Klassismus im Bildungssystem

Tomke Thielebein (SoSe 2022)

Einleitung

Das deutsche Bildungssystem ist mehrgliedrig und basiert unter anderem auf einem Selektionsprinzip. Das heißt, dass (spätestens) nach der Grundschule die Schüler*innen auf ‚begabungsgerechte‘ Schulformen aufgeteilt werden. Dieses Prinzip soll den Grundgedanken einer begabungsgerechten Bildung verfolgen. Die erste PISA-Studie hat gezeigt, dass Deutschland in keinem Schulbereich herausragend gut ist, eher das Gegenteil war der Fall vgl.:  (Lehmann, 2019). Worin Deutschland jedoch herausragend zu sein scheint, ist die soziale Selektion (vgl.: ebd.). Es scheint so zu sein, dass das Selektionsprinzip nicht zur Folge hat, dass Schüler*innen auf Schulen mit passenden Lernformen sortiert werden, sondern auf Schulen, die der sozialen Position zugeschrieben werden.

Im Folgenden möchte ich darauf eingehen, wie das Selektionsprinzip mit dem milieuspezifischen Habitus und Klassismus zusammenhängt.

1. Definition Klassismus

Klassismus beschreibt Diskriminierung aufgrund des sozialen Status oder aufgrund der Zuschreibung eines sozialen Status (vgl.: Kemper, 2021). Dieser setzt sich aus der sozialen Herkunft und der sozialen Position zusammen. Die soziale Herkunft beschreibt die soziokulturellen und ökonomischen Gegebenheiten, in die jeder Mensch hineingeboren wird (Bsp.: ein Kind, dessen Eltern arm sind). Die soziale Position beschreibt die aktuelle soziale Positionierung in der Gesellschaft (z.B. auf ALG II angewiesen sein). Sie ist veränderbar und nicht statisch. (vgl.: Kemper, 2016).

Klassistische Diskriminierung kann also auf die soziale Herkunft bezogen sein und/oder auf die soziale Position. Diskriminierung umfasst nach Iris Marion Young fünf Dimensionen der Unterdrückung: Ausbeutung, Marginalisierung, Gewalt, Macht und des Kulturimperialismus[1] (vgl.: Kemper, 2016).  Das Herstellen von Klassimus wird auf drei Ebenen beschrieben: die institutionelle, die kulturelle und die individuelle Ebene vgl.: (Kemper & Weinbach, 2018). Klassismus im Bildungssystem findet sowohl auf der individuellen als auch auf der institutionellen Ebene statt. Lehrkräfte handeln mit ihrem individuellen Mindset, Stereotypen und Vorannahmen, handeln dabei aber innerhalb einer wegbereitenden Institution. Gerade Lehrkräfte, die als Gatekeeper*innen fungieren, handeln auf beiden Ebenen.

Die soziale Herkunft hat Einfluss auf den Habituts des Individuums, der in der Kindheit geprägt wird. Nach Bourdieu ist der Habitus  „die Art und Weise, wie man sich gibt und wie man die Welt wahrnimmt” (Kemper, 2015). Der Habitus trägt demnach die soziale Herkunft nach außen. Die äußerlich sichtbare Erscheinung der sozialen Herkunft kann als schwer veränderbare Komponente betrachtet werden, die sich über die Lebensspanne nicht leicht verändern lässt. Wenn über Klassismus in der Bildung gesprochen wird, ist es sinnvoll das Konzept des Habitus genauer zu betrachten und zu schauen, wie er Einfluss auf die Chancen(un)gleichheit im Bildungssystem hat.

2. Klassismus im Bildungssystem

Im Folgenden wird auf Klassismus im Bildungssystem eingegenagen, der durch den äußerlich wahrnehmbaren Habitus erklärt wird.

2.1   Habitus in der Bildung

Mit dem Blick auf die Auswirkungen des Habitus auf Bildungschancen, wird sozusagen die klassistische Diskriminierung auf der Ebene der sozialen Herkunft betrachtet.

Hier möchte ich zuerst nochmal genauer auf den Habitusbegriff eingehen, um zu spezifizieren, wovon ich schreibe.

Der Habitusbegriff „beschreibt eine dauerhafte verinnerlichte Grundhaltung, die die Art und Weise prägt, wie Menschen ihre Umwelt, die Welt und sich selbst wahrnehmen, wie sie fühlen, denken und handeln” (El-Mafaalani, 2020)[2]. Diese Prägung findet in der Kindheit milieuspezifisch statt. Da ein Habitus milieuspezifisch ausgeprägt wird, erscheint er einem selbst und dem Umfeld als natürlich gegeben, da mit dem Umfeld ähnliche Erfahrungen und soziale Logiken geteilt werden, die den Habitus mit ausmachen (vgl.: ebd.). Innerhalb des prägenden Milieus gelingt das Habitus-spezifische Handeln und Denken widerstandslos und erscheint damit intersubjektiv wie natürlich.  Dies ermöglicht innerhalb des geteilten Milieus ein intuitives Handeln (vgl.: ebd.).

Doch was ist, wenn Personen mit einem milieuspezifischen Habitus mit Personen mit einem diametral entgegengesetzten Habitus interagieren? Laut El-Mafaalani (2020) komme es zu Spannungen, zu Missverständnissen und Dissonanzen.

Weiter geht er darauf ein, dass die meisten Lehrkräfte aus einem ‚bildungsaffinen Milieu‘ stammen und häufig auch die Mitglieder voriger Generationen bereits im sog. Bildungsbürgertum verankert waren. Auch bei Lehrkräften führt habituelle Nähe zu gegenseitiger Resonanz und habituelle Entfernung oder Entgegensetzung zu Dissonanzen und Missverständnissen. Dies sind relevante Aspekte im Selektionsprozess des Bildungssystems.

