Hysterie verdeutlichte, wie gesellschaftliche Normen und Geschlechtsvorstellungen in medizinische Diagnosen eingeflossen sind. Frauen wurden als hauptsächlich von der Gebärmutter gesteuert betrachtet, was zu pathologisierenden und oft dehumanisierenden Behandlungsmethoden führte. Obwohl der Begriff der Hysterie heute aus dem medizinischen Vokabular verschwunden ist, bleiben stereotype Vorstellungen über „hysterisches“ Verhalten im gesellschaftlichen Diskurs präsent.

Ungleichheit in medizinischen Strukturen betonen die Notwendigkeit geschlechtersensiblerer medizinischer Ansätze, die nicht nur auf Fortpflanzung fokussiert sind. Frauenkörper dürfen nicht ausschließlich auf reproduktive Funktionen reduziert werden und binäre Geschlechtervorstellung überwunden werden. Die Einbeziehung intersektionaler Ansätze, die die Vielschichtigkeit sozialer Benachteiligungen berücksichtigen, ist entscheidend, um diverse Ungleichheiten in der Medizin anzugehen und eine gerechtere Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten.    

Literatur- und Quellenverzeichnis 

Dross, Fritz und Nadine Metzger (2018). Krankheit als Werturteil. In: bpb. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/270305/krankheit-als-werturteil/ (letzter Aufruf: 30.01.2024).

Günther, Paula (2023). Von Männern erfunden: Diagnose Hysterie als Machtmittel gegen das weibliche Geschlecht. In: Qiio Magazin. https://www.qiio.de/von-maennern-erfundendiagnose-hysterie-als-machtmittel-gegen-das-weibliche-geschlecht/ (letzter Aufruf 30.01.2024).

Jones, Cara E. (2015). Wandering Wombs and “Female Troubles”: The Hysterical Origins, Symptoms, and Treatments of Endometriosis, Women’s Studies, 44:8, 1083-1113 https://doi.org/10.1080/00497878.2015.1078212

Kleinplatz, Peggy J. (2018). History of the Treatment of Female Sexual Dysfunction(s). In: Annual Review of Clinical Psychology. 14:1, 29-54.

Krafft-Ebing, Richard von (1883). Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studierende (Bd. 1-2). Stuttgart: Enke.

Kuhlmann, Ellen (2016). Gendersensible Perspektiven auf Gesundheit und Gesundheitsversorgung. In: Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. 183–196. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11010-9_12

Meyer, Cheryl L. (1997). The Wandering Uterus: Politics and the Reproductive Rights of Women. In: New York University Press. 1997. https://doi.org/10.18574/nyu/9780814763209.001.0001

Schroer, Markus und Jessica Wilde (2016). Gesunde Körper – Kranke Körper. In: Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. 257-271.

Short, Susan E. und Meghan Zacher (2022). Women’s Health: Population Patterns and Social Determinants. In: Annual Review of Sociology. 48:1, 277-298. 

Ullrich, Charlotte (2014). Die soziale Konstruktion von Krankheit und Gesundheit. In: Medikalisierte Hoffnung?. Deutschland: transcript. 31–58. 

Westhoff, Andrea (2013). Hysterie.In: Deutschlandfunk https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-hysterie-100.html.

Zaudig, Michael (2015). Entwicklung des Hysteriekonzepts und Diagnostik in ICD und DSM bis DSM-5. In: Hysterie. Verständnis und Psychotherapie der hysterischen Dissoziationen und Konversionen und der histrionischen Persönlichkeitsstörung. München: CIP-Medien. 20:1, 27-49 https://sbt-in-berlin.de/cip-medien/03.-Zaudig.pdf.


