Ein Essay über Rassismus im Gesundheitswesen

Jacqueline Franz (SoSe 2021)

Vergangenes Jahr wurde William Tonou-Mbobd im Universitätsklinikum Hamburg getötet. Der 34-Jährige, aus Kamerun stammende Ingenieurstudent, der an einer Schizophrenie erkrankt war, begab sich im April 2020 auf eigene Initiative und auf der Suche nach Hilfe in psychiatrische Behandlung. Der Vorfall ereignete sich, als Tonou-Mbobd offensichtlich eine Medikation, die ihm verabreicht werden sollte, ablehnte. Folglich stürzten sich mehrere Security-Kräfte auf den Mann, zwangen ihn vor Zeug*innen zu Boden, schlugen auf ihn ein. Sein Herz setzte noch an Ort und Stelle aus, doch der Reanimationsversuch glückte. Fünf Tage später starb Tonou-Mbobd auf der Intensivstation. Er könne nicht atmen, habe er laut Zeug*innen gesagt (Vgl. Ruddath, Effenberger 2019). Dieser Satz kommt uns heute, wenn auch über ein Jahr später und aus einem anderen Kontext, sehr bekannt vor: George Floyd und die Black Lives Matter Bewegung. Hier starb ein schwarz gelesener Mensch durch die Polizei, während er um sein Leben flehte, dort durch einen Sicherheitsdienst an einem vermeintlich sicheren Ort, dem Krankenhaus. Die Gemeinsamkeit beider Taten: Struktureller Rassismus. Und beide sind mit Sicherheit keine Einzelfälle. Struktureller Rassismus macht auch vor unserem Gesundheitssystem nicht Halt, denn postkoloniale Strukturen sind in der deutschen Medizin fest verankert. Sie treten in verschiedensten Ebenen auf, ihre Aufarbeitung und Reflexion im alltäglichen Klinik- und Praxisalltag, sowie in der medizinischen Lehre wurde weitestgehend versäumt.  

Der Irrglaube über den Zusammenhang von Herkunft und Schmerzempfinden

Zum Schreiben dieses Essays versuche ich, mich an meine Ausbildung und die ersten Jahre meiner Tätigkeit auf einer Station für Innere Medizin und Onkologie zurückzuerinnern. Wo sind mir Rassismen begegnet, die ich, gerade 18 Jahre alt und zu diesem Zeitpunkt noch völlig unsensibel gegenüber der Thematik, vielleicht gar nicht als solche wahrgenommen habe. Meine erste Erinnerung führt mich ins zweite Lehrjahr meiner Ausbildung, in das Modul „Versorgung vonSchmerzpatient*innen“. Die Aussage der Dozentin sollte ich in meiner Pflegelaufbahn nicht zum letzten Mal gehört haben: „Wenn ihr südländisch Patient*innen pflegt, müsst ihr wissen, dass deren Schmerztoleranz deutlich geringer ist als die von Menschen aus dem Westen.

Da wird gerne mal geschrien oder laut geweint, das hat mit Kultur zu tun.“ Angespielt wird hier auf die unter medizinischem Personal weit verbreitete Annahme der Existenz des „Morbus Bosperus“ oder „Morbus Medditereneus“. Schmerzempfinden hänge von der Herkunft ab und dabei seien nicht weiß gelesene Personen besonders hart im

Nehmen und „der Rest“ nun mal eben nicht (Vgl. Wanger, Kilgenstein, Poppel 2020:2). Ich glaube nicht, dass die Dozentin mit ihrer Aussage bewusst und gezielt rassistische Stereotype vermitteln wollte. Vielmehr ging es ihr vermutlich darum, unsere Aufmerksamkeit für die Subjektivität in der Schmerzwahrnehmung zu schärfen. Doch welche Konsequenzen haben die unreflektierte Weitergabe und damit die Aufrechterhaltung solch rassistischer Stereotype im Stationsalltag?  

Ich erinnere mich an einen jungen, schwarz gelesenen Mann, der an einem Sonntagabend mit starken Bauchschmerzen zur stationären Aufnahme auf unsere Station eingeliefert wurde. Sein schmerzhaftes Stöhnen störte uns insgeheim. Betätigte der Mann den Pflegeruf, verdrehten wir die Augen. Aussagen wie, „Naja, morgen ist ja auch Montag, keine Lust zu arbeiten“ wurden eher scherzhaft, aber doch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit ausgesprochen. Während des Schreibens und Zurückerinnerns erkenne ich das erste Mal die Intersektionalität, die die Unprofessionalität unseres Verhaltens noch zusätzlich beförderte. Der Patient wurde von uns nämlich nicht nur schwarz, sondern auch männlich gelesen und er befand sich irgendwo am Anfang seiner Zwanziger. Neben unserer Vorstellung, der Mann könne unter Morbus Bosperus leiden, könnten auch unbewusste Annahmen wie „junge männliche Personen sollten Schmerzen aushalten“ unserem Verhalten inne gelegen haben. Und auch wenn wir unsere innere Haltung dem Patient gegenüber nicht offen kommunizierten, bin ich mir heute sicher, dass er unsere gereizte, ungeduldige Stimmung wahrnehmen konnte. 

Die Annahme, nicht weiß gelesene Personen würden bei Beschwerden gerne übertreiben und müssten deshalb weniger ernst genommen werden, führt nicht nur nachweislich zu Behandlungsfehlern und zum verspäteten Erkennen medizinischer Komplikationen (vgl. Wanger et al., 2020:2), sondern hat auch psychische Auswirkungen. Ich kann mir vorstellen, dass eine Person, deren Leiden bagatellisiert wird, Beschwerden länger aushält, ohne sie zu kommunizieren. Leid wird dann eher verschwiegen, vielleicht internalisiert der- oder diejenige sogar die externen Rassismen. „Ich bin es nicht wert, dass man mich versorgt, wie meine weißen Mitpatient*innen.“ Studien zeigen außerdem, dass diskriminierende Erfahrungen zur verzögerten Inanspruchnahme medizinischer Versorgung führen und die Zustimmung zu medizinischen Maßnahmen beeinträchtigen (vgl. Kluge/ Heinz/ Udeogu-Gözalan/ Abdel-Fatah 2020:1020).

Innerhalb von Krankenhäusern, die eigentlich einen Ort des Heilens und Genesens darstellen sollen, wird Macht häufig unreflektiert ausgeübt und reproduziert. Diese Machtausübungen stellen sich vielschichtig dar und durchdringen alle Bereiche. Im Kontext von Rassismus zeigen sie sich häufig darin, dass so dargestellte „kulturelle Eigenheiten“ nicht gerne gesehen oder toleriert werden. „Man ist hier in Deutschland im Krankenhaus, also sollte man sich auch wie ein deutscher Patient oder eine deutsche Patientin verhalten“, lautet häufig die Einstellung des medizinischen Personals. Das startet beispielsweise bei der Voraussetzung für Akzeptanz und Unterwerfung gegenüber eines dominanten westlichen Behandlungssystems, dass meist ausschließlich auf Biomedizin ausgerichtet ist und keinen Spielraum für medizinische Pluralität zulässt. Es zeigt sich auch im Umgang mit Trauer und Tod, der hier meiner Erfahrung nach bestenfalls still und diszipliniert und nicht laut klagend und emotional vor sich gehen sollte. Und auch wie häufig der oder die Kranke Besuch zu erhalten hat und wie Angehörige sich verhalten sollen, unterliegt westlichen Regeln und Vorstellungen. Wenn nicht weiß gelesene Patient*innen viel Besuch von Familienmitglieder über mehrere Stunden haben, stößt das beim Stationspersonal schnell auf Unmut. Die Reaktionen innerhalb meines Teams reichten dann regelmäßig von unverschämten Aussagen wie „jetzt kommt da wieder die ganze Großfamilie mit ihrem Essen, gleich stinkt wieder das ganze Zimmer nach Zwiebeln, als würde der/ die hier verhungern bei uns“, als auch zu Zimmerverweisen während der Durchführung von Behandlungen wie Blutdruckmessen und Infusionsgaben. Diese waren eigentlich nicht nötig, sondern sollten in meinen Augen nur demonstrieren, wer hier schlussendlich das Sagen hat.

Gern gesehen wurde nur, wenn Angehörige von BIPOC Pflegemaßnahmen wie Waschen und Anziehen übernahmen, die das Pflegepersonal entlasteten, doch eine Reflexion dieser Doppelmoral fand meiner Erfahrung nach leider nicht statt. 

In den bisher aufgeführten Beispielen äußerte sich Rassismus überwiegend auf der persönlichen und zwischenmenschlichen Ebene. Doch innerhalb der Institutionen des Gesundheitswesens ist Rassismus vor allem strukturell verankert. Das fehlende Vorhandensein deutscher Studien zum Thema gibt erste Aufschlüsse auf das mangelhafte Bewusstsein sowie den geringen Willen zur Auseinandersetzung mit der Problematik hierzulande. Struktureller Rassismus ist auf den ersten Blick weniger sichtbar, das macht ihn schwerer zu identifizieren und zu bekämpfen. Im Gesundheitswesen äußert er sich vielseitig: Zum Beispiel in Zugangsbarrieren zu Versorgungsstrukturen (Vgl. Razuum/ Geiger/ Zeeb/ Ronellenfitsch 2004:101), in der Ausbildung und im Studium medizinischer Berufe, sowie in einer Wissenschaft, die in erster Linie auf die Versorgung weißer Menschen ausgerichtet ist (Vgl. Wanger et al., 2020:2,6). Ein aktuelles Beispiel zur Illustration von Ungleichheit aufgrund ethnischer Unterschiede im medizinischen Kontext ist die Coronapandemie.  In vielen Ländern zeigen Studien, dass sowohl das Risiko der Aussetzung gegenüber dem Virus als auch die Mortalitätsrate unter Infizierten hohen ethnischen Unterschieden unterliegt (Vgl. Rogers/ Rogers/ VanSant-Webb/ Gu/ Yan/ Qeadan 2020; Platt/ Warwick 2020;

Laurencin/ McClinton 2020). Einen Erklärungsansatz liefert dabei die sogenannte „Wheatering Theory“, die davon ausgeht, dass gesundheitliche Konditionen, die aufgrund ethnischer Unterschiede bestehen, durch strukturelle und allgegenwärtige Benachteiligungen bedingt werden, denen nicht weiß gelesene Personen ausgesetzt sind. Diese Benachteiligungen führen zu einem schlechteren Gesundheitszustand und begünstigen die Chronifizierung von Krankheiten (Vgl. Rogers et al., 2020:312). Chronische Vorerkrankungen wiederrum erhöhen bekanntermaßen das Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf bei Covid-19. 

Strukturelle Benachteiligungen können sich außerdem in ökonomische Faktoren äußern: Diese sind beispielsweise eine niedrigere Position auf dem Arbeitsmarkt, geringeres Einkommen und höhere finanzielle Betroffenheit durch Maßnahmen wie Lockdowns, sowie Benachteiligungen in der Wohnsituation durch beengten Wohnraum bewi ärmeren Communities und somit weniger Möglichkeiten zum Social-Distancing (Vgl. Bentley 2020:2).

In Deutschland liegen bedauerlicherweise nur wenige Studien zum Zusammenhang von ethnischen Unterschieden und dem Risiko einer Infektion und einem schweren bis tödlichen Verlauf bei Covid-19 vor, denn repräsentative Daten existieren kaum. Hier besteht also dringender Nachholbedarf: Zukünftige Studien müssen dabei intersektional ausgerichtet sein, um den Einfluss sich überschneidender, diskriminierender Faktoren genau herauszuarbeiten, so dass politische Maßnahmen zur Gegensteuerung zielorientiert entworfen und angewendet werden können. 

Während des Verfassens dieses Essays habe ich den Lesenden einen Einblick in Situationen gegeben, die von meinem jüngeren Ich erlebt wurden. Heute, einige Jahre, nachdem ich die Klinik und den Beruf der Gesundheits- und Krankenpflegerin hinter mir gelassen habe, erinnere ich mich häufig beschämt und nachdenklich an die Menschen zurück, die auch unter meiner Mitwirkung, Aufrechterhaltung und Förderung Rassismus im klinischen Alltag erleben mussten. Auch ich habe Auszubildende angeleitet. Obwohl ich mich zumindest nicht erinnern kann, Rassismen direkt an sie weitergegeben zu haben, habe ich ihre Aufmerksamkeit mit Sicherheit nicht dafür geschult, die Strukturen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Heute würde ich anders wahrnehmen, beurteilen und handeln. Ein Bewusstsein für die Problematik setzte bei mir erst gegen Ende meiner Pflegelaufbahn ein. Aufgewachsen in einem unpolitischen, konservativen und bildungsschwachen Kontext, hatte ich das Glück, mit meinem Umzug nach Berlin mit Menschen in Berührung zu kommen, die mir Denkanstöße gaben, meinen Horizont erweiterten und mich zum kritischen Denken anregten. Auch im Abitur, dass ich erst nach meiner Ausbildung auf dem zweiten Bildungsweg nachholte, lernte ich wichtige theoretische Fakten, die mir halfen, Kontexte zu verstehen, Verbindungen zu schlagen und analytisch denken zu lernen. Bis heute befinde ich mich in einem ständigen Prozess des bewussten Verlernens von Gelerntem. Aufgrund meiner Erfahrungen empfinde ich die Annahme, das Anstoßen solcher wichtigen Reflexionsprozesse sei privat und müsse aus eigenem innerem Antrieb erfolgen, schwierig. Meiner Meinung nach sollte die Anerkennung und folglich der Abbau rassistischer Strukturen eine gesellschaftliche Aufgabe darstellen. Die Sensibilisierung für die Thematik sollte schon früh fest in die allgemeine Schulbildung integriert werden. Notwendig dafür ist die bewusste Auseinandersetzung mit postkolonialen Strukturen innerhalb aller Bildungseinrichtungen. Im speziellen Kontext der gesundheitlichen Versorgung halte ich aber regelmäßige, von nicht weiß gelesenen Personen durchgeführte und verpflichtende Fortbildungen und Sensibilisierungstrainings für unerlässlich, genauso wie die Implementierung von Anlaufstellen für BIPoC, die Diskriminierung und Rassismus erfahren haben. Dies könnten erste, wichtige Schritte zu einem fairen Gesundheitssystem sein, dass den Anspruch der Gleichbehandlung aller Menschen unabhängig von Ihrer Hautfarbe und Herkunft nicht nur theoretisch vertritt, sondern in allen Bereichen realisiert. 


Literaturverzeichnis

Ruddath, Marthe/ Effenberger, Phillip (2019): Psychiatriepatient William TonouMbobda: Tödlicher Zwang, in: TAZ, 22.07.2019, online unter URL: https://taz.de/PsychiatriepatientWilliamTonouMbobda/!5607926/ Abruf: 1.10.2021

Wanger, Lorena/ Kilgenstein, Hannah/ Poppel, Julius (2020): Über Rassismus in der Medizin. Ein Essay der kritischen Medizin München, in: Kritische Medizin München, 14.08.2020, online unter URL: https://kritischemedizinmuenchen.de/wp-content/uploads/2020/08/%C3%9Cber-Rassismus-in-der-Medizin_14.08.2020_KritMedMuc.pdf Abruf: 29.09.2021, Seite 2,6

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Razuum, Oliver/ Geiger, Ingrid/ Zeeb, Hajo/ Ronellenfitsch, Ulrich (2004): Gesundheitsversorgung von Migranten, in: Dtsch Arztebl [Heft 43], 26.04.2004, online unter URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/43977/Gesundheitsversorgung-vonMigranten Abruf: 30.09.2021, Seite 101: A 2882–2887 

Platt, Lucinda/ Warwick, Ross (2020): Covid 19 and Ethnic Inequalities in England and Wales, in: Fiscal Studies. The Journal of Applied Public Economics, 03.06.2020, online unter URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/14755890.12228 Abruf: 03.10.2021

Rogers, Tiana,N/ Rogers, Charles R./ , VanSant-Webb, Elizabeth/ Gu, Lily Y./ Yan, Bin/ Qeadan, Fares (2020): Racial Disparities in COVID-19 Mortality Among Essential Workers in the United States, in: WMHP World Medical & Health Policy, 05.08.2020, online unter URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/wmh3.358  Abruf: 03.10.2021, Seite: 312

Bentley, Gillian, R. (2020): Don´t blame the BAME Ethnic and structural inequalities in susceptibilities to COVID-19, in: American Journey of Human Biology, 16.07.2021 online unter URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/ajhb.23478 Abruf: 03.10.2021, Seite: 2 


Quelle: Jacqueline Franz, Ein Essay über Rassismus im Gesundheitswesen: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/31/ein-essay-ueber-rassismus-im-gesundheitswesen/

Zum Mitdenken muss ein Mensch erst mal denken oder inwiefern geschlechtergerechte Sprache einen wichtigen Einfluss auf unser Denken hat

Avital Ginzburg (SoSe 2021)

Immer öfter höre ich Menschen sagen, die deutsche Sprache sei in Gefahr. Anglizismen, Umgangssprache (siehe Jugendwort des Jahres) und natürlich das Gendern seien die Hauptfeinde, die unsere deutsche Sprache in den Abgrund treiben. Für manche Menschen ist geschlechtergerechte Sprache ein unzugängliches Konstrukt, denn sie erfordert ein gezieltes Umstellen des eigenen Sprachgebrauchs und auch der eigenen Wortwahl. Es ist viel Arbeit, die nicht alle bereit sind zu leisten, vor allem, wenn es nicht ersichtlich ist, welche Auswirkungen diese Arbeit auf andere Menschen hat. Genau dieser Frage werde ich in diesem Essay nachgehen: Welche Bedeutung, Wirkung und Relevanz hat geschlechtergerechte Sprache in unserer Gesellschaft und Realität?