2.2   Selektion

Das deutsche Bildungssystem ist durch aufeinander aufbauende ‚Bildungsschwellen‘ gekennzeichnet; wie die Einschulung, wo geschaut wird, ob das Kind entwickelt genug für die Schule ist, dann kommt nach der Grundschule die Selektion auf unterschiedliche Schulformen, die unterschiedliche Bildungschancen ermöglichen, anschließend geht es weiter mit unterschiedlichen Abschlüssen, die verschiedene Bildungszugänge erlauben. Am gradlinigsten geht es vom Kindergarten in die Grundschule[3], von der Grundschule zum Gymnasium und vom Gymnasium zur Uni, wo erst der Bachelor dann der Master studiert wird; und wenn es eine akademische Laufbahn werden soll, geht es weiter (hoch) bis zum Doktor oder zur Professur.

Doch die Bildungslaufbahn der Kinder ist intensiv von den Abschlüssen ihrer Eltern beeinflusst, so zeigt bspw. eine Studie aus Wiesbaden, dass die Note 2,5 bei 70% der privilegierten Schüler*innen zu einer Gymnasialempfehlung führen, jedoch nur bei 20% der nichtprivilegierten. Hier zeigt sich, dass für die Verteilung der Bildungschancen nicht die Leistungen der Schüler*innen ausschlaggebend sind, sondern das Einkommen und der Bildungsstand der Eltern (vgl.: Kemper, 2021). Auch bundesweit hat sich gezeigt, dass die Bildungschancen von dem sozio-ökonomischen Status der Eltern abhängen, so zeigt sich in der IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) von 2016, dass gleiche Lesekompetenz und kognitive Fähigkeiten bei privilegierten Kinder 3,37-mal so oft eine Gymnasialempfehlung mit sich bringt, wie bei Kindern von Arbeiter*innen.

Spätestens in der Grundschule findet der erste entscheidende Selektionsschritt statt, der die weitere Bildungslaufbahn beeinflusst.

An dieser Stelle des Bildungssystems können Lehrer*innen als sog. Gatekeeper*innen beschrieben werden. Gatekeeper*innen sind hier Menschen, die bspw. eine soziale Position innehaben, die es ihnen erlaubt an Bildungsschwellen Menschen einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen oder zu verwehren, bzw. zu erschweren. Diese Gatekeeping-Praxis lässt sich in Deutschland an den oben genannten Beispielen der Schulempfehlungen an weiterführende Schulen festmachen. Arbeiter*innen- oder Armenkinder benötigen für den Aufstieg im Bildungssystem einen spezifischen sozialen Code, um mit ihrem Verhalten, Einstellungen etc. automatisch von Lehrkräften als ‚natürlich‘ und nicht aneckend handelnd gelesen zu werden, den sie sich meist in Lernprozessen aneignen müssen (vgl.: Kemper & Weinbach, 2018).

Hier kann sich die Frage gestellt werden, woran es liegt, dass diese Selektionspraxis mit einer ungleichen Chancenverteilung einhergeht. An dieser Stelle möchte ich erneut den bereits oben eingebrachten Habitus als eine Erklärungskomponente anführen. Wie bereits erwähnt haben Lehrkräfte häufig eine soziale Herkunft, die mit einem hohen sozio-ökonomischen Status einhergeht, da der Habitus in diesem Milieu geprägt ist, stellt für Lehrkräfte ein ähnlicher Habitus das ‚Richtige‘ und ‚Natürliche‘ dar. Auch kann innerhalb einer Interaktion mit einem Menschen, der ähnlich sozialisiert ist und damit einen gleichen oder ähnlichen Habitus hat, reibungsloses Verständnis stattfinden. So verweist El-Mafaalanie (2020) darauf, dass die äußere Erscheinung von Fleiß sich ggf. habituell unterscheidet und damit bei einem Kind von Arbeiter*innen weniger leicht von der Lehrkraft erkannt wird als bei einem Akademiker*innenkind[4].

Zur Irritation und nicht reibungslosen Verständigung zwischen verschieden sozialisierten Habitus, kommt die Dimension der Stereotype und Vorannahmen hinzu. Auch das Sprachverhalten unterscheidet sich habituell. Eine Studie hat gezeigt, dass lediglich eine minimale Information über das Sprachverhalten gebraucht wird, damit bei Lehrkräften stereotypes Denken aktiviert wird (vgl.: Kemper & Weinbach, 2018). Bereits durch minimale Abweichungen der Normsprache können also stereotype klassistische Zuschreibungen entstehen.

Auch die Eltern spielen eine Rolle bei dem Übergang der Grundschule in weiterführende Schulformen. Sie sind in den meisten Bundesländern die Instanz, die letztlich entscheidet, auf welche weiterführende Schule ihr Kind gehen wird. Es hat sich gezeigt, dass es unterschiedlich ist, wie die Eltern mit den Empfehlungen der Lehrkräfte umgehen. Sozio-ökonomisch schlechter dastehende Eltern hielten sich eher an die Empfehlungen der Lehrkräfte. Eltern mit einem privilegierten sozio-ökonomischen Status entschieden meist, dass ihre Kinder auf ein Gymnasium gehen sollten, auch wenn die Empfehlungen der Lehrkräfte davon abrieten (vgl.: Kemper & Weinbach, 2018).

An dieser Stelle spekuliere ich, dass verschiedene gesellschaftliche Positionen mit unterschiedlichem Selbstbewusstsein einhergehen (können). Akademiker*innen haben in ihrer Sozialisation möglicherweise mitgegeben bekommen, dass ihnen ein gewisser gesellschaftlicher Platz zustehe und dies auch für ihre Nachfolger*innen gelte.

Beispielsweise ist es in meiner Familie so, dass ich nun in der vierten Generation bin, in der studiert wurde. Einer meiner Urgroßväter war Chefarzt, einer meiner Großväter Richter und auch meine Eltern haben beide studiert. Über mehrere Generationen hat meine Familie demnach eine gesellschaftliche Position inne, die anerkannt ist und im Fall von hohen Juristen[5] und Ärzten auch gesellschaftliche Einflussnahmen möglich war. In meinem Fall war es zwar nicht so, dass meine Eltern uns zum Studieren überzeugt haben (das stand uns immer offen), aber es war immer klar, dass ich und mein Geschwisterkind das Abitur absolvieren werden.