[1] Im Verlauf des Textes wird „medizinisch“ für die Beschreibung klassischer, schulmedizinischer Vorstellungen verwendet, die häufig für unveränderbar gehalten werden und aktuell die größte wissenschaftliche Deutungshoheit in der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit haben. Die Verwendung des Wortes „medizinisch“ muss jedoch vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass „Medizin“ nicht gleich frei von Normen bedeutet und Prioritäten, Durchführung und Auswertung wissenschaftlicher Forschungen immer durch soziale Strukturen geprägt sind. 

[2] Geschlecht ist keine biologische, neutrale Tatsache, sondern eine aufgrund von körperlichen Merkmalen bei oder sogar schon vor der Geburt vorgenommene Zuweisung, die häufig auf der Vorstellung binärer Geschlechterkategorien beruht. 

[3] Zur Vereinfachung werden im Verlauf der Arbeit zwar die binären Begriffe Mann und Frau verwendet zur Beschreibung cis-geschlechtlicher Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen, wobei bei jeder Verwendung mitbedacht werden soll, dass Geschlecht, und vor allem die binäre Betrachtung davon, konstruiert sind.

[4] Eine Aufschlüsselung nach Geschlecht bedeutet in der Wissenschaft eine Trennung von cis-weiblichen und cis-männlichen Personen, was auf einer binären Geschlechterkonstruktion beruht und diskriminierend gegenüber allen anderen Geschlechtsidentitäten ist.

[5] Bei der Verwendung des Wortes Hysterie wird sich ausschließlich auf die historischen Konzepte in Abgrenzung von einer medizinischen Diagnose bezogen, da der Begriff historisch stark mit stereotypen Vorstellungen von Frauen verbunden ist und ihre psychischen Gesundheitszustände auf veraltete, kulturell geprägte Vorstellungen reduziert. 


Quelle: Julika Likus, Die soziale Konstruktion von Krankheit – Hysterie als Beispiel für die Reproduktion von Stereotypen in der Medizin, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin,29.02.2024,

Entwicklung von Inter*-Rechten in der medizinischen Gesetzgebung

Mia Taheri (WiSe 2023/24)

1. Einleitung

“Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt”, so steht es im Grundgesetzbuch (BT, 2010, §1, Abs. 1).

Dennoch gibt es viele Menschen, die immer noch für ihre Würde und Rechte kämpfen müssen. So auch Inter* Menschen, die erst seit Ende des 20. Jahrhunderts mehr Aufmerksamkeit erlangt haben. Der erste öffentliche Protest von Inter* Personen fand am 26. Oktober 1996 in Boston (USA) statt. Kritisiert wurden dort unter anderem die geschlechtsverändernden Eingriffe an Inter* Kindern, die selbst heute teilweise noch durchgeführt werden (Regenbogenportal, o.D.). 2021 verabschiedete der Bundestag das “Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung” (Bundestag, o.D.). Dies ist der erste gesetzliche Versuch gewesen, Inter*-Rechte zu schützen.

In der vorliegenden Arbeit wird durch ausgewählte Aspekte der Verlauf von Inter*-Rechten im deutschen Gesundheitssystem behandelt. Dazu werden der “Zwitterparagraph” (1794) und das “Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung” (2021) gegenübergestellt, um den heutigen medizinischen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand zu erörtern.


Trigger und Content Warnung:

Im Folgenden werden Zwangsoperationen, Beschreibung von medizinischen Eingriffen, sowie Aufzählungen von Begriffen wie Inters*x beim Zitieren und zur Erklärung von sensibler Sprache verwendet. Ebenso werden Organe und Anatomie ohne Zensur benannt. Des Weiteren wird der “Zwitterparagraph” als historischer Begriff verwendet, der aus heutiger Sicht nicht mehr verwendet werden sollte.


2. Begriffserklärung – Was bedeutet Inter*?

Inter* sind Menschen, die nicht in das Konstrukt der Binarität passen. Sie haben körperliche Ausprägungen, durch die sie nicht eindeutig zur weiblichen oder männlichen Norm eingeordnet werden können. Es gibt mehrere Varianten der Geschlechtsentwicklung, sie können sowohl die Hormonproduktion oder die Geschlechtsorgane, als auch den Chromosomensatz betreffen (BMFSFJ,o. D.).