Auch im sprachwissenschaftlichen Raum gibt es einen Diskurs darüber, ob und inwiefern geschlechtergerechte Sprache nötig ist oder ob sie doch nur ein Hirngespinst der „links-grün-versifften Radikalen“ ist. So schreibt Peter Eisenberg in seinem Artikel Das Missbrauchte Geschlecht in der Süddeutschen Zeitung, geschlechtergerechte Sprache wäre nicht nur unmöglich zu lesen und zu sprechen, „[s]ie stelle einen Eingriff in unsere Grammatik dar, in der sie keinen Platz finde[t]“ (Eisenberg, 2017). Dieser Standpunkt ist unter den Sprachwissenschaftler*innen oft vertreten: Gendern wäre ein Beweis des grammatischen nicht-Verstehens: Das Nicht-Verstehen, dass die Sprache ein System ist, welches unveränderbar im Vakuum der Zeit existiert. So fragil sogar, dass zu Substantiven konvertierte Partizipien dieses System komplett zerstören könnten. Eisenberg weist uns in seinem Artikel klar in die Schranken: manch eine*r könnte geschlechtergerechte Sprache benutzen, „[a]llerdings zu dem Preis, dass man […] einen wichtigen, tief verwurzelten Wortbildungsprozess untergräbt und ein jahrhundertealtes Wort diffamiert“ (Eisenberg, 2017). Aus dieser Aussage lässt sich schließen, dass Eisenberg geschlechtergerechte Sprache wortwörtlich als Beleidigung der deutschen Sprache sieht.  Er argumentiert, das generische Maskulinum sei schon der geschlechtsneutrale Weg alle einzuschließen, dass Frauen sogar fast überrepräsentiert in der deutschen Sprache seien: „So ist das im Deutschen. Es gibt hier ein Wort, das ausschließlich Frauen bezeichnet (Bäckerin), aber keins, das ausschließlich Männer bezeichnet. Frauen sind sprachlich zweimal, Männer einmal sichtbar“ (Eisenberg, 2017). Auch Henning Brinkmann ist der Auffassung, das generische Maskulinum sei schon die geschlechtsneutrale Lösung des geschlechtsspezifischen Problems. Es ginge hierbei lediglich um Distanz zu dem Subjekt:

„Wer von den ‚Lesern‘ eines Buches spricht, macht zwischen Männern und Frauen keinen Unterschied; er meint vielmehr Menschen, die das Buch lesen […] Männliches Geschlecht erhalten diese Subjektsbegriffe erst, wenn sie eine weibliche Rolle als Partner erhalten, etwa wenn ein Redner die Zuhörer begrüßt: ‚Meine Hörerinnen und Hörer‘“

Brinkmann, 1971

Somit wäre das Problem gelöst, denn das generische Maskulinum bezieht sich nicht auf die Person, lediglich auf das Subjekt, welches eine Tätigkeit ausübt – klar und deutlich. Peter Eisenberg unterstützt diese These, indem er behauptet, eine Symmetrie in den natürlichen Sprachen würde es nicht geben, und deswegen wäre konsequentes Gendern nicht möglich, vielleicht nur durch eine „Markiertheitsumkehrung mit dem Ziel, das Femininum zur unmarkierten Kategorie zu machen“ (Eisenberg, 2017) – doch leider geht Eisenberg in der Gesamtheit seines fortfolgenden Artikels nicht mehr auf diese Idee ein. Auch Richard Schrodt ist sich in seinem „szientistischem Essay“ sicher: es gibt einfach keine Zeit zum Gendern. Wir leben nunmal in einer komplizierten Welt, in der viele Sachen passieren, die schon seit Jahren so passiert sind und geschlechtergerechte Sprache stellt auf institutioneller Ebene einen zu großen Aufwand dar, denn: „Vorschriften und Regeln müssen möglichst eindeutig und nachvollziehbar sein und darüber hinaus vielleicht auch noch sinnvoll. Dass sie auch sprachliche Verhaltensweisen und Praktiken betreffen, müssen wir alle im Kauf nehmen“ (Schrodt, 2018). Alle drei sprechen ähnliche und doch sehr unterschiedliche Punkte an: Geschlechtergerechte Sprache ist ein Eingriff in die Kultur der Sprache, sie würde Institutionen und Abläufe womöglich daran hindern, sinnvoll zu funktionieren und, vor allem da sind sich alle einig, sie ist unnötig, weil es ja schon das generische Maskulinum gibt. Das Ziel sei, sozusagen nicht die Sprache zu verändern (und in dem Sinne auch gleich zu zerstören) sondern zu verstehen, dass das generische Maskulinum sich auf das Subjekt einer Handlung bezieht und sonst geschlechtsneutral ist. Leider fehlt in allen drei Argumentationen das Verständnis dafür, dass ein Subjekt, welches eine Tätigkeit ausübt, in der Regel einer Person entspricht. Wie genau soll diese Trennung funktionieren, wenn am anderen Ende der Semantik eine Person steht, die sich (im schlimmsten Fall) von dem Gesagten angesprochen fühlen soll?

In ihrem Artikel Yes I Can! Effects of Gender Fair Job Descriptions on Children’s Perceptions of Job Status, Job Difficulty, and Vocational Self-Efficacy aus dem Jahr 2015 berichten Bettina Hannover und Dries Vervecken über eine von ihnen durchgeführte Studie zu kindlicher Wahrnehmung von Berufen. In ihrem Experiment wurden 591 sechs- bis 12-jährigen Kindern aus Deutschland und Belgien 16 Berufe vorgestellt, von denen eine Hälfte männlich (z.B. Feuerwehr) und die andere Hälfte weiblich konnotiert (Kosmetik) waren. Anschließend wurden die Kinder gebeten einen Fragebogen auszufüllen und einzuschätzen wie gut bezahlt und wichtig diese Berufe sind, ob sie schwer zu erlernen sind und ob sie sich selbst zutrauen würden, einen Eignungstest für den jeweiligen Beruf zu bestehen. Dieses Experiment wurde in zwei Gruppen durchgeführt: einer Gruppe wurden die Berufe in ausschließlich generischem Maskulinum vorgestellt, der anderen in geschlechtergerechter Sprache. Das Ergebnis dieser Studie ist in einem Fall sehr eindeutig:

„When job titles had been presented in pair forms, children – regardless of their gender, first language, or age – felt more confident that they could pass a qualification test required to do this job than when the professions had been presented as generic masculine “

Vervecken & Hannover, 2015

Interessanter Weise haben sich die Kinder, unabhängig von Geschlecht, eher als geeignet für Berufe eingeschätzt, welche ihnen in geschlechtergerechter Sprache vorgestellt wurden und waren eher der Meinung einen Eignungstest für stereotypisch Männliche Berufe bestehen zu können. Eine weitere Studie von Andreas Damelang und Ann-Katrin Rückel bestätigt, dass sich Frauen, auch im erwachsenen Alter, eher für Jobs bewerben, deren Stellenangebote geschlechtergerecht formuliert sind (Damelang & Rückel, 2021). Hierbei wurden die Positionsbezeichnungen in fünf Variationen formuliert: „Mitarbeiter“, „Mitarbeiter (m/w)“, „Mitarbeitende“, „Mitarbeiter*innen“ sowie „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“. Es konnte eine signifikante Tendenz zu geschlechtergerechten Positionsbezeichnungen festgestellt werden.

Tatsächlich wurde auch von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine offizielle Studie zu einem ähnlichen Thema durchgeführt, und zwar zu geschlechterspezifischen Attributen, welche in Stellenausschreibungen benutzt werden. So stellt die 2018 verfasste Studie fest, dass rund 21,2% von 5.667 von ihr ausgewerteten Stellenausschreibungen ein sogenanntes Diskriminierungsrisiko darstellen, d.h. wenn „eine Formulierung, Anforderung oder ein Bild in der Stellenanzeige“ (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2018) gezielt eine bestimmte Personengruppe anspricht und somit eine andere ausschließt. Solch ein Diskriminierungsrisiko stelle z.B. ein Bild einer männlich gelesenen Person in einer Stellenausschreibung für einen stereotypisch männlichen Beruf mit der Unterschrift „Wir suchen Dich!“ dar. Eine weitere Studie aus dem Jahr 2016 untersucht, ob geschlechtsspezifische Stellenbeschreibungen eine Auswirkung auf die Anzahl der sich bewerbenden Frauen haben. Hierbei konnte festgestellt werden, dass geschlechtsspezifische Stellenbeschreibungen, welche klar geschlechtlich konnotierte Anforderungen (wie analytisches Denken, Entscheidungsvermögen, Durchsetzungsvermögen und Verhandlungsgeschick) stellten, durchaus einen signifikant negativen Einfluss auf die Reaktion, der sich bewerbenden Frauen hatten (Göddertz et al., 2016).

Aber was bedeutet das? Was kann ein*e Leser*in aus diesen Studien schlussfolgern? Zum einen, stellen die Ergebnisse offensichtlich fest, dass Sprache unser Verständnis lenken und beeinflussen kann. Berufsbeschreibungen, die geschlechtergerecht formuliert sind, ziehen nach sich, dass sich bestimmte Personengruppen angesprochen fühlen und, in vielen Fällen, überhaupt erst verstehen, dass sie unmittelbar für diesen Beruf in Frage kommen. Aus Hannover und Verveckens Studie ist klar ersichtlich, dass schon Kinder vom sozialen Konstrukt „Geschlecht“ beeinflusst werden und sensibel auf Sprache reagieren. Auch ZDF hat eine Dokumentationsreihe veröffentlicht, die diesen Punkt bestätigt: hier wurde Kindern die Frage gestellt: Wer repariert Sachen und wer kümmert sich um die Kinder? 100% der Befragten haben bei der ersten Frage den Mann und bei der zweiten Frage die Frau angekreuzt. Erschreckenderweise stammt diese Dokumentation aus dem Jahr 2018, d.h. die Kinder, welche hier befragt wurden, machen heutzutage die Jugendlichen unserer Gesellschaft aus. Es macht leider deutlich, dass die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen und Männer noch heute einen großen Einfluss auf viele unserer Lebensbereiche haben. Und Sprache ist ein großer Teil dessen, was diesen Einfluss verstärkt. Auf der Suche nach Literatur und Belegen für dieses Essay bin ich auf unzählige Studien zum Thema geschlechtergerechte Sprache und Verständnis der Welt gestoßen, alle aus verschiedenen Jahren. Jede dieser Studien belegt in der ein oder anderen Art und Weise dieselbe Tatsache: das generische Maskulinum ist keine Abstraktion, keine neutrale Beschreibung für ein tätigkeitsausübendes Subjekt, und vor allem, nicht schon die genderneutrale Lösung, nach der wir alle so lange gesucht haben. Es ist vielmehr eine Art und Weise immer wieder eine bestimmte Personengruppe anzusprechen und zu fördern, während andere außen vor bleiben und sich mitgedacht, mitgemeint oder mitgeschleppt fühlen sollen.

Tatsächlich aber, ist auch in feministischen Kreisen die Nachsilbe -in umstritten. Bis ins 20. Jahrhundert wurde diese nämlich nur auf „allgemeine Funktionsbezeichnungen (wie „Ehebrecherin“ oder „Einwohnerin“) oder Bezeichnungen für die Frau eines männlichen Funktionsträgers (wie „Bürgermeisterin“ in der Bedeutung „Frau eines Bürgermeisters“) beschränkt“ (Stefanowitsch, 2020). Erst, als Frauen auch der Zugang in die Berufswelt gestattet wurde, fand diese Nachsilbe den Einzug in den alltäglichen Sprachgebrauch, dennoch nur als klare Funktionsbezeichnung. Mit der zweiten Welle des Feminismus kam die Kritik an dieser Sprachpraxis auf. Die meisten Berufsfelder seien durch die Sprache männlich konnotiert und demnach wäre die Vorstellung von Frauen in diesen Bereichen erschwert (Stefanowitsch, 2020). Folglich setzte sich der Gebrauch der Nachsilbe -in in den meisten Bereichen durch, bis 1980 ein Aufsatz von Luise Pusch erschien, welcher genau diese Tendenz kritisierte: „Wenn man den Gebrauch der Endung „-in“ weiter ausweite, würde damit die Kategorie Geschlecht gerade dort ständig betont, wo sie nun endlich keine gesellschaftliche Rolle mehr spielen solle“ (Stefanowitsch, 2020). Das ist verständlich, und bedeutet, dass die Nachsilbe -in nicht nur eine große gesellschaftliche Bedeutung trägt, sondern auch die Sichtbarkeit der Frauen im Allgemeinen. Dennoch lässt sich vermuten, dass auch hier Berufe, welche auf die Nachsilbe -in enden und auf eine weibliche Person schließen lassen, weniger ernst genommen oder gar belächelt werden.

Dennoch denkt Pusch eine wichtige Personengruppe nicht mit: nicht-binäre Personen beziehungsweise Personen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen und sich deswegen weder in der Nachsilbe -in noch im generischen Maskulinum wiederfinden. Diese Personengruppe war bis dato in der deutschen Sprache gar nicht repräsentiert, bis die Nutzung des sogenannten „Gendersternchens*“ den Einzug in manche deutschen Haushalte und zum geringen Teil in die Öffentlichkeit gefunden hat. Mit dem „Gendersternchen*“ werden nicht-binäre Personen nämlich angesprochen und sichtbar gemacht. Denn, wie Stefanowitsch in seinem Artikel im Tagesspiegel schreibt, ist vor allem für diese Personengruppe „Sichtbarkeit die Voraussetzung, um überhaupt am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen“ (Stefanowitsch, 2020). Aus dieser Aussage lässt sich schließen, dass Sprache nicht nur bedeutungstragend, sondern auch identitätsbestätigend sein kann. Sprache kann natürlich „nur“ als Teil der Gesamtlösung gedacht werden, sie allein kann Sichtbarkeit aber verstärken, und auch daran erinnern, dass das binäre System ein gesellschaftliches Konstrukt ist.

Was lässt sich über die Rolle, die Sprache in unserem Weltverständnis spielt sagen? In einem Interview mit EDITION F sagt Anatol Stefanowitsch, die Aussage, Sprache sei realitätsschaffend, sei zu vereinfacht. Dennoch bestätigt er: „Nicht jedes Mal, wenn das generische Maskulinum verwendet wird, wird automatisch das Patriarchat zementiert. Wenn das aber den ganzen Tag, regelmäßig passiert, dann verfestigt es eine bestimmte Denkweise, bei der Frauen im besten Fall mitgedacht sind“ (Parbey, 2019). Ob Sprache geschlechtergerecht oder nicht geschlechtergerecht benutzt wird, ist demnach bedeutungstragend. Durch zahlreiche Studien wurde mal für mal bestätigt, dass durch Sprache Machtrelationen etabliert werden (Hornscheidt, 2008) und genau aus diesem Grund können durch sie Hierarchien aufrechterhalten oder eben abgebaut werden.

Das Argument, die deutsche Sprache sei unter Beschuss, weil ein Diskurs stattfindet, der sich um marginalisierte Gruppen dreht und durch den sich manche Wortendungen verändern, wirkt mit jedem Jahr lächerlicher. Gleichzeitig verstehe ich, dass ich mich in einem Umfeld bewege, welches einen großen Wert auf Inklusion und Anti-Diskriminierung legt. Denn, sobald ich mich außerhalb dieses Umfelds bewege, bemerke ich sofort, dass bei weitem nicht alle die Problematik, welche dieses Essay dargelegt hat, ernst- oder überhaupt wahrnehmen. Und sogar dort, wo besonders betont wird, dass Wert auf Gleichstellung und Gerechtigkeit gelegt wird, lassen sich Fehler und Enttäuschungen auffinden. Denn erst heute fand ich auf der Webseite der Freien Universität Berlin Stellenausschreibungen für „Studentinnen und Studenten“. Denn sogar Statistiken der eigenen Dozierenden belegen, dass sich die Anzahl der Frauen an der Freien Universität Berlin von anfänglichen 61% während des Studiums bis zu der Lebenszeitprofessur auf 36% halbiert (Runge, 2020). In meinem zweiten Studiengang an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin wird in keinem einzigen Fach geschlechtergerechte Sprache benutzt, weder auf den Folien noch in gesprochener Sprache. Und ich frage mich oftmals, ob nicht gerade die Universitäten der Hauptstadt den Weg frei räumen sollten, über den die geschlechtergerechte Sprache irgendwann, hoffentlich, in der Mitte der Gesellschaft ankommen wird.  Sprache ist „in allen […] Realisierungsformen immer eine Handlung“ (Hornscheidt, 2008). Und zu sagen, bestimmte Personengruppen seien bei 90% aller Aussagen mitgedacht, ist demnach zu kurz gedacht. Denn, wenn Sprechen eine Handlung ist, dann bedeutet nicht Sprechen nicht-Handeln. Und während manche gar nicht-Handeln wollen, und lieber wo anders hinsehen, gibt es andere, die versuchen in wissenschaftlichen Schriften oder öffentlich zugänglichen Artikeln, Sprache von dieser wichtigen Bedeutungsebene zu trennen – und das ist, meiner Meinung nach, Wahrheitsverleugnend.


Bibliografie

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Göddertz, S., Isidor, R., & Wehner, M. (2016). Genderspezifische Eigenschaften und Statements in Stellenausschreibungen. Personal Quarterly, 40–45.

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ZDF. (2018, June 5). No More Boys and Girls. zdf.de. episode. Retrieved October 23, 2021, from https://www.zdf.de/dokumentation/no-more-boys-and-girls/sendung-eins-100.html.


Quelle: Avital Ginzburg, Zum Mitdenken muss ein Mensch erst mal denken oder inwiefern geschlechtergerechte Sprache einen wichtigen Einfluss auf unser Denken hat, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/31/zum-mitdenken-muss-ein-mensch-erst-mal-denken-oder-inwiefern-geschlechtergerechte-sprache-einen-wichtigen-einfluss-auf-unser-denken-hat/

Welcher Zusammenhang lässt sich zwischen kultureller Aneignung und kulturellem Erbe mit Blick auf die Gegenwart und koloniale Kontinuitäten herausarbeiten, am Beispiel der Benin Bronzen?

