Gendern ist Weltsicht: Ein Plädoyer für gendergerechte Sprache

Paula Kleuters (SoSe 2021)

Ein Plädoyer fürs Gendern

Jedes Mal, wenn ich aus Berlin in die Heimat fahre, ist es dasselbe. Ich komme an, treffe meine Schulfreund*innengruppe, wir trinken ein paar Bier und unterhalten uns. Meistens über die Vergangenheit, viel über ehemalige Stufen­kamerad*innen, manchmal über Zukunftspläne und selten über wirklich interessante Dinge. Egal worum es geht, letztendlich gelangen wir immer an den Punkt, an dem die neue Reglung zum Semesterticket „behindert“ ist, oder die Musik auf der letzten Party – vor Corona selbstverständlich – „voll schwul“ war. Das Thema „politisch korrekte Sprache“ ist also, zumindest implizit, immer schnell auf dem Tisch. Spätestens, wenn dann einem oder einer meiner Freund*innen auffällt, dass ich versuche, mich mehr oder weniger konsequent gendergerecht auszudrücken, zu gendern also, ist ein Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt und eine große Debatte losgeht. Meist nur halb ernsthaft, weil alle schon zwei Bier getrunken haben, aber doch ernst genug, um zu merken, dass ich und die meisten meiner Freund*innen hier grundlegend unterschiedlicher Auffassungen sind. „Das ist doch nicht so gemeint!“, „Ach komm, jetzt entspann dich mal!“ oder „Ich hab aber nen Freund, der ist schwul und den stört das nicht, wenn ich das so sage…“ und ganz besonders „Das mit dem Gendern ist ja so albern, Paula!“. Immer sind es die gleichen Sprüche, denen ich versuche, entgegenzuhalten.

„Die Heimat“ ist übrigens eine kleine Großstadt tief im Westen. Immer wieder denke ich, so langsam müssten die sprachlichen Veränderungen, die hier in Berlin mittlerweile zu meinem Alltag gehören, doch auch dort angekommen sein. Und immer wieder stelle ich fest, dass dem nicht so ist und dass das, was ich hier in meiner ‚Bubble‘ als so alltäglich erlebe, dort noch längst nicht zum Standardrepertoire gehört. Ganz besonders das Gendern nicht. Und immer wieder merke ich komischerweise gerade in diesen Situationen der Uneinigkeit, wie sehr mir das Thema am Herzen liegt und wie wichtig und sinnvoll ich diskriminierungsfreie Sprache finde. Exemplarisch werde ich mich hier besonders auf gendergerechte Sprache als eine Form der diskriminierungsfreien Sprache konzentrieren. Für alle, die immer noch nicht verstanden haben, warum gendergerechte Sprache eine gute Idee ist, (oder auch für die, die sich in ihrer Meinung bestärkt fühlen wollen), ist das hier ein Plädoyer fürs Gendern.

Haben wir wichtigere Probleme oder formt Sprache unsere Welt?

Von vielen Kritiker*innen des Genderns wird häufig angeprangert, dass man sich in Nichtigkeiten verrenne; es gäbe doch viel größere Probleme und sprachliche Veränderungen seien nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Man solle sich doch lieber auf die „richtigen“ Probleme konzentrieren. Ich will überhaupt nicht abstreiten, dass es „größere“ Probleme gibt, als unseren Sprachgebrauch. Frauen werden überall auf der Welt systematisch diskriminiert, benachteiligt, belästigt, vergewaltigt, getötet; die Liste ist leider lang. Und diese Dinge sind schrecklich und müssen sich ohne Frage verändern. Nun scheiden sich aber genau hier, an der Frage der Herangehensweise, die Geister: Kritiker*innen des Genderns würden sagen, man muss die großen Probleme direkt angehen, alles andere würde diese verkennen und sei somit überflüssig, ja fast schon unverschämt; sie vertreten quasi einen „Top-down“-Ansatz: Wir schaffen die übergeordneten Probleme aus der Welt, vielleicht ändern sich deren Grundlagen ja dann von allein. Ich glaube nicht, dass das so funktioniert. Ich glaube, dass es mehr Sinn ergibt, an kleinen, leicht handhabbaren Stellschrauben, also beispielsweise unserem alltäglichen Sprachgebrauch, zu drehen. Diese vielen kleinen Veränderungen auf ganz grundlegender Ebene mögen banal scheinen, können aber in der Summe auch auf übergeordneter Ebene von unten nach oben Veränderungen herbeiführen, “Bottom-up“also.

Schon Wilhelm von Humboldt stellte im 19. Jahrhundert fest, „so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche [sic!] Weltansicht.“ (1836, S. 58). Damals von von Humboldt eher auf Nationalsprachen bezogen, lässt sich das Konzept auch auf die vorliegende Thematik anwenden: Eine Sprache, in der alle Geschlechter außer dem explizit männlichen, nicht vorkommen, beeinflusst natürlich, wie wir die Welt wahrnehmen und formen und untermauert so patriarchalische Strukturen.  Auch die Autorin und Rednerin Kübra Gümüşay untermalt fast 200 Jahre später in ihrem Buch Sprache und Sein (2020) mit eindrucksvollen Beispielen, wie sehr sprachliche Feinheiten unsere Wahrnehmung der Welt prägen. Gümüşay beschreibt, wie sie plötzlich ganz banale Dinge anders wahrnimmt oder diese ihr zum ersten Mal auffallen, weil sie die Phänomene plötzlich benennen kann:

„Weil ich das Wort kenne, nehme ich wahr, was es benennt […] So beschreibt das japanische Wort komorebi das Sonnenlicht, das durch die Blätter von Bäumen schimmert. Gurfa, ein arabisches Wort, steht für die Menge an Wasser, die sich in einer Hand schöpfen lässt. Das griechische Wort meraki beschreibt die hingebungsvolle Leidenschaft, Liebe und Energie, mit der sich jemand einer Tätigkeit widmet“

Gümüşay, 2020, S. 11f

Genauso sei unsere Vorstellung von Mengen, von Farben, von Zeit und Raum, unsere ganze Weltsicht also, davon beeinflusst, wie diese in unserer Sprache repräsentiert sind (Gümüşay, 2020). Besonders spannend im Kontext von genderfairer Sprache sind auch ihre Ausführungen zum grammatikalischen Geschlecht von  Dingen: „Im Deutschen werden Brücken eher als ‚schön, elegant, fragil, friedlich, hübsch und schlank‘ beschrieben, im Italienischen eher als ‚groß, gefährlich, lang, stark, stabil und gewaltig“ (Gümüşay, 2020, S. 16). Für die grammatikalisch feminine Brücke im Deutschen werden also stereotyp weibliche Attribute gefunden, während das Gegenteil für das italienische grammatikalisch maskuline il ponte der Fall ist. Wenn Sprache also sogar unsere Vorstellung von Dingen so massiv beeinflusst, kann man sich gut vorstellen, dass das beispielsweise bei Personenbezeichnungen oder Anreden erst recht der Fall ist.

Die Forderung nach gendergerechter Sprache ist also kein konstruiertes oder nichtiges Problem; ganz im Gegenteil: Sprache beeinflusst ganz entscheidend, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Und eine Sprache, die mehr als die Hälfte der Menschen systematisch unsichtbar macht, sorgt dafür, dass diese Menschen auch abseits der Sprache nicht mitgedacht, übersehen und unsichtbar gemacht werden.

Warum die deutsche Sprache nicht „gerettet“ werden muss

Als der Duden Anfang dieses Jahres ankündigte, alle eingetragenen Personenbeschreibungen geschlechtergerecht anpassen zu wollen, hagelte es Kritik, ja Empörung von allen Seiten. Wahlweise ist von „Gendergaga“, „Verhunzung der deutschen Sprache“, oder „Genderwahn“ die Rede (Bednarz, 2020). Der Verein Deutsche Sprache rief sogar eine Petition ins Leben, um die „deutsche Sprache vor dem Duden [zu retten]“ (Verein Deutsche Sprache e.V., 2021). Wie absurd, wenn man sich vor Augen führt, dass es Sprachwandel schon immer gab und immer geben wird. So erklärt auch der Duden diesen Schritt damit, dass Sprache dynamisch ist und sich ganz selbstverständlich verändert – gemeinsam mit unserer Lebensrealität (Deutsche Welle, 2021). So scheint es doch nur logisch, dass in einer Gesellschaft, in der geschlechtliche Vielfalt immer sichtbarer wird, diese Diversität auch in der Sprache repräsentiert ist – einfach, weil wir sprachlich so unsere Realität akkurater beschreiben können: Gendern sei „schlicht und ergreifend genauer, weil es alle aufzählt, die eigentlich gemeint sind“, schreibt Sophie Passmann (2021), Kolumnistin fürs ZEITmagazin.

Weiterhin pochen der Verein Deutsche Sprache und konservative Sprachwissenschaftler*innen in der oben genannten Petition auf die Verwendung des generischen Maskulinums; es wird sogar davor gewarnt, es nicht mehr standardmäßig zu verwenden. Die Erweiterung der Einträge im Duden führe zu einer „problematischen Zwangs-Sexualisierung“ (Verein Deutsche Sprache e.V., 2021). Wie genau eine geschlechtersensible Sprache diese sogenannte „Zwangs-Sexualisierung“ herbeiführen soll, wird nicht richtig klar. Warum, ganz im Gegenteil, geschlechtergerechte Personenbeschreibungen eine gute und vor allem notwendige Veränderung darstellen, zeigt sich, sobald man wissenschaftliche Studien zu dem Thema betrachtet.