Der Gegenbegriff zu Inter* ist Endo*. Sie machen den Hauptteil der Gesellschaft aus und lassen sich in die Kategorien “weiblich” und “männlich” einordnen (FUMA, o.D.).

In der deutschen Sprache gibt es mehrere Bezeichnungen für Inter* Menschen, darunter jedoch auch viele Begriffe, die beleidigend sein können. “Zwitter” ist eine ältere medizinische Bezeichnung, die vermieden werden sollte, da sie als Beleidigung genutzt wird (OII Deutschland, 2015, S. 19). Zwei weitere veraltete Begriffe sind “Hermaphrodit” und “Pseudo-Hermaphrodit”, die früher in der Medizin gebraucht wurden, jedoch auch Pathologisierungen darstellen. (Ebd. S. 13) Auch der Begriff “Intersex”, der zurzeit noch am häufigsten verwendet wird, sollte vermieden werden. Denn hierbei handelt es sich um eine missverständliche Fehlübersetzung vom Englischen “intersex” (Ebd. S. 14). Die korrekte Übersetzung wäre “intergeschlecht”. Diese in der Community entstandene Bezeichnung ist einwandfrei und kann in einem sensiblen Sprachgebrauch verwendet werden. Inter* ist eine weitere Bezeichnung, die genutzt werden sollte. Sie steht für die Selbstbestimmung von Inter* Menschen, die sich trotz ständiger Pathologisierung für ihre Rechte einsetzen. Ebenso stellt das Asterisk die Vielfältigkeit an Möglichkeiten Inter* zu sein, sowie jegliche Selbstbezeichnungen dar (Ebd. S. 15).

Nur weil eine Person Inter* ist, heißt das jedoch nicht, dass deren Geschlechtsidentität auch Inter* ist. Es gibt auch Inter*, die sich trans* oder cis* identifizieren.

Das wichtigste Kriterium ist jedoch die Selbstbezeichnung der jeweiligen Personen. Da dies letztendlich eine persönliche Entscheidung ist.

3. Medizinische Behandlung von Inter*

Intergeschlechtlichkeit galt sehr lange als Krankheit, Syndrom oder Störung. Seit den 1960er Jahren wurden international immer mehr geschlechtsverändernde Operationen durchgeführt. Diese Geschlechtszuweisungen wurden meistens ohne die Zustimmung der Inter* Personen durchgeführt (FUMA, o.D.). 2012 erklärte der Deutsche Ethikrat die geschlechtsverändernden Operationen in Deutschland als Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Gesundheitsstadt Berlin, 2015).

Seit 2019 kann aufgrund einer Änderung im Personenstandsgesetz ein Kind auch als “divers” oder ohne Geschlechtsangabe in das Geburtenregister eingetragen werden (LSVD, o.D.). Trotz des vermeintlichen gesellschaftlichen und medizinischen Umschwungs hat sich die Anzahl der geschlechtsverändernden Operationen von 2005-2016 nicht bemerkbar verringert (Hoenes, Januschke, Klöppel 2019, S. 20).

Zur Veranschaulichung, dass viele dieser medizinischen Vorgänge menschenrechtsverletzend sind, werden nun ohne Zensur verschiedene medizinische Abläufe geschildert.

Die angewandten Verfahren mit Patient*innen, deren Geschlecht nicht eindeutig in die zwei Geschlechternormen hineinpasst, hatten zwei bestimmte Kriterien. Entweder wenn die Klitoris zu überdurchschnittlich groß war, um als Frau akzeptiert zu werden. Oder falls der Penis zu klein war, um als Mann akzeptiert zu werden. Weiterhin gab es eine Empfehlung, die Genitalien in solch einem Fall bestenfalls vor dem Abschluss des 18. Lebensmonats zu verdeutlichen. Außerdem wurde den Sorgeberechtigten zumeist empfohlen, den Patient*innen nichts über die Eingriffe und Operationen zu erzählen, um die Entwicklung der Psychosexualität nicht negativ zu beeinflussen. Die letztere Empfehlung ist jedoch seit mehreren Jahren, aufgrund von Inter* Protesten, nicht mehr aktuell (Voß, 2012, S.45-47).

