Von der Pathologisierung zur Selbstbestimmung

Betrachtung des TSG im Hinblick auf das Selbstbestimmungsgesetz

John Krakow (WiSe 2022/23)

Einleitung

Zur trans* Geschichte gehört auch Pathologisierung und Fremdbestimmung. Einen großen Anteil daran hat das TSG, das sogenannte „Transsexuellengesetz“. Es regelt in Deutschland die Personenstands- und Vornamensänderung für trans* Personen (Stand Mai 2023). Das Gesetz ist seit dem 1. Januar 1980 in Kraft, jedoch längst überholt und mehrfach für verfassungswidrig erklärt worden.[1] Zur trans* Geschichte gehört aber auch Vielfalt, Freude und Kultur, um die es öfter gehen sollte, leider wird sie auch hier wieder zu kurz kommen. Aktuell ist die Frage nach Selbstbestimmung, das Händeringen nach Sichtbarkeit und die Notwendigkeit von Information brennend. Seit dem 09.05.2023 liegt der Entwurf für das Selbstbestimmungsgesetz vor, nun liegt er bei den Interessenverbänden.[2]

In dieser Hausarbeit wird es hauptsächlich um die Erklärung des TSG gehen, auch unter Bezugnahme des Entwurfes zum Selbstbestimmungsgesetz. Dabei fokussiere ich mich auf den Aspekt der Pathologisierung. Zum Schluss habe ich meine eigene Meinung in einem Essay zusammengefasst, das sich mit der Pathologisierung auf der alltäglichen und gesellschaftlichen Ebene beschäftigt.

Begriffe

Zunächst ist eine Begriffsdifferenzierung nötig, da das TSG den veralteten Begriff transsexuell im Namen trägt. Trans* sein hat nichts mit Sexualität zu tun, sondern befindet sich auf der Geschlechtsebene: Trans* Personen können jede Sexualität haben, die cis Personen auch haben können. Transsexualität oder auch Transsexualismus kommen aus einem medizinischen, pathologisierenden Kontext, in dem Transidentität als Krankheit eingestuft wurde. Außerdem hängt der Begriff transsexuell auch mit Gatekeeping und der Vorstellung zusammen, man sei nur wirklich trans*, wenn man sich einer „vollständigen“ Transition unterziehe. Der Begriff Transsexuell wird daher nicht mehr verwendet, sondern stattdessen transident, transgeschlechtlich oder auch transgender, da die Begriffe genauer und wertfreier sind. Es wird auch nicht mehr von Transsexuellen gesprochen, sondern von trans* Personen.

Diese Differenzierungen und Untersuchungen sind wichtig, da hinter den Begriffen auch gesellschaftliche Verständnisse stecken.

Aktuelle Namens- und Personenstandsänderung

Um aktuell als trans* Person Vornamen und/oder Personenstand zu ändern, muss das TSG durchlaufen werden. Unterschieden wurde in der Vergangenheit zwischen „der kleinen Lösung“ und „der großen Lösung“. Die kleine Lösung bestand dabei nur aus der Vornamensänderung und die große Lösung beinhaltete ebenfalls die Anpassung des Personenstandes. Diese Unterteilung, sowie die darin beinhalteten Voraussetzungen, sind als verfassungswidrig eingestuft worden und finden keine Anwendung mehr. Sie sind jedoch immer noch im TSG festgeschrieben.[3]

Um Namen und Personenstand zu ändern, ist für trans* Personen immer noch ein gerichtliches Verfahren Voraussetzung, in dem sie mit zwei voneinander unabhängigen psychologischen Gutachten ihr Geschlecht beweisen müssen. Ein Gericht urteilt anschließend darüber. Die Kosten müssen selbst getragen werden, Prozesskostenbeihilfe ist möglich. Der Arbeitsaufwand für Behörden, Psycholog*innen und Betroffene ist immens. Zudem liegt dem Prozess eine Pathologisierung zugrunde, die zur Entmündigung führt. Das eigene Geschlecht muss bewiesen und fremd beurteilt werden, weil das eigene Urteilsvermögen nicht belastbar scheint. Der Name des Gesetzes spricht also für sich, Fundament für dieses gesetzliche Regelung ist der Irrglaube von Transidentität als Krankheit, als Transsexualismus.[4] In den Gutachtenverfahren sind die Betroffenen der Willkür der Gutachter*innen ausgesetzt. Das Spektrum reicht von wohlwollender Beratung bis hin zu grenzüberschreitenden (Re-)Traumatisierung. Teil dieses Verfahrens sind häufig seitenlange Fragebögen, mit Fragen zu Befindlichkeit und Rollenverständnis aus der Kindheit, beispielsweise „Welche Toilette oder Umkleide benutzen Sie in der Schule? Hatten Sie eine Lieblingssportart?“. Persönlichere, jedoch nicht weniger willkürliche Fragen, beinhalten zum Beispiel „Wie alt war ihre Mutter bei ihrer Geburt?“ oder „Hatten Sie bereits wichtige Freundschaften oder Partnerschaften?“. Manche Betroffene berichten davon, über ihr Liebes- und Sexleben, sowie Masturbationsverhalten ausgefragt worden zu sein, teilweise mit Unterstellungen, die Pädophilie beinhalten. Einige berichten ebenfalls davon, dass sie sich haben ausziehen müssen. Homophobie ist neben der offensichtlichen Transphobie und Übergriffigkeit ein weiteres Problem innerhalb der Verfahren. Betroffene verschweigen ihre Homosexualität, oder andere nicht-heteronormative Sexualitäten, aus Angst ein negatives Gutachten zu erhalten.[5] Es gibt natürlich auch Gutachter*innen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben trans* Personen zu unterstützen, zu beraten und vor solchen Situationen zu schützen. Um Einzelpersonen geht es bei der Kritik an den Gutachten jedoch nicht, sondern um die Willkür, Gefährdung und die Entmündigung, die das Verfahren bedeuten. Selbst Gutachter*innen, die diese Verfahren durchführen, halten diese für überholt und schlichtweg unnötig, da Geschlecht keine Kategorie ist, die von außen bestimmbar ist. Einer Beratung steht einer Begutachtung konträr gegenüber.[6]

Der Paragraf zu den Gutachtenverfahren lautet wie folgt:

„Das Gericht darf einem Antrag nach § 1 nur stattgeben, nachdem es die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt hat, die auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfahrung mit den besonderen Problemen des Transsexualismus ausreichend vertraut sind. Die Sachverständigen müssen unabhängig voneinander tätig werden; (…)“

