Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung: Herausforderungen und Defizite

Atanasova Polina (S0Se 2023)

Einleitung

Die Gesundheitsversorgung ist ein grundlegendes Menschenrecht, das jedem Individuum unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft gleichermaßen zugänglich sein sollte. Dennoch offenbart die Realität, dass die geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung mit einer Vielzahl von Herausforderungen und Defiziten konfrontiert ist.          
Historisch gesehen hat die Medizin den männlichen Körper als universelles menschliches Modell verwendet.[1] Dabei wurden anatomische Abbildungen, Symptom-Beschreibungen, diagnostische Verfahren und Therapien ohne Berücksichtigung anderer Geschlechter entwickelt. Dies führte zu einer unangemessenen medizinischen Versorgung für Frauen*[2] und Minderheitsgruppen[3], die häufig vernachlässigt oder stigmatisiert wurden.         
Obwohl es Fortschritte bei der Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Reduzierung der Stigmatisierung gibt, sind Frauen* und LGBTQ*-Personen nach wie vor einem besonderen Maß an Unsichtbarkeit, Diskriminierung und Ungerechtigkeit ausgesetzt.

Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, die Herausforderungen im Gesundheitswesen zu schildern, denen Frauen* und LGBTQ*-Personen gegenüberstehen. Dabei liegt der Fokus auf den verschiedenen Faktoren und Erfahrungen von Frauen* und LSBTQ*-Menschen in Deutschland im Zusammenhang mit ihrer sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt.

1. Die medizinische Pathologisierung von Frauen*

Traditionelle Annahmen über Männlichkeit und Weiblichkeit haben im gesellschaftlichen Bewusstsein gewisse Asymmetrien in den Vorstellungen über beide Geschlechter gefestigt. Diese Geschlechterasymmetrien äußern sich hauptsächlich in stereotypen Geschlechterbildern, die sowohl negative Vorstellungen über das andere Geschlecht als auch positive Selbstbilder auf der Grundlage bestimmter Merkmale einschließen können. Solche stereotypen Vorstellungen über das Verhalten beider Geschlechter sind das Ergebnis historisch gewachsener sozialer Rollenverteilungen.[4] Historisch betrachtet wurde der männliche Körper als Norm angesehen, während der weibliche Körper als abweichend und pathologisch erklärt wurde.[5]    
Wie von Karin Nolte betont wird, bleibt diese Wahrnehmung auch in der Gegenwart hartnäckig bestehen:

„Bis heute prägen Geschlechterkonzeptionen der Medizin des 19. Jahrhunderts Wahrnehmungen von Weiblichkeit und Krankheit in unserer Gesellschaft, die nach wie vor auf der Vorstellung einer dichotomen Geschlechterordnung basieren.“

[6]

Die Pathologisierung von Frauen* in der Medizin hatte verschiedene Konsequenzen: Fehl- oder Überversorgung im Bereich der Medikalisierung durch Psychopharmaka; Vernachlässigung spezifischer Gesundheitsbedürfnisse; Stigmatisierung, sowie Unterrepräsentation von Frauen* in klinischen Studien.[7] In der Tat, obwohl geschlechtsspezifische Unterschiede in Symptomatik und Krankheitsverlauf nachgewiesen sind, werden klinische Studien häufig nur an männlichen* Probanden durchgeführt und Diagnosekriterien, Behandlungsmöglichkeiten sowie Medikamentendosierungen sind hauptsächlich auf Männer* ausgerichtet.[8] Weiterhin zeigen internationale Studien[9], dass Schmerzen bei Frauen* häufig unterschätzt oder nicht ernst genommen werden, insbesondere wenn die Schmerzen nicht mit anderen Symptomen einhergehen.[10]   
Nicht nur in der Forschung, sondern auch in der medizinischen Praxis werden nicht alle Körper gleichwertig behandelt. Besonders betroffen von dieser Ungleichbehandlung sind Frauen*, die als nicht weiß gelesen werden: bei ihnen überlagern sich sexistische und rassistische Vorurteile, was oft zu einer besonders schlechten medizinischen Versorgung führt.[11]  
Weitere Diskriminierungsrisiken aufgrund der sexuellen Identität betreffen vor allem nicht-heterosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Menschen. Dies kann auf mangelnde Sensibilität und Stereotypen seitens medizinischen Personals, Diskriminierung und Stigmatisierung sowie Zugangsbarrieren zu speziellen medizinischen Dienstleistungen zurückgeführt werden.[12]

All diese Aspekte werden genauer erläutert, und es wird auf die spezifischen Erfahrungen von Frauen* und LGBTQ*-Menschen in Deutschland eingegangen. Zuvor ist es jedoch wichtig, kurz zu definieren, was unter geschlechtsspezifischer Medizin zu verstehen ist.

2.     Geschlechtsspezifische Medizin

Die geschlechtsspezifische Medizin (auch als Gendermedizin bekannt) untersucht die Auswirkungen von biologischen und soziokulturellen Geschlechteraspekten auf Prävention, Entstehung, Diagnose, Therapie und Forschung von Krankheiten. Ihr Hauptziel besteht darin, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu optimieren.[13]
Dieses Teilgebiet der Humanmedizin entstand in den 1970er Jahren als Reaktion auf die internationale Frauengesundheitsbewegung. Anfangs lag der Schwerpunkt hauptsächlich auf den Gesundheitsproblemen von Frauen*, doch im Laufe der Zeit hat sich ein ausgewogenes Interesse an der Erforschung anderer Geschlechter etabliert.[14]       
Dank der geschlechtsspezifischen Medizin konnte ein stark ausgeprägter Geschlechterunterschied bezüglich des Gesundheitsgeschehens nachgewiesen werden, d. h., in der Morbidität (Krankheitshäufigkeit) und der Mortalität (Sterberate). In den Entstehungsprozessen von Krankheiten sowie den Krankheitsverläufen und im Gesundheitsverhalten scheinen Männer* und Frauen* sich signifikant zu unterscheiden.
Es muss jedoch beachtet werden, dass die Medizin in ihrer Definition von Gender[15] immer noch ein dichotomes, normiertes zweigeschlechtliches Verständnis nutzt: das Forschungsfeld konzentriert sich vorrangig auf die Binarität der Geschlechter Mann* und Frau*. Studien zu trans* und queeren Personen sind in diesem Bereich selten anzutreffen.[16]              

Es lässt sich also konstatieren, dass die geschlechtsspezifische Medizin eine bedeutsame und vielversprechende Disziplin darstellt, welche das Potenzial besitzt, die Gesundheitsversorgung erheblich zu optimieren. Indem geschlechtsspezifische Unterschiede in Betracht gezogen werden, können genauere Diagnosen und individualisierte Behandlungen ermöglicht werden, was zu verbesserten Ergebnissen für die Patienten führt. Des Weiteren trägt die geschlechtsspezifische Medizin dazu bei, gezieltere Präventionsstrategien zu fördern.
Dennoch ist es auch unbestreitbar, dass der geschlechtsspezifischen Medizin gewisse Herausforderungen gegenüberstehen. Eine nähere Erläuterung dieser Herausforderungen folgt im anschließenden Abschnitt.

