Be_hinderung ist ein Konstrukt

Tomke Thielebein (SoSe 2022)

1. Warum ich darüber schreibe, worüber ich schreibe

Mein selbstgewählter Beginn meiner politischen Sozialisation und damit einhergehenden Sensibilisierungsprozess mit gesellschaftlichen Verhältnissen begann in den Jahren 2014/15, da in dieser Zeit PEGIDA und die AfD, geflüchtete Menschen verwendeten, um den Gesellschaftsdiskurs unangenehm dominant für ihre Zwecke zu nutzen. In dieser Zeit begann ich zu den Gegendemonstrationen der sog. ‚besorgten Bürger‘ – jeden Montag auf dem Europaplatz beim Hauptbahnhof – zu gehen. Hier kam ich das erste Mal intensiv in Berührung mit Kritik an gesellschaftlichen Strukturen. Die ersten Hauptthemen, die mich in eine tiefere Auseinandersetzung brachten, waren kapitalismuskritische Stimmen und eine antifaschistische Haltung. Darüber vertiefte ich mich weiter in (deutsche) linke[1] Inhalte. Hierbei geht es im Groben um Macht- und Unterdrückungsverhältnisse, die es zu verstehen und im besten Fall zu dekonstruieren gilt. Viel besprochene Themen in diesem Zusammenhang sind: Kapitalismus, Sexismus und Rassismus; auch Klassismus findet immer mehr reflexiven Raum in linken Kreisen. Auch im gesellschaftlichen Mainstream findet sich mittlerweile Literatur, die sich bspw. mit Rassismus auseinandersetzt und die diskriminierenden Dimensionen der dominant-deutschen Bevölkerung verdeutlichen und zur Auseinandersetzung anregen (bspw.: Sow, 2018; Ogette, 2022). Was meiner Erfahrung nach jedoch wenig Beachtung findet – sowohl in der linken Szene als auch im gesellschaftlichen Mainstream-Diskurs -, ist Ableismus und damit verbundene Strukturen.

Als ich anfing zu Ableismus zu recherchieren, hatte ich im Kopf über Ableismus und Sprache zu schreiben und hier auf sprachliche (De-) Konstruktionen einzugehen. Dabei wollte ich Verbindungen zur sprachlichen Veränderung bei gendernden Bezeichnungen ziehen. Jedoch habe ich zu Ableismus und Sprache wenig gefunden. Dabei findet sich Ableismus als Normalität ständig in der Sprache: „Auf dem rechten Auge blind sein“, „das war wirklich irre“, „ich glaub du bist verrückt“ usw. Das sind alles sprachliche Ausdrücke, die gesamtgesellschaftlich viel benutzt werden und wo bisher wenig Sensibilisierung stattgefunden hat. Literatur zu Machtverhältnissen und Sprache in Bereichen wie Sexismus und Rassismus findet sich hingegen sowohl in der wissenschaftlichen Fachliteratur einiges (bspw.: Hentges & Nottbohm, 2014; Arndt et al., 2018; Nduka-Agwu & Hornscheidt, 2013; Günthner, 2019; Elsen, 2020), als auch im gesellschaftlichen Mainstream[2] (bspw.: Sow, 2018; Ogette, 2022; Gümüşay, 2021). Jedoch bin ich bei der Recherche auf Kritik von be_hinderten Aktivist*innen gestoßen, die darauf aufmerksam machen, dass Ableismus ein wenig beachteter Teil von (linken) Diskursen ist und unreflektiert als Normalität oft stattfindet (vgl.: Ash, 2021 und TRAUMALEBEN, 2022).

Deshalb habe ich mich dazu entschieden in die Auseinandersetzung mit Ableismus zu gehen, um mich dahingehend zu sensibilisieren. Hierzu habe ich mich in die Dis_ability Studies hineingelesen und mich mit der Konstruktion Be_hinderung beschäftigt.

1.1 Warum ich so schreibe, wie ich schreibe

Ich schreibe Be_hinderung weil der Unterstrich in aktivistischen Kreisen benutzt wird, um klar zu machen: „Behindert ist man nicht – behindert wird man“ (Payk, 2019).  Dies unterstreicht einen Perspektivwechsel, der Be_hinderung als soziales Konstrukt versteht, welches durch gesellschaftliche Strukturen, Diskurse und Handlungen erwachsen ist. Die Umwelt wird als Problem artikuliert, statt die Be_hinderung (vgl.: ebd.).