So wurde beispielsweise in einer Studie der Freien Universität Berlin untersucht, inwieweit die sprachliche Präsentation von stereotyp männlichen Berufen deren Wahrnehmung bei Kindern beeinflusst (Vervecken & Hannover, 2015). Es wurden Berufsbeschreibungen von stereotyp männlichen Berufen, z.B. Erfinder*in, entweder in der generisch maskulinen Form, also „Erfinder“, präsentiert, oder in Paarform, also „Erfinder und Erfinderinnen“, genau wie der Duden es eingeführt hat. Weitere als typisch männlich gelistete Berufe waren z.B. Astronaut*in, Bürger-meister*in oder Geschäftsmann/-frau. Gemessen wurde dann, wie die jeweilige sprachliche Präsentation sich darauf auswirkte, wie Kindern im Alter von 7-12 Jahren die Zugänglichkeit der präsentierten Berufe sowie die eigene berufliche Selbstwirksamkeit einschätzten. „Zugänglichkeit“ wurde anhand des wahrge-nommenen Status sowie der wahrgenommenen Schwierigkeit der Betätigung operationalisiert. „Selbstwirksamkeit” ist ein Konstrukt, das von Albert Bandura (1995, S. 2) als „the belief in one’s capabilities to organize and execute the courses of action required to manage prospective situations” definiert wurde. Die individuelle berufliche Selbstwirksamkeit zeigt also an, wie zuversichtlich die Kinder waren, die Qualifikationen für die jeweiligen Berufe erreichen zu können. Wie erwartet, und wie in anderen wissenschaftlichen Studien bestätigt, ergab sich aus der sprachlichen Intervention, dass sowohl Jungen als auch Mädchen (dass es weitere Geschlechter gibt, wurde hier außer Acht gelassen) sich als selbstwirksamer bezüglich der Berufswahl erfuhren und die stereotyp männlichen Berufe als zugänglicher angesehen wurden, wenn die Bezeichnungen paarweise präsentiert wurden (Vervecken & Hannover, 2015). Solche Ergebnisse führen deutlich vor Augen, warum die Änderung im Duden sinnvoll und dringend nötig ist: Auch wenn das generische Maskulinum auf dem Papier alle Menschen gleichermaßen inkludieren soll, heißt das nicht, dass sich auch wirklich alle inkludiert fühlen. Geschlechtergerechte Sprache löst mitnichten eine „Zwangs-Sexualisierung“ aus; stattdessen sorgt geschlechterUNgerechte Sprache dafür, dass der patriarchale Status Quo untermauert wird, indem schon Grundschulkindern sprachlich suggeriert wird, welche Berufe für sie erreichbar sind und welche nicht. Auch hier zeigt sich, wie oben schon erläutert, wie mächtig Sprache ist und wie massiv sie unsere Realität beeinflussen kann.

Zu kompliziert, zu hässlich, oder einfach nur nervig

Wenn, wie oben beschrieben, von der Verschandelung der deutschen Sprache geredet wird, springen auch ganz schnell Phonetiker*innen (oder wahlweise auch Freund*innen aus der Heimat, denen Phonetik zum ersten Mal in ihrem Leben wichtig ist), auf den Zug auf und bemängeln, das Gendern störe ihren natürlichen Redefluss. Welch fadenscheiniges Argument: So schwer kann es nicht sein, zwischen Lehrer- und *innen diese minimal kurze Pause – unter Phonetiker*innen auch Glottisschlag genannt – zu machen. Das kriegen wir alle bei beliebigen anderen Wörtern auch hin. Außerdem: so schlecht ist es vielleicht auch nicht, wenn der kleine Moment Pause ein wenig unbequem ist. Jedes Mal, wenn jemand stutzt, sei es Sprecher*in oder Hörer*in, wird Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass in unserem status quo sowohl sprachlich als auch darüber hinaus nicht alle Menschen gleich sichtbar sind. Passmann (2021) vertritt hier eine ähnliche Meinung und meint, es sei „raffiniert […], dass […] ein im Grunde niedliches Satzzeichen daran erinnern soll, dass bis vor ein paar Jahrzehnten diese ganze Welt von Männern geleitet wurde.“

Geht es um geschriebenes Gendern wird kritisiert, so etwas sei „unlesbar“. Margarete Stokowski (2021) merkt hierzu an, dieser Einwand würde „gerne vorgebracht von Menschen, die diverse Fremdsprachen sprechen und auch sonst intellektuell eigentlich gut mitkommen.“. Noch eine sehr fadenscheinige Argumentation also, denn natürlich können diese Menschen gegenderte Texte lesen, sie wollen nur nicht. Alternativ wird mit Vorliebe das Ästhetik-Argument angeführt: Gegenderte Sprache sehe hässlich aus, höre sich hässlich an und sei ein einziges „Gendergaga“. Dabei ist es doch laut Stokowski (2021) so: „Wer ,Gendergaga‘ sagt, hat sich in sprachästhetischer Hinsicht doch eh völlig aufgegeben.“

Egal wie die Einwände lauten, in den meisten Fällen zeigt sich, so auch Stokowski (2021), dass die meisten – überwiegend tatsächlich männlichen – Verfechter*innen der ungegenderten Sprache krampfhaft Argumente suchen, um zu verdecken, worum es eigentlich geht: Nämlich, dass es sie nervt und dass sie keine Lust haben, den Aufwand zu betreiben, ihre Sprache umzustellen. Als immer explizit inkludierter Mann ist das natürlich leicht gesagt.

Gewaltvolles generisches Maskulinum

Letztendlich geht die Thematik in meinen Augen über ästhetische oder praktische Fragen, ja vielleicht sogar über Weltansicht hinaus. Ist es nicht irgendwie auch eine Form von Gewalt, mehr als der Hälfte aller Menschen eine explizite sprachliche Repräsentation zu verweigern? Von verschiedenen Theoretiker*innen wird im Kontext der Sprechakttheorie erläutert, inwieweit Sprache gewaltvoll sein kann. Hierzu beschreibt Sybille Krämer, Professorin im Ruhestand für theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin,