3. Probleme und Barrieren der gesundheitlichen Versorgung  

In unserem alltäglichen Wissen wird die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen sowie die von Geburt an festgelegte Geschlechtszugehörigkeit (und größtenteils die damit verbundene Heterosexualität) in der Regel als selbstverständlich und natürlich akzeptiert und praktiziert.[17] Dennoch handelt es sich bei der Geschlechtskategorie um ein sozial strukturelles und sozial konstruiertes Phänomen, das historisch und gesellschaftlich geformt ist und in sozialen und alltäglichen Interaktionen sowie Handlungen reproduziert wird.            
Geschlecht klassifiziert Individuen in zwei unterschiedliche Gruppen, basierend sowohl auf biologischen Zuordnungen als auch auf gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen.
Demzufolge liegt das Problem dieser Ausrichtung an zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Normen in der Gesundheitsversorgung hauptsächlich darin, dass es spezifische Benachteiligungen aufgrund der geschlechtlichen und sexuellen Identität verursacht.[18]        
Wie bereits zuvor kritisch angemerkt wurde, werden Frauen* in medizinischen Studien oft nicht angemessen berücksichtigt, während nicht-binäre Personen, die sich außerhalb des traditionellen Geschlechterspektrums identifizieren, mit unzureichender Anerkennung und Sensibilisierung seitens Gesundheitsdienstleistern konfrontiert sind. Dies führt zu geschlechtsbezogenen Datenlücken, erschwertem Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, Schwierigkeiten bei geschlechtsangleichenden Maßnahmen, psychischen Gesundheitsproblemen und sozialer Stigmatisierung.            
Diese Probleme verdeutlichen die Notwendigkeit einer geschlechtsbewussten und LGBTQ* inklusiven Herangehensweise in der Medizin, um eine gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung für Frauen* und LGBTQ*-Menschen sicherzustellen.

Im Folgenden werden wir uns in den kommenden beiden Abschnitten konkret mit Daten und Erfahrungen bezüglich der Gesundheitsversorgung von Frauen und LGBTQ*-Menschen in Deutschland auseinandersetzen.

3.1 Erfahrungen von Frauen*

Laut des RKI-Berichtes zur gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland[19] von 2020 sind Frauen* häufiger von psychischen Störungen – vor allem von Depression, Angststörungen und Essstörungen – betroffen als Männer*:

„Bei der Entstehung psychischer Störungen spielen biologische, psychische und soziale Faktoren eine Rolle und werden als Gründe für bestehende Geschlechterunterschiede diskutiert. Aber es scheint auch Unterschiede in der ärztlichen Diagnosestellung zu geben: so wird bei gleicher Symptomatik bei Frauen häufiger eine psychische, bei Männern eine körperliche Erkrankung diagnostiziert.“

[20]

Forschungsergebnisse[21] belegen, dass Frauen* im Vergleich zu Männern* seltener Schmerzmittel verschrieben bekommen, wenn sie unter Schmerzen leiden, und stattdessen häufiger an Psycholog*innen überwiesen werden.[22]       
Hier lässt sich argumentieren, dass es sich bei den festgestellten gesundheitsspezifischen Unterschieden um naturgegebene Phänomene handelt, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann. Dennoch ist es wichtig zu beachten, dass viele der gesundheitlichen Probleme von Frauen* nicht unmittelbar mit ihren spezifischen biologischen Eigenschaften in Verbindung stehen. Vielmehr sind sie das Ergebnis oder die Folge anhaltender Diskriminierung oder Benachteiligung.[23]        
Es kann festgestellt werden, dass die geschlechtsspezifische Medizin in der Realität nicht immer das gewünschte Maß an Inklusivität aufweist. Studien weisen darauf hin, dass ärztliches Fachpersonal männliche* Beschwerden ernster nehmen. Dagegen werden bei dem weiblichen Geschlecht anscheinend häufiger psychisch bedingte Leiden vermutet und die Behandlung dementsprechend ausgerichtet.[24] 
Deutliche Geschlechterunterschiede zeigen sich auch im Bereich der Gesundheitsversorgung, z.B. bei der Einnahme von Arzneimitteln. Sie betreffen zum einen die Verstoffwechselung und Wirkung von Arzneimitteln, einschließlich der Nebenwirkungen. Zum anderen gibt es Unterschiede in der Inanspruchnahme: Frauen* wenden häufiger Arzneimittel an als Männer*, sowohl mit ärztlicher Verordnung als auch in Selbstmedikation.[25]   
Besonders ausführlich belegt sind Behandlungsunterschiede nach Geschlecht bei Herzinfarkten. Nach Berücksichtigung der vorhandenen Symptome und des kardialen Risikos wurden weibliche Patientinnen, die mit Brustschmerzen die Notaufnahme aufsuchten, im Vergleich zu männlichen Patienten seltener auf Herzkrankheiten getestet.[26]   
Zusätzlich erfuhren Frauen* mit Brustschmerzen in der Notaufnahme längere Wartezeiten im Vergleich zu Männern*. Diese Beobachtung wurde in vier Berliner Krankenhäusern bestätigt.[27] Des Weiteren ergab eine Studie, dass kardiologische Untersuchungen bei Frauen* deutlich häufiger fehlerhaft durchgeführt wurden als bei Männern*, insbesondere wenn diese von männlichen Ärzten vorgenommen wurden.[28]            
Armut und soziale Ungleichheit haben ebenso  zentrale Auswirkungen auf die Gesundheit: Immer noch bekommen Frauen* im Durchschnitt 21 % weniger Gehalt als Männer*.
Diese geschlechtsspezifischen Ungleichheiten haben einen deutlichen Einfluss auf das Gesundheitswesen und stellen Barrieren dar, die zu Unterschieden in den Zugangschancen von Männern* und Frauen* führen.[29]