[7]

„(…) in ihren Gutachten haben sie auch dazu Stellung zu nehmen, ob sich nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft das Zugehörigkeitsempfinden des Antragstellers mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr ändern wird.“

[8]

Allein die Formulierung gibt Aufschluss darüber, wie trans* sein hier immer noch als Krankheit geframt wird.  Es wird von „besonderen Problemen“ ausgegangen, die Expertise benötigen. Zudem wird hier erneut der pathologisierende Begriff Transsexualismus verwendet. Der zweite Part des Paragrafen ist ebenfalls interessant, da er eine Angst widerspiegelt, die sich immer noch um den Diskurs zur Selbstbestimmung rankt und selbst im Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz zu finden ist, in dem eine einjährige Sperrfrist vorgesehen ist bis Name und/oder Personenstand wieder geändert werden können. Zudem gibt es bei dem Selbstbestimmungsgesetz eine dreimonatige Bedenkzeit, bis die Änderung beim Standesamt rechtkräftig wird. Hier ist deutlich die Angst vor Veränderung zu sehen, ebenso wie die Angst von Geschlecht als wandelbare, diverse und komplexe Kategorie, sowie die diffuse Angst vor Missbrauch gesetzlich festgelegter Rechte marginalisierter Gruppen, die den Diskurs prägen. Im Gesetzesentwurf zur Sperrfrist heißt es:

„Dies (die Sperrfrist) soll dazu führen, dass insbesondere volljährige Personen sich der Tragweite ihrer Erklärung bewusst sind, weil klar ist, dass sie an die Erklärung mit den entsprechenden Einträgen mindestens ein Jahr gebunden sind. Die Vorschrift dient damit als Übereilungsschutz und verdeutlicht der erklärenden Person die Ernsthaftigkeit ihrer Erklärung.“[9]

Interessant ist hierbei auch wieder die Formulierung. Ein „Übereilungsschutz“ klingt nach über 40 Jahren TSG nach fehlgeleiteter Pädagogik. Die Tragweite ist durch alltägliche Diskriminierung und Marginalisierung von trans* Personen schlichtweg nicht zu übersehen. Die Festschreibung der Ernsthaftigkeit als Kriterium scheint der Ernsthaftigkeit der Rechtesicherung gegenüber trans* Personen nicht gerecht zu werden.

Mitzuberücksichtigen ist sicherlich die Gerichtsfestigkeit, die solche Entwürfe ebenfalls sichern müssen. Einen mindestens faden Beigeschmack hinterlassen solche Regelungen und Formulierungen trotzdem, auch angesichts der jahrzehntelangen staatlichen Diskriminierung, dem dieses Gesetz genau gegenübertritt.

„(…) sie sich auf Grund ihrer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet (…)“

[10]

Ein weiterer problematischer Aspekt ist die geschlechtliche Binarität, auf dem das TSG basiert. Nicht-binäre Personen finden erst seit 2020 Erwähnung, durch die Erweiterung um die Kategorie divers und die Möglichkeit der Streichung der Geschlechtseintragung. Die Kategorie divers steht seit 2018 inter* Personen zur Verfügung. Sie müssen aber eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ attestiert bekommen, welche eine weitere Form der Pathologisierung aufweist und essentialistisch argumentiert. Die sogenannte „Dritte Option“ wurde bis 2019 auch von trans* Personen genutzt, bis diese neu formuliert wurde und trans* Personen kriminalisiert, die diese Option nutzen. Diese Möglichkeit der Personenstandsänderung bezieht sich ausdrücklich nur auf Körperlichkeit und dem Herausfallen aus essentialistischer Zweigeschlechtlichkeit, die offengelegt und offiziell nachgewiesen werden muss.[11]

Im Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz sind nicht-binäre Personen ausdrücklich mitbedacht und erhalten die gleiche Rechte wie binäre trans* Personen.[12]

TSG – pausierte Klauseln

Das TSG beinhaltet einige Klauseln, die für verfassungswidrig erklärt wurden, da sie gegen das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung verstoßen und die Menschenwürde missachten.[13] Drei dieser Klauseln sind besonders gravierend.

Bis 2009 ging die Anpassung von Name- und Personenstand auch mit der Zwangsscheidung der eigenen Ehe einher. Das geht zurück auf Homophobie und nationalistische Familienvorstellungen, die ein Abweichen von der cis-hetero Norm nicht vorsahen:

“Ist die Person im Zeitpunkt der gerichtlichen Anordnung verheiratet gewesen und ist ihre Ehe nicht inzwischen für nichtig erklärt, aufgehoben oder geschieden worden, so gilt die Ehe mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes als aufgelöst. (…)“

[14]

Bis 2011 wurden trans* Personen dazu gezwungen „dauerhaft fortpflanzungsunfähig“ zu sein. Das bedeutete die Entscheidung zwischen der Anerkennung der eigenen Identität und Zwangssterilisation. Trans* Personen wurden außerdem zur Transition gezwungen, um sich cis Vorstellungen von Geschlecht anzupassen. Sehr deutlich wird hier die binäre Vorstellung von Geschlecht und der Versuch des Erhalts tradierter Geschlechterrollen:

„(…) sich einem ihre äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen hat, durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht worden ist“

[15]

Trans* Personen sollte so zwar ermöglicht werden staatlich anerkannt (und reguliert) zu existieren, jedoch nur in der Anpassung an Heteronormativität und unter Ausschluss von Familienleben. Das bedeutet unsichtbar sein und nicht partizipieren. Deutlich wird hier ein nationalistisches Bild von Familie, in dem der Staat massiv in Reproduktionsrechte eingreift und darüber bestimmen möchte, wer Familien gründet. Auch die Legalität und Information von Schwangerschaftsabbrüchen und die Gleichstellung der Ehe entspringen diesem Motiv.  

