Black Beauty, White Standards – An Essay on the Appropriation of Black Cultures

Kesho-Tabitha Imadonmwinyi (SoSe 2020)

Primitiv, tribal, spirituell und doch majestätisch – eine Reise zum Anfang der Zeit und der Essenz primitiver Wesensart. So beschrieb das Modelabel Valentino im Jahre 2015 seine Afrika-inspirierte Frühling/Sommer 2016 Kollektion. Als Modenshow umgesetzt sah dies so stereotypisierend aus, wie es klingt: überwiegend weiße Models in Kikuyustoffen, Bast, Knochenketten, Federn und Fransen sowie Gürteln aus afrikanischen Perlen. Die Haare der Models wurden zu Cornrows und Dreadlocks frisiert. Um diese modische Afrika-Darbietung noch ein wenig zu untermalen, durfte die passende Musik natürlich nicht fehlen. Was eignete sich dafür besser als der Sound afrikanischer Bongo-Trommeln (vgl. Stansfield 2015)? Et voilà, fertig war die Kreation eines authentischen Afrika-Erlebnisses für die Sinne, eine Hommage an einen ganzen Kontinent.

Nachahmung ist für bekanntlich die höchste Form von Anerkennung. Wieso also sollte es problematisch sein, dass fünf Jahre nach der Valentino-Modenshow, im Jahre 2020, immer noch weiße Models großer Modelabels wie Marc Jacobs und Comme des Garcons mit traditionell Schwarzen Frisuren über die Laufstege schreiten? Wieso sollte es problematisch sein, dass nicht-Schwarze Personen, allem voran Celebrities und Influencer*innen, diese Frisuren tragen und mit plastisch vergrößerten Lippen, Gesäßen und Oberweiten auf Instagram posieren? Oder Hautbräunungsmittel und Make-Up verwenden, welches so viele Nuancen dunkler ist als ihr natürlicher Teint, dass nur schwer zu erkennen ist, ob es sich um eine weiße, eine Schwarze oder eine Person of Color handelt? Wieso sollte es problematisch sein, wenn weiße Menschen traditionell-afrikanische Kleidungsstücke tragen und sich wohlmöglich noch eines Blackccents bedienen – der Authentizität halber.

In den vergangenen Jahren wurden die oben beschriebenen Praktiken immer wieder hitzig diskutiert – unter dem Schlagwort der kulturellen Aneignung. Auch gegenwärtig tritt die gesellschaftliche Debatte um kulturelle Aneignung immer wieder in den Vordergrund, vor allem in den sozialen Medien. Könnte es also sein, dass Nachahmung doch nicht die höchste Form von Anerkennung ist? Wo verläuft die Grenze zwischen kulturellem Austausch begründet auf kultureller Würdigung und kultureller Aneignung? Ziel meines Essays ist es, die Problematik kultureller Aneignung und die hegemonialen Machtverhältnisse, die mit dieser Praxis einhergehen, genauer darzulegen. Dies werde ich anhand der gängigsten Argumente und Fehlannahmen in der Debatte rund um kulturelle Aneignung aufzeigen. Aufgrund meiner eigenen Positionierung als Schwarze, afro-deutsche Frau möchte ich meinen Essay spezifisch im Kontext der Aneignung Schwarzer beziehungsweise afro-diasporischer Kulturartefakte situieren, mit einem besonderen Augenmerk auf historisch Schwarze Haarfrisuren. Doch zunächst einmal: Was genau ist unter kultureller Aneignung überhaupt zu verstehen?

Im Zuge kultureller Aneignung werden Artefakte marginalisierter Kulturen durch Mitglieder der dominanten, meist weiß-privilegierten Mehrheitsgesellschaft übernommen. Dabei werden die Herkunftskulturen dieser Artefakte nicht, wie es im Sinne wertschätzenden kulturellen Austauschs geschehen würde, gewürdigt. Stattdessen werden ohnehin marginalisierte gesellschaftliche Minderheitsgruppen und ihre Kulturgüter exotisiert, zu trendigen Fashionstatements reduziert und das Angeeignete oft sogar als das Eigene dargestellt. Der Geschichte und kulturellen Bedeutung dieser Kulturgüter wird von der dominanten Gruppe meist wenig bis gar keine Beachtung beigemessen. Vielmehr werden kulturelle Artefakte, nicht selten aus wirtschaftlich-kapitalistischen Interessen, willkürlich dekontextualisiert. Was für Minderheitsgruppen tief verwurzelte kulturelle Bedeutung hat, dient der dominanten Gruppe zur Unterhaltung oder als modisches Accessoire (vgl. Volkening 2020).

Besonders offensichtlich wird dies in Bezug auf die Valentino Modenshow. Ein häufiges Argument in der Debatte um kulturelle Aneignung ist, dass Film, Musik, Mode und andere Bereiche immer Inspiration aus anderen Kulturen schöpfen. Kultureller Austausch ist nichts Neues, es ist etwas, das seit Jahrhunderten stattfindet. Doch dieser muss immer auf Augenhöhe und respektvolle Art und Weise vollzogen werden. Im Falle der Valentino-Show ist kulturelle Aneignung äquivalent mit der Stereotypisierung Schwarzer Menschen und Menschen afrikanischer Herkunft. Die Herrichtung der Models und die Auswahl der Laufstegmusik spielt offensichtlich mit Stereotypen um etwas zu kreieren, das von der weißen Mehrheitsgesellschaft als afrikanische Ästhetik wahrgenommen wird. Wie so häufig in westlich-weißen Diskursen wird ein ganzer, kulturell höchst diverser Kontinent als ein großes Ganzes porträtiert und mit rassistischer Wortwahl als primitiv umschrieben. Es fällt also schwer, hier von wertschätzendem kulturellen Austausch zu sprechen, wenn Schwarze Kulturen stereotypisiert und rassistisch dargestellt und gleichzeitig zu „warenförmigen Fetisch-Objekten“ (Volkening 2020) weißen Kapitalismus reduziert werden. Wie auch bei der evident rassistischen Praxis des Blackfacings und dem Tragen von Afroperücken an Karneval entsteht durch die Valentino-Modenshow der Eindruck, es sei in Ordnung, Kulturen marginalisierter Communities als Kostüm zu tragen und daraus zusätzlich noch Profit zu schlagen. Bezeichnend dafür, dass hier wenig Würdigung der Kulturen, derer man sich bedient, stattfindet, ist ebenfalls in der Wahl der Models zu sehen: nur acht der 87 Looks der Valentino Modenshow wurden von Schwarzen Models präsentiert (vgl. Stansfield 2015).