Jody A. Pinkrah (SoSe 2021)

Einleitung

Die Welt befindet sich seit Jahren in einem anhaltenden Globalisierungsprozess. Manche Wissenschaftler*innen argumentieren, dass der Prozess im 15. Jahrhundert mit Kolumbus begann, andere datieren den Beginn mit der Entstehung des Wirtschaftsbegriffs in den 60er Jahren (Straumann 2016). In jedem Fall lassen sich verschiedene Phasen im Laufe des Prozesses festlegen, mit denen weitreichende Veränderungen in allen Bereichen des menschlichen (Zusammen-)Lebens einhergehen, wie Wirtschaft, Politik, Kultur, Umwelt, Kommunikation etc. Die Globalisierung ist nicht konfliktfrei, dafür aber beständiger Grund für Debatten. Der sich stetig steigernde kulturelle Austausch ist ein Teil dieser Veränderungen und Diskussionen. Die Debatte um kulturelle Aneignung gewann in den letzten Jahren immer mehr an Aufmerksamkeit, womit auch Diskussionen um Kulturerbe immer mehr in den Fokus vieler Menschen gerückt wurden. Diese Diskussion soll auch Thema dieser Arbeit werden, indem ich mich mit der Frage nach der Restitution der Benin Bronzen und den damit in Verbindung stehenden kolonialen Kontinuitäten beschäftige. Meine Fragestellung dazu lautet: Welcher Zusammenhang lässt sich zwischen kultureller Aneignung und kulturellem Erbe mit Blick auf die Gegenwart und kolonialen Kontinuitäten herausarbeiten, am Beispiel von den Benin Bronzen?

Um die Fragestellung angemessen erörtern zu können, definiere ich erst einmal die wichtigsten Begriffe mithilfe des „Online-Lexikons zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“. Anschließend gehe ich zur Kolonialzeit über und bespreche Alexander Humboldts Rolle des Forschers in einer fremden Kultur zu jener Zeit mit dem Text: „Wahrnehmung Humboldts in Lateinamerika: Chancen und Herausforderungen einer Themensaison“ von Sandra Rebok. Daran anknüpfend gehe ich vor dem Hintergrund des Humboldt Forums und der aktuellen Diskussion über die Benin-Bronzen auf kulturelles Erbe in Museen ein, sowie die kulturelle Aneignung von vielen ausgestellten Objekten in vorrangig westlichen Museen (mit dem Text von Lutz Mükke und Maria Wiesner „Die Beute Bronzen“). Zuletzt betrachte ich die Folgen, die das Aneignen von Kulturerbe für die Menschen der Ursprungskultur hat.

Definitionen: (Im)materielles Kulturerbe und kulturelle Aneignung

Zuerst muss geklärt werden, was materielles bzw. immaterielles Kulturerbe ist: „Als Kulturerbe wird die Gesamtheit der materiellen und immateriellen Kulturgüter bezeichnet“ (Bierwerth 2014). Kulturgüter sind essenziell für eine nationale und kollektive Identitätsbildung. Kulturerbe ist ein sehr dehnbarer Begriff und kann sich demnach abhängig von Land und Kultur unterscheiden. Es wird zwischen materiell und immateriell unterschieden. Das materielle Erbe umfasst sowohl bewegliche als auch unbewegliche Objekte. Diese Objekte besitzen einen Wert, im Sinne einer symbolischen Bedeutung, für die entsprechende Bevölkerungsgruppe. Immaterielles Erbe hingegen umfasst kulturelle sowie soziale Praktiken, Techniken, Kenntnisse und mündliche Überlieferungen. Immaterielles Erbe wird also von Menschen getragen. Durch Kulturerbe wird Vergangenheit überliefert, die gleichzeitig für die Zukunft bewahrt werden soll. Kulturerbe ist in einem stetigen Wandel, da es neu interpretiert und angenommen werden kann (Bierwerth 2014). Das heißt aber nicht, dass kulturelle Elemente aus ihrem Kontext gerissen und in einem anderen verwendet werden sollten, das wäre wiederum kulturelle Aneignung. Im “Cambrige Dictonary” wird kulturelle Aneignung als “the act of taking or using things from a culture that is not your own, especially without showing that you understand or respect this culture” (Cambridge Advanced Learner’s Dictionary & Thesaurus) beschrieben. Im Kontext von kulturellem Austausch und Wandel kommt es allerdings ständig zu kulturellen Aneignungen. Kulturelle Aneignung wird somit zunehmend alltäglich und popkulturell verhandelt.

Es stellt sich also die Frage, ab wann und warum wird dies zu einem Problem? Eine Antwort wäre beispielsweise, dass es zum Problem wird, sobald Kulturerbe kommerzialisiert wird. Denn dies hat fast immer zur Folge, dass der Ursprung des Kulturerbes keine Anerkennung mehr findet, womit immer negative Konsequenzen für die Ursprungsgruppen einhergehen. Diese bestehen darin, dass innerhalb der Kommerzialisierung und damit in Bezug auf ein System, dessen Markt nach kapitalistischen Maximen agiert, beispielsweise nur ausgewählte und für die Elite nützliche Teile verschiedener Kulturen akzeptiert und assimiliert werden. Das bedeutet in der Konsequenz, dass entsprechende Kulturen nicht vollständig in ebendieser Kultur anerkannt und akzeptiert werden. Die Menschen, die der Ursprungskultur angehören, sind weiterhin von Diskriminierung betroffen. Sie profitieren zudem am wenigsten von der Kommerzialisierung der Elemente ihrer Kultur (vgl. Armbruster 2002). (Kultureller) Austausch setzt Reziprozität voraus.

Ein Beispiel der beschriebenen Kommerzialisierung von Kulturgut ist die Körpertechnik Capoeira. Sie wurde von Tänzen, Ritualen und Musikelementen aus Afrika inspiriert. Capoeira ist mittlerweile einer der Trendsportarten Deutschlands und genießt große Beliebtheit innerhalb der Bevölkerung, besonders in der Hauptstadt Berlin (Armbruster 2002). Capoeira ist historisch gesehen verbunden mit dem transatlantischen Sklavenhandel und dem Plantagensystem, insbesondere den Zuckerrohrplantagen und dem Widerstand der versklavten Menschen. Laut aktuellen Forschungen wird davon ausgegangen, dass Capoeira von Bantu-Sklaven[1] in der Kolonialzeit entwickelt und dazu genutzt wurde, um sich vor Gewalt zu schützen. Im Laufe der Zeit wurde Capoeira zu einem festen und sehr wichtigen Bestandteil der afrobrasilianischen Kultur und transformierte sich fortlaufend. Im Jahr 1888 wurde Capoeira als Gewaltakt deklariert und damit sogar kriminalisiert:

„In einer historischen Perspektive muss Capoeira aber zunächst als kulturelle Praxis begriffen werden, die die körperlich gespeicherte Erinnerung an die Gewalt der Sklavenhaltergesellschaft und die Techniken und Rituale physischen, psychischen und religiösen Überlebens beinhaltet.“

Armbruster 2002

Gegenwärtig ist Capoeira eine Mischung aus Sport, Spiel, Tanz, Ritual, Akrobatik und Musik. Durch die Globalisierung kam Capoeira in den 90er Jahren auch in Europa und den USA an. Die Kommerzialisierung Capoeiras begann allerdings in Brasilien.

1937 wurde Capoeira als brasilianische Nationalsportart anerkannt und damit auch wieder legalisiert. Mit der fortlaufenden Ausbreitung ist sie nicht mehr Symbol des Widerstands und der gewaltvollen Erfahrung des Schwarz-Seins für die Afrobrasilianer*innen (Armbruster 2002). Derweil verdienen Leiter*innen größerer Unternehmen, wie zum Beispiel Fitnessketten daran. Diese sind tendenziell eher Menschen, die nicht aus der Ursprungsgruppe kommen und nur wenig bis gar keinen Bezug zu der Entstehungskontext haben. Strukturelle Rassismen und Diskriminierungen wirken nachhaltig auf die Menschen/Bevölkerungsgruppen (in diesem Fall die Bevölkerungsgruppen, aus deren geteilter kultureller Praxis, also dem Erfahrungsraum, Capoeira entstanden ist). Sie sind damit gesellschaftlich benachteiligt und finden schwerer oder gar keinen Zugang zu den Positionen, die ihnen erlauben würden, ihre eigene Kultur/Kulturgut in einem globalisierten marktwirtschaftlichen System zu präsentieren, zu verteidigen und damit eben auch in eine Kommerzialisierung zu überführen. Die gesamtgesellschaftliche Anerkennung eines spezifischen Kulturguts aus einer Kultur bedeutet nicht die gleichzeitige Anerkennung einer gesamten Kultur oder Gruppe von Menschen.

Es kann also gesagt werden, kulturelle Aneignung wird immer dann zum Problem, wenn die Kultur, aus der die Kulturelemente adaptiert werden, nicht anerkennt wird und die Kulturelemente und die Bedeutung in ihren ursprünglichen Kontexten nicht verstanden werden. Die Philosophin Djamila Ribeiro beschreibt die Aneignung fremder Kulturelemente „als ein Problem des Systems und nicht eines Individuums.“[2] Sie sagt, man muss das System verstehen.

Humboldts Forschung und Wahrnehmung in Lateinamerika

Das Aneignen von Kulturerbe wirft vor allem in kolonialen Kontexten Fragen nach Wiedergutmachung und kollektiver Identitätsbildung auf. Hinsichtlich der Verbindung zwischen Lateinamerika und Europa war Alexander von Humboldt ein sehr wichtiges Bindeglied. Er war ein deutscher Wissenschaftler, der von 1769 bis 1859 lebte. Bekannt wurde er für seine fünfjährige Expeditionsreise (von 1799 bis 1804) durch Lateinamerika (Rebok 2019: S. 10). Seine empirischen Aufzeichnungen und detaillierten Karten gelten, insbesondere in Lateinamerika, noch immer als Forschungsgrundlage. Er gilt als der erste westliche Forscher, der Natur und Klima in einen kontinentalen Kontext setzte und erkannte, wie er selbst oft betonte, dass alles in einer Wechselwirkung geschieht (Rebok 2019).

Wie Humboldt und seine Forschung in Lateinamerika wahrgenommen wird, unterscheidet sich von Land zu Land und wurde durch Umfragen erfasst. Die unterschiedlichen Auffassungen sind von verschiedenen Faktoren abhängig wie z.B. der Aufenthaltsdauer Humboldts im entsprechenden Land oder der Intensivität, in welcher er mit den lokalen Wissenschaftler*innen arbeitete. Jedes Land hat somit „seinen eigenen Humboldt zu pflegen“ (Rebok 2019: S. 24).

In den Umfragen kamen viele verschiedene Aspekte zur Sprache. Es werden zum Beispiel seine wissenschaftlichen Kenntnisse, sowie seine Beiträge zur Weiterentwicklung diverser Disziplinen bewundert. Er gilt als einer der wichtigsten Wissenschaftler der letzten Jahrhunderte. Außerdem wird seine transnationale Sicht als hilfreich beschrieben, da sie dazu beitrug, Nationalismen zu überwinden. Er vermittelte wohl eine sehr humane Version Lateinamerikas (im Gegensatz zu anderen europäischen Ethno- und Soziologen) und machte gleichzeitig auf die ungerechte Verteilung der Ressourcen und die daraus folgenden Konsequenzen aufmerksam. Er kritisierte damit auch die koloniale Ausbeutung und Regierung. Er erhob also nicht nur eine beachtliche Menge an wissenschaftlichen Daten, sondern setzte sich auch mit den Lebensgewohnheiten, der Wirtschaft, der Politik und den sozialen Problemen der Menschen auseinander. Ein bedeutend großer Teil des Wissens über Lateinamerika, gelangte durch Humboldt nach Europa. Weiterhin trug er dazu bei, dass Errungenschaften lateinamerikanischer Wissenschaftler*innen als solche anerkannt wurden und bezog diese in seine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten mit ein. Später hatte Humboldt auch Einfluss auf zahlreiche wissenschaftliche Projekte, sowie auf die politische Führung verschiedener südamerikanischer Länder.

Genauso gibt es neben der durchaus sehr positiven Haltung Lateinamerikas gegenüber Humboldt auch kritische Stimmen, die in den Umfragen zum Vorschein kamen. Humboldt kritisierte zwar einerseits die koloniale Regierung, andererseits unterstützte er diese, indem er seine Forschungsergebnisse zur Verfügung stellte, welche zur weiteren Ausbeutung der Ressourcen des Landes verhalfen. Außerdem wird insbesondere in Kolumbien die Frage aufgeworfen, warum sich nicht auf kolumbianische Wissenschaftler*innen konzentriert wird, anstatt Humboldt zu seinem Jubiläum zu ehren. Weiterhin gibt es eine Sensibilisierung für das Wort entdecken. Dieses impliziert, dass Dinge erst eine Bedeutung erlangen würden, wenn sie von Europäer*innen entdeckt werden und für die europäische Wissenschaft als wichtig gelten. Es wird auch hervorgehoben, dass für Humboldt (wie für viele seiner Zeitgenossen) das wissenschaftliche Interesse über dem kulturellen Respekt stand. So geht aus seinen Tagebüchern hervor, dass er z.B. ca. im Jahr 1800, aus heiligen Grabstätten indigener Völker, Skelette der Vorfahren zu Forschungszwecken nach Europa mitnahm (Rebok 2019).

Humboldt-Forum

Dass Länder nicht nur durch die kolonialen Mächte bestohlen und ausgebeutet wurden, sondern auch durch europäische Forscher*innen, die Teil der kolonialen Mächte waren und in ihren Heimatländern oft als Abenteurer*innen und Held*innen galten, ist bekannt und Teil der antikolonialen Aufarbeitungsgeschichte. Dabei wurden viele für die indigenen Bevölkerungen wichtige Teile ihres Kulturerbes entwendet, die mittlerweile in zahlreichen europäischen bzw. westlichen Museen zu finden sind. Das Präsentieren von gestohlenem Kulturerbe und der daraus resultierende finanzielle Gewinn für die Museen (durch z.B. wachsende Besucherzahlen), ist die materiell lukrativste Form kultureller Aneignung. Durch sie werden betroffene Gruppen nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes ihrer kulturellen Geschichte beraubt, sondern ihnen wird auch die Möglichkeit genommen, ihre Geschichte(n) selbst erzählen zu können. Sie werden stattdessen in eine eurozentrische Erzählperspektive gedrängt. Die Verteilung von Macht spielt also eine wesentliche Rolle bei kultureller Aneignung. Diese Tatsache entfacht weltweit Diskussionen über die Frage nach Restitutionen und Provenienzforschungen. Genauso werfen die sogenannten Human Remains ethnische und moralische Fragen auf.

Teil dieser Debatten ist auch das Humboldt-Forum in Berlin, dessen Namensgeber die Brüder Alexander von Humboldt (siehe Seite 3) und Wilhelm von Humboldt, ein Gelehrter und Schriftsteller, sind (Stiftung Preußischer Kulturbesitz). Schon im Zuge des Wiederaufbaus und der Neueröffnung des Humboldt-Forums kam es immer wieder zu Debatten und Kritik bezüglich kolonialer Sammlungen, aber auch bezüglich des Umgangs mit Menschenknochen aus Afrika, die zu rassenanthropologischen Forschungs- und Sammelzwecken während der Kolonialzeit nach Berlin gebracht worden waren. Vor allem die Präsentation dieser Sammlungen war starker Kritik ausgesetzt, nicht zuletzt, da diese mit nur „eingeschränkter Beteiligung betroffener Gruppen und unter weitgehender Ausblendung postkolonialer Perspektiven“ (Zimmerer 2013) geschehen sollte. Die Gründer wollten, dass Berlin, mithilfe des Humboldt-Forums, zu einer der größten Museumsstädte Europas wird. Sie sollte über eine Institution von Weltklasse verfügen, (dank der enorm großen Sammlung von gestohlenen Kulturgütern) vergleichbar mit dem British Museum oder dem Louvre. Das Humboldt-Forum sollte die Botschaft eines Universalmuseums tragen, was im Hinblick auf die geschichtlichen Hintergründe eine gewisse Ironie mit sich bringt. Forderungen nach Restitutionen wurden immer lauter, insbesondere in Bezug auf die Benin-Bronzen: „Die Bronzen gehören zu den bedeutendsten und wertvollsten afrikanischen Kunstwerken. In den vergangenen Jahren sind sie außerdem zu Symbolen der Debatte um den Umgang mit kolonialer Raubkunst geworden“ (Häntzschel 2021).

Benin-Bronzen

Vor 1897 schmückten noch hunderte Bronzen die Wände des königlichen Palasts im Königreich Benin. Das Edo-Volk nutzte keine Schriftsprache, sondern die Bronzen, um alle wichtigen Ereignisse auf ihnen festzuhalten. Andere Benin Antiquitäten hatten sakrale Funktionen und wurden von Königen als Kommunikationsmittel genutzt, um mit ihren Vorfahren in Kontakt treten zu können. Hier wird der enorme emotionale Wert deutlich (neben dem materiellen Wert), die die Objekte für die Menschen im Hinblick auf ihr Kulturerbe haben.