Bis heute haben die Betroffenen dieser Zwangssterilisation und Zwangsoperationen keine Entschädigungsleistungen erhalten, die immer wieder von Verbänden und sogar dem UN-Menschenrechtsrat gefordert werden. Die planmäßige Aktenvernichtung nach dreißig Jahren konnte noch verhindert werden, sodass dies weiterhin möglich wäre.[16]

Gesundheit und Selbstbestimmung

Selbstbestimmung hat große, positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Dieser Satz ist nicht nur gültig für trans* Personen, sondern für alle Menschen. Ein selbstbestimmtes Leben ist ein essenzieller Bestandteil für Zufriedenheit, Selbstwirksamkeit und auch Sicherheit. Anerkennung der eigenen Identität hat ebenfalls großen Einfluss auf die psychische Gesundheit. Die Verwendung von korrekten Pronomen und dem selbstgewählten Namen senkt nachweislich das Depressions- und Suizidrisiko, wie eine Studie über junge trans* Personen aus Texas zeigt[17]. Diskriminierung und Unwissenheit in medizinischen Kontexten sind ein weiteres Problem. Trans* Personen suchen sich möglicherweise viel später Hilfe und bekommen teilweise eine schlechtere Versorgung, weil das Wissen über trans* Körper noch nicht besonders verbreitet ist.[18] Den Beitrag, den das Selbstbestimmungsgesetz dazu leisten könnte, wäre ein Hürdenabbau, durch banal erscheinende Aspekte wie die Anpassung einer Krankenkassenkarte.

Eine Rechtssicherheit und Selbstbestimmtheit bezüglich des eigenen Namens und Pronomens wie es im Selbstbestimmungsgesetz vorgesehen ist, wird riesige Auswirkungen auch auf die Gesundheit von trans* Personen haben. Das Offenbarungsverbot, das vorsieht, Misgendering und Outing strafrechtlich zu verfolgen, könnte ebenfalls ein lang ersehntes Stück Sicherheit für trans* Personen bringen, weißt aber Lücken auf.[19] Den eigenen Personenstand und Namen nicht angepasst zu haben, birgt ständige Unsicherheit im Alltag und kann auch zur Gefahr werden. Diese Art der existenzbedrohenden Unsicherheit bedeutet eine massive Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit und des allgemeinen Wohlbefindens. Auch wenn das Selbstbestimmungsgesetz die Angst, die Personen marginalisierter Gruppen alltäglich empfinden, nicht aufheben kann, kann es ein Stück längst überfällige Rechtssicherheit bringen. Die Auswirkungen des Selbstbestimmungsgesetzes wären weitreichend – sie bewegen sich auf dem fundamentalen Level der Anerkennung, der Sicherheit, aber beinhalten auch die Freude darüber, auf der Bankkarte endlich den eigenen Namen zu haben, problemlos(er) einen Job anzufangen und wieder verreisen zu können, weil der Check-in am Flughafen nicht mehr das Aus bedeutet.

Pathologisierung und Selbstbestimmung im gesellschaftlichen, bürgerlichen Kontext

Der folgende Text ist ein Essay, der auf meiner persönlichen Meinung basiert

Im TSG spiegelt sich auch ein gesellschaftliches Verständnis von trans* Personen und deren Realitäten. Gerade im Angesicht eines möglichen Selbstbestimmungsgesetz ist es wichtig, sich das TSG noch einmal genau anzuschauen, auch im gesellschaftlichen, konkret bürgerlich-liberalen Kontext. Die Pathologisierung, die im TSG deutlich zu erkennen ist, findet sich auch im Alltag, mit dem trans* Personen konfrontiert sind, wieder. Fragen nach „Wie weit bist du schon?“ zeichnen trans* sein als Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, als Prozess, der abgeschlossen werden soll, um in eine vermeintliche Normalität zurückzukehren. Die Prozesshaftigkeit, die schon im Wort trans* verankert zu sein scheint, findet immer noch zu selten Beachtung.

Trans* sein verstehe ich auch als Chance der ständigen Transformation und der Wandelbarkeit. Nicht jede trans* Person strebt überhaupt eine Transition an und keine Transition sieht gleich aus. Wenn ich also mal wieder gefragt werde „XY ist aber schon weiter als du, oder?“, kann ich nur fragen: Womit? Mit dieser Hausarbeit? Mit dem Einrichten der eigenen Wohnung?

Trans* sein ist weder als abgeschlossen zu betrachten, noch in Frage zu stellen. Es findet sich auch eine Sicherheit in der Reflexion und der Möglichkeit zur Veränderung, im Verständnis für sich selbst. Die Möglichkeit Grenzen zu ziehen und mehr über sich herauszufinden, bietet auch die Chance, Empathie gegenüber anderen Menschen und deren Realitäten zu entwickeln.

Davon abgesehen, dass solche Fragen durchaus grenzüberschreitend sind, sind sie doch sehr aufschlussreich. Sie geben auch Aufschluss über gesellschaftliche Scham, die, wenn auch nicht nur, als Folge von Pathologisierung zu sehen ist. Auch Krankheit ist nach wie vor ein Tabuthema – auch dies ist problematisch, ist aber zu weitreichend an dieser Stelle.

Worte wie trans*, nicht-binäre Person, trans Mann, trans Frau und Transition sind noch immer schambehaftet. Anstatt also im passenden Rahmen, und nach vorheriger Erlaubniseinholung, zu fragen wie es mir mit meiner Transition geht und wie meine Hormonbehandlung läuft, kommt „Wie weit bist du schon?“. Als sei man ein Payback Punkte Heft, noch zwanzigmal Testogel schmieren und die Teflonpfanne Burgund ist schon zum halben Preis erhältlich.

Eine weitere solcher Fragen ist dann oft „Wie lange musst du das denn noch machen?“, bezogen ist das auf die Zufuhr von Testosteron.

Die Kritik ist eine gesellschaftliche Kritik. Die Unwissenheit von Einzelpersonen, denen ich ehrliches Interesse gar nicht abspreche, ist nur Symptom der fortlaufenden Pathologisierung. Ich werde Testosteron mein Leben lang nehmen, das ist kein Medikament zur Bekämpfung einer Krankheit. Trans* sein ist eine Variante der Existenz, genau wie cis sein. Trans* sein darf und muss ausgesprochen werden, laut ausgesprochen werden. Es ist kein Zufall, dass das TSG Transsexuellengesetz heißt, es immer noch besteht, und die Angst vor dem Selbstbestimmungsgesetz, auf allen Seiten, gerade größer ist denn je. Der pathologisierende Ansatz im Umgang mit trans* Personen findet sich im Alltag und in Institutionen wieder. Im besten Fall durchläuft man die Transition in den sicheren cis-Hafen, im schlechtesten existiert man gar nicht, sondern ist verwirrt, nicht zurechnungsfähig. Trans* muss zur Normalität als Facette hinzugefügt werden, die eine Gleichwertigkeit mit cis hat. Ich werde immer trans* sein und das finde ich schön.