Ein weiteres Argument derer, die der kulturellen Aneignung beschuldigt werden, ist, dass sie bestimmte Kulturelemente übernehmen, weil sie diese schön finden und so ihre Wertschätzung für andere Kulturen ausdrücken möchten. Zu ihrer Verteidigung beteuern sie zudem häufig, dass sie von einer Person der jeweiligen Kultur darin bestärkt worden seien, ein Kulturartefakt als Fashionstatement zu tragen. Hier gilt zu sagen: eine einzige Person kann nicht für alle Mitglieder einer Community sprechen. Und um etwas wahrhaftig wertzuschätzen, muss man Respekt und Verständnis haben. Valentino beispielsweise hat in seiner Show Perlen verwendet, die in afrikanischen und afro-diasporischen Kontexten tiefe spirituelle Bedeutung haben. Valentino hat diese Perlen benutzt, um ein Produkt zu verkaufen und dabei die ursprüngliche kulturelle Bedeutung missachtet. Kulturartefakte nach Belieben völlig willkürlich zu benutzen, wie es einem gerade gefällt, hat wenig mit Respekt zu tun.

Einer meiner persönlichen Favoriten in der Debatte um kulturelle Aneignung ist definitiv der Vorwurf der umgekehrten kulturellen Aneignung. Ein prominentes Beispiel bietet Designer Marc Jacobs, welcher 2020 ebenfalls überwiegend nicht-Schwarze Models mit Cornrow-Perücken für seine Modenshow nutzte. Auf den Vorwurf der kulturellen Aneignung reagierte dieser wie folgt:

“All who cry “cultural appropriation” or whatever nonsense about any race or skin color wearing their hair in any manner- funny how you don’t criticize women of color for straightening their hair. I respect and am inspired by people and how they look. I don’t see color or race- I see people. I’m sorry to read that so many people are so narrow minded… Love is the answer. Appreciation of all and inspiration from anywhere is a beautiful thing. Think about it.”

Marc Jacobs zitiert in Alese, 2018

Die Tatsache, dass es, anders als Jacobs glaubt, auch Schwarze Menschen gibt, die von Natur aus glattes Haar haben, soll hier einmal außen vorgelassen werden. Bei dem Argument der vermeintlich umgekehrten kulturellen Aneignung ist die Annahme zentral, dass Schwarze Menschen ebenfalls kulturelle Aneignung betreiben, wenn sie Erzeugnisse westlicher Kulturen übernehmen. Um kulturelle Aneignung zu verstehen, ist ein Verständnis von alltäglichem, strukturellem und institutionellem Rassismus in weißen Mehrheitsgesellschaften Voraussetzung. Denn so würde bewusst werden, dass umgekehrte kulturelle Aneignung genau so wenig existiert, wie umgekehrter Rassismus. Von kultureller Aneignung kann nur gesprochen werden, wenn ungleiche Machtverhältnisse zwischen Kulturen bestehen. Kulturelle Aneignung impliziert, dass eine privilegierte Gruppe sich an Artefakten marginalisierter Gruppen bedient. Wir leben in einer Welt, in der weiße Menschen und weiße Institutionen mehr Privilegien und Macht innehaben als Schwarze Menschen und Menschen of Color. Das kulturelle Erbe von ethnischen Minderheiten erfährt in weißen Mehrheitsgesellschaften oft eine Abwertung, was dazu führt, dass diese Minderheiten ihr Erbe verstecken oder sich so verändern, dass sie von der dominanten Gruppe akzeptiert werden. Wenn marginalisierte Menschen sich an einen Standard anpassen, der von der dominanten, westlichen Kultur gesetzt wird, ist dies häufig eine Überlebensstrategie. Man spricht hierbei also nicht von Aneignung, sondern Assimilation.

In der Auseinandersetzung mit kultureller Aneignung ist das Betrachten, Verstehen und Hinterfragen von Machtdynamiken also unabdingbar. Wenn man dies tut, dann werden die wohl beliebtesten Argumente, mit welchen kultureller Aneignung begegnet wird, sehr schnell entkräftet: Das sind doch nur Klamotten. Das ist doch nur Make-Up. Das sind doch nur Haare. Es ist eben nicht nur xyz, wenn Minderheitsgruppen für das Ausleben ihrer eigenen Kultur Opfer rassistischer Diskriminierung werden. Wenn dieselbe Gruppe, die Minderheitsgruppen abwertet, stigmatisiert, unterdrückt und marginalisiert nun deren kulturelle Praktiken übernimmt und dafür gefeiert wird.

