Vor einigen Tagen stand ich vor der Herausforderung, einer Kollegin eine Zusammenfassung der Geschichte des Saarlandes zu geben. Immer wieder wurde es zwischen den Nachbarn hin- und hergespielt wie ein Ball, man hat gewissermaßen mit ihm Völkerball gespielt (nl. trefbal, bei dem Begriff sind sich Belgier und Niederländer offenbar weitgehend einig, auch wenn das Spiel sonst weltweit die verschiedensten Namen trägt.) Zwischen den Weltkriegen stand das damalige Saargebiet wieder einmal unter französischer Kontrolle, gedeckt von einem Mandat des Völkerbunds. Gemeinsam stießen wir auf die Frage, wie der Völkerbund denn auf Niederländisch heißt. Die Antwort ist so naheliegend wie simpel: Man spricht vom Volkenbond oder Volkerenbond. Das ist aus deutscher Perspektive nicht so überraschend. Trotzdem ist es bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass in den meisten anderen Sprachen beispielsweise von der Leage of Nations oder der Société des Nations die Rede ist. In der Logik des frühen 20. Jahrhunderts verschmolzen Volk und Nation eben noch zu einem vermeintlich austauschbaren Begriff. Auf die internationale Politik hatten dabei die Völker wohl am wenigsten Einfluss. Interessanterweise ist die Benennung mit Volk in den germanischen Sprachen zwar verbreitet, aber keineswegs völlig einheitlich. Neben der League of Nations auf Englisch sagt man etwa auf Schwedisch Nationernas förbund, während die norwegische und dänische Variante wiederum Folkeforbundet ist.
Im Deutschen finden wir Volk als Begriff einigermaßen ambig und nehmen ihn nicht mehr so gerne in den Mund. Beide deutsche Diktaturen hatten ihn sich allzu sehr zu eigen gemacht, so dass wir höchstens noch in Komposita wie Wahlvolk, wo eindeutig der demokratische Zusammenhang klar wird, bedenkenlos damit hantieren. Selbst der einst so wichtige Slogan Wir sind das Volk aus der Zeit der friedlichen Revolution 1989 erscheint inzwischen kontaminiert durch die fremdenfeindlichen Parolen der „Pegida“, die den Spruch aufgreift und umdeutet. Dass am Reichstagsgebäude in Berlin die Widmung „Dem deutschen Volke“ angebracht ist, rief schon so manche Kritik hervor. Manchen kam es rechtslastig vor, andere waren der Meinung, es schließe einen Teil der Einwohner Deutschlands aus. Als Alternative wurde in einem Innenhof des Gebäudes ein Kunstwerk mit dem Schriftzug „Der Bevölkerung“ angebracht.
Eine Ausnahme bei diesem lexikosemantischen Unwohlsein sind offenbar Zeitungsnamen. Natürlich möchte niemand zurück zum Völkischen Beobachter, und die Adjektivform völkisch ist zweifelsohne außerhalb der rechtsextremen Szene völlig tabu. Mit der altehrwürdigen Volkskrant hat in den Niederlanden aber wohl kaum jemand ein Problem, ebenso wenig in Deutschland mit der Leipziger Volkszeitung, die schon seit dem späten 19. Jahrhundert so heißt. Wie dehnbar Volk sein kann, zeigen die beiden Blätter, die einmal unter dem Titel Het Volk erschienen waren:
Die niederländische Tageszeitung Het Volk war dezidiert links und nannte sich deshalb im Untertitel Dagblad voor de Arbeiderspartij. Die flämische Tageszeitung Het Volk ging dagegen aus dem politisch-katholischen Milieu hervor und trug einige Zeit lang den Untertitel Antisocialistisch dagblad. Sie organisierte lange Zeit ein bekanntes Radrennen, das nach dem Zeitungstitel Omloop het Volk heiß, bis die Zeitung aufgekauft und der Wettbewerb in Omloop het Nieuwsblad umbenannt wurde. Schaut man sich die Liste der bisherigen Gewinner an, könnte man fast den Eindruck bekommen, dass das belgische Volk das Rennen unter sich ausmacht.
Politisch gemeint ist der Begriff Volk auch bei der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek, die sich bis heute als marxistisches Blatt positioniert. In diesem Namen dürften sich – unabhängig von der politischen Einstellung – viele Sprecher niederländischer Dialekte wiederfinden. Für sie ist vollek mit einem epenthetischen Vokal eine sehr gängige Aussprachevariante. Und bei Johan van Paffendorp liest man im Jahr 1676 in seinem Gedichtband (S. 62): Is hy dat niet? ’t is de man selfs, hoe later op den dag hoe schoonder vollik (Dt.: Je später der Abend, desto schöner die Gäste). Das Phänomen ist in den germanischen Sprachen also keineswegs auf Flandern begrenzt, sondern findet sich in ähnlichen Positionen auch im Luxemburgischen und in Dialekten des Deutschen (in anderen Sprachen ebenso). Beim dialektalen mellek für melk und ähnlichen Formen findet sich der Vokal schon in viel älteren Sprachstufen und gibt noch so manches Rätsel auf. In Erinnerung ist mir die Beschwerde meiner Tante, sie wolle endlich wieder einmal frisch gemolkene Milch anstelle der Fawwerikmillich aus dem Supermarkt. Verspürten mehr Verbraucher solche Gelüste nach frischer Milch, müsste man sich um das Landvolk wohl keine Sorgen machen. Das hätte dann sicher mehr in de melk te brokke(le)n (Dt. in die Milch zu bröckeln, gemeint ist: sie wären besser dran).