Den Unterstrich benutze ich auch in der englischsprachigen Schreibweise: Dis_ability.Zum einen möchte ich auch hier auf die behindernden Strukturen aufmerksam machen und zum anderen ist es in der englischen Schreibweise möglich aufzuzeigen, dass ‚disabled‘ Menschen gleichzeitig ‚abled‘ sind (vgl.: ebd.).

Bezogen auf gendergerechte Sprache nutze ich den sog. Gender-Stern (*), um zum einen die soziale Konstruiertheit von Mann und Frau zu verdeutlichen und zum anderen, die Binarität aufzubrechen und Platz zu machen für weitere Genderidentitäten[3].

2. Das soziale Modell in den Dis_ability Studies

In unserer (deutschen, westlichen) Gesellschaft herrscht ein defizitorientierter Blick auf Menschen mit Be_hinderung vor, der die Annahme schafft, Be_hinderungen seien eine individuelle Tragödie, die Familien und Gesellschaft belaste. Dieser Blick wurde von dem individuell-medizinischen Modell von Be_hinderung geprägt. Dieses „fokussiert auf den Mangel an sensorischen, mentalen und physischen Fähigkeiten“ (Grochar, 2022). Grundlegend dafür ist die normative Konstruktion eines ‚gesunden‘ Körpers, der als Differenzschablone dient. Die Abweichung dieser körperlichen Norm kann zu einer Diagnose führen, die einen Menschen zu einem Menschen mit Be_hinderung macht (vgl.: Grochar, 2022).

Das soziale Modell kann als Gegenmodell zum individuell-medizinischen betrachtet werden und ist ein grundlegendes Modell der Dis_ability Studies. Es geht davon aus, dass es einen Unterschied zwischen diagnostizierbaren Beeinträchtigungen oder Schädigungen gibt – diese werden impairment genannt – und daraus folgenden sozialen Benachteiligungen/Diskriminierungen – die dis_ability genannt werden (vgl.: Anhorn, Bettinger, Schmidt-Semisch & Stehr, 2007, S. 114–115). Somit sind Menschen mit Be_hinderung nicht von Natur aus be_hindert, sondern werden durch soziale und gesellschaftliche wie auch materielle Strukturen von der Gesellschaft behindert und damit von einer gleichberechtigten Teilhabe abgehalten. Ein körperlicher Schaden oder normabweichendes Verhalten, welches als impairment festgestellt werden kann, muss nicht zwangsläufig zu dis_ability werden, jedoch tragen gesellschaftliche Strukturen dazu bei.

Um diese theoretischen Worte in eine anschaulichere Praxis zu übertragen: Eine Person, die bspw. durch einen Unfall nicht mehr laufen kann und auf einen Rollstuhl angewiesen ist, kann sich eigentlich gut selbstständig in der Welt fortbewegen, jedoch sind unsere Straßen, Gebäude und Bahnhöfe nur auf die körperliche Norm der ‚gesunden‘ Körper, die Laufen können ausgerichtet. Somit kann ein Bürger*innensteig, eine kleine Treppe vor einem Geschäft oder ein kaputter Fahrstuhl dazu führen, dass Menschen von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden. Aus der normativen Perspektive wird hier als Problem meistens nicht die Stufe oder der fehlende gesenkte Bordstein benannt, sondern der Rollstuhl an sich als negativ und behindernd betitelt. Dies verdeutlicht z.B. Raul Kaufhausen, wenn er darauf aufmerksam macht, dass Floskeln fallen wie: „an den Rollstuhl gefesselt sein“. Dies ist eine Perspektive der Abhängigkeit und des Defizits, die meistens von Nichtbe_hinderten zu hören ist. Raul Kaufhausen betont, dass für ihn der Rollstuhl „Freiheit und nicht Einschränkung“ (Krauthausen, 2011) bedeutet und dass er sich freiwillig anschnallt und nicht daran fremdbestimmt „gefesselt“ wird (vgl.: ebd.).

Im weiteren Abschnitt möchte ich mich etwas genauer noch mit der normativen Konstruktion beschäftigen, die ich als grundlegend für das Soziale Modell beschreiben würde.