Vor 120 Jahren brannten die Briten den gesamten königlichen Palast im damaligen Benin nieder und plünderten das Lagerhaus. Dabei wurden zahlreiche Kunstschätze (ca. 3500 bis 4000 Objekte) aus dem Königreich Benin (heutiges Nigeria) gestohlen (Mükke, Wiesner 2018). Einige davon wurden der Queen geschenkt, oder Elitesoldat*innen behielten ihre Kriegsbeute selbst. Der Großteil jedoch wurde nach der Rückkehr der Truppen für die Finanzierung des Krieges an Museen und Sammlungen in aller Welt verkauft. Neben Großbritannien besitzt Deutschland die meisten der geraubten Benin-Bronzen. Das Humboldt-Forum verfügt mit ca. 500 Stück über die zweitgrößte Sammlung von Benin-Objekten Deutschlands (Mükke, Wiesner 2018). Kurator*innen aus westlichen Museen hatten lange Abstand davon gehalten mit Nigeria in ein Gespräch zu treten, aufgrund der Angst vor Forderungen auf Restitutionsansprüchen. Als diese letzten Endes nicht mehr zu ignorieren waren, wurde immer wieder darauf verwiesen, dass das Land zu korrupt sei und die Museen zu unprofessionell und unsicher wären, um solch wertvolle Objekte auszustellen (Mükke, Wiesner 2018). Diese Aussagen haben nicht nur einen rassistischen Unterton, sondern entsprechen demnach nicht der Wahrheit und werden nur vorgeschoben, um den Besitz des kulturellen Erbes weiterhin rechtfertigen zu können. Wie auch der nigerianische Kurator Theophilus Umogabi nochmals deutlich machte, waren die Objekte mehr als 500 Jahre lang im Besitz des Königreichs Benin, bevor sie auf brutalste Art und Weise geraubt wurden (Mükke, Wiesner 2018). Außerdem kann der Westen, allein aus moralischer Sicht, keine Ansprüche auf das gestohlene Kulturerbe erheben. Die Debatten der westlichen Museen um Restitution lösen in Nigeria ein nachwirkendes Trauma aus, viele Nigerianer*innen fühlen sich nicht ernstgenommen: „Wie kann es sein, dass ich bis nach London fliegen muss, um etwas anzuschauen, das zu meiner Kultur gehört, das uns gestohlen wurde?“ (Adekunle Gold[3] in Mükke, Wiesner 2018).

Restitution

Nach mehr als hundert Jahren, in denen Restitutionsforderungen, vor allem für die Benin-Bronzen gestellt wurden, scheint es endlich Bewegung zu geben. Der Generalintendant des Humboldt-Forums, Hartmut Dorgerloh, kündigte nun überraschend an, dass die Bronzen (zumindest ihr größter Teil) restituiert werden sollen (Häntzschel 2021). Wenn dieses Versprechen wirklich gehalten wird, wäre das ein weltweiter Meilenstein und Präzedenzfall. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Sammlungen und somit die Benin-Bronzen nicht dem Humboldt-Forum gehören, sondern der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Steffes-Halmer 2021). Der Direktor Hermann Pranziger soll die Rückgabegespräche nächstes Jahr (2022) führen. Im Artikel „Archive der Zukunft“ wird aufgrund der immer wieder aufkommenden Frage, wie Restitutionen am besten durchgeführt werden sollen, eine neue Politik der Restitution und die damit verbundene Aufarbeitung von kolonial geschichtlichen Archiven und ethnographischen Sammlungen in Deutschland diskutiert. Es wird über eine räumliche Neuverteilung von Archiven gesprochen und eine andere Art von Kuration. Für die Zukunft von Archiven muss es nicht nur die Möglichkeit zu Restitutionen geben, sondern auch die Sammelgeschichte erneut reflektiert werden und „als eine Geschichte der Macht ihrer Institutionen, ihrer Formationen und ihrer Medien“ begriffen werden (Kuster 2019: 98).

Die Rückgabe des Kulturerbes hätte eine immense Bedeutung für die Menschen und das Land, die Bronzen sind in Nigeria zu einem emotionalen Symbol kolonialer Erniedrigung geworden (Mükke, Wiesner 2018). Der Ministerpräsident von Nigeria, Godwin Nogheghase Obaseki, erklärte in einem Statement 2018:

„Diese Kunstwerke verkörpern das, was wir sind: unser Volk, unsere Kultur, unsere Religion, auch einen Teil unserer politischen Struktur. Sie sind Symbole unserer Identität. 100 Jahre nachdem sie uns mit fürchterlicher Gewalt entrissen wurden, versuchen wir immer noch, sie zurückzubekommen. Was 1897 passierte, hat unser ganzes Volk traumatisiert. Es war ein Schock. Vergessen Sie nicht, dass Benin einst eine Weltmacht war.“

Mükke, Wiesner 2018

Seiner Ansicht nach kann die Rückholung der Benin-Bronzen dabei helfen, das koloniale Trauma zu überwinden.

Außerdem haben die Objekte (wie schon zuvor erwähnt) einen enormen materiellen Wert, an dem Menschen verdienen, die nur wenig bis gar keine Verbindung zu der Herkunft oder Kultur der Objekte haben. Bis heute tauchen Objekte aus Benin auf Auktionen auf. Über die Jahre hinweg sind die Preise für entsprechende Objekte gewaltig gestiegen (Mükke, Wiesner 2018). Selbst, wenn mittlerweile eine kritischere Auseinandersetzung stattfindet und die Objekte nicht mehr so leichtfertig verkauft werden, wurde mit ihnen über Jahrzehnte hinweg viel Geld gemacht, ohne dass der Ursprungsort oder die Menschen dort in irgendeiner Weise davon profitierten. Wissenschaftler*innen diskutierten sogar noch, ob der Stil der Bronzen nicht viel mehr von portugiesischem, deutschem, indischem, chinesischem, oder japanischen Ursprung sei (Mükke, Wiesner 2018), was erneut verdeutlicht, wie wenig Anerkennung die Menschen und die Kultur, aus der die Schätze stammen, bekommen.

Fazit

Es gab also, wenn überhaupt, nur eine sehr geringe Anerkennung der Kultur, aus der die Objekte eigentlich stammten. Darüber hinaus wurde mit Eintrittsgeldern, Katalogen und Bildrechten viel Geld verdient. Zudem sind Museen elementare Anziehungspunkte für Tourismus. All dies sind weitere Gründe, weshalb die Benin-Bronzen zurück in das Ursprungsland gegeben werden sollten.

Kulturerbe schafft kollektive Identitäten. Es hilft Menschen dabei, sich ihrer Herkunft bewusst zu werden und ihre kulturellen Identitäten zu konstituieren und zu verstehen. So wird über materielles, sowie immaterielles Kulturgut Wissen weitergetragen. Deswegen haben viele Kulturgüter einen enormen ideellen Wert für viele Menschen. Wenn Kulturerbe zerstört oder gestohlen wird, hat das zur Folge, dass innerhalb der betroffenen Bevölkerungsgruppe Identitäten und Kulturen mit Traditionen und Überzeugungen nicht weiter ausgebildet und/oder weitergetragen werden können. Das schafft Platz für neue Machtstrukturen, die die Menschen oft in schwächere Positionen drängt und es kommt zum Verlust von Identitäten. Das ist für mich auch einer der Gründe, wieso kulturelle Aneignung oft ein Problem darstellt. Dabei geht es darum, dass der Wert einer Sache umgedeutet wird und gleichzeitig die Menschen, die diese Umdeutung vornehmen, von ihr profitieren. Wenn etwas mit dem bestehenden Wert und der bestehenden Bedeutung aus einem Kontext gerissen und in einen Neuen gebracht wird, ist das dann ein Problem, wenn dies ohne Verweis auf die Quelle geschieht, ohne Anerkennung dessen, woher es genommen wurde. Etwas wegzunehmen und selber anzunehmen, ohne dabei etwas zurückzugeben, im kleinsten Fall, Anerkennung, sollte nicht legitim sein. Deshalb gilt das Argument des kulturellen Austausches für mich nicht. Austausch impliziert, dass alle Parteien einen Nutzen aus ihm ziehen können. Es geht also um Wertschätzung des Ursprungs und gerechter Verteilung von Anerkennung und Profit. Da das aber in den meisten Fällen nicht gegeben ist, und Profit und Anerkennung bei denen landet, die in Gesellschaften aufgrund von Strukturen und Systemen, die ihnen zugute kommen am wenigsten Widerstand entgegenwirken müssen, ist es umso wichtiger, ein Bewusstsein für dieses Problem zu schaffen. Besonders bei denen, die sich durch die Systeme, in denen wir leben, weniger konfrontiert mit der Thematik sehen und für die das Problem in ihrer Lebensrealität nicht existent ist.

Bei diesen Menschen muss angesetzt und ein Bewusstsein aufgebaut werden, weil man nur gegen diese Problematik vorgehen kann, wenn ein Bewusstsein dafür vorhanden ist. Es ist also wichtig, dieses Bewusstsein zu schaffen und gleichzeitig durch z.B. Restitution, Aufklärung und Wertschätzung Kulturerbe weiterhin zu sichern. Deswegen sollte insbesondere im Hinblick auf Museen und deren Sammlungen ein Umdenken stattfinden. Die Aufarbeitung ethnographischer Sammlungen ist ein wichtiger Prozess für den entsprechend Konzepte geschaffen werden müssen, um dann grundlegende Änderungen herbeiführen zu können. In dem Bericht „The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics” (2018) forderten Sarr und Savoy „eine gemeinsame Wende in der Kulturpolitik, die das Recht der afrikanischen Länder auf ihr kulturelles Erbe anerkennt. Restitution wird dabei als ethischer Akt der Kultivierung verstanden, der neue kulturelle Beziehungen knüpft“ (Kuster 2019: 96). Mit ihrem Restitutionsprojekt wurde der Beginn eines Konzeptes geschaffen, auf dem aufgebaut werden kann, um fundamentale und systemische Veränderungen zu erzeugen. Genauso essenziell für ein immer globaler werdendes Leben ist aber natürlich der kulturelle Austausch. Ich denke, er ist mittlerweile auch in jeglichen Aspekten unseres Lebens verankert und nicht mehr wegzudenken. Das Fundament dafür sollte allerdings eine respektvolle und wertschätzende Ebene sein.


[1] „Die Somalischen Bantu… sind ethnische Minderheiten gegenüber der überwiegenden Mehrheit der Somali in Somalia.“  Diverse Bantu-Volksgruppen wurden im 19. Jahrhundert im Rahmen des ostafrikanischen Sklavenhandels aus dem heutigen Tansania, Malawi, Mosambik und Kenia nach Somalia verkauft. (Die Evolution des Menschen o.D.)

[2] https://www.blickpunkt-lateinamerika.de/artikel/die-turban-kontroverse-rassismus-gegen-schwarz-und-weiss/

[3] Nigerianischer Künstler und Sänger


Literaturverzeichnis

Armbruster, Claudius 2002: “Geweißte Capoeira“. Vom afrobrasilianischen Kulturgut zum globalen Freizeitsport. In: Matices 35. Zeitschrift für Lateinamerika, Spanien und Portugal.

https://pbi.phil-fak.uni-koeln.de/index.php?id=37388 (31.10.2021)

Bierwerth, Gesa 2014: Kulturerbe. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa.

https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/kulturerbe (31.10.2021)

Cambridge Advanced Learner’s Dictionary & Thesaurus o.D.

https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/cultural-appropriation (31.10.2021)

Die Evolution des Menschen o.D.

https://www.evolution-mensch.de/Anthropologie/Somalische_Bantu (31.10.2021)

Häntzschel, Jörg 2021: Versprechen oder Versprecher? Er „erwarte“ die Rückgabe der Benin-Bronzen noch in diesem Jahr, sagte Hartmut Dorgerloh vom Humboldt-Forum. Nur: Wer entscheidet das?

https://www.sueddeutsche.de/kultur/museen-benin-bronzen-rueckgabe-humboldt-forum-1.5243677 (31.10.2021)

Kuster, Brigitta, Britta Lange und Petra Löffler 2019: Archive der Zukunft? Ein Gespräch über Sammlungspolitiken, koloniale Archive und die Dekolonisierung des Wissens. In: Heft 20. Zeitschrift für Medienwissenschaft.

https://mediarep.org/bitstream/handle/doc/4481/ZfM_20_Was_uns_angeht_96-111_Kuster_Lange_Archive-der-Zukunft_.pdf?sequence=6 (31.10.2021)

Mükke, Lutz und Maria Wiesner 2018: Die Beute Bronzen.

https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/benin-die-beute-bronzen-15359996.html#die-geschichte (31.10.2021)

Rebok, Sandra 2019: Wahrnehmung Humboldts in Lateinamerika: Chancen und Herausforderungen einer Themensaison.

https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/62425 (31.10.2021)

Steffes-Halmer, Annabelle 2021: Geraubtes Erbe Afrikas: Kehren die Benin-Bronzen zurück?

https://www.dw.com/de/benin-bronzen-rückgabe/a-57008055 (31.10.2021)

Stiftung Preußischer Kulturbesitz o.D.

https://www.preussischer-kulturbesitz.de/newsroom/dossiers-und-nachrichten/dossiers/dossier-humboldt-forum/auf-einen-blick-das-humboldt-forum.html (31.10.2021)

Straumann, Tobias 2016: Die drei Phasen der Globalisierung.

https://blog.tagesanzeiger.ch/nevermindthemarkets/index.php/39267/die-drei-phasen-der-globalisierung/ (31.10.2021)

Zimmerer, Jürgen 2013: Kulturgut aus der Kolonialzeit – ein schwieriges Erbe?

https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/MUKU_1502_Artikel-05_Zimmerer.pdf?referrer=justicewire (31.10.2021)


Quelle: Jody A. Pinkrah, Welcher Zusammenhang lässt sich zwischen kultureller Aneignung und kulturellem Erbe mit Blick auf die Gegenwart und koloniale Kontinuitäten herausarbeiten, am Beispiel der Benin Bronzen?, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/31/welcher-zusammenhang-laesst-sich-zwischen-kultureller-aneignung-und-kulturellem-erbe-mit-blick-auf-die-gegenwart-und-koloniale-kontinuitaeten-herausarbeiten-am-beispiel-der-benin-bronzen/

Narrative und Single Storys über „Gastarbeiter*innen“

Fragmentierung des Widerstandes und Intersektionen

Liana Maria Saccone (SoSe 2021)

Als im Dezember 2018 allmählich bekannt wurde, dass mit Daniela Cavallo eine Frau mit italienischen Eltern an die Spitze des Volkswagen-Betriebsrates ernannt werden soll, um somit an Stelle von Bernd Osterloh eine der wichtigsten Spitzenpositionen deutscher Gewerkschaften zu bekleiden, erschien im Kontext einer scheinbar positiven Neuigkeit ein Rattenschwanz verschiedener diskursiver Topoi. Aus einer auf den ersten Blick erfreulichen Nachricht wird an dieser Stelle der Ausgangspunkt des vorliegenden Gedankenspiels, das ein nicht abflachendes Unbehagen in mir selbst verbalisieren soll.

Das Handelsblatt titelte zu dieser Gelegenheit: „Gastarbeiter-Tochter wird Kronprinzessin von VW-Betriebsratschef Osterloh“.[1] Zwei Komponenten konzentrieren sich bereits in der Überschrift des Artikels (verfasst von Stefan Menzel): Einer davon ist der Sexismus, der mit der Verniedlichung einer Frau einhergeht. Daniela Cavallo wird implizit, mittels des Sprachgebrauchs, zur „Kronprinzessin“ und „Gastarbeiter-Tochter“ reduziert— also auf ihr Verhältnis zu zwei Männern (der mächtige Betriebsrat Osterloh und der anonyme italienische „Gastarbeiter“), anstatt sie als öffentliche Persona ernst zu nehmen. Die zweite Komponente ist die Intersektion mit einem verzerrten und euphemistischen Umgang mit der Geschichte sogenannter Gastarbeiter*innen, die das Spannungsverhältnis des vorliegenden Textes konstituieren, in dem sich der Prozess meiner eigenen Subjektwerdung selbst vollzieht.

Menzel beginnt seinen Text mit folgenden Worten:

„Rein äußerlich könnten die Unterschiede kaum größer sein. Bernd Osterloh kommt an die 1,90 Meter heran. Groß, kräftig. Allein an seiner Statur wird deutlich, dass er voll im Leben steht. Daniela Cavallo, einen guten Kopf kleiner und zierlich, könnte sich hinter dem Betriebsratsvorsitzenden von Volkswagen nahezu problemlos verstecken.“

Cavallo wird hier ein diskursiver Ausgangspunkt aufgesetzt, dem sie sich einer solchen stets sich wiederholenden Sprachstruktur nicht entziehen kann. Ihre Geschichte wird zu einer Figur auf einem Spielbrett, dessen Regeln sie nicht umgehen kann. Die Selbstverständlichkeit ihrer Arbeit (beziehungsweise die überwundenen und hier verschwiegenen Hindernisse, um die Arbeit überhaupt ausführen zu können), wird immer an dem Selbstverständnis ihrer deutschen und männlichen Vorgänger gemessen werden. Sie wird sich nicht der Frage entziehen können, was sie als „Gastarbeiter-Tochter“ leistet. Und unter diesem Sprachschirm erkundet eine Dominanzkultur ihren eigenen Status als tolerante Gesellschaft. Sie in einer Spitzenposition heißt: eine enorme Projektionsfläche von Narrativen, die sich durch ihre Ernennung nicht verändern werden. Viel mehr gilt die Geschichte von sogenannten Gastarbeiter*innen als Erfolg für alle Beteiligten, eine harmonische Geschichte von gelungener Integration durch Assimilation.[2]

Daher die Fragen: An wen richten sich solche Geschichten? Von wem dürfen sie erzählt werden? Und welche Wahrheiten konstituieren sie?