3.2 Erfahrungen von LGBTQ*-Menschen

Eine andere von Diskriminierung im Gesundheitswesen betroffene Gruppe sind LGBTQ*-Menschen. Trotz gesellschaftlicher Fortschritte in Richtung Akzeptanz und Gleichstellung bestehen weiterhin pathologisierende und stigmatisierende Perspektiven auf nicht-heterosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Lebensweisen. LGBTQ*-Menschen sind nach wie vor einem erhöhten Risiko von Vorurteilen, Stereotypen und ungleicher Behandlung durch medizinisches Fachpersonal ausgesetzt. Diese Problematik wirkt sich nicht nur auf individuelle Gesundheitsergebnisse aus, sondern beeinträchtigt auch das Vertrauen und die Bereitschaft der LGBTQ-Gemeinschaft, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen.[30]      
Insgesamt berichteten acht von zehn Jugendlichen und jungen Erwachsenen (82%), mindestens einmal Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität an mindestens einem Ort erlebt zu haben. Bei jungen trans* und gender*diversen Menschen sind es gut neun von zehn (96%).[31] 
Die Erkenntnisse der Europäischen Union Agentur für Grundrechte zeigen, dass jeder fünfte Trans*Mensch im Gesundheitswesen Diskriminierung erfährt. Der Bericht enthüllt, dass Trans*Menschen oft mit einem Mangel an Fachwissen über Transgender-Anliegen seitens der Gesundheitsdienstleister konfrontiert werden, unangemessene Fragen gestellt bekommen, ihr Geschlecht wiederholt fehlerhaft interpretiert wird, sie nicht ernst genommen oder beschimpft werden und ihnen sogar die Behandlung verweigert wird.[32]   
Ein weiteres Beispiel in Hinblick auf die Verweigerung von gleichen Zugängen findet sich im Gesundheitsbereich, da der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung für Menschen mit einer HIV-Erkrankung deutlich erschwert ist. Ein konkretes Problem besteht darin, dass HIV-positive Menschen Schwierigkeiten bei der Terminvereinbarung in Arztpraxen haben.[33]     
Zwei Studien[34] zur Gesundheit von lesbischen Frauen liefern ebenfalls klare Hinweise darauf, dass es im deutschen Gesundheitssystem Barrieren gibt.         
Insgesamt hatten über 20% aller Befragten Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitssystem aufgrund ihrer lesbischen oder bisexuellen Lebensweise; ebenso viele gaben an, ihre soziosexuelle Identität aus Furcht vor Stigmatisierung und Ausgrenzung im medizinischen Bereich nicht offen gelegt zu haben: „Ich habe es nie öffentlich gemacht, um nicht schlechter behandelt zu werden.“[35]  
Oftmals wurden Frauen* fälschlicherweise als heterosexuell gelesen, sogar nachdem sie ihr Coming-out hatten, bis sie aktiv diese Annahme korrigierten. Die betroffenen Frauen* kritisierten die Verwendung nicht-einschließender Fragen, die ein „Zwang zum Selbst-Outing“ darstellten. Solche Fragen bezogen sich zum Beispiel auf Verhütung oder den letzten Geschlechtsverkehr, wobei nur heterosexueller Geschlechtsverkehr angenommen wurde.
Wenn sich Frauen nicht offenbarten, führte dies vor allem in der gynäkologischen Versorgung zu Verwirrung auf Seiten der ÄrztInnen und sogar zu fehlerhaften Differentialdiagnosen und Therapieempfehlungen.[36]
Aus den Erkenntnissen über die gesundheitliche Situation von LGBTQ*-Menschen wird ersichtlich, dass sozialer Ausschluss und Diskriminierung den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung behindern. Um das Ziel des universellen Zugangs zu erreichen, ist es unerlässlich, angemessene Ressourcen bereitzustellen, um diese Barrieren zu überwinden.

Fazit

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gesundheitsbranche und die Forschungsgemeinschaft weiterhin in die geschlechtsspezifische Medizin investieren und sie als integralen Bestandteil der Gesundheitsversorgung etablieren. Durch eine verstärkte Sensibilisierung, Bildung und Zusammenarbeit kann sichergestellt werden, dass geschlechtsspezifische Unterschiede angemessen berücksichtigt werden und alle Patienten von den Vorteilen einer personalisierten und geschlechtsgerechten Medizin profitieren.

Letztendlich bietet die geschlechtsspezifische Medizin eine vielversprechende Perspektive für eine inklusivere, gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung. Es besteht daher ein dringender Bedarf an Maßnahmen, um diese Herausforderungen anzugehen und die Versorgung dieser spezifischen Minderheitsgruppen zu verbessern.


[1] Vgl. Schiebinger, Londa. 1993. Schöne Geister: Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 291; sowie vgl. Oertelt-Prigione, S., Hiltner, S. (2018). Medizin: Gendermedizin im Spannungsfeld zwischen Zukunft und Tradition. In: Kortendiek, B., Riegraf, B., Sabisch, K. (eds) Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft, vol 65. Springer VS, Wiesbaden.

[2] Durch die Verwendung des Symbols „*“ wird betont, dass die Kategorie Geschlecht konstruiert ist. Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck sind keine fest definierten Kategorien. Sie gehen über die binären Bezeichnungen weiblich und männlich* bzw. Frau* und Mann* hinaus und umfassen eine Vielfalt von Identitäten.

[3] Mit dem Begriff sind: ethnische Minderheiten, LGBTQ+-Personen und Menschen mit Behinderungen gemeint.

[4] Vgl. Khrystenko, O. (2016). Die Manifestierung von Geschlechterstereotypen in Metaphern der deutschen Jugendsprache. Linguistik Online75(1). S.84-85.

[5] Vgl. Nolte, K. (2020). „Medizin und Geschlecht“ – Medizinhistorische Perspektive. Schwerpunkt: Gender & Medizin. In: Dr. med. Mabuse 247 September/Oktober 2020, S. 39.

[6] Ebenda, S. 39.

[7] Vgl. Maschewsky-Schneider U. (2002). Gender Mainstreaming im Gesundheitswesen — die Herausforderung eines Zauberwortes. In: Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis 34(3). S. 493.

[8] Vgl. Bartig et al. (2021): Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung. S. 32.