In Hamburg ging dieses gesellschaftliche Selbstverständnis des besitzenden Bürgertums beispielsweise so weit, dass 2010 eine Bildungsreform von hauptsächlich besitzenden bürgerlichen Eltern blockiert wurde. Die Reform zielte darauf ab, die Dreigliedrigkeit zu reformieren und damit mehr Chancengleichheit zu schaffen vgl.: (Ndr, 2010). Mehr Chancengleichheit würde aber auch weniger Privilegien für bisher Privilegierte bedeuten. An diesem Beispiel wird deutlich ersichtlich, dass es gesellschaftliche Akteur*innen gibt, die ihre Privilegien bewahren möchten und dafür viel Zeit und Geld aufwenden.

2.3 Habitus und Selektion an Hochschulen

Es verwundert nicht, dass auch an den Hochschulen der sozio-ökonomische Status der Eltern einen Einfluss auf die Bildungs- bzw. Abschlusschancen hat: 1982 hatten 17 Prozent aller Studierenden einen ‚hohen‘ sozialen Herkunftsstatus und 2016 waren es 24 Prozent. Wo es 1982 noch 23 Prozent Kinder von Eltern ohne Abschluss an der Uni gab, sind es 2016 nur noch 12 Prozent (vgl.: Baudson & Altieri, 2022). An Hochschulen steigt demnach die Zahl der Studierenden mit einem ‚hohen‘ sozialen Herkunftsstatus und der Anteil der Studierenden, mit ‚niedrigem‘ sozialen Herkunftsstatus wird weniger. Es scheint sich eine (tendenziöse) Entwicklung abzulesen.

Akademiker*innenkinder haben eine dreimal so hohe Chance einen Bachelorabschluss zu erlangen wie Kinder von Arbeiter*innen (vgl.: Tawadrous, 2021). Über die ganze akademische Laufbahn hinweg zeigt sich folgendes: „Von 100 Grundschulkindern, deren Eltern beide studiert haben, besuchen 74 die Hochschule. 63 erwerben einen Bachelor-, 45 einen Masterabschluss, und 10 erlangen die Doktorwürde. Bei 100 Kindern aus nicht-akademischen Haushalten gelangen nur 21 an die Hochschulen, 15 schaffen den Bachelor, acht den Master, und nur eine Person wird promoviert“ (Baudson & Altieri, 2022). Die Kinder von Arbeiter*innen, die es trotz der Barrieren im Schulsystem auf eine Hochschule geschafft haben, scheinen hier erneut anderen Hürden ausgesetzt zu sein als Akademiker*innenkinder.

El-Mafaalani (2020) schreibt in diesem Zusammenhang über sog. ‚Bildungsaufsteiger*innen‘ und den gemeinsamen Herausforderungen, die mit dem Aufstieg und der damit zusammenhängenden Distanzierung ihres Herkunftsmilieus zusammenhängen. Diese Distanzierung findet laut El-Mafaalani (2020) u.a. durch die Veränderung des Habitus statt. Es hat sich gezeigt, dass die Erfahrung geteilt wird, als eine Person aus einem ‚unteren‘ sozialen Milieu, in einem ‚höheren‘ sozialen Milieu anzuecken (vgl.: ebd.). Routinierte und natürliche Handlungen und intuitive Reaktionen müssen kontrolliert werden, da gemerkt wird, mit den Wahrnehmungen, Verhaltensweisen und Einstellungen nicht auf Konsens zu stoßen, sondern auf Dissens[6]. Daher wir permanent das eigene Verhalten beobachtet. Die Art, wie auf andere zugegangenen wird, wie gesprochen wird oder wie gestikuliert wird, wird mit dem Umfeld abgeglichen und versucht anzupassen (vgl.: ebd.). Dass bspw. nur kleine Sprachabweichungen ausreichen, um stereotypes Denken hervorzurufen und damit ggf. klassistische Handlungen, wurde bereits im oberen Abschnitt angesprochen.

Diese Erfahrungen zeigen Aufsteiger*innen, dass sie sich von ihrem Herkunftsmilieu distanzieren müssen, um sich dem neuen Milieu anzupassen und dazugehören zu können, also nicht anzuecken. Hier wird jedoch oft erlebt, dass die Distanzierung nicht direkt mit einer Zugehörigkeit einhergeht. Vielmehr befinden sich Aufsteiger*innen in einer Zwischenposition (zu den einen und zu den anderen nicht zu passen) (vgl.: ebd.). Dies hängt z.B. damit zusammen, dass in der neuen Umgebung wenige Menschen sind, die ähnliche Erfahrungen teilen und damit nicht auf gemeinsame Werte usw. angeknüpft werden kann.

Nicht anzukommen oder nicht angenommen zu werden, sind Herausforderungen, die in dieser spezifischen Weise Menschen erleben, die sich aus Armut mit einem akademischen Weg herausbewegen wollen. Dieser Weg, der eine soziale Distanz zum Herkunftsmilieu erzeugt, bringt Unsicherheiten mit sich (vgl.: ebd.). Kinder von Arbeiter*innen sind demnach anderen Belastungen und Herausforderungen ausgesetzt als akademisch sozialisierte Kinder[7], was mit begünstigt, dass Akademiker*innenkinder eine dreimal so hohe Chance auf einen Bachelorabschluss haben. 

3. Fazit

Insgesamt kann gesagt werden, dass der sozio-ökonomische Status der Eltern aus verschiedenen Gründen relevant für den Bildungsweg ist. In dieser Arbeit wurde v.a. der Habitus betrachtet, der als äußerlich wahrnehmbare Komponente des sozialen Status zu klassistischen Zuschreibungen, durch stereotypes Denken führen kann, welches wiederum klassistische Handlungen begünstigt.