Der Prozess sowie die Folgen der geschlechtsverändernden Operationen sind traumatisierend und schmerzhaft. Bei einer feminisierenden Operation wird die Klitoris beschnitten, was zu einem Verlust der Empfindsamkeit führen kann. Ebenso wird gegebenenfalls eine künstliche Vagina durch mehrfache Dehnung für die spätere Penetration durchgeführt. Solch eine Behandlung, die laut Erfahrungsberichten einer Misshandlung gleicht, ist meistens medizinisch völlig irrelevant (Ebd., S. 59-60).

Ein weiterer Vorgang ist die Entnahme der Keimdrüsen (Gonaden). Folgen sind Unfruchtbarkeit, ein schwerer Hormonmangel, welcher eine lebenslange Hormontherapie mit sich zieht, sowie psychische und physische Nebeneffekte (Ebd. S. 59-60). Bei dieser Operation wurde zumeist angegeben, dass die Keimdrüsen möglicherweise Krebs verursachen könnten. Wobei dies medizinisch umstritten ist, da das Vorkommen dieser Entwicklung viel zu unerforscht ist. Und selbst bei einem erhöhten Risiko, blieben die Folgen der Operation (Ebd. S. 47).

Wie irrelevant die Gesundheit der Patient*innen bei der Wahl der Operationen ist, wird deutlich gemacht. Denn technisch ist die feminisierende Operation deutlich leichter (Ebd. S. 47). So ergeben medizinische Schätzungen, dass sich in 90 Prozent der Fälle für eine feminisierende Operation entschieden wurde (Ebd. S. 45).

Der historische Ursprung der geschlechtsverändernden Operationen, der sich aus den 1950er Jahren ergibt, ist wie hier die psychische Entwicklung, die als bedroht angesehen wurde. Jedoch waren die Bedenken zu dieser Zeit noch die Befürchtung von homosexuellen Ausprägungen (Ebd. S. 13).

Hieraus wird deutlich, dass in den meisten Fällen von Eingriffen und Operationen an Inter* Personen, deren Angleichung zu einer der Geschlechternormen eine sehr hohe Priorität hatte und die medizinische Relevanz komplett in den Hintergrund rückte.

4. Vorstellung des “Zwitterparagraphens”

In der Frühen Neuzeit galten zwei verschiedene Ansichten zur Intergeschlechtlichkeit. Die hippokratisch-galenische Lehre, welche sich im “Zwitterparagraphen” widerspiegelt und die aristotelische Lehre, welche die Existenz von Intergeschlechtlichkeit nicht anerkannte. Der „Zwitterparagraph“ beweist jedoch keine vollkommene Akzeptanz der hippokratisch-galenischen Lehre in der Gesellschaft. Beide Ansichten standen zu dieser Zeit in Diskussion.

Die hippokratisch-galenische Lehre stellt den Mann als vollkommenen Menschen dar und die Frau unvollkommenen Mann. Intergeschlechtliche Menschen hingegen waren keines von beidem (Klöppel, 2010, S.143-144).

In der aristotelischen Lehre existiert Intergeschlechtlichkeit als solches nicht. Es gibt lediglich missgebildete Männer und missgebildete Frauen, die durch ein “Übermaß an Materie” bestimmte Exzesse gebildet haben (Klöppel, 2010, S. 145).