[9] Verweis auf Chen et al. 2008; Hoffmann und Tarzian 2001; Pierik et al. 2017; Samulowitz et al. 2018

[10] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.

[11] Vgl. Süess, M. Medizin: Wer hat Angst vor der gesunden Frau? WOZ Die Wochenzeitung. https://www.woz.ch/2236/medizin/medizin-wer-hat-angst-vor-der-gesunden-frau/!GGDTEYEPQ0RZ

[12] Vgl. K. Oldemeier, Kerstin: Sexuelle und geschlechtliche Diversität aus salutogenetischer Perspektive: Erfahrungen von jungen LSBTQ*-Menschen in Deutschland, In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2-2017, S. 146.

[13] Vgl. Meinert, T. (2023): Geschlechtsspezifische Medizin. In: Deutscher Bundestag Nr. 09/23, S. 1.

[14] Vgl. Oertelt-Prigione, S., Hiltner, S. (2018).

[15] Mit dem Begriff Gender ist das gesellschaftlich zugewiesene und sozial konstruierte Geschlecht gemeint.

[16] Vgl. Keim-Klärner, S. (2019). Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im Kontext verschiedener Ungleichheitsdimensionen. In: Neue Ideen für mehr Gesundheit. Georg Thieme Verlag KG. S. 276.

[17] Verweis auf die Studie von Wetterer, 2004.

[18] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 56.; sowie Verweis auf die Studie von Pöge et al. 2020.

[19] Vgl. RKI “Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland | 2020“, aufrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/frauenbericht/11_Zusammenfassung_Fazit.pdf?__blob=publicationFile.

[20] Ebenda, S. 377.

[21] Verweis auf Naamany et al. 2019; Samulowitz et al. 2018.

[22] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.

[23] Vgl. Riggers, M.: Gender Mainstreaming in Niedersachsen. In: Gesundheitswesen. 12. Tagung des Netzwerkes Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen am. 7. Dezember 2000 in Hannover, SS.4-5.

[24] Vgl. A. Klärner et al. (2019), S. 283.

[25] Vgl. RKI “Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland | 2020“, S. 378.

[26] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.; sowie Verweis auf Chang et al. 2007.

[27] Verweis auf Jungehulsing et al. 2006.

[28] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.; sowie Verweis auf Chakkalakal et al. 2013.

[29] Vgl. A. Klärner et al. (2019), S. 283.

[30] Verweis auf Oldemeier (2017).

[31] Ebenda, S.56.

[32] Vgl. Karsay, D. (2017, October 10). Gesundheitliche Diskriminierung von Menschen außerhalb des binären Geschlechtersystems | Heinrich-Böll-Stiftung. Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.boell.de/de/2017/10/10/gesundheitliche-diskriminierung-von-menschen-ausserhalb-des-binaeren-geschlechtersystems.

[33] Vgl. Kalkum, Dorina; Otto, Magdalena (2017): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland anhand der sexuellen Identität: Ergebnisse einer quantitativen Betroffenenbefragung und qualitativer Interviews. Berlin: Antidiskriminierungsstelle des Bundes. S. 88.

[34] Verweis auf Dennert 2005; Wolf 2004.

[35] Vgl. Dennert, G.; Wolf, G. Gesundheit lesbischer und bisexueller Frauen. Zugangsbarrieren im Versorgungssystem als gesundheitspolitische Herausforderung. In: Femina Politica 1 | 2009, S.50.; Zitate aus dem offenen Frageteil der Fragebogenerhebung. Sie werden hier z.T. gekürzt und in neuer Rechtschreibung wiedergegeben; Dennert 2005, 75-82.

[36] Ebenda.


Quelle: Atanasova Polinda, Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung: Herausforderungen und Defizite, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.09.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=399

Inwiefern haben gesellschaftliche Konzepte von Männlichkeit einen Einfluss auf die Diagnostik von Depressionen bei Männern?

Nele Lorenz (SoSe 2023)

1. Einleitung

Das Erkranken an einer Depression stellt in der heutigen Gesellschaft ein zunehmendes Risiko dar. Insbesondere Frauen scheinen vermehrt betroffen. Sie erkranken häufiger an Depressionen und weisen ausgeprägtere depressive Symptome auf. Werden allerdings die geschlechterspezifischen Suizidraten miteinander verglichen, kann ein Paradoxon festgestellt werden. Obwohl Männer seltener mit einer Depression diagnostiziert werden, suizidieren sie sich fast doppelt so häufig wie Frauen (Wolfersdorf et al., 2006). Schlussfolgernd kann von einer Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern ausgegangen werden. Es stellt sich die Frage inwieweit sich traditionelle Bilder von Männlichkeit auf dieses Phänomen auswirken und eine Ursache darstellen.

Die vorliegende Ausarbeitung wird sich im Folgenden auf den derzeitigen Literaturbestand und die Forschung, in Hinblick auf den Zusammenhang von gesellschaftlichen Konzepten von Männlichkeit und einer depressiven Erkrankung bei Männern, beziehen. Die anfängliche Darstellung von traditionellen Männlichkeitsbildern, sowie die darauffolgende Beschreibung einer depressiven Erkrankung anhand des ICD-10 fungiert als Grundlage der Analyse. Der Hauptteil umfasst die Betrachtung eines männerspezifischen Depressionsverständnisses mit vier verschiedenen Schwerpunkten. Es werden die grundlegenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Prävalenz von Depressionen aufgeführt. Anschließend werden die Artefakttheorie, sowie der Begriff der Maskierten Depression und die Thematik des Hilfesuchverhaltens als Verständnis einer männerspezifischen Depression veranschaulicht. Den Schluss bildet ein Resümee.

Die Literatur, sowie die Forschung, die sich mit der beschriebenen Thematik befasst, geht oftmals von einem binären System der Geschlechter aus. Zusätzlich wird größtenteils nicht ausreichend konkret zwischen dem biologischen (sex) und dem sozialen (gender) Geschlecht unterschieden. Im Folgenden werde ich demnach ausschließlich auf die binären Konzepte von Frau und Mann eingehen können. Da sich die Ausarbeitung insbesondere mit gesellschaftlich vermittleten Geschlechterbildern auseinandersetzt, werde ich mich mit dem Begriff „Geschlecht“ auf das soziale Geschlecht beziehen. Ich werde versuchen diesen Begriff zu vermeiden und stattdessen „Gender“ zu verwenden.