So hat sich bspw. in der Schule gezeigt, dass die Empfehlungen von Lehrkräften für ein Gymnasium vom sozio-ökonomischen Status mitbeeinflusst wird. An dieser Stelle wurde ein kleiner Abstecher zur Rolle der Eltern und deren Anerkennung der Empfehlung in Abhängigkeit zum sozio-ökonomischen Status gemacht. Hier hat sich gezeigt, dass dieser Einfluss darauf hat, ob Eltern die Schulempfehlungen der Lehrkräfte annehmen oder ignorieren. Hier wurde die Spekulation getätigt, ob dies mit einem gesellschaftlichen Selbstverständis zusammenhängt, welches durch Wertzuschreibungen und Positonierungen über Generationen entstehen kann.

Auch der Blick in die akademische Welt hat ergeben, dass der sozio-ökonomsiche Status Einfluss auf die Anzahlen von Studierenden mit ’hohem’ oder ’nidrigem’ Status hat, wie auch darauf, welcher Abschluss von welcher Statusgruppe eher erreicht wird. Hier wurde auf Herausforderungen eingegangen, die sog. Bildungsaufsteiger*innen durch ihren ’nicht zum Habitus der Akademiker*innen passenden Habitus’ ergeben.

Abschließend möchte ich sagen, dass die Auswirkungen des sozio-ökonomischen Status und dem damit einhergehenden sichtbaren Habitus deutlich die Normativität der gesellschaftlichen Anforderungen zeigt. Ebenso, wie gezeigt wird, wer diese Anforderungen formt. Am Beispiel der verhinderten Bildungsreform in Hamburg ist dies nochmal deutlich geworden.

Aus meiner Sicht sind Reflexionsprozesse der Privilegierten und der Gatekeeper*innen notwendig, um sich in eine Gesellschaft weiterzuentwickeln, die Chancengleichheit tatsächlich ermöglicht.

Literaturverzeichnis

Baudson, T. G. & Altieri, R. (2022). Klassimsu in Academia. Wer kommt an die Spitze? Forschung & Lehre. Zugriff am 17.09.2022. Verfügbar unter: https://www.forschung-und-lehre.de/karriere/wer-kommt-an-die-spitze-4340

El-Mafaalani, A. (2020, 13. Februar). Mythos Bildung: Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Kiepenheuer & Witsch GmbH.

Kemper, A. Klassismus im Bildungssystem: Zur virtùellen Gewalt des sich senkenden Blicks. In Kunst – Theorie – Aktivismus (S. 199–230). https://doi.org/10.1515/9783839426203-008

Kemper, A. (2016). Klassismus. Eine Bestandsaufnahme (Friedrich-Ebert-Stiftung Landesbüro Thüringen, Hrsg.). Erfurt.

Kemper, A., & Weinbach, H. (2009). Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast.

Kemper, A. & Weinbach, H. (2018). Klassismus. Eine Einführung (1. Auflage). Münster: UNRAST Verlag.

Kemper, A. (2021, 4. Mai). Mehr als nur Anerkennung. taz.

Lehmann, A. (2019, 3. Dezember). Bittere Ergebnisse der neuen Pisa-Studie: Mehr Mut gegen die Mittelschicht. Taz. Zugriff am 17.09.2022. Verfügbar unter: https://taz.de/Bittere-Ergebnisse-der-neuen-Pisa-Studie/!5641658/

Ndr. (2010, 18. Februar). Kampf um Schulreform: Eliten wollen unter sich bleiben. Zugriff am 17.09.2022. Verfügbar unter: https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/Kampf-um-Schulreform-Eliten-wollen-unter-sich-bleiben,panoramaschulreform100.html

Tawadrous, M. (2021, 22. Oktober). Chancenungleichheit in der Bildung: In der Schule gibt es mehr Probleme als nur die Digitalisierung. Tagesspiegel. Abgerufen am 14. September 2022, von https://www.tagesspiegel.de/politik/in-der-schule-gibt-es-mehr-probleme-als-nur-die-digitalisierung-4285435.html


[1] „Kulturimperialismus bedeutet, dass die besondere Perspektive einer gesellschaftlichen Gruppe unsichtbar gemacht wird. Sie wird stereotypisiert und als „das Andere“ markiert“ (Kemper, 2021).

[2] Es sind nicht nur einzelne Handlungen gemeint, sondern ein allumfassendes Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschema.

[3] Und nicht auf eine Förder- oder Sonderschule.

[4] Fleiß nenne ich hier nur als ein Beispiel, da ich denke, dass dies eine Eigenschaft ist, auf die viel Wert in der Schule gelegt wird.

[5] An dieser Stelle gendere ich nicht, weil es in meiner Familie männliche Personen waren, die diese Berufe ausübten.

[6] Dies wurde bereits im Schulkontext angesprochen.

[7] Ganz abgesehen, von den unterschiedlichen finanziellen Mitteln der Herkunftsfamilie, die ggf. das Arbeiten neben der Uni obsolet machen (ökonomisches Kapital) oder die Beziehungen der Herkunftsfamilie, die einen begehrten Job ermöglichen können (soziales Kapital).


Quelle: Tomke Thielebein, Klassismus im Bildungssystem, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?page_id=326

Von „nerds“ und „booth babes“

Die Entwicklung von Sexismus in der Videospielindustrie von Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute

Alina Riekes (SoSe 2022)

1. Einleitung

Seit mehr als einem halben Jahrhundert sind Videospiele in der einen oder anderen Form in unserem Alltag präsent. Bereits in den 1950er-Jahren ergab sich aus IT-Experimenten an Universitäten das erste digitale Tic-Tac-Toe-Spiel, im folgenden Jahrzehnt ermöglichte technologischer Fortschritt den Mehrspielertitel Spacewar! (Wolf 2021: 980 f.). Heutzutage, gut 60 Jahre nach Spacewar!, versorgt eine Millionen-Dollar-Industrie den PC und eine Vielzahl von Konsolen mit unzähligen Spieletiteln, während dabei pixelgenaue 3D-Grafik ermöglicht wird. Obwohl der technologische Fortschritt der Videospielindustrie somit mehr als beeindruckend ist, stellt sich ihr damals wie heute ein soziales Hindernis, welches sie bisher nicht überwinden kann.