In einer Gesellschaft in der trans* Personen gleichzeitig nicht existieren und eine Bedrohung sind, ist Aufklärung und im Zuge dessen Entpathologisierung essenziell und reichlich verspätet. Bereits Magnus Hirschfeld verfolgte den Ansatz der Entpathologisierung, beispielsweise mit der Einführung des sogenannten Transvestitenscheins. Dieser ermöglichte es trans* Personen, von Polizei und Behörden einigermaßen unbehelligt, selbst über ihren Geschlechtsausdruck zu bestimmen. Dieser Schein, eine der ersten Umsetzungen zur Entpathologiserung, wurde 1909 eingeführt.[20] „Transsexualismus“ fiel erst mit der Einführung des ICD 11, der immer noch keine großflächige Anwendung findet, aus dem Katalog der Persönlichkeitsstörungen, 2019.[21] Knapp 114 Jahre später liegt nun auch schon ein Gesetzesentwurf vor, der aus Transsexualität Transidentität macht und für Selbstbestimmung sorgen soll. Selbstbestimmung scheint greifbar, endlich möglich. Aber die noch so hoffnungsvollen Stimmen, die selbst nach 2021, der ersten Ablehnung der Abschaffung des TSG[22], werden stetig leiser und sorgenvoller. Hausrecht, Verteidigungsfall. Was ist denn jetzt mit meinen trans* Schwestern? Warum muss in einem Gesetz, das für uns gemacht wird, erwähnt werden, dass sich am allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz rein gar nichts ändern wird? Die Formulierungen sprechen Bände: Das dient nicht dem Schutz von Frauen, weder trans* noch cis. Die Beruhigung der Angst vor mindestens konservativen Stimmen, während man die Strohfrau wieder aufstellt und das einfachste Feindbild bedient: die bedrohliche trans Frau. Als ginge Gewalt nicht immer und immer wieder von Männern aus, meistens cis Männern und als bräuchten sie eine weitere staatliche Erlaubnis übergriffig zu sein, das hat das Patriachat doch gar nicht nötig. Die Aufmerksamkeit ist da, zusätzlicher Schutz nicht. Es muss darüber geredet und gestritten und informiert werden. Ich kann keinen Text, keine Arbeit über Selbstbestimmung schreiben, ohne darüber zu reden, doch die Emotionalität ist vorhanden, das will in keine streng wissenschaftliche Form. Die Emotionalität ist wichtig, hier geht es um Existenzen, und Sensibilität macht Aspekte nicht weniger wichtig, es unterstreicht sie.

Noch immer werden trans* Personen mit gedämpfter Stimme und unangebrachten Detailwünschen nach der Transition gefragt, als sei diese mit trans* sein gleichzusetzen und als sei trans* nur eine Zwischenstufe zurück in die Normalität hinein in eine Bürgerlichkeit. So ähnlich, als habe man in den 1980ern einen Vokuhila gehabt.

Und wenn das Bewusstsein über die Tragweite als Kriterium im Entwurf bereits sieben Mal erwähnt wird, frage ich mich langsam ernsthaft nach der Ernsthaftigkeit und dem Verständnis der Tragweite, wenn nach 114 Jahren das erste Mal ernsthaft Aussicht auf Selbstbestimmung in Deutschland besteht.

Literaturverzeichnis

Antidiskriminierungsstelle des Bundes https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/dritte-option/dritte-option-node.html (letzter Aufruf 15.05.23)

Bundesverband trans* zum ICD 11 https://www.bundesverband-trans.de/bvt-begruesst-icd-11-der-who-verbesserung-der-transgendergesundheitsversorgung-in-aussicht/ (letzter Aufruf 15.05.23)

Bundestag Abstimmungsergebnisse über die Abschaffung des TSG vom 19.05.2021 https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimmung/?id=738 (letzter Aufruf 15.05.23)

Dokumentation „Ab heute – Der lange Weg zum eigenen Namen“ 2021 https://www.abheute-doku.com (letzter Aufruf 15.05.23)

ICD-10 https://www.icd-code.de/suche/icd/code/F64.-.html?sp=STranssexualismus (letzter Aufruf 15.05.23)

Jstor Daily Artikel zum Transvestitenschein https://daily.jstor.org/gender-identity-in-weimar-germany/ (letzter Aufruf 15.05.23)

Queer.de Artikel Entschädigungsfonds https://www.queer.de/detail.php?article_id=43769 (letzter Aufruf 15.05.23)

Referentenentwurf Selbstbestimmungsgesetz des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Bundesministeriums der Justiz – Entwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften https://www.bmfsfj.de/resource/blob/224548/ee3826a31ca706aed23053b633ff5c60/entwurf-selbstbestimmungsgesetz-data.pdf (letzter Aufruf 15.05.23)

Schwulenberatung Berlin, Studie – „Wo werde ich eigentlich nicht diskriminiert?“ – „Diskriminierung von LSBTIQ* im Gesundheitssystem in Berlin“

Sven Lehmann Interview zum Entwurf des SBGG https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/hausrechtsparagraf-lost-angste-aus-queerbeauftragter-will-anderungen-an-selbstbestimmungsgesetz-9790259.html (letzter Aufruf 15.05.23)

TSG – Gesetze im Internet Gesetzestext Einsicht https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html (letzter Aufruf 15.05.23)

University of Texas at Austin, Studie über psychische Gesundheit von jungen trans* Personen https://news.utexas.edu/2018/03/30/name-use-matters-for-transgender-youths-mental-health/

Private Quellen: Eigene Erfahrung, Erfahrung anderer trans* Personen, allgemeines Wissen, das Teil von queeren und trans* Diskursen ist und nicht auf eine spezielle Quelle zurückzuführen sind

Weiterführende Links zu Stellungsnahmen (letzter Aufruf 05.06.23)

dgti* (Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V) https://dgti.org/2023/05/10/selbstbestimmungsgesetz/

transinterqueer e.V.: https://www.instagram.com/p/Cs3i5fqMitW/?igshid=MzRlODBiNWFlZA%3D%3D (Stellungnahme auf Website folgt noch https://www.transinterqueer.org)

Deutscher Juristinnenbund: https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st23-16

Frauen gegen Gewalt e.V.: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/aktuelles/nachrichten/nachricht/stellungnahme-zum-referentenentwurf-des-bmfsfj-und-des-bmjv-zum-selbstbestimmungsgesetz.html

Stellungnahme von Sven Lehmann (Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt) : https://www.sven-lehmann.eu/wp-content/uploads/2023/05/Stellungnahme-des-Queer-Beauftragten-zum-Entwurf-Selbstbestimmungsgestz-1.pdf