2. Männlichkeitskonzepte

Die folgenden Unterkapitel befassen sich mit grundlegenden traditionellen Bildern von Männlichkeit, sowie der hegemonialen Männlichkeit als konkretes Konzept.

2.1. Traditionelle Männlichkeit

Die Idee der traditionellen Männlichkeit lässt sich mit den Begriffen der Genderrolle und Gendernorm weiter ausführen und konkretisieren.

Die männliche Genderrolle beinhaltet Erwartungen an die Rolle als Mann, die im Verlauf des Sozialisationsprozesses von Individuen erlernt und auf diesem Weg von einer Generation in die nächste weitergegeben werden (Addis & Mahalik, 2003; Branney & White, 2008). Traditionell männliche Normen beeinflussen diese idealisierte männliche Genderrolle, die somit keine angeborene Eigenschaft darstellt (Addis & Cohane, 2005; Addis & Mahalik, 2003; Cochran & Rabinowitz, 2003). Die Gendernormen beinhalten soziale Normen, die vorgeben, welche Verhaltensweisen, Eigenschaften, Gedanken und Emotionen bei den binären Konstrukten von Geschlecht, demnach bei Männern und Frauen erwünscht sind und erwartet werden (Syzdek & Addis, 2010). Idealisierte Eigenschaften wie körperliche Stärke, kompetitives Verhalten in Zusammenhang mit Erfolg, dem Interesse an Macht, emotionaler Gleichmut oder Anti-Feminität zählen zu der männlichen Gendernorm (Addis & Cohane, 2005; Addis & Mahalik, 2003; Cochran & Rabinowitz, 2003).

2.2. Hegemoniale Männlichkeit

Der Begriff der hegemonialen Männlichkeit findet sich erstmals in der marxistischen Literatur des italienischen Autors Gramsci wieder (Connell, 1987; Donaldson, 1993). Der Gedanke der hegemonialen Männlichkeit geht davon aus, dass Frauen schwächer und vulnerabler als Männer sind und ihnen außerdem körperlich unterlegen sind. Das Bitten um Hilfe hingegen, also auch sich um seine*ihre Gesundheit zu kümmern, ist weiblich konnotiert. Es besteht die Annahme, dass Männer strukturell leistungsfähiger sind und auch, dass Gesundheit und Sicherheit keine Rolle für einen Mann spielen sollen, wenn er dem Ideal der hegemonialen Männlichkeit entsprechen will (Courtenay, 2000).

Das Konzept definiert eine Form von Männlichkeit und vermittelt ein dominierendes Bild, das als wünschenswert und erstrebenswert gilt (Connell, 1987; Connell & Messerschmidt, 2005; Donaldson, 1993; Schigl, 2018). Es fungiert als handlungsleitender Grundeinstellung, an der Männer sowohl sich selbst als auch andere Männer messen (Möller-Leimkühler, 2010). Es wird von der Existenz einer Vielzahl unterschiedlicher Männlichkeit innerhalb einer bestimmten Kultur ausgegangen. Die hegemoniale Männlichkeit stellt allerdings das vorherrschende Modell der Männlichkeit, als Ausdruck von Macht, Prestige und Überlegenheit dar, dem andere Formen untergeordnet werden (Connell, 1987; Connell & Messerschmidt, 2005). Ausschließlich für eine Minderheit von Männern ist dieses Idealbild realisierbar (Möller-Leimkühler, 2010). Die Aufrechterhaltung der hegemonialen Männlichkeit wird mit der Interaktion zwischen Männern sichergestellt. Die Männlichkeit eines Mannes wird von anderen Männern bestätigt (Schigl, 2018). Männer, die dem Bild der hegemonialen Männlichkeit nicht entsprechen laufen also Gefahr, von anderen Personen einer der „untergeordneten“ Form von Männlichkeit zugeordnet zu werden.

3. Depressionen

Die Diagnosekriterien einer Depression sind im ICD-10 unter dem Überbegriff der depressiven Episode festgehalten. Es werden eine gedrückte Stimmung und ein vermindertes Antriebs- und Aktivitätsverhalten beschrieben. Es können Schlafstörungen, eine Verminderung des Appetits und der Konzentration, sowie ausgeprägte Müdigkeit, auch nach nur kleinen Anstrengungen, auftreten. Zusätzlich sind Depressionen durch ein geringes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl gekennzeichnet, das mit einem Gefühl der Wertlosigkeit einhergeht. Anhand der Anzahl und Schwere der Symptome findet eine Zuordnung zu einer leichten, mittelgradigen oder schweren depressiven Episode statt (ICD-code, o.J.).

4. Männerspezifische Depression

Die aufgeführten Unterkapitel stellen Argumentationspunkte in Bezug auf ein männerspezifisches Depressionsverständnisses dar und führen die Hintergründe für eine Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern auf. Grundlage ist der aktuelle Literatur- und Forschungsstand.

4.1. Datenlage zu den Unterschieden zwischen Männern und Frauen

Die Anzahl der depressiv diagnostizierten Männer und die Zahl der männlichen Suizidopfer weist in der Literatur eine Inkongruenz auf. Es wird davon ausgegangen, dass mehr Männer an Depressionen leiden, als die klinische Prävalenzrate vorhersagt. Begründet wird dies an der Feststellung, dass Frauen häufiger mit Depressionen diagnostiziert werden, Männer allerdings in der Relation viermal häufiger Suizid begehen (Addis & Cohane, 2005; Cochran & Rabinowitz, 2003; Fields & Cochran, 2011). Das Robert Koch Institut stellte in einer Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGD1) aus den Jahren 2008 bis 2012 eine 12-Monats-Prävalenz von 8,1% diagnostizierter Depressionen bei Frauen und 3,8% bei Männern fest (Müters et al., 2013). Bei Frauen werden demnach mehr als doppelt so häufig Depressionen diagnostiziert als bei Männern. Bei depressiven Frauen bewegen sich die Themen besonders in ihrem engeren Verpflichtungsfeld der Familie, Partnerschaft und Kinder, während bei männlicher Depression der Themenschwerpunkt vermehrt, egozentrisch, auf der eigenen Person liegt (Wolfersdorf et al., 2006). Depressive Frauen geben in einer Selbstbeurteilung außerdem signifikant höhere Werte in Bezug auf eine Selbstbeschreibung von Angst und Ärger-Äußerungen an. Außerdem berichten Frauen konstant von mehr Symptomatik hinsichtlich der Beschwerdeliste. Im Freiburger Erregbarkeitsinventar und im STAIG-Angstfragebogen erreichen Männer signifikant höherer Werte in dem Item der Erregbarkeit versus Hemmung (Wolfersdorf et al., 2006).