Diese Geschichte versteckt die realen Biografien und Geschichten ihrer Protagonist*innen. Sie dient einem Wunschdenken eines hegemonialen Diskurses, den selbst Cavallo nicht brechen dürfte, wenn ihre Reichweite als öffentliche Person und somit die Gunst und Euphorie der Öffentlichkeit sich nicht gegen sie wenden soll. Als Repräsentation der gesamten postmigrantischen Community, muss sie die gewünschten Anforderungen rezitieren; also das Bild der „guten Migrantin“ — vor allem durch Dankbarkeit — bedienen.[3]  Darüber hinaus wirft diese Erzählung eine gefährliche Hierarchisierung auf, die sich eben durch ihre geschichtsvergessene Reproduktion perfide an andere Gruppen richtet.

Um diesen Gedanken zu illustrieren, soll folgender Absatz aus dem Wikipediaartikel Italiener in Deutschland angebracht werden:

„Italiener gehörten zwar zu den beliebtesten Einwanderern in Deutschland, seien jedoch oft schlecht integriert und hätten wenig Kontakte zu Deutschen. Da sich die Berichterstattung über fehlgeschlagene Integration in den Medien sowie integrationsfördernde Maßnahmen jedoch meist auf Einwanderer aus dem islamischen Kulturkreis beschränken, werden Integrationsprobleme und Benachteiligungen insbesondere in Sachen Bildung unter italienischen Migranten oft nicht deutlich wahrgenommen. Das mag auch daran liegen, dass die Italiener, wie die anderen Südeuropäer auch, wirtschaftlich vergleichsweise gut integriert sind und ihre Bildungsdefizite im Erwerbsleben erfolgreich ausgleichen können. Dadurch erreichen die Menschen mit italienischem Migrationshintergrund bei einigen Arbeitsmarktindikatoren beinahe die Werte der Einheimischen.“[4]

Diese äußerst unsensible Ausführung dient hervorragend zur Konkretisierung der Blick- und Machtverhältnisse, innerhalb derer der „einheimische“ Körper einer bunten Masse an verschiedenen Einwanderergruppen gegebübersteht, die dessen Integrationsprozess aus einer erhöhten Position beobachten und bewerten kann. Dieses dichte Machtverhältnis ist eben jene Machtperformance und Meta-Othering, die nach Parameter Blut und Boden einen stabilen Gesellschaftskern konstruiert, und somit auch seine Peripherien und möglichen Zugeständnisse schaffen. Diese Argumentation findet sich sowohl institutionalisiert (und somit naturalisiert) in der Erhebung und Messung von „migrantisch“ definierten Körpern, in verschiedenen Facetten aufbereitet in intermedialen Aufbereitungen; und schließlich materialisiert auf der Straße und auf dem Wahlzettel.

Plötzlich werden — wie mit einem Zirkel — „Kulturkreise“ gezogen und koloniale Deutungshoheiten aufrechterhalten. Neben dieser räumlich-kulturlaisierten Dimension, schließt sich eine zeitliche Dimension an, die paradoxerweise dadurch agiert, dass sich der gegenwärtige Diskurs von seinen historischen Ablagerungen distanziert, z.B. in der Aussage „Italiener waren in den 1950er und 1960er Jahren oftmals starken Diskriminerungen ausgesetzt“[5] oder der gegenwärtigen medialen Verschiebung auf muslimisch gelesene Menschen. Es vollzieht sich eine Isolation der Kontinuitäten.  Diese Verharmlosungen dienen als Strategien der Spaltung und dienen der Eindämmung einer kollektiven Anprangerung der Machtverhältnisse durch migrantisierte und vom Patriarchat marginalisierte Personen.

Mit der Ernennung einer italienischen Frau in den Betriebsrat und der dadurch proklamierten Aufwertung und Toleranz gegenüber Nachfahr*innen von italienischen Migrant*innen, passiert somit zweierlei: Zum einem werden persönliche Rassismuserfahrungen einer Gruppe trivialisiert, was dazu führt, dass soziale Hürden als mangelnde Integrationsfähigkeit erscheinen. Zum anderen wird eine Hierarchie der Unterdrückten kreiert, in der die eine Community von der anderen Community fragmentiert wird.  Mittels der gemeinsamen Abwertung des jeweiligen Anderen erhoffen sich die Gruppen die diskursive Möglichkeit von sozialer Akzeptanz (wobei auch Italiener*innen wie ich in der dritten Generation nicht als „einheimisch“ gelten, oftmals kein Wahlrecht besitzen und nach wie vor andauernden Abflachungen ihrer Identität und Mikroaggressionen ausgesetzt sind). Ab dem Moment wo keine „ Zugang für Italiener und Hunde verboten“-Schilder[6] mehr vor Lokalen hängen, sieht eine Dominanzkultur keinen Anlass  mehr sich mit ihren diskriminierenden Gegenwärtigkeiten auseinanderzusetzen. Dabei leben unsere Großeltern noch hier. Nur schreiben sie nach den Jahrzehnten der Arbeit in den Fabriken keine Essays über ihre Erfahrungen: Darüber, wie sie es bevorzugten zu Schweigen, damit ihre Kinder ein vorteilhafteres Leben im fremden Land haben konnten. Oder darüber, wie viele Kinder der zweiten Generationen bereits die Sprache ihrer Eltern verlernten und anfingen, ihnen die Welt auf deutsch zu erklären. Auch sie wurden dadurch nicht „einheimisch“. Die Betriebsratsvorsitzenden von ihnen bleiben „Gastarbeiter-Töchter“.

Wie ist mit diesen Spaltungen umzugehen? Wie lässt sich über die persönliche Marginaliserung sprechen, während diese mit vielen Privilegien einhergeht; ohne die Strategie einer „Opferolympiade“ zu bedienen, die Mohamed Amjahid in Der Weisse Fleck hervorragend analysiert?[7]

Die Aufarbeitung der eigenen Erfahrungen geht einher mit dem Erkennen der eigenen Privilegien einerseits, die Italiener*innen im Vergleich zu anderen Communities sehr wohl genießen (Codierungen als Schlagwörter: eher weiß gelesen, europäisch, romantisierende Stereotype, christlich, etc.), und der Aufarbeitung all jener entmündigenden Muster, die Menschen, die aufgrund der Faktoren gender, race and class Betroffene stets als Anderes konstituieren, sich Erwartungshaltungen anpassen müssen, die sie nicht selbst bestimmen durften. Unsere kulturellen Gedächtnisse werden entweder infantilisiert, ignoriert oder dämonisiert. Es werden Bilder produziert und verbreitet und Menschen werden zu (politischen) Metaphern mit verschiedenen Werten. 

Was passiert, wenn wir weder über kollektive und individuelle Traumata, noch über gleichzeitige Privilegien sprechen?

Eine Künstlerin, bei der diese Dynamiken besonders stark zum Ausdruck kommen, ist Semra Ertan. In einem titellosen Gedicht schreibt sie:

Meine Mutter ist eine Arbeiterin,

Mein Vater ist ein Arbeiter,

Ich bin eine Arbeitertochter.

Ich liebe Arbeiter*innen.

Arbeiter*innen haben mir geholfen,

Ich helfe den Arbeiter*innen.

Ich konnte mich nie an die Reichen gewöhnen,

Die mit Abscheu

Die Klassen unter ihnen

Verachten[8]

In diesem Gedicht eignet sich Semra Ertan die politischen Signifikanten wieder an, die ihr zugeschrieben wurden und füllt sie mit ihrem eigenen Kontext. Die Spirale Arbeiter-Arbeiterin-Arbeitertochter wirft das Subjekt in die ihm zugeschriebene Rolle, die sie jedoch auf die unterdrückende Klasse zurückwirft und gleichzeitig zur Solidarität der heterogenen Arbeiter*innenschaft aufruft: „Arbeiter*innen haben mir geholfen/Ich helfe den Arbeiter*innen“.

Diese kurze Spirale ist insofern wichtig, als dass hier nicht der Begriff „Migranten“ fällt, sondern die Unterdrückung als etwas begriffen wird, was zum einen über die türkische Community hinausgeht, zum anderen auch am Herkunftsland der Eltern ansetzt. Die Dominanzkultur als solche erscheint insofern dynamisch, als dass die Teilhabe von wenigen marginalisierten Menschen an ihr (s. Oben) nicht etwa Ausbeutungsverhältnisse beendet, sondern sie lediglich nach sozialen und ökonomischen Bedürfnissen anpasst; also zum tokenism verführt. Andererseits greift es auch die Idee vom dekadenten Herkunftsland an. Es verließen nicht die privilegierten Türk*innen, Italienier*innen, Griech*innen ihre Heimat, um in Fabriken zu arbeiten. Die Notwendigkeit treibt Menschen von Orten weg, an denen ihre Familien leben, ihre Gebärden und Sprachen erlernt wurden, die alten Gerichte gegessen wurden. Italien bspw., ist eine europäische Wirtschaftsmacht mit kolonialer Vergangenheit. Es waren jedoch nie diejenigen mit einer Stimme, die mit Koffern in die Züge einstiegen, die sie nach Deutschland, Belgien oder in die Niederlanden brachten. In Christus kam nur bis Eboli beschreibt Carlo Levi seine Zeit im süditalienischen Exil, die dem gebürtigen Turineser Levi wie eine Welt der Magie, Mysterien und Prähistorizität erschien.[9]

Diese Grenzziehungen und Kategorien erkennt Semra Ertan als flexibel, anpassbar und subtil. Die Beschreibung der eigenen Situation, der Form von Marginalisierung, sind polymorph und unscharf. So ist das Leben der Diasporen nicht nur eins zwischen zwei Kulturen, Sprachen oder Ländern, sondern ein komplexes Geflecht zwischen sozialen Dynamiken innerhalb der Herkunftsländer selbst, an dessen Ende sich die Abwertung von Körpern und die Materialisierung von sozialer Klasse gegenseitig befruchten:

Mein Name ist Ausländer,
Ich arbeite hier,
Ich weiß, wie ich arbeite,
Ob die Deutschen es auch wissen?
Meine Arbeit ist schwer,
Meine Arbeit ist schmutzig.
Das gefällt mir nicht, sage ich.
„Wenn dir die Arbeit nicht gefällt,
geh in deine Heimat“, sagen sie.
Meine Arbeit ist schwer,
Meine Arbeit ist schmutzig,
Mein Lohn ist niedrig.
Auch ich zahle Steuern, sage ich.
Ich werde es immer wieder sagen,
Wenn ich immer wieder hören muss:
„Suche dir eine andere Arbeit.“
Aber die Schuld liegt nicht bei den Deutschen,
liegt nicht bei den Türken.
Die Türkei braucht Devisen,
Deutschland braucht Arbeitskräfte.
Mein Land hat uns nach Deutschland verkauft,
Wie Stiefkinder,
Wie unbrauchbare Menschen.
Aber dennoch braucht sie Devisen,
Braucht sie Ruhe.
Mein Land hat mich nach Deutschland verkauft.
Mein Name ist Ausländer.[10]

Audre Lordes berühmte Warnung, dass die Waffen der Unterdrücker ihr Haus niemals einreißen würden[11], verstehe ich vor allem als Appell, im Falle einer Privilegierung, diese nicht gegen andere auszuspielen. Das Werkzeug der Unterdrücker macht nur in diesem Gebilde Sinn, ihr Werkzeug kann sich nur schwer gegen sich selbst richten. Die Alternative wäre, es sich innerhalb des Hauses gemütlich zu machen und die erlebten kollektiven Traumata zu verdrängen. So internalisierten unter anderem italienische Migrant*innen sehr früh die Ressentiments gegen andere Gruppierungen, den gesellschaftlich anerkannten Sexismus und die Rolle als „überlegene Ausländer*innen“. Und so zeigt sich eine Tendenz auf, die sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA vollzogen hat: der Aufstieg des Ausländers, das weiß-werden in den Augen der Dominanzkultur, das Angebot vollends amerikanisch zu werden, indem die vorherrschenden Strukturen rigoros verinnerlicht werden.

So führte die Migration aus Italien zur Aufwertung des deutschen Arbeiters, das Arbeiterabkommen mit der Türkei zur Aufwertung der italienischen Arbeiter, usw., und letztlich zur essenzialistischen Fixierung von Deutschland als stärkste Wirtschaftsnation Europas als deutsche Erfolgsgeschichte. Die Aufwertung des Einen sorgte für die Abwertung des Anderen, die Normalisierung von Ausbeutung bleibt unangetastet und verändert bloß die Füllung der Platzhalter.


Fußnoten:

[1] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/daniela-cavallo-gastarbeiter-tochter-wird-kronprinzessin-von-vw-betriebsratschef-osterloh/23773308.html?ticket=ST-3258153-sXZgn1rsx2WWU6qURCi5-cas01.example.org, letzter Zugriff: 30.10.2021, 19:32 Uhr.

[2] An dieser Stelle mag auch das Ende des genannten Artikels zitiert werden:

„2023 oder 2024 dürfte sich Osterloh zurückziehen. Und dann könnte Volkswagen mit einer Neuheit glänzen, die es bislang nirgendwo gibt – mit der ersten Frau an der Betriebsratsspitze eines großen deutschen Autokonzerns.“

[3] Der Artikel lässt Cavallo nur an einer einzigen Stelle zu Wort kommen:

„Cavallo ist in Wolfsburg geboren, hat aber italienische Eltern. Ihr Vater ist mit der ersten Welle von Gastarbeitern zu Volkswagen nach Niedersachsen gekommen. ‚Mein Vater sagte immer, VW ist der beste Arbeitgeber in der Region. Wenn du im Werk einen Ausbildungsplatz bekommst, hast du eine sichere Zukunft. Das tat ich’, erzählt sie selbst über diese Zeit. Sie sei in beiden Ländern zu Hause. Aber: ‚Wenn ich in Italien bin, freue ich mich, wieder nach Hause zu fahren, nämlich nach Wolfsburg.‘“

[4] Die aktuelle Version des Artikels: https://de.wikipedia.org/wiki/Italiener_in_Deutschland, letzter Zugriff: 30.10.2021, 21:28 Uhr.

[5] ebd.

[6] https://www.tagesschau.de/ausland/italien-gastarbeiter-deutschland-abkommen-101.html, letzter Zugang: 30.10.2021, 22:44 Uhr.

[7] vgl. Mohamed Amjahid, Der Weisse Fleck — Eine Anleitung zu antirassistischem Denken, München: 2021.

[8] Semra Ertan, 13.11.1979,  ohne Titel, aus: Mein Name ist Ausländer, Münster: 2020, S.116.

[9] vgl. Carlo Levi, Cristo si é fermato a Eboli, Turin: 1945.

[10] Semra Ertan, Mein Name ist Ausländer, in: Mein Name ist Ausländer, S.176.

[11] Audre Lorde, Die Werkzeuge der Herrschenden werden das Haus der Herrschenden niemals einreißen, in: Sister Outsider, USA: 1984 / München: 2021, S.10.


Quelle: Liana Maria Saccone, Narrative und Single Storys über „Gastarbeiter*innen“, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 21.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=178

Arielle, die Schwarze, dänische Meerjungfrau

Sofia Bucher (SoSe 2021)

Einer meiner liebsten Kinderfilme ist „Arielle, die kleine Meerjungfrau“. In diesem bekannten Disneyfilm geht es um die gleichnamige Protagonistin Arielle, die durch ihre roten Haare und helle Haut auffällt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Unterwasserstadt Atlantica, die irgendwo im Atlantik verortet wird. Ihr größter Wunsch ist es allerdings, an Land zu leben und ein Mensch sein zu dürfen. Nachdem sie sich in einen menschlichen Prinzen verliebt, wagt sie den Schritt ein Leben an Land zu beginnen. Als Kind fand ich die Story sehr rührend. Ich konnte mich mit Arielle gut identifizieren. Die letzte Filmversion von Arielle wurde 1989 veröffentlicht und ist dementsprechend ein wenig veraltet. Als Disney 2019 ankündigte eine Realverfilmung von Arielle zu produzieren, war ich sehr erfreut. Die Schauspielerin und Sängerin Halle Bailey sollte die Rolle der Arielle übernehmen. Die Auswahl sorgte teilweise für Aufruhr, da Halle Bailey Schwarz ist. Insofern verbildlicht sie nicht mehr Arielles roten Haare und ihre blasse Haut. Die Differenz zwischen dem Aussehen von Halle Bailey und dem traditionellen Bild von Arielle führte auch in meinem sozialen Umfeld zu Diskussionen. Die Frage, ob ich Halle Bailey als Besetzung für Arielle angebracht finde, beantwortete ich damals mit „Nein“. Als langer Fan kam es mir nicht richtig vor, in der Realverfilmung auf Arielles roten Haare und die blasse Haut zu verzichten. Meine Argumentation bezog sich vor allem auf ihre Haare, so sei eine blonde oder brünette Arielle genauso unpassend. Während des Gesprächs merkte ich zwar, dass mir die Tiefe für weitere Argumente fehlte, trotzdem blieb ich vorerst bei meiner Meinung. Da das Thema auch im Allgemeinen nicht besonders relevant für mich erschien, dachte ich zunächst nicht weiter darüber nach.

In diesem Essay möchte ich über Halle Bailey als Schwarze Arielle schreiben, und warum diese Besetzung nicht nur passend, sondern auch notwendig ist. Dazu setze ich die Neuverfilmung Arielles in einen Zusammenhang mit alten rassistischen Produktionen Disneys. Zudem möchte ich eine Reflektion über die Entwicklung meines eigenen Standpunkts im Zeitraum der letzten zwei Jahre beschreiben. Dabei thematisiere ich die Aufarbeitung meiner eigenen Rassismen auch im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung.

Die erste wichtige These in diesem Essay lautet also: Halle Bailey ist für Arielle die richtige Besetzung. Unter dem Hashtag #notmyariel sammeln sich im Internet Kritiken, die sich auf die Haut- und Haarfarbe Halle Baileys beziehen. Arielle sei Dänin und somit sei ihre Schwarze Hautfarbe unpassend. Disney gab dazu im Juli 2019 über den Twitteraccount „Freeform“ ein Statement ab: Der Autor sei zwar Däne, aber der fiktive Charakter Arielle lebe in der Unterwasserstadt Atlantica im Atlantik und sei von weltlichen Nationalitäten ungebunden. Zudem gäbe es auch Schwarze Dän:innen und daher seien auch Schwarze dänische Meerjungfrauen in der Fiktion möglich. Weiterhin verwies Disney auf das herausragende Talent Halles und bedeutete den Kritikern auf dieses das Augenmerk zu legen, statt auf die angeblich nicht passende Hautfarbe (Freeform, 2019).