[1] TSG https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html

[2] Stellungnahmen von Interessenverbänden liegen seit dem 31.05 vor, diese Hausarbeit entstand davor, weiterführende Links zu Stellungnahmen finden sich im Literaturverzeichnis. Insgesamt begrüßen die meisten Interessenverbände ein Selbstbestimmungsgesetz, kritisieren jedoch die Umsetzung. Die meistgenannten Punkte sind dabei die unzureichenden Möglichkeiten der Selbstbestimmung für Minderjährige (teilweise Forderung nach selbstständiger Änderung ab 14 Jahren), das nicht ausreichend schützende Offenbarungsverbot (Ehepartner*innen werden hier zum Beispiel ausgenommen), die Diskriminierung von trans* Eltern durch falsche Einträge im Geburtenregister, die Diskriminierung von trans* Frauen und trans* femininen Personen durch die unnötige Nennung des AGG und die fragwürdige Regelung im Verteidigungsfall, sowie fehlender gesetzlicher Schutz, außerdem die Forderung nach Stärkung und Förderungen von peer-to-peer Beratung und die Einrichtung von Entschädigungsfonds.

[3] Referententwurf Selbstbestimmungsgesetz unter Begründung A. Allgemeiner Teil, Seite 17

[4] ICD-10 Transidentität klassifiziert als Persönlichkeitsstörung https://www.icd-code.de/suche/icd/code/F64.-.html?sp=STranssexualismus

[5] Teils private Quellen; basierend auf Erfahrungen von verschiedenen trans* Personen, außerdem interessant  ZDF Magazin Royale vom 2. Dezember 2022 https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-2-dezember-2022-100.html

[6] Dokumentation „Ab heute – Der lange Weg zum eigenen Namen“ 2021 https://www.abheute-doku.com, private Quellen

[7] TSG Erster Abschnitt Vornamenänderung §4 (4) Gerichtliches Verfahren https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html

[8] TSG Erster Abschnitt Vornamensänderung §1 (2) Voraussetzungen

[9] Referententwurf Selbstbestimmungsgesetz unter §5 Sperrfrist; Vornamen bei Rückänderung Seite 41

[10] TSG Erster Abschnitt Vornamensänderung §1 (1) Voraussetzungen

[11]Antidiskriminierungsstelle des Bundes; Dritte Option und AGG    https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/dritte-option/dritte-option-node.html

[12] Referentenentwurf SBGG zum Beispiel auf den Seiten 20, 25, 34  

[13] Unter anderem Referentenentwurf SBGG Seite 1 A. Problem und Ziel

[14] TSG §16 (2) Übergangsvorschrift

[15] TSG §8 (4) Voraussetzungen

[16] https://www.queer.de/detail.php?article_id=43769

[17] „Wo werde ich eigentlich nicht diskriminiert?“ „Diskriminierung von LSBTIQ* im Gesundheitssystem in Berlin“ Studie der Schwulenberatung in Berlin, Seiten 8, 9

[18] Studie der University of Texas at Austin https://news.utexas.edu/2018/03/30/name-use-matters-for-transgender-youths-mental-health/

[19] Referentenentwurf SBGG §13 Offenbarungsverbot und §14 Bußgeldvorschriften Seite 9 und Stellungnahme von Sven Lehmann  https://www.sven-lehmann.eu/wp-content/uploads/2023/05/Stellungnahme-des-Queer-Beauftragten-zum-Entwurf-Selbstbestimmungsgestz-1.pdf

[20] Jstor Daily Artikel https://daily.jstor.org/gender-identity-in-weimar-germany/

[21] Artikel Bundesverband trans* zum ICD 11 https://www.bundesverband-trans.de/bvt-begruesst-icd-11-der-who-verbesserung-der-transgendergesundheitsversorgung-in-aussicht/

[22] Abstimmungsergebnisse über die Abschaffung des TSG vom 19.05.2021 https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimmung/?id=738


Quelle: John Krakow, Von der Pathologisierung zur Selbstbestimmung – Betrachtung des TSG im Hinblick auf das Selbstbestimmungsgesetz, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 12.06.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=375

Neoliberalismus und Postfeminismus

Die Unterminierung des kritischen Ansatzes

Emilia Maise (WS 2022/23)

1. Neoliberalismus und Postfeminismus

Im Zuge einer sich immer wandelnden Welt ist es selbstverständlich, dass sich auch soziale Bewegungen, wie der Feminismus, ändern und von neuen Gedanken beeinflusst werden. Seit einigen Jahrzehnten verbreiten sich die Ideen des neoliberalen Marktansatzes auch auf die Gesellschaft und soziale Ordnung und sorgen für einen starken Wandel in den Werten, die uns begleiten. Das konstante Streben nach Leistung, Individualisierung und Selbstoptimierung kommt insbesondere im Konstrukt der Meritokratie zum Ausdruck – also der Auffassung, dass jedes Individuum seinen Status in der Gesellschaft durch Leistung beeinflussen und verändern kann (El-Mafaalani).

Ein entsprechender Wandel ist auch im feministischen Kontext zu beobachten, in dem eine neue Sensibilität zu erkennen ist: der Postfeminismus, der oftmals mit dem „Vorbeisein“ des Feminismus verbunden wird. Ein großer Teil davon wird mit der Entwicklung eines sogenannten Marktfeminismus verbunden. In diesem werden „individualisierte, erfolgszentrierte Werte [mit] ehemals feministischen Anliegen“ (Göweil, S.22) vermischt. Feminismus wird zur Ware und Humanressource umgedeutet und die Gleichstellung der Geschlechter wird vor allem deshalb gefördert, weil sie wirtschaftlich profitabel sei (Bereswill, S. 53). Weil der Impuls zur Gleichstellung aller Geschlechter in diesem Ansatz fast ausschließlich aus ökonomischem Gewinnstreben entspringt, ist der Marktfeminismus „konsumdominiert, erwerbszentriert, erfolgszentriert [und] individualisiert“ (Bruder-Bezzel, S. 58). In der Verbreitung des neoliberal geprägten Postfeminismus und dem daran geknüpften Marktfeminismus verlieren vermeintlich feministische Bestrebungen zunehmend gesellschaftliche Strukturen und Hintergründe aus den Augen und somit auch tendenziell ihren sozialkritischen Ansatz. Das folgende Essay wird die Problematik dieser Entwicklung anhand von einigen zentralen Aspekten herausarbeiten.