„dass Worte immer auch Taten sind: indem wir sprechen, handeln wir. John Searles Sprechakttheorie und Jürgen Habermas’ Kommunikationstheorie haben uns – im Anschluss an Austin – aufgeklärt darüber, dass das, was das Sprechen handelnd hervorbringt, ›soziale Fakten‹ sind, Gegebenheiten also, deren Sein auf ihrem Anerkanntsein beruht. Wir reden nicht nur über die Welt, sondern konstituieren unsere Welt als eine soziale Welt auch durch unser Reden: zu sprechen heißt, eine Beziehung zu den Angesprochenen aufzunehmen und einzugehen.“

Krämer, 2015, S. 32

In Bezug auf Gewalt müsse zwar nach wie vor zwischen verbaler und physischer Gewalt unterschieden werden, dennoch solle zugestanden werden, dass auch sprachliche Äußerungen gewaltvoll sein können (Krämer, 2015). Judith Butler (1997) geht noch weiter, indem sie alle Menschen als sprachliche Wesen beschreibt, die erst durch Sprache, genauer sprachliche Benennung und Ansprache, beginnen zu sein. Weiterhin schlussfolgert sie, dass gerade darin die gewaltvolle Macht der Sprache liegt, die Existenz Einzelner auch wieder zu zerstören: „If language can sustain the body, it can also threaten its existence.“ (Butler, 1997, S. 5).

Und nichts anderes passiert doch, wenn auf dem generischen Maskulinum bestanden wird: All denjenigen Menschen, die sich von diesem nicht repräsentiert fühlen, wird die von Butler beschriebene, essentielle Ansprache verwehrt. Und damit wird ihnen nicht bloß, wie zu Beginn des Abschnitts formuliert, sprachliche Repräsentation verweigert, sondern sogar ihre komplette Existenz. Und das, finde ich, kann durchaus als Akt der Gewalt bezeichnet werden.

Und nun?

Was erzähle ich also jetzt meinen Freund*innen, wenn der nächste feuchtfröhliche Abend ansteht und wir uns wieder auf kontroversem Terrain bewegen?

Nun, ich werde mit Gewissheit sagen können, dass Sprache ganz entscheidend unsere Weltsicht formt. Ganz besonders die Art und Weise, wie wir andere Menschen bezeichnen und anreden, hat reale Auswirkungen und die Macht, patriarchalische Strukturen entweder zu stützen oder sie im Kleinen zu dekonstruieren. Natürlich wird sich durch eine gerechtere Sprache das Patriarchat nicht einfach in Luft auflösen, da mache ich mir keine Illusion. Weder alltäglicher noch struktureller Sexismus lassen sich allein durch sprachliche Veränderungen beseitigen; und trotzdem glaube ich, dass eine fairere Sprache ein Anfang sein kann, bottom-up gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.

Weiterhin kann ich allen erklären, warum die deutsche Sprache nicht gerettet werden muss (zumindest nicht vor dem Duden, vor konservativen Sprach-wissenschaftler*innen vielleicht schon eher). Durch differenzierte Personen-bezeichnungen entsteht mitnichten die befürchtete Zwangssexualisierung; stattdessen könnten sie helfen, geschlechterspezifische Berufsstereotype aufzuweichen und Kindern mehr Selbstvertrauen in ihrer Berufswahl zu geben.

Für mindestens genauso wichtig halte ich den Ansatz der Sprachakttheorie, nach dem das Beharren auf dem generischen Maskulinum in dem Sinne gewaltvoll ist, dass es den nicht explizit Genannten ganz simpel ihre Existenz abspricht.            

Ich kann verstehen, dass es anstrengend oder aufwändig erscheint, die eigene Sprache so grundlegend umzustellen. Ich kann auch verstehen, dass es nervig ist. Aber erstens verlangt dabei niemand Perfektion, ich schaffe es häufig auch nicht, mich komplett konsequent „politisch korrekt“ auszudrücken; und zweitens fände ich es schön, wenn sich Gender-Kritiker*innen wenigstens auf die Thematik einlassen und sich ihr nicht von vorneherein verweigern würden. Vielleicht kann ich mit meinem Plädoyer ja das nächste Mal zumindest meine Freund*innen davon überzeugen, dass gendergerecht Sprache gar nicht so eine schlechte Idee ist.


Literaturverzeichnis

Bandura, A. (1995). Self-efficacy in changing societies. Cambridge University Press.

Bednarz, L. (2020, June 5). Wer hat Angst vor dem “Genderwahn”? Spiegel Kultur. https://www.spiegel.de/kultur/wer-hat-angst-vor-dem-genderwahn-kommentar-von-liane-bednarz-a-948ed8f6-fa1f-465c-9b07-86cfcf34ccb0

Butler, J. (1997). Excitable Speech: A Politics of the Performative. Routledge.

Deutsche Welle. (2021, February 11). Online-Duden: Gendern ist keine “Sprachmanipulation.” https://www.dw.com/de/online-duden-gendern-ist-keine-sprachmanipulation/a-56539248

Gümüşay, K. (2020). Sprache und Sein (4th ed.). Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Company KG.