Zuletzt im Juni 2021 zeigte sich die Schattenseite der Gaming-Szene von ihrer prominentesten Seite: der Sexismus-Skandal beim weltbekannten Entwicklerstudio Activision Blizzard dürfte wohl der bisher größte der Industrie gewesen sein. Verklagt von einer kalifornischen Behörde, musste der millionenschwere Konzern sich mit seiner angeblich frauenfeindlichen Firmenkultur und zahlreichen internen Belästigungsfällen der Mitarbeiterinnen auseinandersetzen (Superior Court of the State of California 2021). Damit ist Activision nicht mal der einzige Fall in den letzten Jahren. Bereits 2019 sah sich der Spiele-Gigant Riot Games mit einer ähnlichen Klage konfrontiert, in diesem Fall jedoch von seinen ehemaligen Angestellten selbst (Marshall 2019). Wie auch bei Activision Blizzard standen Belästigungsfälle und extreme Gehaltsunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Angestellten im Zentrum der Beschwerden (ebd.). Betroffene Ex-Mitarbeiterinnen teilten außerdem schockierende Erfahrungsberichte auf sozialen Medien und gaben Einblicke in einen tief in der Industrie verankerten Sexismus (D’Anastasio 2018; Marie 2018; Fuller 2018).

Für viele selbst im Gaming aktive Frauen waren diese Vorfälle zwar aufwühlend, allerdings wenig überraschend. Auch aufseiten der Konsument*innen sehen Frauen sich in Videospielen nämlich meistens in benachteiligten Positionen. In Online-Titeln müssen sie beispielsweise häufig mit verbaler Belästigung oder Beleidigungen durch ihre Mitspieler rechnen (Anti-Defamation League 2022; Rackham 2021). Ob als Spielerin oder Entwicklerin: Gaming zeigt sich in den meisten Bezugsrahmen von einer Gender-exklusiven, frauenfeindlichen Seite. Damit teilt die Videospielindustrie als Emporkömmling der IT- und Computer-Branche sich sicherlich Eigenschaften mit einigen Techno-Sciences. Trotzdem scheint die Gaming-Szene in ihrer kulturellen Entwicklung einzigartig und verbindet kreative und künstlerische Ansätze mit technologischer Umsetzung. Wie sie nichtsdestotrotz eine derart starke sexistische Strömung entwickeln konnte, ist daher eine relevante Frage, um die Natur von sexistischer Diskriminierung allgemein besser zu verstehen und in zukünftiger Forschung effektive Lösungsansätze erarbeiten zu können.

Anmerkung: Diese Arbeit spricht im Folgenden vorwiegend von sexistischer Diskriminierung gegenüber Frauen, geht jedoch nicht explizit auf queere Gender-Identitäten ein. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Gaming-Industrie in vielen Teilen im binären Gender-System operiert und Frauen und gender-queere Personen in den meisten Fällen gleichartiger Diskriminierung aussetzt. Die im Folgenden erläuterte Entwicklung des im Gaming vertretenen Sexismus gegen Frauen kann daher auf alle nicht-cis-männlichen Gender-Identitäten übertragen werden, obwohl diese nicht vorwiegend thematisiert sind.

2. Die Ursprünge von Sexismus im Gaming

2.1 Wie Videospiele männlich wurden

Während das bereits erwähnte Spacewar! sowie auch Tennis for Two in den 1950er- und 60er-Jahren Vorreiter ihrer Szene waren, gründeten sich die ersten bekannten Entwicklerstudios für Videospiele erst zehn Jahre später. Vor allem Atari unter Gründer und erstem CEO Nolan Bushnell prägte die Anfänge der Szene mit dem Arcade-Hit Pong.

Die damalige Industrie bestand bereits zu Beginn überwiegend aus männlichen Entwicklern. Dies war vor allem der Tatsache geschuldet, dass der Ursprung vom Gaming in den Computer- und Ingenieurswissenschaften liegt – das eben genannte Tennis for Two war beispielsweise kein weit verbreiteter Titel, da es nur auf einem Oszilloskop gespielt werden konnte. Atari-Gründer Bushnell legte bei der Entwicklung von Pong daher besonderen Wert auf leichte Verständlichkeit und Bedienung, um den Erfolg des Spiels zu garantieren. Vor allem Frauen schrieb er im Umgang mit technologischen Neuheiten Inkompetenzen zu, die er mit seinem Spieldesign allerdings ausgleichen wollte. In einem von Anne Ladyem McDivitt zitierten New York Times-Interview mit dem Atari-Gründer pries dieser Videospiele als „großartige Gleichmacher“ an, denn „nach ein wenig Erfahrung und Konzentration können Frauen sie genauso gut spielen wie Männer“ (McDivitt 2020: 23; frei aus dem Englischen übersetzt).

In der damaligen Gesellschaft zeigte sich diese Frauen zugeschriebene Inkompetenz im Umgang mit Technologie allerdings nur selektiv und auf bestimmte Geräte bezogen. McDivitt beschreibt beispielsweise, wie die Schreibmaschine nach ihrer Entwicklung zunehmend mit dem Beruf der Sekretärin verbunden wurde (McDivitt 2020: 5). In dieser Hinsicht interagiert das Gerät mit sozialen Normvorstellungen von der Frau als Assistentin und wird somit weiblich konnotiert. Nach einem ähnlichen Prinzip verweist Ellen van Oost auf das Telefon als eher feminin wahrgenommene Technologie, die gesellschaftlich-weibliche Aktivitäten wie häufige und lange Gespräche ermöglicht (van Oost 2003: 1). Das Beispiel von Rasierern für Frauen gegenüber denen für Männer zeigt außerdem, wie sich das Design, das Marketing und die allgemeine Konnotation ein und derselben Technologie in Abhängigkeit von seiner Zielgruppe radikal ändern kann (van Oost 2003). Der Computer als technologisch komplexe Errungenschaft, die außerdem aus dem männlich-dominierten IT-Feld stammt, war wiederum ein strikt Männern zugeschriebenes Gerät. Die Technologiehistorikerin Ruth Oldenziel beschrieb das Genderverhältnis zum Computer anhand eines New York Times-Artikels aus dem Jahre 1986, der erklärte, dass „Frauen und Mädchen […] Computer [benutzen]; Männer und Jungs aber lieben sie“ (Oldenziel 1999: 9; frei aus dem Englischen übersetzt).