In Kulturen, in denen Alkoholkonsum und Suizid gesellschaftlich tabuisiert werden, wie beispielsweise in der Jüdisch-Orthodoxen Gemeinde unterscheidet sich die Depressionsrate und -symptomatik zwischen Frauen und Männern nicht. Dieses Phänomen lässt sich auch in der Kultur der Amish People beobachten, in der die Geschlechterrollennormen streng egalitär sind (Möller-Leimkühler, 2008).

4.2. Artefakttheorie

Eine Studie von Mahalik und Cournoyer (2000) untersuchte den Einfluss von Männlichkeitsvorstellungen auf Männer mit Depressionen. Es wurde ein Vergleich der Testergebnisse der Gender Role Conflict Scale von depressiven und nicht depressiven Männern durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass Männer, die depressiv erkrankt waren, bei 17 Items, die sich auf Genderbilder bezogen, höhere Werte erzielten als Männer, die nicht depressiv waren. Die Autoren formulierten daraufhin die Annahme, dass Männer, die an Überzeugungen der männlichen Genderrolle festhalten, eher von Depressionen betroffen sind als Männer, die diese Überzeugungen nicht vertreten. Diese Überzeugung wird „genderspezifische kognitive Verzerrung“ genannt (Mahalik & Cournoyer, 2000). Folgernd kann von der Theorie ausgegangen werden, dass Männlichkeitsnormen die Entwicklung psychopathologischer Probleme begünstigen (Syzdek & Addis, 2010). Die sogenannte Artefakttheorie führt den Unterschied zwischen den Geschlechtern in der Prävalenz von Depressionen auf „künstliche“ Faktoren zurück. Es wird davon ausgegangen, dass Genderbilder, die über den Sozialisationsprozess vermittelt werden, sich auf die Wahrnehmung und Äußerung der Symptome bei Männern und Frauen auswirken. Es stellt sich die Frage, inwiefern sich Depressionen mit einer anderen Symptomatik bei Frauen und Männern äußern. Anhand einer Studie ließ sich zeigen, dass Symptommuster wie Irritabilität, antisoziales Verhalten und Aggressivität bei Männern häufiger ein Hinweis für eine depressive Erkrankung waren. Bei Frauen handelte es sich dagegen oftmals um eine grundlegende Unruhe, Klagsamkeit, als auch um eine depressive Verstimmung (Müters et al., 2013). Männer berichten außerdem häufiger von atypischen Symptomen als Frauen, die sich nicht den regulären diagnostischen Kriterien einer Depression im ICD-10 zuordnen lassen. Es handelt sich beispielsweise um Alkoholabhängigkeit, feindselige Verstimmungen, Verlangsamung in Bewegung und Sprache, sowie einem Mangel an Gesten (Branney & White, 2008). Die verwendeten Skalen zur Erfassung von Depressionen weisen eine frauenspezifischere Auslegung auf, was zu einer systematischen Unterdiagnostizierung und Unterschätzung von Depressionen bei Männern führen kann (Müters et al., 2013). Demnach lässt sich ein Gender Bias in der Depressionsdiagnostik festhalten.

4.2.1. „Male Depression“

Während eines Suizidpräventionsprogramms auf der schwedischen Insel Gotland wurde das Konzept der „male depression“, mithilfe von psychologischen Autopsien an durch Suizid verstorbenen Menschen und weiteren klinischen Erfahrungen, entwickelt. Nach Weiterbildungen in Bezug auf die Depressionsdiagnostik und -behandlung stellte sich heraus, dass sich die Suizidrate der Frauen auf der Insel um etwa 90% verringerte, während die der Männer allerdings unverändert blieb. Bei den Autopsien der männlichen Suizidopfer zeigte sich, dass diese oftmals sowohl depressiv, als auch teilweise alkoholabhängig waren. Den Ärzt*innen war diese Tatsache, im Gegensatz zu der örtlichen Polizei und Ordnungsbehörden, häufig nicht bekannt. 

Mit der Berücksichtigung der häufig zusätzlich auftretenden Symptome bei Männern wie Aggressivität, Irritabilität, antisoziales Verhalten, Ärgerattacken oder Risiko- und Suchtverhalten während der Therapie, konnte die Suizidrate der Männer reduziert werden.

Diese Erkenntnisse führten zu der Entwicklung der „Gotland Scale for Male Depression“, die als Screening-Instrument explizit nach männlichen Symptomen fragt.

Das Konzept der „male depression“ geht zusammenfassend davon aus, dass die zuvor aufgeführten Symptome, die eigentlichen depressiven Symptome bei Männern maskieren. Diese geschlechtertypische, allerdings depressionsuntypische Symptomatik, ist in den üblichen Depressionsinventaren nicht enthalten. Dies hat eine Unterdiagnostizierung von Männern mit Depressionen zur Folge und führt zu eventuellen Fehldiagnosen (Möller-Leimkühler, 2007).