Schwarze Menschen und People of Color sind seit Jahrhunderten einem eurozentrischen Schönheitsstandard ausgesetzt, der für sie nur schwer oder gar unmöglich zu erreichen ist. Denn innerhalb dieses Standards ist Schönheit in Übereinstimmung mit Weißsein konstruiert: helle Haut, dünne Lippen, schmale Nase und glattes Haar gelten als Ideal. Dieses Bild von Schönheit, errichtet auf dem Fundament der Versklavung, Kolonialisierung und Unterdrückung Schwarzer Menschen, ist eines, das bis heute vorherrscht. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich auf die koloniale Geschichte von Afrohaar Bezug nehmen. Haare und das Frisieren dieser hat in vielen afrikanischen sowie afrodiasporischen Kontexten seit Jahrhunderten eine besondere kulturelle und soziale Bedeutung. Während des transatlantischen Sklavenhandels war es üblich für Sklavenhalter, Schwarzen Männern und Frauen die Haare abzurasieren und sie so zu objektifizieren. Gesetze verboten es Schwarzen Menschen, ihr Haar öffentlich zu zeigen (vgl. Neil und Mbilishaka 2019: 160). Weltweit verbieten die Kodexe verschiedener Unternehmen und Institutionen auch heute noch Schwarzen Menschen, ihr Haar im natürlichen Zustand, als Afro, in Braids, Cornrows oder Dreadlocks zu tragen.

Viele nicht-Schwarze Menschen verharren bezüglich verschiedener Schwarzer Haarstyles in Stereotypen und Vorurteilen, die Schwarze Menschen navigieren müssen. Dazu zählt die Stigmatisierung von Afros als wild, rau und ungepflegt oder die Assoziation von Cornrows und Dreadlocks mit Drogenkonsum und Kriminalität oder Braids und anderen natürlichen Haarstyles als unprofessionell. Viele Schwarze Menschen sind sich nicht nur dieser Vorurteile, sondern auch des weißen Blickes bewusst, dem sie tagtäglich ausgesetzt sind und welcher sie in einem Prozess des Otherings als fremd und nicht zugehörig markiert. Das Navigieren des weißen Blickes greift W.E.B. Du Bois in seiner Theorie des „double- consciousness“ (Du Bois 2007: 8) auf. Diese beschreibt den inneren Konflikt marginalisierter Minderheitsgruppen in einer repressiven Gesellschaft und die psychologische Herausforderung Schwarzer Menschen und People of Color, sich selbst immer durch die Augen einer rassistischen, weißen Gesellschaft wahrzunehmen (vgl. ebd.: 8). Dies beeinflusst auch, wie Schwarze Menschen ihre Haare in bestimmten Räumen tragen, vor allem, wenn sie vermeiden möchten, negative Stereotype in ihrem weißen Gegenüber hervorzurufen. Die Assimilation marginalisierter Gruppen an westliche Ideale ist in vielen Fällen ein gewaltvolles Anpassen an den weißen, eurozentrischen Standard. So greifen zum Beispiel viele Schwarze Personen auf den sogenannten Relaxer zurück, eine chemische Haarglättungscreme. Die toxischen Inhaltsstoffe in Relaxern stehen mit einer Vielzahl schwerwiegender Gesundheitsprobleme in Verbindung, darunter Reproduktionsstörungen, Geburtsdefekte, Asthma und Krebs (vgl. Murray 2015: 66).  Dennoch setzen sich viele Personen diesem Risiko bewusst aus, um Stereotypisierungen, Vorurteilen und dem Policing (Stichwort racial profiling) ihrer Körper zu entgehen und Zugang zu überwiegend weißen Räumen zu haben.

Und was hat all das mit kultureller Aneignung zu tun? 2019 erscheint die Novemberausgabe des Magazins ELLE unter dem Titel Back to Black. Damit ist aber nicht nur Mode gemeint. Auf einer Doppelseite mit der Überschrift Black is Back sind sechs Schwarze Models (davon eines mit falschem Namen, dem ihrer Kollegin), abgebildet (vgl. Hein 2019). Dies spiegelt das wieder, womit sich viele Schwarze Menschen und Menschen of Color momentan konfrontiert sehen: dass Diversity gerade in ist und Schwarzsein beziehungsweise Schwarze Kulturen als Trend behandelt werden. Celebrities und Influencer*innen wie die Kardashians und Jenners betreiben immer wieder massiv kulturelle Aneignung. Sie verwenden Hautbräunungsmittel, lassen sich Lippen und Gesäß vergrößern und ahmen so Schwarze Körperformen nach. Sie tragen regelmäßig kulturell Schwarze Frisuren wie Cornrows oder Braids, die medial als Kardashian-Zöpfe vermarktet werden. Anstelle schädlicher Vorurteile treten Beschreibungen wie egdy, cool und stylisch. Während Schwarze Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Haare, großer, voller Lippen und vor allem Schwarze Frauen mit kurvigen Körpern in der Historie immer Diskriminierung erfahren haben und es auch gegenwärtig tun, werden weiße, privilegierte Personen für dieselben Styles gefeiert. Wenn diese Körpermerkmale also von weißen Frauen in einem kolonialistischen Stil enteignet werden, ist es wieder ein Trend und gilt als zu erreichendes Schönheitsideal.

Dies bringt uns zurück zur Realität ungleicher Machtverhältnisse. Eine weiße Person, die sich Teile Schwarzer Kulturen aneignet, wird aufgrund ihrer Privilegien nicht mit denselben Stereotypen behaftet wie eine Schwarze Person. Es ist weißen Personen somit möglich, zu imitieren, kopieren und Schwarze Kultur zum Teil ihrer Marktstrategie zu machen, ohne die Bürde rassistischer Diskriminierung tragen zu müssen. Nicht-Schwarze Menschen haben die Möglichkeit, das Nachgeahmte wie ein Kostüm an- und abzulegen, wann immer es ihnen recht ist. Diese Freiheit haben Schwarze Menschen nicht. Viele Menschen verstehen sich auch als Allies, wenn sie Schwarze Kultur promoten. Die Tatsache, dass diese promotet werden muss, ist in sich wieder ein Beweis dafür, dass diese in einem kolonialrassistischen, neokapitalistischen System als weniger wert eingestuft worden ist. Auch, dass weiße Menschen erst etwas imitieren müssen, damit es normalisiert wird, verdeutlicht die gesellschaftliche Schieflage. Schwarze Menschen und People of Color haben nicht weiße Validierung zum Ziel, sondern Gleichberechtigung. Die Intention, die weiße Menschen bei der Übernahme kultureller Elemente im Sinn haben, ist meist hinreichend. Denn Allyship im Sinne eines ich bin mit euch, ich gehöre zu euch macht die Privilegien, die eine weiße Person innehat, nicht wett. Vielmehr werden so die Erfahrungen, die Schwarze Personen bezüglich dieser Elemente machen, außer Acht gelassen.