2. Individualisierung, Selbstoptimierung und Meritokratie

Im Zuge des Neoliberalismus wird individuellen Leistungen ein höherer Stellenwert zugewiesen. Die bestehende Gesellschaftsordnung wird als Meritokratie gedeutet – also einer Ordnung, in der Erfolg und sozialer Status allein von individuellen Leistungen abhängen und grundsätzlich alle Menschen gleiche Chancen zum sozialen Aufstieg haben. Der „American Dream“ verkörpert genau dieses Ideal: alle können etwas erreichen und reich werden, wenn sie sich genug Mühe geben.

Allerdings wahrt unsere Gesellschaft bei näherer Betrachtung nur den Schein einer solchen Meritokratie, denn tatsächlich sind Erfolge im herkömmlichen Sinn (z.B. ein erfolgreicher Schulabschluss) stark vom sozialen Hintergrund einer Person abhängig (El-Mafaalani). Trotzdem halten viele Menschen – insbesondere einflussreiche, meinungsbildende Politiker*innen und Prominente – an der Idee fest, dass unsere Gesellschaft eine meritokratische ist, was den Einfluss struktureller Ungleichheiten und Hürden herunterspielt, beziehungsweise als durch individuelle Anstrengung überwindbar darstellt (Bruder-Bezzel, S. 58). Aussagen wie die von Kim Kardashian („I have the best advice for women and business. Get your f—ing ass up and work. It seems like nobody wants to work these days”) oder Ratschläge, wie der von Sheryl Sandberg (Chief Operating Officer von Meta), man müsse sich als Frau nur ein wenig “reinhängen“, fördern diese Perspektive, indem sie den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge vernebeln und politische/strukturelle Ursachen gesellschaftlicher Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bagatellisieren (Respers France; Bruder-Bezzel, S. 58). Auf diese Weise wird die systematische Benachteiligung vieler Bevölkerungsgruppen und Intersektionalität von gesellschaftlicher Diskriminierung ignoriert, und die Verantwortung für den jeweiligen sozialen und ökonomischen Status wird allein dem Individuum (also hier der Frau*) zugeschrieben.

Es liegt also fast ausschließlich in der Verantwortung der individuellen Frau*, erfolgreich, gebildet, erfahren und vieles mehr zu sein. Dieses Bild ist extrem problematisch, nicht nur weil es auf Frauen* einen großen Druck aufbaut, sondern auch weil so der Fokus vom gesamtgesellschaftlichen Kontext auf das Individuum verschoben wird. Es wird vom Ursprung des Problems abgelenkt und die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels weg von einer patriarchalen Gesellschaftsform abgestritten, beziehungsweise sogar dadurch bekämpft, dass strukturelle Benachteiligungen negiert, beziehungsweise als einfach überwindbar dargestellt werden. Es entsteht also der Eindruck einer Gesellschaft, in der ungleiche gesellschaftliche Teilhabe gewissermaßen eine Entscheidung der Individuen ist, also kann das Problem nicht die Gesellschaft selbst sein. Diverse Machtstrukturen müssen unter dieser Annahme nicht bekämpft werden, weil sie nicht existieren beziehungsweise von geringer Relevanz sind.

Die vom neoliberalen Gesellschaftsmodell versprochene, vermeintliche Selbstbestimmtheit überträgt sich außerdem nicht nur auf die Erwerbstätigkeit und einige kulturelle Errungenschaften, sondern auch auf das Frau*sein an sich und das sexuelle Auftreten. Es wird nun von Frauen* erwartet, stets selbstbestimmt und selbstbewusst aufzutreten und einen immensen Erfahrungsschatz zu haben (Göweil, S. 23). Diese Frau* wird als emanzipiert angesehen und darf in der Regel gesellschaftliche Teilhabe genießen.

Weil aber diese Anforderungen sehr vielfältig und hoch sind, ist auf dem Markt unzählig viel Ratgeber- oder Coaching-Literatur zu finden, die Frauen* dabei helfen soll, dieses Ideal der Weiblichkeit* und Emanzipation zu erreichen. Feminismus orientiert sich an Konsum und Erfolg und das Bild einer emanzipierten und feministischen Frau* wird mit dem Erreichen von absoluter Selbstbestimmtheit und finanziellem Erfolg verknüpft. Weil dies mit vielen hohen Anforderungen verbunden ist, entsteht die Wahrnehmung, dass Konsum in Form von Ratgebern, Coachings oder Ähnlichem zur „Emanzipation“ unerlässlich ist. Die neoliberale, politische Botschaft lautet: Emanzipation und Freiheit sind individuell zu erreichen. Der prägende, gesellschaftliche Kontext und bestehende Chancenungleichheiten werden ausgeblendet.

3. Der Marktfeminismus

Die Entwicklung des Marktfeminismus bedeutet für feministische Bewegungen tendenziell einen Verlust des gesellschaftskritischen Ansatzes, weil das feministische Narrativ sich zu einem erwerbszentrierten wandelt (Göweil, S.22). Dieser Verlust ist vor allem deshalb problematisch, weil so der gesellschaftliche Ursprung von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nicht mehr analysiert wird. Viel mehr stehen Erfolge von Personen, vor allem Frauen*, im Fokus: wer ist in Führungspositionen? Wessen Karriere verläuft auf welche Weise? Im Kontext des Kapitalismus erfolgreiche, gebildete junge Frauen* werden in dieser Auffassung dann als beispielhaft emanzipiert dargestellt (was durchaus der Fall sein kann), doch die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründe werden nicht aufgegriffen und analysiert.

Es wird zum Beispiel nicht hinterfragt, warum Emanzipation mit Erwerbstätigkeit zusammenhängt und ob Entwicklungen, die Männer* und Frauen* gleichstellen tatsächlich gut/hilfreich sind. Bis 1994 gab es beispielsweise in Deutschland ein Nachtarbeitsverbot für weibliche* Arbeiterinnen. Als dieses aufgehoben wurde, geschah dies aufgrund des Gleichberechtigungsartikels des Grundgesetzes, der gesellschaftliche Nachteile der Frau* abbauen soll (Grundgesetz) und wurde als Schritt in Richtung Gleichberechtigung aufgefasst. Das ist per se nicht falsch: Frauen* durften genau wie Männer* nachts arbeiten und zusätzliches Geld verdienen. Allerdings korreliert Nachtarbeit mit vielen Belastungen (Struck et al.), was die Frage aufwirft, wer tatsächlich davon profitiert, dass auch Frauen* nachts erwerbstätig sind. Sind es die Frauen*, die nun mit höherer Wahrscheinlichkeit unter Schlafstörungen oder Magen-Darm-Beschwerden leiden (Struck et al.)? Von dieser vermeintlich emanzipatorischen Veränderung profitieren in der ersten Linie wohl die Arbeitgeber*innen, die durch die Aufhebung des Gesetzes rund um die Uhr eine größere Belegschaft haben und so mehr Profit erzielen können.