 4.3. Maskierte Depression

In der Literatur lässt sich oftmals ein Zusammenhang zwischen der Forschung zu Männlichkeit und Depressionen und dem Begriff der „Alexithymie“ finden. Dieser beinhaltet u.a. den Verlust der Fähigkeit Gefühle zu erkennen, zu benennen und zu kommunizieren (Carpenter & Addis, 2000). Zurückhaltung in der Emotionalität wird typischerweise der traditionellen männlichen Norm zugeordnet und somit häufig mit Männern und Männlichkeit in Verbindung gebracht. Wird an diesen Mustern festgehalten, kann nicht adäquat auf eine depressive Erkrankung reagiert werden. Gefühle von Trauer, die mit einer depressiven Erkrankung verbunden werden, gelten als unerwünscht und unmännlich (Cochran & Rabinowitz, 2000). Ein Erreichen der männlichen Idealnorm scheint ausschließlich auf Kosten von weiblich definierten Emotionen und Eigenschaften, wie Angst, Schwäche, Traurigkeit, Unsicherheit und Hilflosigkeit möglich (Möller-Leimkühler, 2010). Es findet eine Externalisierung der einhergehenden Probleme statt. Aufgrund der verdeckten und externalisierten Symptome, die oftmals nicht mit einer Depression in Verbindung gebracht werden, zeigt sich eine depressive Erkrankung bei diesen Männern nicht direkt (Cochran und Rabinowitz, 2000; Addis, 2008). Cochran und Rabinowitz (2000) beschreiben dieses Phänomen in ihrem Buch „Men and Depression: Clinical and Empirical Perspectives“ als „maskierte Depressionen“. Die maskierte Depression schließt sowohl physische Krankheiten, Alkohol- und Drogenmissbrauch, sexuelle Dysfunktion, als auch Aspekte wie häusliche Gewalt und Selbstsabotage im Beruf oder ähnlichem als mögliche Folgen und Anzeichen ein (Cochran & Rabinowitz, 2000). Rochlen et al. (2010) befragten im Rahmen einer Studie zum Einfluss der männlichen Genderrolle 45 Männer zu ihrer persönlichen Einstellung in Hinblick auf Genderrollen und Depressionserlebnissen. Die Beschreibungen der Probanden deckten sich zu einem Großteil mit dem Begriff der maskierten Depression. Es wird von Erwartungen an die männliche Rolle berichtet, die sich auf das Erleben der Depression auswirkten. Dazu zählten u.a. Erwartungen, wie nach außen hin ein gutes Bild zu vermitteln, keine Schwäche zu zeigen und Schmerzen zu verbergen. Auch die Erzählungen von Problemverhalten deckten sich mit der Theorie der maskierten Depression (Rochlen et al., 2010). Die Studie berichtete auch, dass einige Teilnehmer Depressionen als Gegenstück zum Glücklichsein betrachten, welches gelichzeitig selbst als unmännlich aufgefasst wird. Die Schlussfolgerung daraus ist die normative Betrachtung von Depression bei Männern (Rochlen et al., 2010).

4.4. Hilfesuchverhalten

Neben einem Gender Bias und dysfunktionales Stressverarbeitungsmustern und Umgangsformen lässt sich zusätzlich ein mangelndes Hilfesuchverhalten als Grund der Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern festhalten. Der gemeinsame Nenner dieser drei Faktoren stellt das Konstrukt der traditionellen Maskulinität dar, das eine Depression normativ ausschließt und deren Maskierung durch externalisierendes Verhalten fördert (Möller-Leimkühler, 2008). Traditionelle Männlichkeitsideale implizieren das Abhalten einer Hilfesuche (Addis & Mahalik, 2003; Epstein et al., 2010; Good et al., 1989). Good et al. (1989) fanden in einer Studie mit 401 männlichen Studenten heraus, dass bei Männern, die an traditionellen männlichen Genderrollen festhalten, das Hilfesuchverhalten geringer ausfällt als bei Männern mit einer weniger traditionellen Ausprägungen. Es zeigte sich, dass Männer, die eine negative Einstellung zu offener Emotionalität aufwiesen, weniger geneigt waren, sich psychologische Hilfe zu suchen (Good et al. 1989). Eine weitere Studie von Vogel et al. (2011) fand heraus, dass sich Selbststigmatisierung als ein entscheidender Prädiktor für ein Hilfesuchverhalten erwies. Zusammenfassend kann festgehalten, dass normative Geschlechterrollenerwartungen, die zu einer Nichtwahrnehmung und Verleugnung von Symptomen anleiten, Barrieren für eine Hilfesuche darstellen (Wolfersdorf et al., 2006). Zusätzlich werden psychische oder emotionale Probleme selten von Männern während eines Besuchs eines*r Ärzt*in angesprochen. Vielmehr wird von körperlichen Beschwerden berichtet. Dahinter verbirgt sich ein Vermeidungsverhalten, das die männliche Identität wahren soll (Möller-Leimkühler, 2008). Ein Therapieprozess kann nicht stattfinden, wenn sich ein depressiv erkrankter Mann keine Hilfe sucht.

5. Fazit

Schlussendlich lässt sich festhalten, dass die Unterdiagnostizierung von Depressionen im Vergleich zu der hohen Suizidrate bei Männern eine Problematik darstellt. Dieses Paradoxon lässt sich auf den Hintergrund von gesellschaftlich vermittelten traditionellen Gendernormen, wie der hegemonialen Männlichkeit, zurückführen. Stereotypische Genderbilder, die während eines Sozialisationsprozesses internalisiert werden, können eine maskierte Depression bei Männern hervorbringen. Hegemoniale Gedanken, wie beispielsweise „Männer sind nicht vulnerabel“ werden verinnerlicht und mit Scham verbunden. Symptome, wie ein verringertes Selbstwertgefühl, werden daraufhin von externalisierten Symptomen überdeckt. Diese zeigen sich beispielsweise in einer Alkoholsucht, was wiederrum eine Fehldiagnose zur Folge haben kann. Eine mangelndes Hilfesuchverhalten, das von Genderbildern unterstützt wird, führt zusätzlich zu einer Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern. Auch der Gender Bias in der Diagnostik lässt sich als eine Ursache für die Unterschiede in der Prävalenz von Depressionen zwischen den binären Gendersystemen verordnen. Beurteilungsskalen und Diagnosekriterien weisen insbesondere in Hinblick auf traditionelle Genderrollen einen frauenspezifischen Schwerpunkt in der Symptomatik auf.

Ich möchte abschließend die Kritik aufführen, dass Probanden der wenigen Studien oftmals weiße, heteronormative, cis-männliche Universitätsstudenten aus den USA waren. Die Studien sind demnach nicht repräsentativ für Männer anderer Ethnien oder anderer sexueller Orientierung. Auch der sozioökonomische Hintergrund wurde häufig nicht miteinbezogen. Verallgemeinernd ist zu verzeichnen, dass noch nicht ausreichend wissenschaftliche Evidenz für das Konzept von männlichen Depressionen, sowie Studien zur Thematik von geschlechterspezifischer Wirksamkeit von Antidepressiva oder psychotherapeutischen Verfahren bestehen. Zukünftig werden weitere Untersuchungen, die Studien, wie die auf der Insel Gotland weiter untermauern und stärken, von großer Bedeutung sein, um die Unterschiede in der Prävalenz von Depressionen zu reduzieren und Betroffenen umfangreicher behandeln zu können. Es ist von großer Wichtigkeit, ein Bewusstsein und eine Sensibilität für die Lücke in der Forschung, als auch im zwischenmenschlichen Umgang, zu schaffen.