Der sogenannte “Zwitterpragraph” war Teil des Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR, 1794). Er bestimmte das Vorgehen bei der Geburt einer Inter* Person, hier als Zw*tter bezeichnet. Es galt, dass wenn ein Neugeborenes ein uneindeutiges Geschlecht hat, die Eltern bestimmen sollten, wie das Kind aufgezogen wird. Nach Vollendung des 18. Lebensjahres stehe es der besagten Person frei, deren Geschlecht zu wählen (ALR, 1794, Personenrecht der Zwitter, §19-20). Ganz so frei schien die Entscheidung jedoch nicht zu sein, da jederzeit durch Untersuchung von Sachverständigen das Geschlecht als ein anderes beurteilt werden konnte (ALR, 1794, Personenrecht der Zwitter, §22-23). Die hier genannten Sachverständigen waren vermutlich medizinisches Personal.

Die Rechte von Inter* Menschen waren bei dem “Zwitterparagraphen” weniger von Relevanz. Die Nachfrage nach solch einem Gesetz kam vielmehr daher, dass der damalige Zweck der Ehe, welcher die Fortpflanzung war, bewahrt werden sollte. (Schwenger, 2009).

Im Jahre 1900 schwang die rechtliche Meinung mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch zur aristotelischen Lehre, die die Existenz von Inter* verleugnete (BGB, 1888, S.26). Dennoch wurden Inter* trotz der Gesetzesänderung immer öfter als Personen und weniger als Forschungsobjekte angesehen (Schwenger, 2009).

5. Vorstellung des neuen Gesetzes

Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts geraten Inter* Menschen und ihre Rechte immer mehr ins Interesse der Öffentlichkeit. Jahrelang wurden nun von Inter* Verbänden Veränderungen in den medizinischen Richtlinien gefordert, die die menschenrechtswidrigen Operationen an Inter* verbieten. Länger als 200 Jahre nach dem „Zwitterparagraph“ setzte 2021 das “Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ in Kraft.

Das neue Gesetz verbietet kosmetische Behandlungen an nicht einwilligungsfähigen Inter* Personen. Sowohl das Durchführen als auch die Einwilligung zu so einem Eingriff ist nicht erlaubt (§1631e, 2021, Artikel 1, Absatz 1). Die Eltern des Kindes sind ausschließlich dazu befähigt, für ihr Kind zu entscheiden, wenn der Eingriff nicht auf eine Selbstbestimmung des Kindes warten kann (Ebd., Artikel 1, Absatz 2).

Falls es zu solch einem Fall kommt, wird die Genehmigung des Familiengerichts benötigt. Zur Beantragung müssen die Eltern eine den Eingriff befürwortende Stellungnahme der interdisziplinären Kommission vorlegen. Diese Kommission entscheidet dann, ob ein Eingriff im Wohl des Kindes wäre (Ebd., Artikel 1, Absatz 3). Die Mitglieder der  interdisziplinären Kommission müssen alle Erfahrung im Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung haben.     Ebenso müssen folgende Personen angehört werden: Psycholog*in/Psychiater*in, Ethiker*in, Jugend- oder Kindermediziner*in, eine neutrale ärztliche Person und der*die zuständige Ärzt*in. Ebenso kann auf Wunsch der Eltern eine beratende Inter* Person hinzugezogen werden (Ebd., Artikel 1, Absatz 4).

Falls sich die Kommission für eine Befürwortung des Eingriffes entscheidet, müssen gewisse Informationen dokumentiert werden: Die Namen und Befähigungen der Mitglieder, Kindesalter und Variante der Geschlechtsentwicklung, Name des Eingriffes sowie medizinische Begründung, Grund für Befürwortung des Eingriffes in Hinblick auf die Risiken der Durchführung und was die Risiken bei einer Verschiebung wären, sind von Relevanz. Ebenso ob und wer sich mit den Eltern unterhalten hat, ob die Eltern und das Kind über den Umgang mit der spezifischen Variante aufgeklärt wurden und durch welches Mitglied der Kommission dies geschah, ob die Beratung einer Inter* Person stattfand, inwiefern das Kind sich eine Meinung über den Eingriff bilden kann und falls ja, ob es diesen befürwortet und ob die beratende Inter* Person den Eingriff unterstützt (Ebd., Artikel 1, Absatz 5)

Wenn das Kind in einer lebensbedrohlichen Lage ist oder eine Gefahr für die Gesundheit besteht, kann die Kommission übergangen werden (Ebd., Artikel 1, Absatz 3).