Ihre angebliche technologische Inkompetenz schloss Frauen jedoch nicht vollständig aus der Gaming-Branche aus. Ihr – zugegebenermaßen oberflächlicher – Zugang ergab sich in den 1980ern, jedoch vorwiegend aus Marketing-Gründen: nur leicht bekleidete Frauen wurden in Arcade-Hallen oder bei Werbe-Events als sogenannte booth babes eingesetzt, um mehr männliche Spieler anzulocken (McDivitt 2020: 31). Sollten Frauen sich allerdings außerhalb von objektifizierenden Werbezwecken in Entwicklerstudios wiederfinden, standen sie häufig unter dem Druck, ihre Präsenz im Feld zu rechtfertigen und Kompetenzen unter Beweis zu stellen (Oldenziel 1999). Zusätzlich zu ihrer Ausschlusshaltung gegenüber Frauen stellte die Videospiel-Szene sich allerdings auch gesamtgesellschaftlich bewusst an den Rand. Auch hierfür lag der Grund zu Teilen in ihrem Ursprung in der IT-Industrie.

2.2 Das Konzept der geek masculinity

Der als natürlich wahrgenommene Zweifel an Frauen in der Gaming-Branche beruht auf einem der Szene eigenen Identitätskonzept, welches sich in ihren Anfängen bildete. Die ersten Spieleentwickler stammten wie erwähnt aus Technologie-lastigen Feldern wie dem Ingenieurswesen oder der Computer-Industrie. Diesen Berufs- und Interessenbereichen wurde von der Gesellschaft zwar große Brillanz im Umgang mit Technologie, aber auch hohe soziale Inkompetenz zugeschrieben. Für Männer, die diesem Stereotyp entsprachen und sich außerdem stark für Videospiele interessierten, wurden ab den 1970er-Jahren in den USA die negativ konnotierten Worte geek oder nerd verwendet (McDivitt 2020; Walsh 2019). Diese Personenkonzepte zeichneten sich laut der Soziologieprofessorin Lori Kendall dadurch aus, dass sie Bestandteile von Hypermaskulinität mit feminin wahrgenommenen Eigenschaften kombinieren. Zu Ersteren zählen beispielsweise ein überlegener Intellekt, Ablehnung eines modischen Kleidungsstils und ein grober sozialer Umgang, während Letzteres kleine Körpergröße, Unsportlichkeit und das Fehlen sexueller Beziehungen mit Frauen umfasst (Kendall 1999: 2). Mit dieser Kombination von angeblich weiblichen und männlichen Attributen entsprachen geeks und nerds nicht der hegemonialen Männlichkeit, die in der patriarchalen westlichen Gesellschaft etabliert war (McDivitt 2020: 12). Im Wissen um ihr Abweichen von dieser Norm stellten sich Videospielkonsumenten wie -entwickler als eigene Gruppe an den Rand und repräsentierten somit, was Anne Ladyem McDivitt als geek masculinity bezeichnet. Geeks waren durch ihre unkonventionelle Maskulinität und fehlende zwischenmenschliche Expertise sozial weniger angesehen als hegemonial maskuline Männer. Die Gaming-Szene machten sie sich aus diesem Grunde zunehmend zu eigen und schlossen dafür sozial angesehenere Männer sowie Frauen im Allgemeinen aus. Die frühe Videospiel-Branche war demnach ein Zusammenschluss von geek-maskulinen Männern, die nur Spiele kreierten, „die sie selbst spielen wollen, für diejenigen, die sie als ihnen ähnlich und an den gleichen Dingen interessiert wahrnehmen“ (McDivitt 2020: 13; frei aus dem Englischen übersetzt).

Im Zentrum der Maskulinität des Gamings stand dennoch das Ziel, im jeweiligen Spiel seine Expertise zur Schau zu stellen, über Feinde zu dominieren und schlussendlich zu gewinnen – ein Konzept, welches laut Karen Walsh hegemoniale Männlichkeit unterstützt (Walsh 2019: 41). Nerds fanden im Erstellen von Videospielen außerdem einen Weg, sich maskuline Eigenschaften, die ihnen im richtigen Leben fehlten, in der virtuellen Welt anzueignen. Sichtbar wird diese Tendenz im Wettbewerbscharakter von frühen sowie aktuellen Videospielen und der hohen Präsenz von Waffen, Gewalt und Sexualität. Eine Gegenüberstellung vom Genderverhältnis in Videospielcharakteren aus dem Jahr 2007 ergab, dass männliche Protagonisten vier Mal häufiger auftreten als weibliche und im Rahmen ihrer Rolle häufiger muskulös und gewalttätig dargestellt werden (Burgess, Stermer, Burgess 2007: 427). Stellt ein Videospiel unkonventioneller Weise eine Frau in einer zentralen Rolle dar, ist dies dafür fast immer mit hoher Sexualisierung ihres Charakters verbunden, zum Beispiel in Form von knapper Bekleidung und überproportional großen Brüsten (ebd.). Ein prominentes Beispiel hierfür ist das Spiele-Franchise Tomb Raider, in welchem die Heldin Lara Croft seit 1996 altertümliche Gräber erforscht und sich okkulten Mächten stellt – selten trägt sie dabei jedoch mehr als Shorts und ein kurzes Top und trotz ihrer jahrelangen Sportlichkeit wird sie in keinem Titel muskulös dargestellt.