Krämer, S. (2015). Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte? In S. K. Herrmann, S. Krämer, & H. Kuch (Eds.), Verletzende Worte (pp. 31–48). transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839405659-001

Passmann, S. (2021, July 21). [Aus der Serie: Alles oder Nichts]. ZEITmagazin. https://www.zeit.de/zeit-magazin/2021/30/gendern-sprachwandel-moral-aesthethik-schoenheit

Stokowski, M. (2021, January 12). Auch durch Astronautinnen ändert sich nicht alles. SPIEGEL Kultur. https://www.spiegel.de/kultur/gendergerechte-sprache-auch-durch-astronautinnen-aendert-sich-nicht-alles-a-4d47d2de-32be-4166-8a71-d0e87729b78f

Verein Deutsche Sprache e.V. (2021). Rettet die deutsche Sprache vor dem Duden. https://vds-ev.de/allgemein/aufrufe/rettet-die-deutsche-sprache-vor-dem-duden/

Vervecken, D., & Hannover, B. (2015). Yes I Can! Effects of Gender Fair Job Descriptions on Children’s Perceptions of Job Status, Job Difficulty, and Vocational Self-Efficacy. Social Psychology, 46(2), 76–92. https://doi.org/10.1027/1864-9335/a000229

von Humboldt, W. (1836). Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts. Dümmler.


Quelle: Paula Kleuters, Gendern ist Weltsicht – Ein Plädoyer für gendergerechte Sprache, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 30.08.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=120

Was haben Picknick und Pinkeln mit Geographie zu tun?– Ein Essay über das gegenseitige Konstruieren von Gender und Raum

Marielene Wicke (SoSe 2021)

1. Einleitung

Ich erinnere mich noch gut an die Frage, die mir im ersten Semester meines Geographiestudiums dauernd gestellt wurde: Was machen Geograph:innen eigentlich? Was zeichnet Geograph:innen aus? Was ist überhaupt Geographie? Gestellt wurden mir diese Fragen von Dozierenden, Freund:innen oder Familienmitgliedern. Während ich meiner Familie erklären musste, dass Geographie viel mehr ist als Erdkundeunterricht und Flüsseaufsagen, zielten die Dozierenden auf den Kern der Sache. Geographie ist so gut wie alles, denn sie beschäftigt sich mit Raum. Raum nicht im Sinne eines Landes, welches sich durch gemalte Striche auf einer Karte von anderen Ländern abgrenzt. Sondern vielmehr Raum im Sinne von dem, was ich als Person alltäglich denke, handle und fühle. Raum im Sinne eines ‚alltäglichen Geographiemachens‘. Ich mache Raum. Wir alle machen Raum. Jeden Tag. Die Geographie untersucht, wie Räume geschaffen wurden und werden, sie untersucht die Beschaffenheit von Räumen, Zusammenhänge und Wechselwirkungen.

Nun bin ich mittlerweile im vierten Semester und es werden andere Fragen gestellt. Aber egal mit welcher Thematik ich mich beschäftige, die Sache mit dem Raum lässt sich immer wieder anwenden. Und genau deswegen schreibe ich dieses Essay.

Ich möchte mich hier mit dem Zusammenhang von Raum und ‚Gender‘ auseinandersetzen. Ich wähle bewusst den englischen Begriff gender, da dieser im Gegensatz zum deutschen Begriff ‚Geschlecht‘ auf die soziale Konstruiertheit abzielt. Wird der Begriff ‚Geschlecht‘ gewählt, dann soll dieser nicht synonym zur Zweigeschlechtlichkeit verstanden werden. Vielmehr verwende ich diesen Begriff, um auf die kon-struierte ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ hinzuweisen, die im öffentlichen Raum und auch in unserem Alltag eingeschrieben ist (Wastl-Walter 2010, S.15). ‚Geschlecht‘ wird hier im sozialen und diskursiven Sinne verwendet und soll auf die gesellschaftlichen Konzepte hinwiesen, welche in diesem Essay hinterfragt werden. Denn mir stellen sich die Fragen, wie Geschlecht durch räumliche Praxen hergestellt und wie Raum vergeschlechtlicht wird. Und ob Veränderungen in Geschlechternormen und -relationen auch zu anderen Geographien führen können. Den Antworten dieser Fragen möchte ich anhand einer Auseinandersetzung zum alltäglichen Beispiel ‚Pinkeln im öffentlichen Raum‘ näher kommen.

2. Die Begriffe und was sie meinen

Bevor ich mich mit dem Zusammenhang von Raum und Gender auseinandersetzen möchte, werde ich zuerst grundlegend die Begriffe Raum und Gender bzw. ‚Geschlecht‘ näher vorstellen.

Wie bereits angedeutet, wird Raum in der Geographie als sozial konstituiert und konstruiert verstanden. Raum ist damit keine Kategorie des Starren oder Materiellen, sondern des Sozialen (Günzel 2015, S.19). Raum wird durch Menschen ‚gemacht‘ und muss daher „in seinem Verhältnis von Personen, Dingen und Distanzen“ begriffen werden (Bauer 2015, S.24).

Der Sozialphilosoph Pierre Bourdieu unterscheidet in einen physischen und in einen sozialen Raum. Das Soziale, sprich das stetig durch Sprache, Handlungen und Gedanken Reproduzierte und Konstruierte, schlägt sich materiell im Physischen nieder. Raum ist damit nicht ‚von Natur aus gegeben‘ und muss im Kontext von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und (historischen) soziokulturellen Strukturen erfasst werden (Ruhne 2011, S.73f.). Im Raum sind dementsprechend Marker wie Geschlecht, Hautfarbe und Gesellschaftsschicht ablesbar und darüber hinaus verewigt (Endler 2021, S.42).