Bei der Frage kultureller Aneignung geht es nicht darum, nicht-Schwarzen Menschen zu verbieten, einen historisch und kulturell Schwarzen Haarstyle zu tragen. Vielmehr geht es darum, diesen auch als solchen zu würdigen. Auch eine weiße Person kann Kleidung afrikanischen Ursprungs tragen, wenn Anlass und Setting angemessen sind. Nimmt sie beispielsweise an der Hochzeit einer Schwarzen Person teil und wird eingeladen, an dieser Kultur teilzuhaben, kann das Tragen traditioneller Kleidung von Respekt und Wertschätzung zeugen. Es geht also nicht darum, Menschen vorzuschreiben, nicht weiter an den Erzeugnissen anderer Kulturen teilzuhaben. Kulturelle Teilhabe kann vielseitig aussehen: das Lesen von Büchern, Besuchen von Museen, Hören von Musik, Belegen von Kochkursen oder Reisen. Kultur kann auf verschiedenste, respektvolle Weisen kennengelernt und genossen werden, ganz ohne davon willkürlich Teile zu übernehmen. Im Falle der Modenshows von Valentino und Marc Jacobs hätte Wertschätzung bedeuten können, die für die Mode verwendeten Stoffe direkt von Menschen der Kultur zu kaufen, von der sie inspiriert waren. Wertschätzung hätte auch bedeuten können, Schwarzen Models Sichtbarkeit zu verschaffen, indem sie in die Show integriert werden. Und vor allem bedeutet dies für die Mode- sowie viele weitere Branchen, künftig die vergütete Expertise von Diversity-Berater*innen in Anspruch zu nehmen, wenn es ihnen nicht möglich ist, Schwarze Menschen und Kulturen angemessen und ohne Stereotypisierungen zu adressieren.

Die Tatsache, dass es, anders als Jacobs glaubt, auch Schwarze Menschen gibt, die von Natur aus glattes Haar haben, soll hier einmal außen vorgelassen werden. Bei dem Argument der vermeintlich umgekehrten kulturellen Aneignung ist die Annahme zentral, dass Schwarze Menschen ebenfalls kulturelle Aneignung betreiben, wenn sie Erzeugnisse westlicher Kulturen übernehmen. Um kulturelle Aneignung zu verstehen, ist ein Verständnis von alltäglichem, strukturellem und institutionellem Rassismus in weißen Mehrheitsgesellschaften Voraussetzung. Denn so würde bewusst werden, dass umgekehrte kulturelle Aneignung genau so wenig existiert, wie umgekehrter Rassismus. Von kultureller Aneignung kann nur gesprochen werden, wenn ungleiche Machtverhältnisse zwischen Kulturen bestehen. Kulturelle Aneignung impliziert, dass eine privilegierte Gruppe sich an Artefakten marginalisierter Gruppen bedient. Wir leben in einer Welt, in der weiße Menschen und weiße Institutionen mehr Privilegien und Macht innehaben als Schwarze Menschen und Menschen of Color. Das kulturelle Erbe von ethnischen Minderheiten erfährt in weißen Mehrheitsgesellschaften oft eine Abwertung, was dazu führt, dass diese Minderheiten ihr Erbe verstecken oder sich so verändern, dass sie von der dominanten Gruppe akzeptiert werden. Wenn marginalisierte Menschen sich an einen Standard anpassen, der von der dominanten, westlichen Kultur gesetzt wird, ist dies häufig eine Überlebensstrategie. Man spricht hierbei also nicht von Aneignung, sondern Assimilation.

Es braucht ein sich Bewusstwerden und -sein über die eigenen Privilegien sowie das Hinterfragen dieser, bevor vom Zelebrieren kulturellen Austausches gesprochen werden kann. Ohne diese kritische Reflektion besteht die Gefahr der Fortführung des kolonialrassistischen Ausbeutungssystems, in denen weiße Menschen von Schwarzen Kulturen profitieren, während Schwarze Menschen gesellschaftliche Benachteiligung für das Ausleben ihrer eigenen Kulturen erfahren. Schwarzsein ist kein Trend im Sinne von Black is Back. Schwarze Menschen waren und sind immer da. Schwarzsein ist kein Kostüm, das man trägt, wenn es gerade angesagt ist. Es ist die Lebensrealität Schwarzer Menschen. Es ist an der Zeit, zu verstehen, dass Kulturartefakte marginalisierter Gruppen nie bloß ein Style, sondern oft mit realen gesellschaftlichen Kämpfen und Leiden verbunden sind. Durch die willkürliche Übernahme und dem Dekontextualisieren von Kulturgütern werden diese Kämpfe trivialisiert. Wem als nicht-Schwarzer Person daran gelegen ist, die systematische Diskriminierung Schwarzer Menschen zu beenden, muss kulturelle Aneignung als Teil dieses unterdrückerischen Systems anerkennen. Wer Schwierigkeiten hat, die Grenze zwischen Aneignung und respektvollem Austausch auszumachen, kann sich für den Anfang folgende Fragen stellen: würdige ich die ursprüngliche Herkunft der Elemente, derer ich mich bediene? Billige ich den Kampf Schwarzer Communities, wenn ich Teile Schwarzer Kulturen übernehme? Reduziere ich Kulturgüter zu einem bloßen Fashionstatement? Inwiefern profitieren die Menschen, deren Kultur ich mit aneigne? Ist das Setting, in dem ich mich bewege, ein angemessenes, um dieses Kulturartefakt für mich zu nutzen? Kämpfe ich gegen (Anti-Schwarzen) Rassismus oder ruhe ich mich auf meinen weißen Privilegien aus? Schätze ich Schwarze Leben oder nur Schwarze Kulturen?