Die Gleichstellung ist in diesem Fall also stark wirtschaftlich motiviert und die Gesellschaftsstruktur, die Profit von Arbeitgeber*innen auf Kosten der Gesundheit der Arbeitnehmer*innen ermöglicht, wird mit dem Ansatz des Marktfeminismus nicht hinterfragt. Die Verwobenheit des Patriarchats mit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem wird als Grundursache für gesellschaftliche Ungleichheiten nicht analysiert.

Diese Verwobenheit wird in zahllosen Fällen der sexuellen Belästigung von Frauen* durch männliche* Vorgesetzte klar sichtbar. In der patriarchalen Gesellschaftsstruktur werden Frauen* abgewertet und es wird erwartet, dass sie der Erfüllung männlicher* Bedürfnisse dienen – unter anderem auch sexuell. Im Kapitalismus ist die Macht auch binär aufgeteilt: zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen. In Situationen des sexuellen Missbrauchs oder der sexuellen Belästigung, wie im Fall von Harvey Weinstein, der von vielen Schauspieler*innen des sexuellen Missbrauchs angeklagt wurde, treffen diese Machtstrukturen aufeinander und arbeiten zusammen. Das Zusammenspiel dieser Dynamiken ermöglichte es Weinstein Frauen* zu zwingen, nicht nur als Arbeitnehmerinnen zu dienen, sondern auch sexuell, weil er als berühmter Hollywood-Produzent die Macht hat, Karrieren zu fördern oder zu zerstören. Jeffrey Epstein hat diese Ausbeutung noch weitergetrieben: unter dem Versprechen eines Arbeitsplatzes, brachte er junge Mädchen* und Frauen* in prekären finanziellen Situationen in seine beeindruckende Villa, um sie dann auf seine „rape island“ zu bringen. Hier wurden dann verschiedenste machtvolle, reiche Männer* eingeladen, um die Frauen* und Mädchen* zu vergewaltigen. Auch hier wurde also die finanzielle Macht ausgenutzt, um die patriarchale zu stützen (Fraad).

4. Annäherung an Männlichkeit* als Gleichheit

Die Ansicht, dass eine verhaltensmäßige Annäherung von Frauen* an Männer* mit Gleichberechtigung und Emanzipation gleichgesetzt werden kann, ist nicht nur auf Erwerbstätigkeit und Konsum beschränkt. Auch das soziale Verhalten wird zunehmend so bewertet. Frauen*, die traditionell „männliche“ Eigenschaften verkörpern, scheinen Gleichberechtigung erlangt zu haben und gelten als emanzipiert.

Die Soziologin Angela McRobbie bezeichnet dieses Phänomen als die Entstehung der „phallischen Frau[*]“ (McRobbie, S. 83), wobei der Phallus symbolisch fungiert, als begehrenswert gilt und mit diversen Eigenschaften (Autorität, Selbstbestimmung, Aggression, etc.) verbunden wird. Die symbolische Funktion des Phallus beinhaltet außerdem eine Art Orientierungspunkt; ein begehrenswertes Ziel des Genießens und der Selbstbestimmtheit.  Diese Funktion war früher Männern* vorbehalten, doch mit einem Rückgang der symbolischen Ordnung können nun auchFrauen* diese symbolische Funktion übernehmen (Göweil, S.26). Es ist Frauen* jetzt also nicht nur erlaubt die phallische Funktion zu übernehmen, sondern die Übernahme dieser mit Männlichkeit* verknüpften Charakterzügen wird zunehmend mit Emanzipation gleichgesetzt.

Dieses Phänomen ist auch in der Populärkultur zu erkennen, beispielsweise in dem 2015 erschienenen Film „Trainwreck“. Hier stellt die Schauspielerin Amy Schumer eine junge Frau* namens Amy dar, die einen sehr hedonistischen Lebensstil pflegt: sie geht oft in Clubs, trinkt viel und schläft mit vielen verschiedenen Männern (wobei sie ihre sexuellen Vorlieben klar ausdrückt). Sie ist außerdem recht schroff, setzt sich wenig mit ihrer Gefühlswelt auseinander und verurteilt ihre kleine Schwester dafür, verheiratet und Mutter zu sein. Es lässt sich also sagen, dass sie einige mit Männern* assoziierte Eigenschaften aufweist und sie wirkt auch auf Zuschauer*innen vollkommen emanzipiert. In der Mitte des Films verliebt sie sich, ist in einer festen Beziehung mit einem Mann* namens Aaron, die dann (eben wegen dieser Eigenschaften) endet. Daraufhin verliert sie, aufgrund einiger schlechter Entscheidungen, ihren Job und ist am Boden, weshalb sie sich mit ihrer Schwester trifft, um nach Rat zu fragen. Nach diesem Gespräch entscheidet sich Amy dazu, sich bei Aaron für ihr Verhalten zu entschuldigen und verspricht, dass sie sich ändern wird, damit ihre Beziehung funktionieren kann. Auf Zuschauer*innen wirkt sie sofort nicht mehr emanzipiert, weil unklar ist, ob diese Veränderung wirklich ihre Wünsche für sich selbst widerspiegelt oder nur stattfindet, um einem Mann* zu gefallen. Außerdem ist das Narrativ, dass männliche* Eigenschaften Emanzipation bedeuten, im ganzen Film durch die Darstellung von Amys Schwester und ihren Freundinnen* erkennbar: Sie und die anderen Frauen* haben Kinder, sind verheiratet, freundlich und liebevoll und es wird (obwohl wenig über sie bekannt ist) der Eindruck vermittelt, dass sie komplett von ihren männlichen* Partnern abhängig sind.

Wie bei diesem Beispiel schon angedeutet wird, wird Frauen* auch abverlangt, für Männer* als begehrenswert zu gelten und in deren Schönheitsideal zu passen – sonst werden sie in der Gesellschaft weniger akzeptiert und erhalten weniger Teilhabe. Eine totale Abwendung von vermeintlich weiblichen* Eigenschaften ist also auch nicht „erlaubt“. Das wird zum Beispiel auch im Film „The Proposal“ (2009) deutlich. Margaret Tate, von Sandra Bullock dargestellt, ist hier eine erfolgreiche und ambitionierte Verlagslektorin, mit viel Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen. Als Chefin zeigt sie ein Verhalten, das, wenn es von einem Mann* käme, niemanden überraschen würde, beziehungsweise nicht als negativ gewertet werden würde. Weil sie sich jedoch genau verhält, wie ein Mann* es in ihrer Situation tun würde, wird sie von allen als „Tyrannin“ angesehen.