Gender muss ebenso als ein soziales Konstrukt verstanden werden, welches stetig kulturspezifischen Zuschreibungen und Erwartungen sowie gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterliegt. Gender und Raum sind als soziale Konstrukte offen, dynamisch und damit wandelbar (Ruhne 2011, S.115). Der Begriff des ‚Geschlechts‘ dient in der Geographie als eine soziale Analysekategorie, welche in den Körper eingeschrieben ist. Der Körper kann dabei als „Text, der von anderen gelesen wird“ (Strüver 2005, S.74) verstanden werden und verkörpert soziale und räumliche Normen. So unterliegt der eigene Körper einer permanenten Inszenierung, wodurch dieser in sozialer Interaktion einem bestimmten Geschlecht zugeordnet wird. Inszenierungen in Form von geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern oder wie Doris Wastl-Walter schreibt „in der Art, wie man geht, die Nase putzt oder isst“ (Wastl-Walter 2010, S.71) müssen vor dem soziokulturellen Hintergrund und „als Folge offener oder versteckter Hierarchien in jeweils spezifischen Räumen betrachtet [werden]“ (Ruhne 2011, S.121). Das in den westlichen Gesellschaften dominierende zweigeschlechtliche, heteronormative Ordnungssystem unterscheidet in den ‚Mann‘ und in die ‚Frau‘ und ist bis heute als soziale Realität Folge historischer-kolonialistischer vergeschlechtlichter Konstruktionen und hierarchischer Strukturen.

3. ‚Doing space by doing gender’ oder ‘Doing gender by doing space’

Mit unserem alltäglichen Denken und Handeln werden alltäglich Geographien erschaffen. So erzeugen wir ‚Geschlecht‘ bzw. Gender und Raum durch gesellschaftlich getragene soziokulturelle Vorstellungen über Personengruppen und Räume (Wastl-Walter 2010, S.12). Dabei sind wir über unsere Körper in Räumen und fühlen, handeln und repräsentieren uns über diese. Über unsere Körper werden wir gelesen, beispielsweise als ‚Frau‘ oder ‚Mann‘. Und „[d]a es nicht möglich ist, diesen Körper zu verlassen, sind wir an das, was über ihn gedacht wird, und an seine Möglichkeiten, sich in der natürlichen und gebauten Umwelt zu bewegen, gebunden“ (Wastl-Walter 2010, S.68). Das bedeutet schlichtweg, dass in unseren Körpern räumliche Strukturen sowie gesellschaftliche Machtverhältnisse verinnerlicht sind und dadurch Machtverhältnisse sowie Räume reproduziert werden (Strüver 2014, S.179f.). Geschlecht und Raum sind damit nicht nur abhängig voneinander, sie sind eng miteinander verwoben, bedingen einander und bestätigen sich gegenseitig. „Geschlecht erfährt im Alltag eine kontextuelle Verankerung und Verortung so wie Raum durch die handelnden Personen vergeschlechtlicht wird. Beides sind Voraussetzungen für das jeweils andere und gleichsam dessen Folge“ (Wastl-Walter 2010, S.13).

Der französische Philosoph Michel Foucault entwickelte das Konzept der Performativität, welches aussagt, dass der Körper Ausdruck sozialer Praktiken und Machtverhältnisse ist. Performieren als ‚Akt der Verkörperung‘ dient beispielsweise der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten. Beispiele dieses ‚doing gender‘ ist das wiederholte Ansprechen als ‚Mann‘ oder ‚Frau‘, aber auch die Körperhaltung und Kleidungswahl. Diese verinnerlichten Handlungsabläufe und Handlungserwartungen sind ebenso verräumlicht (Wastl-Walter 2010, S.32f.). Dieser Punkt wird bei der Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Beispiel ‚Pinkeln im öffentlichen Raum‘ nochmals eine Rolle spielen.

Da die Raumkonstruktion von Menschen erfolgt und daher von gesellschaftlichen Machtstrukturen abhängt, ist Raum ebenso Ausdruck sozialer Ungleichheit. Wie ich über Raum denke und wie ich mich im Raum bewegen kann, hängt von meinen Handlungsmöglichkeiten und materiellen Faktoren ab. Das bedeutet, dass nicht alle gleichermaßen Räume konstruieren können. Die gesellschaftlich verfestigte Heteronormativität organisiert, wer Raum wie konstituieren kann. Sie organisiert, wo ich mich sicher fühle, wo ich verletzbar bin, wo ich geschützt bin. Raum hat somit einen erheblichen Einfluss darauf, wie ich mich fühle und bewege (Hark 2015, S.156f.). „So ist weder Männlich- noch Weiblichkeit einfach ein Attribut, das zu einer Identität hinzugefügt wird, sondern eine alltägliche Erfahrung im sozialen Raum“ (Hark 2015, S.157). Bei Betrachtung alltäglicher Erfahrungen im sozialen Raum müssen neben der Kategorie ‚Geschlecht‘ ebenfalls Kategorien der Hautfarbe und sozialen Herkunft berücksichtigt werden. So lassen sich das Produzieren von Raum und das Wirken von Raum nicht auf die Kategorie Geschlecht reduzieren, da verschiedene Machtmechanismen und gesellschaftliche Wirklichkeiten überlappend Einfluss nehmen (Sexismus, Rassismus, Ableismus) und daher eine intersektionale Perspektive bei der Untersuchung von Raum herangezogen werden muss.