Dass Disney so auf rassistische Anfeindungen an eine ihrer Schauspieler:innen reagiert ist erfreulich, aber nicht unbedingt selbstverständlich. In der Vergangenheit musste Disney selbst mit Rassismusvorwürfen umgehen. In der Kritik standen einige Disneyproduktionen, beispielsweise „das Dschungelbuch“ oder „Dumbo“. Die Darstellung von Kulturen sei in diesen Filmen problematisch. Disney verwendet in seinen Produktionen das stilistische Mittel Anthropomorphismus, indem menschliche Eigenschaften auf Tiere übertragen werden. Die Darstellung der Tiere reproduziert Stereotype von verschiedenen, oft marginalisierten, Kulturen. Ein Beispiel hierfür ist der Affe „King Louis“ aus „das Dschungelbuch“. Der Affe verkörpert typische Eigenschaften eines Schwarzen Menschen. Erkennbar wird dies durch den gesprochenen Slang oder auch King Louis´ Vorliebe zum Jazz. Der Affe als Karikatur eines Schwarzen ist zudem eine leider sehr übliche, rassistische Darstellung. King Louis singt im Film: „I wanna be like you“. Er wäre gerne ein Mensch. Hierbei spielt vor allem der zeitliche Kontext des Films eine Rolle. Das Dschungelbuch erschien 1967 in den USA, zu Zeiten Schwarzer Revolution und Bürgerrechtsbewegung. Die Darstellung des King Louis ist wie eine sehr unangebrachte Satire dieses Strebens nach Gleichberechtigung (Willmann, o. D.).

Der 1941 erschienene Disneyklassiker „Dumbo“ beginnt mit einer Szene, in der Schwarze Männer ein Zirkuszelt aufbauen. Die Schwarzen Männer haben kein Gesicht und somit keinen individuellen Charakter. Während der Arbeit singen sie den „Song of the Roustabouts“:

We work all day, we work all night, we never learned to read or write, we´re happy-hearted roustabouts. […] We slave until we´re almost dead, we´re happy-hearted roustabouts. […] We don´t know when we get our pay, and when we do, we throw our pay away, we get our pay when children say with happy hearts: It´s circus day today. […] Grab that rope, you hairy ape!

Disney, Sharpsteen, 00:13:24-00:15:12

Der Text erweckt den Eindruck, die Hilfsarbeitenden würden die harte Arbeit unter schlechten Bedingungen gerne machen und dabei fröhlich sein. Sie müssen arbeiten, bis sie fast tot umfallen und sie wissen auch nicht, wann sie für ihre Arbeit entlohnt werden. Jedoch mache es ihnen nichts aus, weil glückliche Kinder im Zirkus Lohn genug sind. Dass sie den Lohn direkt wieder „zum Fenster rauswerfen“, bedient weitere abwertende Stereotype von Schwarzen. Zum Ende des Lieds wird ein „haariger Affe“ dazu aufgefordert, ein Seil zu packen. Zum einen wiederholt sich hier das rassistische Symboldbild des Affens, wenn über Schwarze gesprochen wird. Zum anderen werden hier schlechte Arbeitsbedingungen verharmlost. Schwarze seien mit ihrer Position in der Gesellschaft zufrieden, weil die Freude von Weißen (hier weißen Kindern) ihnen genug Lohnt bringt. Später im Film gibt es weitere Formen von Anthropomorphismus. Die Krähen, die dem Protagonisten Dumbo beim Fliegen helfen, symbolisieren erneut stereotypische Eigenschaften von Afroamerikaner:innen. Erkennbar wird dies wieder durch den gesprochenen Slang, einem südlichen Akzent und schlechter Grammatik (Willets, 2013). Der Anführer der Krähen trägt den Namen Jim Crow. Dieser Name verweist auf die Jim-Crow-Ära (ca. 1877- 1965) in den USA. Wichtig für die Zeit waren die Jim-Crow Gesetze. (Triggerwarnung: Sehr menschenverachtende Weltansicht) Die Ideologie hinter den Gesetzen beschreibt Schwarze als minderwertig, und probiert so die „Rassentrennung“ und Ungerechtigkeiten gegenüber der Schwarzen Bevölkerung zu legitimieren. Die Minderwertigkeit Schwarzer zeige sich durch verminderte Intelligenz, schlechter Moralvorstellungen und unzivilisiertem Verhalten. Eine Gleichstellung von Weißen und Schwarzen würde zu ungewollten sexuellen Beziehungen führen. Dies wiederum führe zur „gemischten Rasse“, was in der Zerstörung der USA enden würde. Um dies zu verhindern, bestimmen die Jim-Crow-Gesetze den Umgang mit Schwarzen. Schwarze durften Weißen nicht die Hand anbieten, Frauen nicht zu nahekommen, oder gemeinsam mit Weißen an einem Tisch sitzen. Auch Intimität unter Schwarzen Menschen sei in der Öffentlichkeit verboten, da diese weiße Menschen beleidigen könnte (Pilgrim, 2012). Solche und ähnliche Verhaltensregeln bestimmten das Leben von Schwarzen Menschen. Den Raben in Dumbo nach dieser Ära zu benennen, ist demnach sehr bedeutungsträchtig.

Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass in Disneyfilmen marginalisierte Gruppen und diverse Kulturen sehr stereotypisch dargestellt werden. Die fehlende Repräsentation von Diversität auch innerhalb einer Kultur ist ein Problem. Dabei geht es nicht nur um das Fehlen von BIPoC-Charakteren, sondern um die einseitige Darstellung. BIPoC-Charaktere übernehmen immer wieder dieselben Rollen und bedienen damit immer gleichbleibende Narrative, wodurch die Gefahr einer „Single Story“ entsteht. Der Begriff ist geprägt durch Chimamanda Ngozi Adichie. Adichie ist eine nigerianische Schriftstellerin, die sich selbst als Geschichtenerzählerin beschreibt. Über Single Stories spricht sie 2009 in dem TedTalk „The Danger of a Single Story“. Eine Single Story entstehe, wenn eine gleiche Geschichte immer wieder erzählt werde. Wenn Charakteren mit einer bestimmten Herkunft oder Aussehen in Filmen oder Serien immer dieselben Charaktereigenschaften zugeschrieben werden, entsteht beim Rezipienten ein sehr einseitiges Bild. So wird davon ausgegangen, dass Menschen, die ein bestimmtes Aussehen haben, sich auch dementsprechend verhalten: „So that is how to create a single story, show a people as one thing, as only one thing, over and over again, and that is what they become“ (Adichie, 2009, 09:17). Als Beispiel für eine Single Story erzählt die nigerianische Adichie, wie sie zum Studieren in die USA zieht. Ihre Mitbewohnerin konfrontiert sie dort mit sehr spezifischen Erwartungen. Sie ist überrascht, dass Adichie fließend Englisch spricht, obwohl Englisch die Amtssprache Nigerias ist. Als Musikgeschmack erwartet die Mitbewohnerin traditionelle, nigerianische Musik und ist wieder überrascht, dass Adichie gerne Mariah Carey hört. Adichie merkt, dass die Mitbewohnerin ihr nicht nur voreingenommen gegenübertritt, sondern sogar Mitleid mit ihr hat, bevor das erste Gespräch zustande kommen konnte. Adichie wird in diesem Moment das Opfer einer Single Story. Das Bild von Afrikaner:innen ist vor allem durch westliche Literatur und Medien geprägt, die ein sehr einseitiges Bild präsentieren Menschen, die in Armut und unter schlechten Lebensbedingungen leben und Kriege führen.  Menschen, die nicht für sich selbst sprechen können und einen Weißen brauchen, der sie rettet. Durch diese Voreingenommenheit war es den Beiden unmöglich, sich auf Augenhöhe zu begegnen (Adichie, 2009).

Disneycharaktere wie „King Louis“ aus „das Dschungelbuch“, die Schwarzen Hilfsarbeiter, die in „Dumbo“ nachts ein Zelt aufbauen, oder auch Jim Crow sind ein Teil von der Single Story, die über Schwarze erzählt wird. Indem Kinder diese Filme sehen, werden Rassismen immer weiter reproduziert. Obwohl „Rassentrennung“ offiziell abgeschafft ist und Schwarze Menschen gesetzlich gleichgestellt sind, bleiben abwertende stereotypische Vorstellungen von marginalisierten Gruppen tief in den Köpfen der Menschen, und so in der Gesellschaft erhalten. Disney erkennt dieses Problem an und reagiert mit der „Stories-Matter“ Kampagne. Disney selbst erklärt den Inhalt der Kampagne so:

Stories shape how we see ourselves and everyone around us. So as storytellers, we have the power and responsibility to not only uplift and inspire, but also consciously, purposefully and relentlessly champion the spectrum of voices and perspectives in our world. […] Because happily ever after doesn´t just happen. It takes effort. Effort we are making.

The Walt Disney Company, Stories Matter, o. D

Im Zuge der Kampagne untersucht Disney seine Produktionen auf diskriminierende Inhalte. Anstatt die Filme jedoch zu löschen, versehen sie problematische Inhalte mit einer Warnung: Das nachfolgende Programm enthalte „eine nicht korrekte [Darstellung und] Behandlung von Menschen oder Kulturen“ (The Walt Disney Company, Stories Matter, o. D). Zudem wird auf die Internetseite Disneys verwiesen, die die Kampagne „Stories-Matter“ beschreibt. Dort finden Interessierte detaillierte Ausführungen über problematische Inhalte in exemplarischen Disneyproduktionen. Disney wünsche sich mit dieser Geste Diskussionen anzuregen. Die Geschichte könne im Nachhinein nicht mehr geändert werden. Die Filme zu löschen und so zu tun als sei nie etwas passiert sei die falsche Botschaft. Stattdessen müssen Rassismen aktiv aufgearbeitet, statt vergessen werden. Zur Aufarbeitung seien externe Experten hinzugezogen worden (The Walt Disney Company, Stories Matter, o. D).

Disneys Verpflichtung zu mehr Diversität, Inklusion und Repräsentation kann neben den Warnungen bei alten Filmen besonders gut durch neue Produktionen umgesetzt werden. Neu- und Realverfilmungen von Disneyklassikern sollten hierfür als Chance begriffen werden. In der Originalfassung „Arielle die Meerjungfrau“ von 1989 gibt es zwar keine stereotypische Darstellung von BIPoC-Charakteren, allerdings fehlt hier die Repräsentation komplett. In der Unterwasserstadt „Atlantica“ leben ausschließlich weiße Meermenschen. Auch der Menschenprinz Eric und seine Familie sind weiß. Im Film Arielle werden zwar keine stereotypischen Eigenschaften von Schwarzen reproduziert, jedoch ist die fehlende Repräsentation genauso schädlich. In der Realverfilmung konnte dieses Versäumnis aufgeholt werden, indem Rollen inklusiver besetzt wurden. Eine Schwarze Meerprinzessin, bei der keine üblichen Narrative bedient, oder Rollenklischees ausgefüllt werden.

Um diese Entwicklung als Erfolg anerkennen zu können, braucht es eine Sensibilisierung für gesellschaftlich aufrechterhaltene Rassismen und Diskriminierungen. Zuerst muss das Problem erkannt werden, bevor ein Lösungsschritt seine Relevanz zeigt. Mein Weg dieser Sensibilisierung und Aufarbeitung eigener rassistischer Denkmuster möchte ich an diesem Beispiel reflektieren. Vor zwei Jahren hätte ich Arielle gerne rothaarig und weiß gehabt, da ich wollte, dass sie genauso aussieht wie in dem Originalfilm von 1989. Während meiner Kindheit konnte ich mich mit einigen Disneyprinzessinnen identifizieren, da sie so aussahen wie ich: weiß und blond. Dass diese Identifikationsmöglichkeit ein Privileg ist, habe ich nicht erkannt. Infolgedessen habe ich auch das dahinterliegende Problem nicht realisiert. Auch in meiner Argumentation vor zwei Jahren, habe ich nicht berücksichtigt, dass es ein grundlegendes Inklusions- und Repräsentationsdefizit in Disneys Klassikern gibt. Auch dass ich mich nicht zwangsläufig mit Rassismus auseinandersetzen musste, ist ein Privileg. Dieses Privileg teile ich mir mit anderen weiß-positionierten Menschen. Zuletzt möchte ich in diesem Essay ausführen, wie ich als weiß-positionierter Mensch mit Rassismus umgehen kann und welche Rolle meine Perspektive spielt.

Sowie sich Schwarz nicht unbedingt auf die Hautfarbe bezieht, beschreibt Weißsein eine soziale Position. Die Position sollte immer im Kontext alter kolonialer Machtstrukturen betrachtet werden. Privilegien von Weißen konnten nur entstehen, indem Schwarze Menschen ausgebeutet wurden. Die Legitimierung der Ausbeutung erfolgte über das Herabsetzen von Schwarzen Menschen. Denkweisen und Machtstrukturen wie diese, haben sich bis heute erhalten. Immer noch profitieren weiße Menschen, während BIPoC in vielen Hinsichten benachteiligt sind. Diese Benachteiligung erfolgt oft auf struktureller Ebene und ist somit nicht immer leicht zu erkennen oder zu begreifen. Rassismus ist insofern oft auch kein absichtsvolles Verhalten, sondern etwas, dass unbewusst geschieht. Bei der Bekämpfung von Rassismus spielt diese Erkenntnis eine große Rolle. Menschen mit weißer Positionierung werden in bestimmte Machtstrukturen reingeboren. Sie werden in einer rassistischen Welt sozialisiert und übernehmen automatisch diskriminierende Denkstrukturen. Rassismus wird so auf einer unbewussten Ebene erlernt. Es erfolgt keine bewusste Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Im Gegensatz dazu erfordert die Überwindung ein aktives Verlernen (Bönkost, 2016). Dies stellt weiße Menschen vor eine emotionale Herausforderung: Die einzige Begegnung, die man als weißer Mensch mit Rassismus hat, ist die der Verteufelung. Das Schlechte in Rassismus zu sehen kann jeder. Schwierig ist jedoch die Anerkennung des Mitwirkens am Problem und eigene verinnerlichte Rassismen. Weiße Sozialisierung bedeutet Rassismus zu verleugnen, „farbenblind“ zu werden und so weiße Privilegien aufrecht zu erhalten. Die eigene Position wird nicht mehr als weiß wahrgenommen, da (angeblich) gar keine Position bezogen wird. Diese Sozialisierung erschwert später die Beschäftigung mit Rassismus. Die Konfrontation mit dem Thema ist emotional belastend. Zu diesen Emotionen gehören Scham, Wut, Ängste und vor allem auch Ablehnung. Dies führt zu dem Einnehmen einer Abwehrhaltung und die Beschäftigung mit Rassismus wird zunehmend schwieriger (Engelhardt, 2018).

Als ich über Arielles Besetzung in der Realverfilmung diskutiert habe, habe ich meine eigene Position nicht als eine Weiße erkennen können. Ich habe auch das Rassismusproblem in dieser Debatte nicht erkannt. Die Konfrontation mit der Kritik an meiner Haltung löste bei mir zuerst Unbehagen aus. Ich fühlte mich zu Unrecht beschuldigt, da ich mich selbst nicht als rassistischen Menschen gesehen habe. Infolgedessen verhärtete sich meine Position als Abwehrreaktion. Im folgenden Jahr 2020 wurde es mir allerdings unmöglich, den Rassismus in Deutschland weiter zu ignorieren. Die Black-Lives-Matter-Bewegung gewann nach dem Tod des US-Amerikaners George Floyd auch in Deutschland an Popularität und füllte meinen Social-Media-Feed. Besonders oft begegnete mir der Satz: Wenn du nicht antirassistisch bist, bist du rassistisch. Nachdem ich die anfänglich unbehaglichen Gefühle beiseiteschieben konnte, informierte ich mich über Rassismus in Deutschland. Durch die Beschäftigung mit dem Thema wurde mir die Problematik erst mehr und mehr bewusst. Erst durch das Anerkennen von Rassismus als Problem und meiner eigenen weißen Positionierung konnte ich mir meine eigenen Rassismen eingestehen. Ich habe erkannt, dass antirassistisches Verhalten ein langer Weg ist, an dem aktiv und langfristig gearbeitet werden muss. Auch die Recherche für diesen Essay hat mich erneut motiviert weiter an mir zu arbeiten.

Literaturverzeichnis

Adichie, C. (2009). The danger of a single story. [Video]. Ted. https://www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_the_danger_of_a_single_story/transcript

Bönkost, J. (2016). Weiße Emotionen – Wenn Hochschullehre Rassismus thematisiert. IDB Paper. No.1, https://diskriminierungsfreie-bildung.de/wp-content/uploads/2016/07/IDB-Paper-No-1_Wei%C3%9Fe-Emotionen.pdf

Disney, W. (Produktion), & Sharpsteen, B. (Regisseur). (1941). Dumbo [Film]. USA.