Literaturverzeichnis:

Alese, Whitney 2018: What Marc Jacobs’ constant cultural appropriation really means, online: https://medium.com/@TheReclaimed/what-marc-jacobs-constant-cultural-appropriation-really-means-ed9cbf766ffb (17.09.2020).

Du Bois, W.E.B.; Edwards, B. 2007: The Souls of Black  Folk. Oxford England; New York:  Oxford University Press.

Hein, Theresa 2019: Kritik an „Elle“-Novemberausgabe „Wir sind kein Trend“ – Empörung über „Back to Black“-Ausgabe von „Elle“. Süddeutschte Zeitung, online: https://www.sueddeutsche.de/medien/elle-germany-back-to-black-diskriminierung-1.4662483 (19.09.2020).

Mbilishaka, A.; Neil, L. 2019: “Hey Curlfriends!”: Hair Care and Self-Care Messaging on YouTube by Black Women Natural Hair Vloggers. Journal of Black Studies 50(2): 156-177.

Murray, C. 2015: Altered Beauty – African-Caribbean women decolonizing       racialized aesthetics in Toronto, Canada. Your Review, online: https://yourreview.journals.yorku.ca/index.php/yourreview/article/view/40352/36553 (19.09.2020).

Stansfield, Ted 2015: Valentino Show inspired by ‘wild Africa’ sparks controversy, online: https://www.dazeddigital.com/fashion/article/26895/1/valentino-show-inspired-by-wild-africa-sparks-controversy (17.09.2020).

Volkening, Heide 2020: Kulturelle Aneignung – Das Begehren des Anderen, online: https://www.zeit.de/kultur/2020-05/kulturelle-aneignung-popkultur-stereotyp-imitation-postkolonialismus (19.09.2020).


Quelle: Kesho-Tabitha Imadonmwinyi, Black Beauty, White Standards – An Essay on the Appropriation of Black Cultures, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 06.07.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/07/06/black-beauty-white-standards-an-essay-on-the-appropriation-of-black-cultures/

Das moderne Yoga: Ein Ergebnis patriarchaler und kolonialisierter Strukturen

Susanne Peter (SoSe 2020)

„To repair the harm done to yoga, the harms of cultural appropriation we need to address it at the root causes of separation and disconnection.“

Susanna Barkataki (2021)

Yoga begleitet mich seit meinem Umzug 2011 nach Berlin. Eine aufwühlende Zeit. Auf Empfehlung probiere ich Yoga aus, um wieder Ruhe und Stille zu finden. In einem Tanzstudio in Berlin Schöneberg habe ich meine erste Yogastunde besucht und schnell wurde es zu einer wöchentlichen Praxis. Mit meinem Umzug nach Dublin 2014 spielt Yoga eine zentrale Rolle in meinem Leben und Anfang 2015 entscheide ich mich dafür, eine Ausbildung zu machen. Bis zu dem Zeitpunkt war ich mir nicht bewusst, dass Yoga noch viel mehr beinhaltet als körperliche Praxis. Ich komme zum ersten Mal mit der jahrtausendealten Philosophie in Berührung. Zurück in Berlin unterrichte ich meine ersten Klassen. Ich finde mich nur schwer in der Berliner Yogaszene zurecht. Der Markt an Lehrer*innen ist überlaufen, es gibt unzählige Studios und alles erscheint mir entweder zu hip oder zu esoterisch. Dabei ist es für mich ein Markt, in dem ich leicht einen Platz finden kann. Ich bin eine weiße Frau, schlank und flexibel. Also genau so, wie uns Yoga in den Medien präsentiert wird. Vier Jahre später bin ich Teil dieser Maschinerie und finanziere mir so mein Studium. Genießen kann ich das Lehrerinnen-Dasein nur kurz. Vor jeder Stunde bange ich, dass genug Schüler*innen in meine Klasse kommen. Wir werden gestaffelt bezahlt. Bist du nicht so beliebt oder unterrichtest zu Zeiten, die nicht gefragt sind, verdienst du auch weniger. Ich denke über Content für meinen Instagram Kanal nach, um auf mich aufmerksam zu machen und welcher Workshop sich am besten verkaufen würde. Mit Beginn der Corona-Pandemie bin ich von einem auf den anderen Tag gezwungen, nicht mehr zu arbeiten. Die Studios reagieren zwar schnell und der Unterricht wird online weitergeführt. Die wöchentlichen Stunden reduzieren sich, genauso wie das Stundenhonorar. Die finanzielle Angst ist groß, das Online-Unterrichten raubt mir die letzte Energie. Ich erhalte zum Glück die Sofort-Hilfe. Eine eigene Yoga-Praxis besitze ich nicht mehr, meine Philosophie-Bücher habe ich schon seit Monaten nicht mehr in die Hand genommen. Ich ziehe mich zurück und stelle mir viele Fragen. Es ist für mich der Beginn einer persönlichen und sehr kritischen Auseinandersetzung mit der Yogawelt und meinem Erlebten.

In dieser Zeit stolpere ich auf Instagram über den Podcast Yoga is Dead. Ein reißerischer Titel und die erste Folge White Women Killed Yoga polarisiert nicht weniger. Ich spüre einen Widerstand in mir. Allein durch den Titel fühle ich mich angegriffen. Durch die Rassismus-Debatte in den deutschen Medien, höre ich mir die Folge aber an.Die Yogalehrerinnen Tejal Patel und Jesal Parikh, beide indischer Abstammung, erzählen von ihren diskriminierenden Erfahrungen als Women of Color in einer von weißen Frauen dominierten Yogawelt. Die weiteren fünf Folgen ihrer Podcasts höre ich mir in den folgenden Tagen an. Sie widmen sich den Themen Veganismus, Gurus, 200h Teacher Trainings, Vinyasa und Karma Yoga und deren Auswirkungen auf Yoga. Ich lerne unglaublich viel, nicht nur sind die Folgen gut recherchiert, sie stellen alle ihre Quellen bereit, was ein tieferes Eintauchen in die Thematik leichtmacht.