4. Was Pinkeln mit Machtverhältnissen zutun hat

Am Sonntag, dem 04.07.2021 war ich mit Freund:innen im Görlitzer Park verabredet. Wir haben gepick-nickt, wenn Wassermelone, Hummus und Schokobrötchen definitionstechnisch als Picknick gelten. Jedenfalls genossen wir die Sonne auf unserer Haut und tranken dabei Bier. Und nach einem Bier fing bereits meine Blase an zu drücken. Ich musste aufs Klo. Meinen Freund:innen ging es da nicht anders. Während meine Freunde Maxi und Tom, welche beide einen Penis haben, in den nächsten Busch zum Pinkeln gehen konnten, war das bei mir und meinen Freundinnen ohne Penis anders. Wir mussten um uns zu Entladen, fünf Minuten laufen und nett im nächsten Lokal fragen, ob wir denn die Toilette benutzen dürfen. Von insgesamt vier Pinkelgängen mussten wir zwei davon mit fünfzig Cent bezahlen. Kurz darauf, ich glaube, es war der Montag, drückte mir meine Mitbewohnerin ein Buch in die Hand, welches nicht besser hätte passen können. Es handelte sich um das Buch von Rebekka Endler namens ‚Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt‘. In diesem widmet sie mehrere Seiten der Frage, warum wer wo pinkeln darf. Und so oft ich diese Situation des ‚Ich-will-nicht-im-Freien- Pinkeln-kommt-jemand-mit-eine-Toilette-suchen“ erlebt habe, so oft habe ich es als selbstverständlich empfunden. Doch warum ist das so? Warum gehören ungerechte Pinkelmöglichkeiten im öffentlichen Raum zu meiner sozialen Wirklichkeit?

Meiner Recherche nach befinden sich in der Nähe des Görlitzer Parks in Berlin-Kreuzberg zwei City- Toiletten. Aufgrund der Größe des Parks sind diese Pinkelmöglichkeiten nicht für alle Personen gleichermaßen gut zu erreichen, weshalb meine Freundinnen und ich (allesamt mit Vulven ausgestattet) auf Toilettensuche gegangen sind. Natürlich könnte jetzt gefragt werden, warum wir nicht ebenfalls einen Busch als stilles Örtchen aufgesucht haben. Erstens war es nachmittags und damit noch hell, womit die Gefahr, sich zu entblößen, relativ groß ist. Zweitens ist Wildpinkeln im Park unbequem und lästig. Drittens empfinde ich bei dieser Variante die Gefahr, sich dabei Anzupinkeln, besonders hoch. Viertens ist Pinkeln im Freien nach deutschem Gesetz auch nicht erwünscht. So absurd diese ganze Pinkelthematik auch klingen mag, führt sie gerade durch ihre Alltäglichkeit wichtige Fragen an: Wem gehört eigentlich der öffentliche Raum? Warum muss für den Eintritt von Damentoiletten häufig bezahlt werden, für Nutzung von Pissoirs dagegen häufig nicht?

Historisch (aber leider auch gegenwärtig) gesehen lässt sich diese Alltäglichkeit durch die Dominanz der heteronormativen und zweigeschlechtlichen Gesellschaftsordnung erklären. So konnten sich seit vielen Jahrhunderten und Jahrtausenden die Geschlechterverhältnisse in den öffentlichen Raum einschreiben. Durch die Unterscheidung in zwei Geschlechter entstanden zwei Pinkelmöglichkeiten: Die Sitztoilette im Damenklo und die Pissoirs im Herrenklo. Patriarchale Strukturen haben dafür gesorgt, dass ‚Männer‘ eine Vormachtstellung gegenüber ‚Frauen‘ genießen und damit Privilegien besitzen. Zudem sei es für eine Frau nicht ‚geschickt‘, im öffentlichen Raum auf die Toilette zu gehen. Endler schreibt passend zu dieser Geschlechterrolle: „Diese Ansicht, so empörend sie vielen von uns heute erscheint, hat Tradition. Sie entspricht der ebenfalls lang gehegten Auffassung, dass wir Frauen, um den Anforderungen unseres Geschlechts zu entsprechen, die volle Kontrolle über unsere Körperfunktionen besitzen. Wenn‘s juckt, wird nicht gekratzt. Wenn’s langweilig ist, wird nicht gegähnt. Und wenn’s drückt, wird nicht gepupst und eben auch nicht gepinkelt. Die anständige Frau weiß sich zu beherrschen.“ (Endler 2021, S.49). Das bedeutet kurzum, dass gesellschaftlich getragene Vorstellungen von Verhaltensnormen ‚einer Frau‘ bzw. ‚eines Mannes‘ sich in den Raum materiell eingeschrieben haben. So gab es bis vor wenigen Jahren überwiegend Pissoirs im öffentlichen Raum. Dass bis heute bei der Nutzung eines Sitzklos in der Regel gezahlt werden muss, und bei der Nutzung eines Pissoirs häufig nicht, spiegelt patriarchale Strukturen wider. ‚Der Mann‘ dominiert bis heute den öffentlichen Raum.