Falls die Eltern den Eingriff in ihrer Stellungnahme nicht befürworten oder etwas anderes gegen die Genehmigung spricht, erörtert das Gericht den Grund mit den Beteiligten. Die Eltern werden auf Beratungsmöglichkeiten hingewiesen. Gegebenenfalls kann die Beratung über den Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung angeordnet werden (Ebd., Artikel 3, Absatz 2).

Die Patientenakte muss bei einem Eingriff bis zum 48. Lebensjahr der Inter* Person aufgehoben werden (Ebd., Artikel 1, Absatz 6). Dies gilt auch für Eingriffe, die vor der Verabschiedung des Gesetzes stattfanden (Ebd. Artikel 2).

Zur Überprüfung der Wirksamkeit sollen die Regelungen durch die Bundesregierung innerhalb von fünf Jahren überprüft werden (Ebd., Artikel 6).

Die Ausarbeitung dieses Gesetzes war ein langwieriger Prozess, der noch immer nicht ganz beendet ist. Schon nach dem ersten Gesetzesentwurf aus Februar 2020 kritisierten mehrere Inter* Verbände sowie das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz die Ausführungen. Nach einer Überarbeitung veröffentlichte die Bundesregierung im September 2020 einen neuen Gesetzesentwurf, welcher erneut kritisiert wurde. Sowohl die uneindeutige Verwendung von Begriffen, die Umgehungsmöglichkeiten, die fehlende Dokumentationspflicht, als auch ein fehlendes Zentralregister wurden bemängelt, von der Bundesregierung jedoch nicht ausreichend verbessert. Im März 2021 setzte das Gesetz ein, jedoch ohne genügend Verbesserungen vorgenommen zu haben (Lesben- und Schwulenverband, o.D.).

6. Fortschritt – vom “Zwitterparagraphen” zum neuen Gesetz

Werden diese beiden Gesetze in den Vergleich gesetzt, lassen sich erhebliche Fortschritte kenntlich machen. Unter der Betrachtung des Zeitalters und des damaligen gesellschaftlichen Fortschrittes kann von einem grundlegenden Unterschied im Ursprung der Gesetze ausgegangen werden.

Der “Zwitterparagraphen” stand aufgrund von Unsicherheiten in der Gesellschaft. Es wurde sich in der Medizin zwar sehr um Kriterien für eine klare Diagnose bemüht, doch mit dem Stand der derzeitigen Medizin war dies nicht möglich. Dennoch verlangten akademische Ärzte Überprüfungen über den Geschlechterstatus in Verbindung mit der Ehetauglichkeit. Denn falls eine Inter* Person mit einer Person gleichen Geschlechts verheiratet werden würde, brächte dies die sexuelle Norm durcheinander und die Fortpflanzung als Ehezweck wäre bedroht gewesen (Schwenger, 2009).

Das neue Gesetz hingegen wurde verfasst um Inter*-Rechte auszuarbeiten. Es soll kosmetische Operationen verhindern und Inter* schützen.

Trotz diesem grundlegenden Unterschied zeigt der „Zwitterparagraph“  erste Schritte zur Selbstbestimmung. Der “Zwitterparagraph” bemächtigt eine Inter* Person ihre Geschlechtsidentität nach dem 18. Lebensjahr selbst zu bestimmen. Die Durchsetzbarkeit war wahrscheinlich schwierig bis gar nicht möglich, der Paragraph hätte jedoch auch einfach weggelassen werden können.