Das Seminar Decolonize! Intersektionale Perspektiven auf lokale und globale Machtverhältnisse verändert meinen Blick zusätzlich. Auch wenn Tejal Patel und Jesal Parikh sich in ihrem Podcast auch dem Thema der kulturellen Aneignung widmen, bin ich mir nicht bewusst, was das genau eigentlich bedeutet. Das Seminar verändert das. Kulturelle Aneignung ist eine „…kolonialrassistische Praxis, in der sich die Mehrheitsgesellschaft die Kultur von Subalternen (…), vor allem Kolonialisierten, abschaut, aus dem Kontext reißt und aneignet.“ (Altes, 2017). Während der indischen Inquisition ist es Inder*innen nicht erlaubt, Yoga und Ayurveda zu praktizieren (Parikh & Patel, 2019; Stenzel 2019).  Die Yogakultur wurde geklaut, den westlichen Bedürfnissen angepasst und hat sich zu einem Milliarden-Dollar.Markt entwickelt. Damit ist Yoga nahezu ein Paradebeispiel kultureller Aneignung. Im englischsprachigen Raum ist diese Diskussion lebendig. In mehreren Folgen gemeinsam mit Susanna Barkataki widmet sich Rachel Brathen, bekannt als Yoga Girl, diesem Thema. Susanna Barkataki ist eine der lautesten Stimmen, wenn es darum geht, Yoga diverser zu gestalten und sich der Verfälschung der Praxis bewusst zu werden. Ich stelle mir die Frage, ob diese Gespräche auch in der deutschen Yogaszene stattfinden. Ich beginne, mir die Berliner, aber auch deutsche Yogalandschaft genauer anzusehen.

Es gibt sie, die öffentliche Diskussion, ob wir uns in der westlichen Welt Yoga angeeignet haben. Was mir bei meiner Suche nach einem öffentlichen Diskurs auffällt – Stimmen finden sich innerhalb des deutschsprachigen Raumes fast hauptsächlich außerhalb der Yogaszene. In der Zeit wird Yoga als „kolonialisierte Praxis“ benannt (Rödder, 2019). In dem Artikel wird etwas deutlich, was gerne vergessen wird. In der Hatha Yoga Pradipika, die als Ursprungstext unserer heutigen Yogapraxis angesehen wird, gibt es nur wenige Asanas (Rödder, 2019), die der Vorbereitung der Meditation dienen. In der westlichen Welt ist die Yogapraxis sehr auf das körperliche zentriert, dabei machen diese in der Tradition des Yoga nur einen kleinen Teil aus. In dem Yoga Sutra des Patanjali, einem weiteren Grundlagentext der Yogaphilosophie, wird der achtgliedrige Pfad eines Yogis bzw. einer Yogini benannt. An dritter Stelle befindet sich Asana, die Praxis von Körperübungen. Sie sollen helfen, den Körper besser zu verstehen und bereiten uns auf die kommenden Stufen des achtgliedrigen Pfades vor.

Auch auf bento.de stellt sich Tasnim Rödder die Frage der kulturellen Aneignung und beantwortet sie klar mit einem ja. Yoga, wie wir es heute praktizieren, ist ein Produkt der Kolonialzeit. (Rödder, 2019). Ich schaue mir die größten Yogamagazine aus Deutschland genauer an. Während Yoga Journal der kulturellen Aneignung in einem Artikel zustimmt, finde ich bei Yoga aktuell einen Beitrag von dem Indologen Wilfried Huchzermeyer, der sich auf den Text von Tasnim Rödder bezieht. Auch er stellt sich die Frage, ob Yoga eine kolonialisierte Praxis ist und seine Worte erschrecken mich. Er betrachtet das heutige Yoga als einen „kontinuierlichen, lebendigen Ost-West-Austausch“ (Huchzermeyer, 2020). Er begründet diese Aussage unter anderem damit, dass Lehrer wie B.K.S. Iyengar, der Begründer der Iyengar-Tradition, Jahrzehnte im Westen gewirkt und damit Yoga geprägt hätten. Einen wichtigen Punkt übersieht er hier. Iyengar war Schüler von Sri Tirumalai Krishnamacharya, der auch der Vater des modernen Yogas genannt wird. Beide wachsen in einem Indien auf, dass von der Britischen Kolonialherrschaft geprägt ist. Hinduistische Traditionen sollen aus dem indischen Alltag verschwinden und durch die westlich-europäische Weltanschauung ersetzt werden (Stenzel, 2019). Yoga verschwand.

Viele Yogaposen, wie Adho mukha svanasana (herabschauender Hund) oder Virabhadrasana II (Krieger II), die heute in kaum einer Stunde fehlen, stammen aus dem späten 19. und 20. Jahrhundert. (Singelton, 2011) Der Versuch, die genauen Ursprünge zu finden, ist schwierig. Mehrere Quellen besagen, dass Britische Soldaten Yogaposen zu eigenen Zwecken wiederbelebten und ihre Fitnessübungen damit kombinierten. (Singelton, 2011; Rödder 2019). Durch den Kolonialismus greift die westliche Körperkultur. Es ist außerdem der einzige Weg, sich der eigenen Kultur wieder ein bisschen mehr annähern zu können. Dieser Mix ist es, was wir heute als modernes Yoga kennen.