Zwar wird oft auf diese Doppelmoral (also, dass manche Eigenschaften bei Männern* einfach akzeptiert, aber bei Frauen* kritisiert werden) hingewiesen, doch dass die Übernahme „männlicher*“ Eigenschaften mit Emanzipation gleichgesetzt wird, wird nicht hinterfragt. Durch die unkritische Hinnahme der Idee, dass eine Frau*, die sich „männlich*“ verhält, emanzipiert sei, wird die männliche* Hegemonie nicht hinterfragt (McRobbie, S. 83). Mit diesem Ansatz wäre der Weg zur Emanzipation nur eine Imitation des Mannes*, ohne dass diese Eigenschaften oder prävalenten Geschlechterverhältnisse weiter hinterfragt und kritisiert werden, was das vorherrschende Geschlechterregime nur stärkt. Der grundlegende gesellschaftliche Umbruch, der notwendig ist, um das patriarchale System abzuschaffen, wird auf diese Weise verhindert und das Ziel der Gleichberechtigung rückt weiter in die Ferne.

5. Fazit

Die neoliberale Sichtweise, dass ökonomischer und gesellschaftlicher Status des Individuums vor allem von dessen persönlichem Einsatz und Leistung abhängig sind, hat sich auch im Kontext des Feminismus verbreitet. Der sogenannte „Marktfeminismus“ im Postfeminismus lässt vermeintlich feministische Bestrebungen konsum- und erwerbsdominiert werden und spielt somit der existierenden Gesellschaftsstruktur zu. Von Frauen* wird gefordert, sich bestehende Strukturen und Verhaltensmuster zu eigen zu machen, um erfolgreich und damit „emanzipiert“ zu sein. Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass diese Sichtweise sowohl in Populärkultur als auch im klassischen Gewerbe propagiert wird.

Die Verbreitung von explizit an Frauen* gerichteter Ratgeber-Literatur zur Förderung der Karriere entspricht dem Zeitgeist der Selbstoptimierung und ist abermals ein Beispiel dafür, dass der Marktfeminismus in erster Linie konsumorientiert ist. Sie zeigt auch, dass eine Frau*, die als emanzipiert gelten will, sich im Markt durchsetzen muss und die Karriereleiter aufsteigen muss. Außerdem wird Gleichstellung in vielerlei Hinsicht, einerseits mit Blick auf Erwerbstätigkeit und andererseits mit Blick auf Verhaltensweisen, mit der Annäherung an „Männlichkeit*“ gleichgesetzt. So werden Gesellschaftsstrukturen, die Mann*sein überhaupt als Norm festgelegt haben, nicht mehr infrage gestellt und der gesellschaftskritische Ansatz geht verloren.

Gleichzeitig zeigen Fälle wie der Harvey-Weinstein-Skandal, dass grundlegende gesellschaftliche Probleme, die vom Zusammenspiel des Patriarchats und der kapitalistischen Ausbeutung zeugen, nach wie vor ungelöst bleiben, oder sich im Zuge zunehmender sozialer Ungleichheit in unserer Gesellschaft sogar vertieft haben. Frauen* sind nach wie vor Opfer sexueller und kapitalistischer Ausbeutung, insbesondere in niedrigeren, prekären sozialen Schichten. 

Der Marktfeminismus kann als Instrument gelten, um bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse des Patriarchats und des Kapitalismus zu verfestigen. Er dient der Schwächung emanzipatorischer Kräfte und liegt im Interesse der derzeit herrschenden Eliten.

Literaturverzeichnis

BERESWILL, M. (2004): » Gender « als neue Humanressource? Gender Mainstreaming und Geschlechterdemokratie zwischen Ökonomisierung und Gesellschaftskritik. In: MEUSNER, M., NEUSÜSS, C. (Hrsg.) (2004): Gender Mainstreaming. Konzepte – Handlungsfelder – Instrumente. Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd 418. Bonn. S. 52 – 70

BRUDER-BEZZEL, A. (2020): Von der Frauenbewegung zum Postfeminismus. Zeitschrift für Individualpsychologie 45(1) S. 47–63.

DEUTSCHLANDFUNK KULTUR (2013): Die Ideologie des Neoliberalismus. https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-ideologie-des-neoliberalismus-100.html (letzter Zugriff:14.03.2023)

EL-MAFAALANI, A. (2015): Bildungsaufstieg – (K)eine Frage von Leistung allein? https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/205371/bildungsaufstieg-k-eine-frage-von-leistung-allein/ (letzter Zugriff: 14.03.2023)

FRAAD, H. (2021): Capitalism & Patriarchy – Cuomo, Cosby, Weinstein & Epstein. In Capitalism Hits Home. https://open.spotify.com/episode/1hkkVAeyoMKeUsIjXtIKId?si=ae9589c373fe4959 (letzter Zugriff: 15.03.2023).

GILL, R. (2018): Die Widersprüche verstehen: (Anti-)Feminismus, Postfeminismus, Neoliberalismus. Aus Politik und Zeitgeschichte 68(1) S. 12–19.

GÖWEIL, S. (2017): Grenzen und Chancen der modernisierten Geschlechterordnung: ein geschlechtskritischer Blick auf Gesellschaft und Schule. Psychosozial-Verlag. Gießen.

MCROBBIE, A. (2009): The aftermath of feminism: gender, culture and social change. SAGE. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC.

MÜLLER, U. G. T. (2013): Dem Feminismus eine politische Heimat – der Linken die Hälfte der Welt: Die politische Verortung des Feminismus. Springer VS. Wiesbaden.

RESPERS FRANCE, L. (2022): Kim Kardashian’s business advice for women sparks controversy: ‘It seems nobody wants to work these days’. https://edition.cnn.com/2022/03/10/entertainment/kim-kardashian-work-backlash/index.html (letzter Zugriff: 14.03.2023)

STRUCK, O., DÜTSCH, M., LIEBIG, V., SPRINGER, A. (2014): Arbeit zur falschen Zeit am falschen Platz? Eine Matching-Analyse zu gesundheitlichen Beanspruchungen bei Schicht- und Nachtarbeit. Journal for Labour Market Research 47(3) S. 245–272.


Quelle: Emilia Meise, Neoliberalismus und Postfeminismus: Die Unterminierung des kritischen Ansatzes, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 12.06.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=372