Die gesellschaftlich an den Rand gestellte Form der geek masculinity hält Videospielentwickler und -konsumenten also nicht davon ab, traditionell männliche Werte und Aktivitäten in ihren Spielen darzustellen. In die sozialen Kreise der nerds finden trotz dessen nur ihnen gleichgesinnte Männer ihren Weg, während hegemonial männliche und sozial besser eingebundene Personen bewusst ausgeschlossen werden. Frauen befinden sich seit den Anfängen der Gaming-Industrie aufgrund ihres gesellschaftlichen Ausschlusses aus technologischen Feldern selten in der Position, diesen überhaupt beitreten zu wollen. Ihre Darstellung in virtuellen Spielen tendiert aufgrund der vertretenen Maskulinität außerdem häufig zu Übersexualisierung, was wiederum auf viele Frauen abschreckend wirkt und dafür weitere Männer anzieht.

3. Diversifizierung als Bedrohung?

3.1 Ausdehnung der Zielgruppe

Die Gaming-Szene hat sich ab den 1970er-Jahren also immer mehr zu einem sozialen Zufluchtsort für Männer mit nerd-Charakteristiken entwickelt. Sowohl Entwickler als auch Spieler fanden hier einen Raum, in dem sie unter Gleichgesinnten waren, statt sich wie in vielen anderen sozialen Sphären ausgestoßen zu fühlen. Eine große Veränderung trat allerdings auf, als die US-amerikanische Videospielindustrie im Jahr 1983 kollabierte. Zu Beginn des Jahrzehnts überfluteten amerikanische Entwicklerstudios den Markt mit neuen Titeln, die allerdings nur spärlich Qualitätskontrollen unterliefen und aufgrund übermäßiger Gewaltdarstellungen den gesellschaftlichen Ruf von Gaming verschlechterten (McDivitt 2020: 1). Dies führte wiederum zu niedrigen Verkaufszahlen und etablierte eine negative Konnotation von Videospielen (ebd.).

In den folgenden Jahrzehnten füllten dann zunehmend japanische Spielefirmen das entstandene Vakuum in den Vereinigten Staaten. Mit Veröffentlichung des Nintendo Entertainment Systems (NES) im Jahr 1985 sowie der ersten Sony-PlayStation neun Jahre später blühte die Videospiel-Industrie weltweit von Neuem auf. Sony und Nintendo verfolgten anders als amerikanische Spieleentwickler den Ansatz, so viele Menschen wie möglich für ihre Spiele begeistern zu wollen, um deren Erfolg zu maximieren. Franchises wie Nintendos Super Mario Bros erlangten so globale Notorietät und öffneten die Gaming-Welt auch Personen, die nicht aus der geek-Szene stammten. Amanda C. Cote beschreibt in ihrem Kapitel „Core and the Video Game Industry”, wie durch diese Ausweitung der Gaming-Community die Strömungen der core– und der casual-Spieler aneinandergerieten (Cote 2020: 24-25). Ersteres beschreibt die ursprüngliche, männliche Zielgruppe der Spieleindustrie, die durch ihren Zusammenschluss als nerds ein hohes Level an Identitätsfindung und Hingabe mit der Szene verbindet (ebd.). Als casual beschreibt Cote Spielende, die erst durch die Ausweitung der Zielgruppe von Videospielen in diese Sphäre fanden und sie daher weniger ernst und nicht so sehr als Teil ihrer Identität wahrnehmen (Cote 2020: 32-33). Der Einschluss von diesen casual-Spielenden – die einen bedeutend höheren Frauenanteil aufwiesen als die ursprüngliche Gaming-Szene – wurde von der core-Community um die Jahrtausendwende zunehmend als Bedrohung für ihre Stellung gesehen. Tatsächlich sorgte die wachsende Diversifizierung der Gaming-Zielgruppe dafür, dass ihre ehemals vorherrschende Maskulinität in Teilen verdünnt werden konnte. Cote beschreibt Marketing- und Entwicklungs-Strategien, die Menschen außerhalb der core-Zielgruppe ansprechen sollen, daher auch als counterhegemonic forces (Cote 2020: 24).  Ein Beispiel hierfür ist die Nintendo Wii aus dem Jahre 2006, bei der erstmals der herkömmliche Controller verschwand und durch eine bewegungsgesteuerte Fernbedienung ersetzt wurde. Auch das Einführen von Mobile Games und Konsolen wie dem Gameboy oder der PlayStation Portable fallen in diese Kategorie.

Die wachsende Furcht der core-Gamer um ihre zentrale Bedeutung in der Community zeigte sich in den frühen 2000er-Jahren auch vermehrt auf sozialen Medien. In seinem Artikel „The Hardcore Niche“ im Magazin Game Developer äußerte sich 2008 Szene-Mitglied Brandon Sheffield kritisch zum Wandel der Gaming-Welt:

Online-Spiele übernehmen und ich […] mag es nicht wirklich. Sicherlich wird es immer Hardcore-Spieler geben, die diese tiefere Erfahrung wollen. Daran gibt es keine Zweifel. Aber die Frage ist: In einer Industrie, in der uns ausgerechnet Web-Entwickler finanziell in die Tasche stecken, wer soll uns bezahlen, [Hardcore-Spiele] zu machen? (Sheffield 2008; frei aus dem Englischen übersetzt)

Dies sollte allerdings nur der Anfang einer core-Bewegung sein, die aus Angst vor einem Szene-Wandel die casual-Spielenden zum Feindbild erklärte.