Engelhardt, A. A. (2018). Raus aus Happyland: Zum Umgang mit Scham in der rassismuskritischen Bildungsarbeit (Masterarbeit, Sigmund Freud Privat Universität Berlin). WUS. https://www.wusgermany.de/de/wus-service/wus-aktuelles/wus-foerderpreis/wus-foerderpreis-2019/raus-aus-happyland-zum-umgang-mit-scham-der-rassismuskritischen-bildungsarbeit-0

Freeform. [FreeformTV]. (2019, 7.Juli). An open letter to the Poor, Unfortunate Souls [Tweet] [Link enthalten]. Twitter. https://twitter.com/FreeformTV/status/1147647797732106240

Pilgrim, D. (2012). What was Jim Crow. Ferris State University. Jim Crow Museum of Racist Memorabilia. https://www.ferris.edu/jimcrow/what.htm

The Walt Disney Company. (o. D.) Stories Matter. https://storiesmatter.thewaltdisneycompany.com/

Willets, K. R. (2013). Cannibals and Coons: Blackness in the Early Days of Walt Disney. In J. Cheu (Hrsg.), Diversity in Disney films : critical essays on race, ethnicity, gender, sexuality and disability (1. Aufl., S. 9-22). London, UK: MacFarland & Company, Inc.

Willmann, T. (o. D.) Das Dschungelbuch. Artechock. https://www.artechock.de/film/text/kritik/d/dschun.htm#oben


Quelle: Sofia Bucher, Arielle, die Schwarze dänische Meerjungfrau, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 10.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/10/arielle-die-schwarze-daenische-meerjungfrau/

Why Citation matters: Ideas on a feminist approach to research

Christina Templin (SoSe 2021)

Introduction

Research in academia today has a highly standardized and institutionalized approach to citation with only a few generally accepted forms on how to reference our work. As students in the field of social sciences, we learn this at an early stage of our studies as we are constantly reminded of the importance of citing correctly. Following the logic of continuous progress in scientific research, where each work builds on each other, we learn that it is necessary to thoroughly reflect on the work that has already been done on a specific question, to be able to draw new conclusions from enquiring, criticizing or highlighting new aspects of a problem.[1] This makes it possible to distinguish the authors ideas from someone else’s while acknowledging the impact of previously published work, not only to avoid plagiarism but also to give credit to the source of our ideas and to be able to evaluate the stringency of our argument (Logik des Zitierens).

What we often don’t realize is that the knowledge we consume, produce and reproduce in this process isn’t neutral. As Pat Thomson puts it in a blogpost: “Who cites who is not a neutral game.” (2018). A lot of the scholarship produced in social sciences is still highly dominated by white, male cis-gendered authors, while especially women and people of color continue to be underrepresented and marginalized in academia. Carrie Mott & Daniel Cockayne even point to “citation cartels”, where authors agree to only cite each other’s work to boost their impact in academia, leading to the overall exclusion of particular voices and bodies from what bell hooks calls a “white heteromasculine hegemony” (Mott/Cokayne 2017, p. 955). Drawing on this argument and some of the research that has been done on the politics of citation, I will be reflecting on some of the citation practices in academia today and point out a few challenges that arise with the current highly institutionalized system of citation social sciences, especially when trying to assume a feminist and gender-sensitive approach to research.        

To develop my argument, I will first draw on Sarah Ahmed’s inspiring book “Living a feminist life” (2017), as well as the blog that she was writing alongside with it, where she develops a set of ideas on what it means to be feminist and addresses the challenges that arise with it. Here she follows a strict citation policy and reflects on how the references we use influence our writing. Her work helps to understand citation as a form of academic politics that reproduces hierarchies of knowledge. I will use her argument to show specifically how women of color have continuously been excluded from generalized forms of knowledge production as publication and citation practices continue to reproduce institutional racism and sexism (Chakravartty 2018, p. 254). As a political science student, who is used to writing papers following academic standards, I will use this also to reflect on some of my own work, asking myself, who am I citing and why? Lastly, I will try to elaborate some conclusions on how these questions impact the research that is done today and how we can improve on the challenges that were mentioned, moving towards a more inclusive citation practice that takes into account various forms of knowledge that have previously been excluded.

Sarah Ahmed – Living a feminist life

“Living a feminist life” (2017) is a rather personal account of the author Sarah Ahmed, a scholar of color who became a lecturer in women’s studies after acquiring a PhD in critical theory. Through the book, she reflects on her personal and intellectual journey of becoming a feminist and, as the title suggests, what it means to live a feminist life in a world that is still in many ways structured in a patriarchic way. She draws her inspiration specifically from reading black feminist and feminist of color scholarship and tries to create a link between a theory of feminism and the everyday experiences of women dealing with racism and sexism, arguing that feminism can never be restricted to the field of academia but rather has to be brought “home” into women’s personal spaces. In this way she also critiques the mainstream of academic research as well as sexism in academia.

For Sarah Ahmed, it is highly relevant, where we draw our ideas and knowledge from and what we produce and reproduce as researchers.  Interestingly, she also talks about feminist theory as “world making” (Ahmed 2017, p. 14) as it guides how we generate knowledge and how we position ourselves in this world. One aspect that addresses in this regard is how we cite our work, as she describes citations as “feminist bricks”, helping us to build a world, where all bodies can be accommodated (p. 16).

“In this book, I adopt a strict citation policy: I do not cite any white men. By white men I am referring to an institution, as I explain in chapter 6. Instead, I cite those who have contributed to the intellectual genealogy of feminism and antiracism, including work that has been too quickly (in my view) cast aside or left behind, work that lays out other paths, paths we can call desire lines, created by not following the official paths laid out by disciplines.”

Ahmed 2017, p.15

The argument made here, is very similar to the one made in the beginning: we cite previously published work to acknowledge the impact of their ideas on the development of our own ideas. Sara Ahmed cites to “acknowledge our debt to those who came before” (p. 15). At the same time, she describes citation in one of her blogposts “as a rather successful reproductive technology, a way of reproducing the world around certain bodies”, (Ahmed 2013) pointing to the hierarchies that prevail in academia. Especially in producing (feminist) theory researchers often tend to fall back on a “citational chain” (Ahmed 2017, p.8) where theorists cite other theorists who are already well established on the field and continuously stick to a similar epistemological position. Oftentimes this will be the work of white male scholars who form the mainstream of academic research and who continuously reproduce a similar epistemological position, rarely allowing for alternative forms of knowledge to enter the discourse. Sarah Ahmed specifically wants to avoid this epistemological trap through developing her own citation policy, which she also agrees is sometimes very blunt. This way she tries to give room to voices and ideas that have previously excluded in the epistemological mainstream of most disciplines.

The invisibility of alternative epistemologies

As mentioned above, the mainstream of academic disciplines is still controlled by an elite group of white men, whose interests shape the themes and paradigms of traditional scholarship (Hill Collins 2000, p. 251). Their interpretations of the world are reinforced through citational chains or even citation cartels, where authors agree to only cite each other to boost the impact of their work. And while much research has shown, that women, people of color, and those othered through white heteromasculine hegemony continue to be underrepresented and marginalized in the politics of knowledge, this doesn’t mean that there have not been other forms of knowledge produced that have had an impact on academia as well. Patricia Hill Collins refers to U.S. Black feminist thought in this context as “subjugated knowledge” that often stands in contrast to traditional epistemologies. She points out, that even though Black feminist scholars have become much more visible in academia, there knowledge claims are often still validated differently, especially when those claims contradict the interests of those controlling academic institutions (p. 252). This has in many instanced led to Black feminist scholars to turn to alternative ways of producing and validating knowledge, that do not fulfill the typical political and epistemological criteria of the mainstream of academic disciplines.

One way of validating knowledge claims outside of traditional academic principles is based on the “collective experiences and accompanying worldviews that U.S. Black women sustained based on our particular history” (p. 256). Patricia Hill Collins uses this as an example to specifically object to positivist methodologies of knowledge production that “aim to create scientific descriptions by producing objective generalizations” and in which scholars explicitly distance themselves from lived experiences, values or emotions. Instead, she emphasizes the importance of lived experiences in what she calls a “collective wisdom” (p. 256) that Black women have oftentimes needed to be able to sustain themselves against “the dynamics of intersecting oppressions” (p. 257). Aside from that Hill mentions “belief in connectedness and the use of dialogue” (p. 260) when she quotes bell hooks who said: “Dialogue implies talk between two subjects, not the speech of subject and object. It is a humanizing speech, one that challenges and resists domination” (p. 260). Both of them center around Black women’s strong sense of community as Hill points to the dimension of solidarity and support in traditional African-American institutions like Church or Family. She also stresses that most knowledge claims from Black feminist scholars do not come from a single person but are worked out in community or in dialogue with others.

This again brings us to the difficulty of conventional citation systems. As mentioned above, they tend to reproduce the mainstream of academic research, favoring white male authors in a “white heteromasculine hegemony” while further marginalizing other voice, especially those of feminist scholars of color. Through this highly institutionalized system alternative forms of knowledge production are being excluded from academic disciplines. Even though they will be considered valid knowledge by various criteria that goes beyond traditional epistemological systems, the work of Black feminist scholars is oftentimes denied the status of “credible research” and would therefore also not appear in references and citation lists of other scholars. This prevents Black feminist scholars from academic recognition, as citation counts are still an important measure in determining academic impact and scholarly reputation (Baker 2019). It also becomes difficult to include forms of alternative knowledge generated through collective lived experiences, in citations, when we can’t associate them to a single author or a group of authors who claim to be at the origin of the proposed ideas. James Boyle calls this the “conceit of romantic authorship”, or rather “the idea that individuals (and even corporations) create out of thin air rather than borrow from a rich public domain of freely circulating sources and inspirations.” (Sunder 2007, p. 99) which is a notion that comes out of western knowledge production with a reference to intellectual property rights. (Due to the scope of this paper, the notion of intellectual property rights and their critique will not be further elaborated here.)

Why we should care

After recognizing citational systems as an oppressive tool that favors whiteness and continues to leave out particular voices and bodies (Mock/Cockayne 2017, p. 955), P. Chakravartty et al. point to one important question: “Why would white scholars listen?” (p. 262). While it may sound blunt at first, I think it is an important question to ask and reflect on. As researchers or students, we always have a reason for how and why we chose the topics we investigate. Especially in social sciences we also have a certain responsibility towards the questions we decide to address and to the impact our research has. We navigate in a system of social hierarchies and in between power relations where we have to learn to position ourselves and question our interests and priorities. Of course, it is oftentimes easier to move with the flow of mainstream academia, where the chance of being published, recognized and ultimately successful in academia is much higher when following the established citational chains. But this also means that we reproduce oppressive structures that silence other marginalized voices. P. Chakravartty et al. talks about “the larger structures of racial inequality in the academy and society at large” and a social order that has been “detrimental and dehumanizing” for decades (p. 262). This certainly goes against the imagination of (western) knowledge being a neutral and non-violent sphere of rationality. To understand and analyze the social and political world, it is necessary to recognize these connections.

Even as I was writing this essay, I noticed that a lot of the literature I found on the related topics was written by white (male) scholars, who are rarely directly affected by the oppressive system in which they work. But as I made an effort, to dig a bit deeper and find articles and books written by (feminist) scholars of color, I realized that in many ways I have also benefited from this effort as it has encouraged me to look at the topics I address from a different perspective. Sarah Ahmed put it very beautifully when she reflects on her intellectual journey while writing “Living a feminist life” (2017)

“Perhaps citations are feminist straw: lighter materials that, when put together, still create a shelter but a shelter that leaves you more vulnerable. That is how it felt writing this work as well as speaking from it: being in the wind; being blown about, more or less, depending on what I encountered. The words I sent out danced around me; I began to pick up on things I had not noticed before. I began to wonder how much I had in the past built an edifice to create a distance. Sometimes we need distance to follow a thought. Sometimes we need to give up distance to follow that thought.”

Ahmed 2017, p. 16

Moving towards a more inclusive system of citation

Lastly, I want to acknowledge that citations can also function as a “powerful corrective” (Baker 2019). This has led Mott&Cockayne to advocate for a “conscientious practice of citation” (Mock/Cockayene 2017, p. 968) that can help to dismantle and deconstruct dominant power structures in social sciences. They ask the question: “how do we rethink citation as a progressive technology rather than one that serves to make invisible particular bodies and voices?” (p. 965). Borrowing the term “performative” from Judith Butler, they suggest understanding citations as a performative practice, instead of viewing citations as a measure of academic impact. They point out what can be gained from failing to follow disciplinary norms of citation and engaging with other voices who have typically been made invisible or silenced by the larger system:

 “Instead of understanding citation as a metric of influence and impact, we outline practical and conceptual ways to resist these neoliberal leanings by thinking conscientiously about citation as a form of engagement.”

Mock/Cockayene 2017, p. 964

Looking more specifically at how to do this, especially as a student of social sciences who is used to engaging closely with the materials presented, I have found a blogpost by an Australian teacher, who has come up with a list of a few questions to ask ourselves when reflecting on our list of references with which I would like to close my argument (Reference lists as sites of diversity? Citations matter. 2018): 

  • How does this list of references situate my work in the field? With what kind of scholarship am I aligning my work?
  • From what nations, cultures and classes do my references come? To what extent do they represent Euro- or Anglo- centric ways of knowing and being?
  • What is the gender mix of my reference list?
  • Whose voices are silent? Whose scholarship have I ignored or excluded?

Conclusions

Citational systems are a powerful tool that work to reproduce a discipline (Ahmed 2013) while upholding oppressive systems of racism and sexism in academia. Much research in the field of social sciences has shown us that particular voices and bodies, as well as alternative forms of knowledge that are being produced, continue to be marginalized and excluded from the mainstream of academic knowledge, leading to a rather narrow body of work that is considered credible. Specifically, feminist scholars of color have been excluded in a system that favors (male) whiteness. It is therefore necessary that we reflect on our own practices of citation and knowledge production to avoid reproducing these systems of oppression, which we wish to dismantle. While of course, this goes way beyond our practices of citation and is not done with checking our reference lists, it is still one important step towards a more conscientious engagement with those voices that have been othered in a “white heteromasculine hegemony”.        


References

Ahmed, Sarah (2017): Living a feminist life, Durham: Duke University Press. 

Ahmed, Sarah (2013): Making Feminist Points, feministkilljoys, [online] https://feministkilljoys.com/2013/09/11/making-feminist-points/ [31.08.2021]. 

Baker, Kelly J. (2019): Citation matters, Women in Higher Education, [online] https://www.wihe.com/article-details/124/citation-matters/ [31.08.2021].

Reference lists as sites of diversity? Citations matter. (2018): the édu flâneuse, [online] https://theeduflaneuse.com/2018/07/11/citations-matter/ [31.08.2021]. 

Logik des Zitierens: Uni Leipzig Schreibportal (o.D.), [online] https://home.uni-leipzig.de/schreibportal/logik-des-zitierens/ [31.08.2021]. 

Carrie Mott & Daniel Cockayne (2017) Citation matters: mobilizing the politics of citation toward a practice of ‘conscientious engagement’, Gender, Place & Culture, 24:7, 954-973, DOI: 10.1080/0966369X.2017.1339022. 

Hill Collins, Patricia (2000): Black feminist thought: knowledge, consciousness and the politics of empowerment, 2nd edition., New York: Routledge, 2000.

Madhavi, Sunder (2007): The Invention of Traditional Knowledge, Law and contemporary problems, 2007-04-01, Vol.70 (2), p.97-124, Durham: Duke University School of Law.

Thomson, pat (2018):  for the reader – citations, reference lists, tables of contents and indexes,  patter, [online] https://patthomson.net/2018/04/16/for-the-reader-citations-foot-notes-reference-lists-and-indexes/ [08.09.2021]


Source: Christina Templin, Why Citation matters: Ideas on a feminist approach to research, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 10.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/10/why-citation-matters:-ideas-on-a-feminist-approach-to-research/

Sollten wir uns von der Männlichkeit verabschieden?

Eine historisch-soziologische Analyse zur Toxischen Männlichkeit und ihre Begriffsproblematik

Marius Glaser (SoSe 2021)

Der Begriff der toxischen Männlichkeit und seine Prägung

Männer machen Schwierigkeiten. Sie beanspruchen öffentliche Räume, haben die Diskurshoheit, üben die weite Mehrheit aller körperlichen wie auch sexualisierten Gewalttaten aus und stellen sich unwissend, wenn nicht gar verschmähend gegenüber LGBTQIA+ Personen, Frauen und allen von der stereotypisierten Maskulinität abweichenden Männer und ihren Interessen.

Zugleich kämpfen sie aber auch mit Problemen. So sterben sie häufiger durch Suizid, sind selbst häufiger Opfer von Gewaltverbrechen und haben einen schlechten und eisernen Zugang zur eigenen Gefühlswelt und ihrem Sexualerleben. Eine geradezu herausragende Eigenheit des konservativen Mainstreams ist das Aufwiegen dieser beiden Gegebenheiten. So wird der Umstand, in dem Männer erwiesenermaßen schlechter als Frauen dastehen, dargestellt, als hebe er jeglichen Feminismus und seine Belange auf und enttarne diesen als reinen Männerhass. Um sich vor dieser Unsinnigkeit zu verteidigen und ihr entgegenzuwirken, bestand das Bestreben um eine Erklärung zum Zusammenhang von männlichem Dominanzverhalten und  männlichen Leidenserfahrungen.

Der Begriff der Toxischen Männlichkeit wurde insbesondere in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der #metoo Bewegung und feministischen Diskussionen über Femizide von jungen Männern in Amerika geprägt. Der weltweit viel beachtete Essay „A Stiff Upper Lip is Killing British Men“ und dessen Fortführung in Buchform „Boys don’t cry“ vom „Vice“-Journalisten Jack Urwin erhielten enorme Aufmerksamkeit und brachten den Begriff der Toxischen Männlichkeit noch stärker in den aktuellen Diskurs.(1)

Der historische Ursprung des Begriffs findet sich in den mythopoetischen Männerbewegungen der 80er und 90er Jahre wieder. Anfänglich wurde er verwendet, um soziale Randgruppen und deren aggressives und kriminelles Verhalten zu beschreiben. Die mythopoetische Männerbewegung beschäftigte sich mit traditionellen Männlichkeitskonzepten, welche sowohl gesellschaftlich, als auch durch die väterliche Erziehung geprägt wurden. Ihr Bestreben lag in der eigenständigen Abgrenzung von dieser „giftigen“ Männlichkeit und dem damit einhergehenden Dominanzverhalten und Gefühlstaubheit. Diese toxischen Verhaltensweisen seien insbesondere auf eine gestörte Vater-Sohn-Beziehung zurückzuführen. So festigte sich in der Bewegung die grundlegende Auffassung Männer [könnten] nur wenn [sie] in der Auseinandersetzung mit anderen Männern ein positives Selbstverständnis [entwickeln], [in der Lage sein, auch] gleichberechtigte Beziehungen zu Frauen zu [führen](2). Zeitgleich wurde der Begriff auch vermehrt in der akademischen und politischen Literatur verwendet, beschrieben und geprägt. In der Psychologie, Soziologie und der Geschlechterforschung wurde er vor Allem um die hegemoniale  Männlichkeit diskutiert.