Ich habe zwei Yoga-Ausbildungen absolviert. Meine erste 2015 in Dublin in der Tradition von Krishnamacharya und die zweite 2019/2020 in Berlin in der Hatha Yoga Tradition. Ich gehe beide gedanklich nochmal durch. Während der Ausbildung in Dublin widmen wir uns regelmäßig und detailliert der Philosophie, wir lernen Sanskrit, müssen die Posen und wichtigsten Begriffe der Philosophie und Tradition in der Originalsprache beherrschen. Wir bauen eine intensive Asana Praxis, aber auch Pranayama (Atemübungen) und Meditationspraxis auf. Wir sprechen über die Geschichte des Yoga. Dass das moderne Yoga aber ein Produkt der Kolonialzeit ist, wird uns in der Ausbildung nicht vermittelt. Die Berliner Ausbildung sehe ich schon währenddessen sehr kritisch. Wir gehen wenig in die Tiefe, wir erfahren sehr wenig über die Ursprünge und die Philosophie. Dafür wird sich ein Nachmittag der Vorstellung und dem Verkauf von doTerra Ölen gewidmet.

Generell fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit der westlichen Yogawelt. Einfachheit, Minimalismus und Vielfältigkeit wird nahezu gepredigt. Yoga sei eine Praxis, die für alle zugänglich ist. Dem kann ich nur widersprechen. Allein in Berlin gibt es über 300 Yogastudios (Stand 2016). Nicht jeder kann sich die Teilnahme im Studio leisten. Denke ich über die Klassen nach, die ich selber unterrichtet habe, ist der Anteil von People of Color verschwindend gering. In meinen Ausbildungen sind wir ausschließlich weiße Frauen. Das ist auch das Bild, was in den sozialen Medien vermittelt wird. Yogalehrende und Praktizierende sind fast ausnahmslos schlank, hyperflexibel – und weiß. Ich sehe mir die Magazincovernder letzten acht Jahre der Yoga aktuell an. Von 50 Covern sind auf 49 Frauen zu sehen. Nur zwei davon sind Women of Color. Alle Menschen auf den Covern sind schlank und größtenteils in sehr anspruchsvollen Asanas zu sehen, die eine hohe Flexibilität erfordern.

Yoga ist schon lange im Kapitalismus angekommen mit einem weltweit geschätzten Jahresumsatz von ca. 80 Mrd. Dollar (Hüchtker, 2019). Es gibt einen ganzen Yogamarkt für Kleidung, Matten und anderes Zubehör. Auch hier lerne ich, dass ich viel mehr hinterfragen muss. Ein weiterer Teil des Ashtanga Weges, des achtgliedrigen Pfades, sind die yamas (unsere Haltung gegenüber unserer Umwelt). Dazu gehört ahimsa – Gewaltlosigkeit. Kaufe ich Produkte von Yogalabels, stelle ich mir die Frage der ethischen Verwertbarkeit und Nachhaltigkeit nicht mehr. Ich gebe diese Verantwortung an dieser Stelle gerne ab. So weit, so naiv. Lululemon ist eines der bekanntesten und erfolgreichsten Labels der Szene. Und das, obwohl bekannt ist, dass CEO Chip Wilson den Namen gewählt hat, weil er den Gedanken lustig fand, dass Japaner*innen Probleme haben werden, den Markennamen auszusprechen. (Lawrence 2011). Diese rassistische Haltung allein verletzt das Prinzip von ahimsa bereits. Während einer Konferenz zu nachhaltiger, lokaler Ökonomien in Vancouver in 2004 spricht Wilson darüber, die Produktion von lululemon in die Republik China verlegt zu haben, um Kosten zu sparen. Das alleine ist schon paradox, sieht man sich das eigentliche Thema der Konferenz an. Dazu stellt er sich als großer Unterstützer der „Dritten Welt“ dar und feiert sich als Held, weil er Kindern Arbeit gibt und sie so ihre Familien unterstützen können (Deveau 2005). Immer deutlicher wird für mich, wie patriarchal geprägt die Yogaindustrie ist. Das wird nicht nur durch die kapitalistischen Strukturen deutlich.