Ebenso beruhen beide Gesetze auf der gleichen Problematik: Eine Gesellschaft, die nur weiß wie sie innerhalb der konstruierten Geschlechternormen denken und handeln soll.

Dennoch ist sowohl der gesetzliche als auch der soziale Fortschritt in Deutschlands Gesellschaft deutlich zu erkennen: Die Änderung im Personenstandsgesetz, sowie das neue Inter* Gesetz sind trotz der kritisierbaren Punkte ein großer Erfolg in Bezug auf Inter*-Rechte. Ebenso ist das Ansehen von Inter* in der Gesellschaft deutlich gestiegen, welches die Grundsteine für die medizinischen und rechtlichen Erfolge überhaupt erst gelegt hat.

7. Forderungen der Inter* Community

Das neue Inter* Gesetz weist eine Reihe von Lücken und Verbesserungsmöglichkeiten auf. Kritisiert wird unter anderem die Bezeichnung “Varianten der Geschlechtsentwicklung”, die aus der Medizin kommt. Definitionen von medizinischen Begriffen lassen sich auch neu definieren, sodass die enge Anlehnung die Gültigkeit des Gesetzes gefährdet (im.e.v., o.D.). Ebenso werden Maßnahmen zur Verhinderung einer Umgehung des Gesetzes verlangt, da dies eine effektive Strafverfolgung sonst erschwert. Eine weitere Ergänzung wäre die verpflichtende Beratung durch qualifizierte Peer-Berater*innen. Des Weiteren wird die Einrichtung eines zentralen Melderegisters, sowie eine ausgiebige Melde- und Dokumentationspflicht gefordert, für einen verständlichen Behandlungsverlauf und eine effektive Strafverfolgung (lsvd, o.D.), ein Verbot für eine Umgehung im Ausland. Sowie eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Körperverletzung, die momentan 5, bzw. 10 Jahre bei schwerer Körperverletzung beträgt. Die Kosten für die medizinische Versorgung sollen von Krankenkassen übernommen werden. Außerdem wird eine medizinische Versorgung von allen Opfern von Eingriffen der letzten 50 Jahre gefordert, sowie Möglichkeiten zur gesundheitlichen Rehabilitation. Ebenso wird mehr Aus- und Weiterbildung medizinischen Personals verlangt (lsvd, o.D.).

Änderungen der Bundesregierung sind wahrscheinlich bis 2026 zu erwarten, da die in §1631e Artikel 6 genannte Überprüfung des Gesetzes innerhalb von fünf Jahren des Inkrafttretens stattfinden soll.

8. Schluss / Fazit

Das heutige Inter* Gesetz bildet einen deutlichen Unterschied zum damaligen “Zwitterparagraphen”. Inter* habe in der Gesellschaft und in der Medizin Anerkennung erlangt. Die gesetzliche Anfertigung von Inter*-Rechten ist, obwohl das Gesetz noch nicht zufriedenstellend ist, ein wichtiger Meilenstein.

Durch den Vergleich wird jedoch auch deutlich, dass unsere Gesellschaft sich nicht in allen Punkten weiterentwickelt hat. Probleme, die damals herrschten, sind auch heute noch nicht vollends gelöst. Das Aufwachsen von Kindern außerhalb der Geschlechternormen ist gesellschaftlich immer noch nicht normalisiert. Der Umschwung fing jedoch auch erst vor ungefähr 30 Jahren an.

Der Weg zu einer gesellschaftlichen Besserung kann jedoch mit weiteren Forschungen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, sowie Aktivismus und eine Weiterentwicklung der Inter* Gesetze erreicht werden. So wird die Gesellschaft sicherlich in ein paar Jahren schon weitere Fortschritte zeigen.

Literaturverzeichnis

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Quelle: Mia Taheri, Entwicklung von Inter*-Rechten in der medizinischen Gesetzgebung, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin,29.02.2024, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=440