6. Literaturverzeichnis

Addis, M. e. (2008). Gender and Depression in Men. Clinical Psychology: Science and Practice, 15, 153-168. doi:10.1111/j.1468-2850.2008.00125.x

Addis, M. E., & Cohane, G. H. (2005). Social Scientific Paradigms of Masculinity and Their Implications for Research and Practice in Men’s Mental Health. Journal of Clinical Psychology, 61(6), 633-647. doi:10.1002/jclp.20099

Addis, M. E., & Mahalik, J. R. (2003). Men, Masculinity, and the Contexts of Help Seeking. American Psychologist, 58(1), 5-14.

Branney, P., & White, A. (2008). Big boys don’t cry: depression and men. Advances in Psychiatric Treatment, 14(4). doi:10.1192/apt.bp.106.003467

Carpenter, K. M., & Addis, M. E. (2000). Alexithymia, Gender, and Responses to Depressive Symptoms. Sex Roles, 43(9/10), 629-644. doi:10.1023/A:1007100523844

Cochran, S. V., & Rabinowitz, F. E. (2000). Men and Depression: Clinical and Empirical Perspectives). doi:10.1016/B978-0-12-177540-7.X5000-0

Cochran, S. V., & Rabinowitz, F. E. (2003). Gender-Sensitive Recommendations for Assessment and Treatment of Depression in Men. Professional Psychology: Research and Practice, 34(2), 132-140. doi:10.1037/0735-7028.34.2.132

Connell, R. W. (1987). Gender and Power: Society, the Person and Sexual Politics. Cambridge, UK: Polity Press.

Connell, R. W., & Messerschmidt, J. W. (2005). Hegemonic Masculinity: Rethinking the Concept. Gender & Society, 19(6), 829-859. doi:10.1177/0891243205278639

Courtenay, W. H. (2000). Constructions of masculinity and their influence on men’s well- being: a theory of gender and health. Social Science & Medicine, 50(10), 1385-1401. doi:10.1016/S0277-9536(99)00390-1

Donaldson, M. (1993). What Is Hegemonic Masculinity? Theory and Society, 22(5), 643-657. doi:10.1007/BF00993540

Epstein, R. M., Duberstein, P. R., Feldman, M. D., Rochlen, A. B., Bell, R. A., Kravitz, R. L., . . . Paterniti, D. A. (2010). “I Didn’t Know What Was Wrong:” How People With Undiagnosed Depression Recognize, Name and Explain Their Distress. Journal of General Internal Medicine, 25(9), 954-961. doi:10.1007/s11606-010-1367-0

Fields, A. J., & Cochran, S. V. (2011). Men and Depression: Current Perspectives for Health Care Professionals. American Journal of Lifestyle Medicine, 5(1), 92-100. doi:10.1177/1559827610378347

ICD-code. (o.J.). Depressive Episode. https://www.icd-code.de/icd/code/F32.-.html (zuletzt abgerufen am 12.08.2023)

Good, G. E., Dell, D. M., & Mintz, L. B. (1989). Male Role and Gender Role Conflict: Relations to Help Seeking in Men. Journal of Counseling Psychology, 36(3), 295-300. doi:10.1037/0022-0167.36.3.295

Mahalik, J. R., & Cournoyer, R. J. (2000). Identifying Gender Role Conflict Messages That Distinguish Mildly Depressed From Nondepressed Men. Psychology of Men & Masculinity, 1(2). doi:10.I037//1524-9220.1.2.I09.

Möller-Leimkühler, A. M. (2007). „Male depression“ in einer Bevölkerungsstichprobe junger Männer. Der Nervenarzt, 78, 641-650. doi:10.1007/s00115-006-2173-0

Möller-Leimkühler, A. M. (2008) Depression – überdiagnostiziert bei Frauen, unterdiagnostiziert bei Männern?. Der Gynäkologe, 41, 381-388. doi:10.1007/s00129-008-2161-5

Möller-Leimkühler, A. M. (2010). Depression bei Männern: Eine Einführung. Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, 11(3), 11-20. https://www.kup.at/kup/pdf/9154.pdf (zuletzt abgerufen am 14.08.2023)

Müters, S., Hoebel, J. & Lange, C. (2013). Diagnose Depression: Unterschiede bei Frauen und Männern. GBE kompakt, 4(2), 1-10. https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/3112/2.pdf?sequence=1&isAllowed=y (zuletzt abgerufen am 15.08.2023)

Rochlen, A. B., Paterniti, D. A., Epstein, R. M., Duberstein, P., Willeford, L., & Kravitz, R. L. (2010). Barriers in Diagnosing and Treating Men With Depression: A Focus Group Report. American Journal of Men’s Health, 4(2), 167-175. doi:10.1177/1557988309335823

Schigl, B. (2018). Psychotherapie und Gender. Konzepte. Forschung. Praxis. Welche Rolle spielt die Geschlechtszugehörigkeit im therapeutischen Prozess? In H. G. Petzold, U. A. Lammel, K. A. Leitner, & S. Petitjean (Hrsg. der Reihe), Integrative Modelle in Psychotherapie, Supervision und Beratung. doi:10.1007/978-3-658-20471-6

Syzdek, M. R., & Addis, M. E. (2010). Adherence to Masculine Norms and Attributional Processes Predict Depressive Symptoms in Recently Unemployed Men. Cognitive Therapy and Research, 34, 533-543. doi:10.1007/s10608-009-9290-6

Vogel, D. L., Heimerdinger-Edwards, S. R., Hammer, J. H., & Hubbard, A. (2011). “Boys Don’t Cry”: Examination of the Links Between Endorsement of Masculine Norms, Self-Stigma, and Help-Seeking Attitudes for Men From Diverse Backgrounds. Journal of Counseling Psychology, 58(3), 368–382. doi:10.1037/a0023688

Wolfersdorf, M., Schulte-Wefers, H., Straub, R. & Klotz, T. (2006). Männer-Depression: Ein vernachlässigtes Thema – ein therapeutisches Problem. Blickpunkt der Mann, 4(2), 6-9. https://www.kup.at/kup/pdf/5784.pdf (zuletzt abgerufen am 16.08.2023)


Quelle: in: Nele Lorenz, Inwiefern haben gesellschaftliche Konzepte von Männlichkeit einen Einfluss auf die Diagnostik von Depressionen bei Männern?, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.09.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=395