Bis heute wurde der Begriff unzählige Male in den verschiedensten Bereichen der Soziologie wissenschaftlich erörtert und so wurde uns ein greifbares Konzept dessen geliefert, was wir unter Toxischer Männlichkeit verstehen können.

Was definiert die toxische Männlichkeit?

Schon anfänglich erwähnt, beschreibt die Toxische Männlichkeit die Summe aus und den Zusammenhang von männlichem Dominanzverhalten und männlichen Leidenserfahrungen. Der Ausdruck toxisch stellt nicht die Männlichkeit als das Giftige dar, sondern drückt vielmehr aus, dass Männern zugeschriebene Verhaltensweisen toxische Auswirkung haben. Aus meiner Perspektive als Mann sind diese Verhaltensweisen also erstmal schlecht für mich und für alle um mich herum. Doch welche Verhaltensweisen sind denn nun eigentlich toxisch männlich?

Das männliche Dominanzverhalten umfasst diverse stereotypisierte Eigenschaften, die Männern aus traditionellem patriarchischem Gedankengut heraus gesellschaftlich anerzogen werden.

Der Mann selbst versteht sich immer als Subjekt und strebt ein selbstbestimmtes und vermeintlich unabhängiges Agieren in der Gesellschaft an. Dabei sollten keine Gefühle ausgedrückt werden. Als Ausnahmen werden dabei Wut und Aggression klar kommuniziert, ja sogar der Männlichkeit zugeschrieben. Damit geht selbstverständlich ein aggressives und dominantes Auftreten einher, was häufig zu Grenzüberschreitungen und sexueller Übergriffigkeit führt, die als rechtmäßig empfunden wird. Männer werden in unserer kapitalistischen Gesellschaft mit einem übertriebenen Konkurrenzdenken in allen Lebensbereichen erzogen, vom Sport über finanziellen und beruflichen Erfolg bis hin zur Anzahl der Geschlechtspartner*innen. Bei all diesen Verhaltensweisen sollte der Mann immer die Kontrolle bewahren und so wenig bis keine Hilfe zulassen. Alle Eigenschaften, die von den genannten abweichen, werden stets als weiblich und schwach angesehen und  klar abgelehnt (3). Es wird in unserer Gesellschaft wohl kaum eine Person geben, die zu den genannten Stereotypen keine Erfahrungen gemacht hat. Mir zumindest kommen unzählige Situation in den Kopf, in denen ich von diesem stereotypisierten Verhalten betroffen war oder es selbst ausgeübt habe. Wir alle sind davon betroffen, individuell und strukturell und es wirkt sich negativ auf unser Leben aus.

Welche Folgen entstehen durch solches Verhalten?

Wie anhand der genannten Eigenschaften schon zu vermuten ist, hat die Toxische Männlichkeit unzählige negative Folgen. Ich möchte sowohl die persönlichen Folgen für Männer, als auch die gesamtgesellschaftlichen Folgen erörtern. Dabei ist zu beachten, dass diese beiden Bereiche stark miteinander korrelieren, wenn nicht sogar bekräftigen.

Toxisch männliches Verhalten spielt selbstverständlich auch in meinem Leben eine große Rolle. Ich wurde mit diesen Mustern sozialisiert und trage sie wie die meisten inne. Aufgewachsen bin ich in einer Familie, in der klassische Rollenbilder präsent waren. Während meine Mutter in meiner Kindheit daheim blieb, die Care-Arbeit und vor Allem auch emotionale Erziehung übernahm, ging mein Vater als Versorger der Familie arbeiten – obwohl meine Mutter die besser bezahlte Stelle hatte. Mein Vater stellt für mich bis heute ein Paradebeispiel der Toxischen Männlichkeit dar. Er verkörperte, wenn auch nicht aktiv nach außen, Homo- und Transfeindlichkeit und war wenig bis nicht emotional zugänglich. Diese Eigenschaften trägt er wohl, weil er so sozialisiert wurde, auch weil er Ablehnungs- und Gewalterfahrungen mit seinem Stiefvater gemacht hat. Wie es fatalerweise dann häufig der Fall ist, werden diese Erfahrungen an die eigenen Kinder wieder weitergegeben. Mein Bruder musste durch meinen Vater ebenfalls Gewalt, emotionale Kälte und Ablehnung erfahren. Geprägt von diesen Erfahrungen und dem Männlichkeitsbild gab mein Bruder diese wiederum an den nächst Schwächeren, an mich, weiter. Während der Schulzeit ergaben sich dann mit meinem Körperbau wie auch meinem androgyneren Erscheinungsbild neue Zielscheiben. Ich hatte einen schlanken, wenig muskulösen Körperbau und wenig Körperbehaarung, die, wenn vorhanden, hellblond und nicht direkt sichtbar war. Hinzu kam, dass ich mich für einen jugendlichen Jungen wohl ungewöhnlich kleidete, ich trug gerne auch weiblich assoziierte Farben und engere Hosen. Mit diesem Erscheinungsbild wurde ich dann sehr häufig als nicht-männlich und als homosexuell bezeichnet, trotz einer Beziehung mit einem Mädchen. Durch das Aufwachsen mit diesen zwei männlichen Vorbildern und den gemachten Erfahrungen zur Männlichkeit festigten sich natürlich auch bei mir viele toxische Merkmale. Ich habe schon immer viele Schwierigkeiten meine Emotionen, meine Bedürfnisse und Wohlbefinden zu äußern und kann auch wenig Hilfe zulassen. Besonders durch das Aufwachsen mit meinem Bruder geprägt, habe ich ein sehr starkes Konkurrenzdenken inne. Gewinnen, intelligenter, schneller und besser zu sein als die anderen war für mich immer wichtig. Dementsprechend schwer fällt mir auch der Umgang mit Niederlagen und Scheitern. Eng damit verbunden trage ich auch ein Streben nach Erfolg und Reichtum in mir. In den letzten Jahren in der Beziehung mit meiner Freundin ist mir besonders aufgefallen, dass in mir ein Unabhängigkeitsgefühl verwurzelt ist, im Kontrast dazu ich aber gleichzeitig in einer emotionalen Abhängigkeit von meiner Freundin bin.

Meine Hauptleidenserfahrung in Bezug auf die Männlichkeit ist allerdings eine andere, welche der Leipziger Feminist und Publizist Kim Posster in einem Interview gut beschreibt. So sei die Hauptleidenserfahrung, männlich strukturiert zu werden und sich ein Leben lang die Frage stellen zu müssen, ob man denn männlich genug sei. Er beschreibt das Verhältnis von den meisten Männern zu ihrer Männlichkeit als sadomasochistisch. Einerseits litten sie unter den Anforderungen und Hierarchien, erführen Beschämung, Gewalt und Enttäuschung. Andererseits führe es dadurch aber oft zu einem noch stärkeren Gefühl des „dazu gehören Wollen“ (4).

Ich habe viele negative Erfahrungen zur Männlichkeit gemacht und trotz dessen, oder gerade deshalb, bin ich immer wieder in Situationen, in denen ich dazu gehören und als Mann gelesen in der Menge der Männlichkeit untertauchen möchte.

Toxische Männlichkeit, „das Kryptonit, das Männer schwächt, indem es ihnen Lügenmärchen von ewiger Stärke und Dominanz einflüstert“ (5), führt häufig zu selbstschädigendem Verhalten, welches auch statistisch nachgewiesen werden kann. Vermutlich in Folge der Schwierigkeiten von Männern sich Schwäche einzugestehen, werden in Deutschland deutlich mehr Frauen als Männer mit Depressionen diagnostiziert. Auffällig ist jedoch, dass Personen, die infolge einer Depression Suizid begehen zu 60-70% Männer sind (6). Insgesamt begehen Männer in Deutschland knapp 76% aller Suizide (7). Gegensätzlich zu diesem selbstschädigenden Verhalten gibt es eben auch die andere Seite. So wurden allein in diesem Jahr bis September in Österreich bereits 21 Femizide begangen (8). Tendenz steigend.

Auch strukturell hat sich dieses Verhalten gefestigt und den Mann als Krone der Schöpfung verinnerlicht. Die Auswirkung sind beispielsweise an der Pathophysiologie zu erkennen. Diese ist meist auf die körperliche Beschaffenheit des Mannes ausgerichtet und so werden auch in Lehrbüchern meist nur männerspezifische Symptome beschrieben. Eine Folge dessen ist, dass bei Frauen seltener Herzinfarkte diagnostiziert werden, Frauen aber statistisch häufiger an Herzinfarkten sterben. Eine europaweite Studie zu diesem Thema hat ergeben, dass bei Frauen zu 20% seltener Belastungstest angeordnet werden, bei bestätigtem Verdacht 40% seltener radiologische Untersuchungen und ein Drittel weniger Operationen, wie auch ausreichende Medikamentenversorgung vorgenommen werden. Die Folge war innerhalb eines Jahres doppelt so viele an Herzinfarkt verstorbene Frauen wie Männer (9).

Ähnlich verhält es sich mit Crash-Test-Dummies, die fast ausschließlich nach dem durchschnittlichen Mann erstellt werden. Dadurch werden gerade kleinere Frauen, die näher am Lenkrad sitzen müssen, häufiger Opfer schwerer Verletzungen. Passt man beispielweise die Anordnung der Pedale an kleinere Frauen an, so kann man ihr Risiko für schwere Verletzungen der Extremitäten um rund das Fünffache senken (10).

Die Auswirkungen von toxisch männlichem Verhalten betreffen nicht nur die Männer selbst, vielmehr die Personen, die sich diesem System unterordnen müssen. Es ist kein oberflächliches Problem, sondern hat sich mittlerweile tief in unseren Strukturen verankert.

Die Begriffsproblematik der toxischen Männlichkeit

Wie zu Beginn bereits erwähnt hat der Begriff der „Toxischen Männlichkeit“ eine sehr wichtige Aufgabe erfüllt. Was für uns meist nur ein vages Gefühl war, fasst er nun umfangreich zusammen, er erklärt männliches Dominanzverhalten und männliche Leidenserfahrungen, deren Zusammenhang und Auswirkungen. Die Verwendung des Begriffs „Toxisch“ ist insofern bedeutsam, als er die Wichtigkeit der Thematik und die Intensität der Auswirkung verdeutlicht und ihnen gerecht wird. Zeitgleich besteht genau in dieser Wortwahl die Problematik. Es fällt sehr leicht, sich von solch einer Bezeichnung zu distanzieren, kaum eine Person wird ihr eigenes Verhalten als „toxisch“ einstufen, sogar unter den Selbstkritischsten. Der Begriff kann dazu führen, dass sich Männer von sehr eindeutig als toxisch identifizierbaren Männern abgrenzen und dabei vergessen, dass alle Männer, auch sie selbst, betroffen sind.

„Toxisch“ polarisiert. Die Hauptproblematik liegt wohl darin, dass durch das Toxische automatisch die Frage nach der „gesunden“ Männlichkeit aufkommt. Der Begriff zieht dort eine Trennlinie, wodurch die Korrelation der „guten“ und „schlechten“ Anteile, vor Allem aber auch eine Kritik am Patriarchat wegfällt. Schaffen wir dieses neue Bild der Männlichkeit, bekräftigen wir nur wieder das Bedürfnis von Männern, sich an Idealen zu orientieren und ein richtiger Mann sein zu wollen (11). Doch welche  Alternativen dazu gibt es?

Reicht die Entgiftungskur?

Der wohl schwierigste Prozess liegt darin dieses soziokulturelle Konstrukt, das sich hinter der Toxischen Männlichkeit verbirgt, zu bekämpfen. Was kann individuell unternommen werden, welche Strukturen müssen geändert werden und welche Konzepte stellen sinnvolle Alternativen dar? Und wie weit müssen wir dabei gehen?

Jede als Mann sozialisierte Person kann bei sich selbst beginnen. Männer denken oft erst kritisch über sich nach, wenn sie auf Konfrontation stoßen, wenn sie von feministischer Kritik getroffen werden. Deshalb ist feministische Kritik unerlässlich (12).

Ich bin mir dessen bewusst, wie schwer es war und immer noch ist diese Thematik bei mir anzugehen. Leider hat es auch bei mir erst die feministische Kritik meiner Freundin gebraucht. Anfangs reagierte ich mit Wut, Widerstand und es war schmerzvoll. Das kommt immer noch vor, aber je mehr ich mich damit beschäftige, je mehr ich verstehe, wie tiefgreifend dieses Konstrukt ist, desto stärker möchte ich die Veränderung angehen. Das Ankämpfen gegen dieses Konstrukt wird wohl ein lebenslanger Prozess sein, bei dem es nur hilft, ständig das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen.

Um sich der Frage nach dem richtigen Mann zu entziehen, wird eine „kritisch-reflektierende Unterstützung darin, sich gegen diese Frage zu widersetzen“ benötigt. Männer müssten überdenken, was die Gesellschaft von ihnen verlangt hat und wie sie in ihr geworden sind und die Lust haben diese Sachen aufzubrechen13. Kim Posster erwähnt einen Satz von Edgar Forster, der eine mögliche Alternative andeutet. Dieser schrieb „Männlichkeitskritik ist offen, weil Männlichkeitskritik keine neuen Männerbilder entwirft. Männlichkeitskritik bezieht ihre Kraft nicht aus der „Krise von Männlichkeit“, sondern aus der Lust auf ein anderes Begehren.“ (14)

Ich verspüre ein Begehren. Wieso sprechen wir über das Beseitigen der Toxischen Männlichkeit, wollen wir die Männlichkeit entgiften und uns ein neues Ideal des gutmütigen Mannes erschaffen?

Wir leben in einer Gesellschaft mit soziokulturell konstruierten Geschlechtern, zwingen Kindern auf Grund ihres biologischen Geschlechts Denkweisen und Verhaltensmuster auf und nehmen ihnen die Möglichkeit sich frei zu entwickeln. Geborene Frauen sollen das Frausein und geborene Männer sollen das Mannsein leben.

Es ist wichtig die Toxische Männlichkeit zu bekämpfen, aber das reicht bei Weitem nicht aus.

Wir sollten die Männlichkeit abschaffen.

Ich möchte, dass das Konstrukt der Männlichkeit und auch das Konstrukt der Weiblichkeit abgeschafft wird. Entledigen wir uns dieser Konstrukte, schaffen wir Raum, in dem Babys, Kleinkinder, Jugendliche und Erwachsene sich frei entwickeln und sie selbst sein können. Ein solches Konzept auf unsere Gesellschaft anzuwenden ist mit Sicherheit nicht einfach und braucht seine Zeit. Die Anforderungen an Geschlechter waren zu Zeiten der Aufklärung und Romantik noch ganz andere wie die heutigen.

Und so wird sich die Gesellschaft in Zukunft auch wieder ändern und neue Konzepte haben – hoffentlich dann ohne Konstrukte und Anforderungen an biologische Geschlechter.


1 Vgl. Wikipedia, 2021

2 Vgl. Keen, 1993

3 Vgl. 100Mensch, 2020

4 Posster, 2019

5 Pickert, 2020

6 Vgl. Münster, 2017

7 Vgl. Statistisches-Bundesamt, 2019

8 Vgl. Frauenhäuser, 2021

9 Vgl. Spektrum, 2005

10 Vgl. Schmid, 2021

11 Vgl. Posster, 2019

12 Vgl. Posster, 2019

13 Vgl. Posster, 2019

14 Vgl. Posster, 2019


Literaturverzeichnis

100Mensch. (2020). Toxische Männlichkeit. Von 100Mensch: https://100mensch.de/lexikon/toxic_masc/ abgerufen

Christina, L. (2020). Leachristina. Von https://leachristina.com/2020/09/01/toxische- maennlichkeit/ abgerufen

Frauenhäuser, A. Ö. (2021). Mutmaßliche Frauenmorde durch (Ex-)Partner oder Familienmitglieder oder durch Personen mit Naheverhältnis zum Opfer 2021 laut Medienberichten:. https://www.aoef.at/images/04a_zahlen-und-daten/Frauenmorde_2021_Liste-AOEF.pdf

Keen, S. (1993). Feuer im Bauch. Über das Mann-sein.

Münster, U. (2017).  Geschlechterunterschiede bei Suizid und Suizidalität/Fachartikel. https://gendermedwiki.uni- muenster.de/mediawiki/index.php/Geschlechterunterschiede_bei_Suizid_und_Suizidalität/ Fachartikel

Pickert, N. (2020). (S. T. Zykunov, Interviewer) https://www.brigitte.de/liebe/beziehung/maenner- erzaehlen–ja—toxische-maennlichkeit–haben-wir-schon-mal-gehoert-12221760.html

Posster, K. (2019). (V. Mokrezowa, Interviewer) https://www.goethe.de/ins/ru/de/kul/sup/mas/21581216.html

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Quelle: Marius Glaser, Sollten wir uns von der Männlichkeit verabschieden? Eine historisch-soziologische Analyse zur Toxischen Männlichkeit und ihre Begriffsproblematik, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 03.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=164