3.2 Konzentrierter Hass im #Gamergate

Ihre bislang extremste und aggressivste Form nahm die Antipathie der core-Spielenden gegenüber Szene-Neuzugängen allerdings im Jahr 2014 an. Im Zuge der Online-Belästigungs-Kampagne #Gamergate wurde die Spieleentwicklerin und Gaming-Journalistin Zoe Quinn zum Ziel kollektiven Hasses traditioneller geek-Gamer. Ursprung der Bewegung war ihr Ex-Partner, der aus Frust über die Trennung angebliche Facebook-Konversationen mit Quinn veröffentlichte und dadurch die Wut der Community auf sie lenkte (Massanari 2019: 334). Unter rasantem Wachstum des Hashtags auf unter anderem der sozialen Plattform Twitter nannten seine Unterstützer auch Kritik an unehrlichem Gaming-Journalismus als Vorwand der Bewegung. Grund hierfür seien mehrere intime Beziehungen von Quinn mit Spiele-Reportern gewesen, die in der Folge ihre Spiele positiv bewertet haben sollen (ebd.). Der Hass gegenüber Quinn breitete sich schnell auch auf die Journalistin Anita Sarkeesian sowie alle Unterstützer der Opfer dieser Kampagne aus und äußerte sich neben verbaler Belästigung im Internet auch in Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. Einer der sogenannten Gamergater entwickelte sogar das Spiel Beat Up Anita Sarkeesian, in dem ein Bild von der Journalistin per Mausklick mit Blut bedeckt werden konnte (Klee 2021). Die Beschreibung des Spiels fasste die kaum verschleierten misogynen Einstellungen der Bewegung im letzten Satz zusammen:

[Anita Sarkeesian] behauptet, sie wolle Gender-Gleichberechtigung in Videospielen, aber in Wahrheit will sie nur ausnutzen, dass sie mit einer Vagina geboren wurde, um Geld und Mitgefühl von allen zu bekommen. (zitiert von Klee 2021; frei aus dem Englischen übersetzt)

Bis heute sind Frauen in der Gaming-Industrie mit dem Vorwurf konfrontiert, sich mithilfe ihres Geschlechts soziale Vorteile verschaffen zu wollen. Viele core-Gamer verachten es, dass ein Großteil der Videospiel-interessierten Frauen im Zuge der counter-hegemonic Maßnahmen ihren Weg in die Szene fanden und diese Entwicklung aus marktwirtschaftlichen Gründen von großen Studios begrüßt wird. Dass eine Charakteristik vom Konzept des nerds bzw. geeks außerdem seine Unbeliebtheit beim weiblichen Geschlecht ist, scheint ferner den Frust gegenüber weiblichen Szene-Mitgliedern ungemein zu steigern. Die Unterstellung, dass weibliche Gamer oder Mitarbeitende in der Szene geschlechtsspezifische Vorteile hätten, ist wie bereits erläutert jedoch auf mehreren Ebenen unwahr. Frauen stehen in Form ihrer angeblichen technologischen Inkompetenz sowie stetiger Sexualisierung ihrer Körper sogar mehr Hindernisse entgegen als Männern. Beides äußert sich außerdem nicht nur auf Konsument*innen-Seite, sondern auch im Arbeitsumfeld von Entwicklerstudios. Im Jahr 2020 wiesen die Top 14 Gaming-Firmen laut Forbes Magazine im Maximum 41% weibliche Führungskräfte auf (Wittenberg-Cox 2020). Dieser Prozentsatz fand sich jedoch nur ein Mal, nämlich bei Tech-Gigant Google. Bei den asiatischen Marktführern Bandai Namco, Nintendo, Sony und Tencent findet sich derweil keine einzige Frau in einer Führungsposition wieder. Magere Anteile von maximal einem Viertel der Führungsriege nehmen Frauen bei Ubisoft, Activision Blizzard und Electronic Arts ein. Gegenüber dem Ausmaß an Belästigungsfällen, denen Frauen im Gaming zum Opfer fallen, gepaart mit ihrer erschreckend geringen Präsenz in marktführenden Positionen, kann der Vorwurf ungerechter Vorteile des weiblichen Geschlechts in der Videospielindustrie demnach negiert werden.

4. Schlussfolgerung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die starke männliche Prägung der Gaming-Branche schon in ihren Ursprüngen Mitte des 20. Jahrhunderts begann, als Videospiele sich langsam als rentabler Markt und Berufsmöglichkeit etablierten. In der westlichen Gesellschaft als geeks oder nerds bezeichnete Männer nahmen diese neue soziale Sphäre sowohl als Entwickler als auch als Konsumenten ein, sahen ihre vorherrschende Stellung jedoch in den folgenden Jahrzehnten durch die Ausweitung der Konsumentenbasis bedroht. Die auch heute noch stark geäußerte Ablehnung gegenüber Frauen in der Arbeits- und Verbrauchersphäre rund um Gaming kann zu großen Teilen mit dem fortbestehenden Wunsch der Erhaltung dieser nerd-Sphäre erklärt werden, welche durch den Eintritt von weiblichen Akteuren stetig weiter von ihren traditionell maskulinen Ursprüngen abweicht.

Die Gaming-Industrie bleibt also bis heute männlich dominiert. Etwaige geschlechtsspezifische Vorteile für weibliche Mitarbeitende sind gegenüber der Menge an zu überwindenden Hindernissen vernachlässigbar. Im Widerspruch zu ihnen steht außerdem die Tatsache, dass Skandale bezüglich sexistischer Firmenkulturen und Belästigungsfällen immer wieder öffentlich bekannt werden und die frauenfeindliche Haltung der Videospielindustrie offenlegen.

Die Zunahme an publik gewordenen Sexismus-Skandalen in der Gaming-Industrie sowie Literatur zu diesen in den letzten Jahren deutet allerdings auch darauf hin, dass die Branche sowie ihre Community stetig mehr auf derartige Missstände sensibilisiert werden. Mögliche Lösungsansätze, die in zukünftiger Forschung verfolgt werden sollten, könnten an diesem soziokulturellen Wandel der Szene und ihrer Zielgruppe ansetzen. Zunehmende Sensibilisierung und bewusstes öffentliches Einbinden von Frauen in die Gaming-Szene – zum Beispiel durch Marketing und Werbe-Kampagnen – könnten die maskuline und frauenfeindliche Konnotation der Branche stückweise lösen und einen Teil dazu beitragen, Gaming zu einer inklusiveren und sicheren Sphäre zu machen.

Literaturverzeichnis

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Quelle: Alina Riekes, Von „nerds“ und „booth babes“ – Die Entwicklung von Sexismus in der Videospielindustrie von Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=322