Die Liste der Machtmissbräuche ist endlos. Iyengar schlägt und tritt seine Schüler*innen öffentlich in Klassen. Er wird verteidigt. Er hätte das tun müssen, weil die Pose falsch ausgeführt wurde (Parikh & Patel 2019; Grisworld 2019). John Friend, der Begründer der Anusara Tradition, schläft mit seinen Schülerinnen und bringt seine Mitarbeiter*innen in rechtliche Schwierigkeiten, da sie Drogen für ihn annehmen müssen (Parikh & Patel 2019; Grisworld 2019). Einen langfristigen Schaden trägt sein Image nicht davon. Er ist zurück mit einer neuer Yogaform namens Sridaira (Griswold 2019). Die Netflix-Dokumentation Bikram: Yogi, Guru, Predator zeigt Bikram Choudhurys ausschweifenden Lebensstil, sowie sein rassistisches und homophones Verhalten. Zwei Frauen schildern den sexuellen Missbrauch, den sie durch ihn erfahren mussten. In 2016 wird er wegen Belästigung und Diskriminierung zu 7 Millionen US-Dollar Schadensersatz verurteilt. Er verlässt das Land und lehrt weiterhin (Order 2019; Godwin 2017). Pattjabi Jois, Begründer des Ashtanga-Yogas, korrigiert die Yogaposen seiner Schüler*innen so rigoros, dass sie sich dabei verletzen. Fotos und Videos zeigen, wie er Schüler*innen an die Brüste greift, in den Schritt greift und sich auf Schüler*innen legt und sich dabei penetriert. Nur zwei Fälle sind bekannt, in denen er für sein Verhalten zur Rede gestellt wird. Erst nach Jois Tod sprechen die Betroffenen über ihre Missbrauchserfahrungen. (Remski, 2020; Parikh & Patel 2019) Das Ashtanga Institut in Mysuru, Indien zeigt sich versöhnlich und gibt in einem Statement bekannt, dass sie eine Umgebung schaffen wollen, die frei von jeglichem sexuellen Missbrauch ist. Richtlinien zur Umsetzung dessen oder Konsequenzen, wenn diese missachtet werden, gibt es jedoch nicht (Remski 2020). Auch die Kundalini Yogaszene wird Anfang des letzten Jahres von einem Skandal erschüttert. Pamela Saharah Dyson veröffentlicht das Buch Premka: White Bird in a Golden Cage, in dem sie über ihre Jahre an der Seite von Yogi Bhajan berichtet. Yogi Bhajan ist in der westlichen Yogawelt eng mit dem Kundalini Yoga verbunden und wird von vielen Praktizierenden verehrt. Das Buch ist zutiefst erschütternd. Dyson beschreibt eine Sektendynamik geprägt von Manipulation und psychischer und körperlicher Gewalt (Dyson 2019). Nach der Veröffentlichung schließen sich mehrere Schüler*innen Yogi Bhajans den Missbrauchsvorwürfen an. Die von ihm gegründete Organisation 3HO reagiert und lässt durch die Organisation An Olive Branch die Vorwürfe prüfen. Der Bericht ist in mehreren Sprachen frei zugänglich. Als Erstes kommen Anhänger*innen Yogi Bhajans zu Wort, die die Missbrauchsvorwürfe vehement abstreiten. Da er nicht mehr lebt, könne er sich selbst nicht mehr rechtfertigen, so die Begründung. Mir stößt das bitter auf. Die guten Erinnerungen einer Gruppe von Menschen relativiert nicht die traumatischen Erfahrungen einer anderen Gruppe. Detailliert wird auf die Vorwürfe eingegangen, die sexuellen Missbrauch, psychische Gewalt, Zwangsverheiratung, Manipulation, die Trennung von Eltern und Kindern, sowie Todesdrohungen umfassen (An Olive Branch Report, 2020). Die 3HO Organisation verbannt seine Bilder, schreibt Bücher um und vieles mehr. In meinem privaten Umfeld kenne ich eine Lehrerin, die Kundalini Yoga nicht mehr unterrichtet. Dabei wird immer wieder gesagt: Man muss die Praxis vom Lehrenden trennen. Aber was ist, wenn wir das nicht machen und uns viel mehr die Frage stellen, wie die Praxis Teil und Hilfsmittel des Missbrauches war?

Mit dem Wort guru verbinden wir schon lange Lehrende, die den spirituellen Weg führen. Ohne kann der Weg nicht gegangen werden. Es ist Teil der Praxis einen Guru zu finden, sich hinzugeben und keine Fragen zu stellen. Übersetzt man aber das Wort guru aus dem Sanskrit, bedeutet es das Erleuchtungsprinzip. Es ist nicht an eine Person gebunden. Es kann alles sein – ein Ort, Musik und vieles mehr. In den beschriebenen Fällen wird deutlich, wie der Lehrende, weil er der Guru ist und zur Erleuchtung führen kann, nicht mehr hinterfragt wird. Der Glaube, dass der Guru weiß, was am besten ist, ist größer als das Vertrauen in den eigenen Instinkt. Der Guru sei kein sexuelles Wesen, daher diene Sex nur als Energie zum spirituellen Wachstum, verbaler Missbrauch sei ein Test, ob dem Guru vertraut wird (Dyson 2010, Parikh & Patel 2019). Auch hier sehe ich mir an, wie das Yogamagazin Yoga aktuell in Deutschland mit den Vorwürfen umgeht. Ich kann nur einen Artikel finden, in dem vage über sexuellen Missbrauch im Yoga geschrieben wird. Es wird aber nicht benannt, was die Vorwürfe enthalten, welche Traditionen es betrifft, den Opfern wird keinen Raum gegeben, ihre Geschichte zu erzählen. Wie bei fast allen kritischen Themen, werden diese nur oberflächlich betrachtet. Dabei sollten sie ins Zentrum rücken. Ein kritischer Diskurs ist es, was vor allem der deutschen Yogaszene fehlt. Ich muss an Tupoka Ogettes Begriff Happyland denken. Auch die Yogawelt empfinde ich häufig als eine Art Happyland. Auseinandersetzungen werden vermieden. Hinterfragt wird wenig. Kritik geäußert noch weniger. Zu oft wird davon ausgegangen, dass alle und alles, was Teil der Szene ist, gut ist. Es ist Yoga – es kann nicht schlecht sein.

Ich lasse all das neue Wissen sinken. Ich weiß, dass ich in Zukunft Yoga und wie wir es in der westlichen Welt leben, viel kritischer betrachten werde. Ich denke über Konsequenzen nach. Ich werde kein Yoga mehr unterrichten. Ich werde der Tradition nicht gerecht. Ich möchte Yoga wieder in seiner Fülle entdecken. Ich möchte wieder nur Schülerin sein. Mich der Philosophie widmen und sie leben. Noch mehr über die Ursprünge lernen und vor allem – zuhören. Den Lehrer*innen zuhören, die sich für Diversität einsetzen, die aufklären, Yoga wieder näher an den eigentlichen Ursprung bringen wollen und nicht müde werden, ihre Stimmen zu nutzen.


Bibliographie

Dyson, Pamela Sahara. Premka: White Bird in a Golden Cage: My Life with Yogi Bhajan (United States: Eyes Wide Publishing, 2019)

Orner, Eva (Regie). (2019). Bikram: Yogi, Guru, Predator [Film]. Pulse Films.

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Quelle: Susanne Peter, Das moderne Yoga: Ein Ergebnis patriarchaler und kolonialisierter Strukturen, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 21.05.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/05/21/das-moderne-yoga-ein-ergebnis-patriarchaler-und-kolonialisierter-strukturen/