Pinkeln im öffentlichen Raum ist meines Erachtens vergeschlechtlicht und verräumlicht. Als Person, welche eine Vulva besitzt und Pinkeln im Stehen äußerst schwierig findet, finde ich mich in Situationen wie am Sonntag entweder mit der unbequemen Pinkelmethode im Freien ab oder muss einen Aufwand betreiben, um eine Toilette in der Nähe zu finden. Dadurch werde ich immer daran erinnert, dass ich es eben nicht so leicht habe wie Personen mit Penis. Als weiblich gelesene Person wird außerdem von mir erwartet, dass ich möglichst vermeide, im Freien zu pinkeln. Wenn ich also aufgrund von Harndrang eine Toilette in der Umgebung suche, anstatt mich in den nächsten Busch zu hocken, reproduziere ich soziale und räumliche Normen. Damit performiere ich und konstruiere den Raum so, wie er vorher war. Und wenn wir schon bei dem Thema sind, muss auch darüber geredet werden, dass es auch Personen gibt, die sich weder auf dem Damen- oder Herrenklo zuhause fühlen oder bei deren Nutzung behindert werden und die auch mal pinkeln müssen (Endler 2021, S.57). „Erst wenn jeder Mensch, ungeachtet seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner Religion, seiner körperlichen Beschaffenheit, einen sicheren Platz zum Pinkeln gefunden hat“, dann kann dieses Thema abgehakt werden (Endler 2021, S.57). Doch bis dahin muss der öffentliche Raum inklusiver und feministischer gestaltet werden, so dass mehr unterschiedliche Menschen den öffentlichen Raum gleichberechtigt nutzen können. An dieser Stelle sollte noch gesagt werden, dass es seit mehreren Jahren geschlechtsneutrale Pinkelmöglichkeiten gibt, diese bisher jedoch nicht von der Politik umgesetzt worden sind (Endler 2021, S.54ff.).

5. Fazit

Abschließend lässt sich sagen, dass Gender und Raum so ineinander verwoben sind, dass bis heute Wild- pinkeln für Personen mit Vulva (in der Regel) anstrengender ist als für Personen mit Penis. Pinkeln ist ein menschliches Grundbedürfnis und dennoch ist es nicht für alle gleichermaßen befriedigend auszuführen. Zurückführen lässt sich diese Tatsache auf historisch und soziokulturell verankerte Vorstellungen von Geschlecht und geschlechtstypischen Verhalten, welche sich bis heute im öffentlichem Raum niederschlagen. So haben Personen mit Vulven schlechtere Möglichkeiten, sich beispielsweise im Görlitzer Park zu entladen und weichen wie ich und meine Freundinnen auf andere Möglichkeiten aus. Der Raum bleibt dadurch der gleiche.

Wenn sich also die Frage stellt, wie Gender durch räumliche Praxen hergestellt wird, dann ist es der Raum selber, welcher Handlungsmöglichkeiten vorweist. Es sind ebenso die gesellschaftlichen Strukturen, welche Handlungserwartungen vorgeben. Wir selber vergeschlechtlichen Raum. Würde die Raumkonstruktion von der Kategorie ‚Geschlecht‘ losgelöst sein, dann würden andere, neue Räume entstehen. Und damit auch eine neue Geographie.

Ich glaube, wenn mich das nächste Mal jemand fragt, was Geograph:innen so machen, dann werde ich antworten, dass wir uns mit allem beschäftigen können, weil wir von allem ein wenig Ahnung haben. Zum Beispiel vom Pinkeln im öffentlichen Raum. Mal schauen, ob daraus interessante Gespräche zustande kommen.


Literaturverzeichnis

Bauer, J. (2015): Differentielles Denken, heterogene Räume und Konzepte von Alltäglichkeit. Anknüpfungen an Henri Lefebvres Raumkonzept aus feministischer Perspektive. In: Lehmann, S. (Hrsg.): Neue Muster, alte Maschen? Interdisziplinäre Perspektiven auf die Verschränkungen von Geschlecht und Raum. 1. Auflage. Bielefeld. S.23-41.

Endler, R. (2021): Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt. Köln. 334 S.

Günzel, S. (2015): Dimensionen des Theoretischen. In: Lehmann, S. (Hrsg.): Neue Muster, alte Maschen? Interdisziplinäre Perspektiven auf die Verschränkungen von Geschlecht und Raum. 1. Auflage. Bielefeld. S.19-22.

Hark, S. (2015): Dimensionen der Verortung. In: Lehmann, S. (Hrsg.): Neue Muster, alte Maschen? Interdisziplinäre Perspektiven auf die Verschränkungen von Geschlecht und Raum. 1. Auflage. Bielefeld. S.155-158.

Ruhne, R. (2011): Raum Macht Geschlecht. Zur Soziologie eines Wirkungsgefüges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffentlichen Raum. 2. Auflage. Wiesbaden. 232 S.

Strüver, A. (2005): Macht Körper Wissen Raum? Ansätze für eine Geographie der Differenzen. 1. Auflage. Wien. 126 S.

Strüver, A. (2014): Körper. In: Belina, B., Naumann, M. & Strüver, A. (Hrsg.): Handbuch Kritische Stadtgeographie. S.179-184.

Wastl-Walter, D. (2010): Gender Geographien. Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen. Band 2. Stuttgart. 245 S.


Quelle: Marielene Wicke, Was haben Picknick und Pinkeln mit Geographie zu tun? Ein Essay über das gegenseitige Konstruieren von Gender und Raum, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 30.08.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=113