3.    Normativität

Die Dis_ability Studies und damit auch das Soziale Modell möchten die Konstruktion von Be_hinderung untersuchen. Es geht also um die Produktion, Konstruktion und Regulation von Be_hinderung durch die Dominanzgesellschaft; die Forschungsperspektive wird sozusagen umgekehrt und die Minderheit schaut auf die Mehrheit (vgl.: Raab, 2012, S. 70).  Vertreter*innen der Dis_ability Studies in den 1990er Jahren beschäftigten sich vorwiegend mit den institutionellen Herstellungen von Be_hinderung, wie oben bereits anhand der materiellen Barrieren wie Bordsteinen oder kaputten Fahrstühlen beschrieben wurden (vgl.: Waldschmidt, 2022, S. 361). An dieser Stelle möchte ich auch exkludierende Einrichtungen wie Werkstätte für Menschen mit Be_hinderung nennen, wo unterbezahlt Arbeit geleistet wird, Heime, wo stationäre Unterbringung außerhalb der Gesamtgesellschaft stattfindet oder Förder- bzw. Sonderschulen.   

Zu den 2000er Jahren hin, wird eine poststrukturalistische Perspektive auf Be_hinderung lauter, die mit Rückgriff auf Foucault die Trennung von impairment und dis_ability kritisiert, indem sie auf den konstruierenden Aspekt des gesellschaftlichen Diskurses aufmerksam machen und damit die Natürlichkeit von impairment[4] in Frage stellen (vgl.: ebd.).

3.1 Konstruktion von Normalität bzw. Normativität durch diskursive Praxis

Die Grundannahme ist, dass die Art und Weise, wie (von der Dominanzgesellschaft) über Menschen gesprochen wird, Normalität und Nichtnormalität hergestellt wird. In den Dis_ability Studies ist der Körper als Ausgangs- und Bezugspunkt relevant, da erst normative Zuschreibungen, die sich an Form und Zustand orientieren, diesen produzieren (vgl.: Raab, 2012, S. 69). Ein be_hinderter Körper resultiert als soziales Phänomen aus verdichteten diskursiven Strategien und Machtpraktiken (vgl.: Raab, 2012, S. 76–77). Wie ich noch etwas kleinteiliger beschreiben würde: Innerhalb dieses diskursiven Prozesses, der gesellschaftliche Normen, Werte usw. prägt, wird ‚gesund‘ als differenzgebende Kategorie für Be_hinderung geschaffen. Diese binäre Differenzierung wiederum ist grundlegend für weitere Ausdifferenzierungen, was nun in die Normkategorie und was in die abweichende Kategorie einzuteilen ist. Ein ‚klassisches‘ Beispiel, das in diesem Zusammenhang genannt werden kann, ist die Pathologisierung von Homosexualität. Durch den gesellschaftlichen Diskurs wurde die Pathologisierung geschaffen und im weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung dekonstruiert und 1992 aus dem ICD (International Classification of Diseases) gestrichen (vgl.: Zander, 2022, S. 12). 

In diesem gesellschaftlichen Diskurs wird nicht nur eine binäre Differenzierung aufgemacht, sondern es werden auch Wertigkeiten konstruiert. So sind bestehende Stereotype bezogen auf Menschen mit Be_hinderung oft negativ und äußern sich in Zuschreibungen wie: „schwach, unselbstständig, abhängig, nicht leistungsfähig, hilfebedürftig, unattraktiv“ (Köbsell, 2016, S. 92–93). Insgesamt also das negative Gegenbild der anzustrebenden Norm(alität). Diese Vorannahmen sind die Grundlage auf dem Mitleid entsteht und auch diskriminierendes Verhalten (vgl.: ebd.).

Eine anschauliche Erzählung bezogen auf den normativen Blick der Dominanzgesellschaft habe ich aus der Zeit des Arbeitsprozesses für diesen Text: Eine Lehrerin war in dieser Zeit bei mir zu Besuch und wollte wissen, worüber ich schreibe. Ich sagte ihr, dass ich überlege die Konstruktion von Normativität bzw. Normalität anhand von der Kategorie Be_hinderung zu diskutieren. Daraufhin meinte sie: „Ohh ja, es ist wirklich schlimm, dass ‚be_hindert‘ so oft als Schimpfwort benutzt wird. Meinen Schüler*innen sage ich immer, wenn sie sich gegenseitig so beleidigen: ‚seid froh, dass ihr nicht behindert seid!‘“. Damit hat sie ein perfektes Beispiel für die Konstruktion von der Normalität als ‚gesunde‘ Person gegeben und gleichzeitig die Annahme der negativen Konstruktion, die in der Zuschreibung ‚unerwünscht‘ mündet. Sie sagte das mit einer solchen Selbstverständlichkeit, die so wirkte, als meinte sie gerade ein antidiskriminierendes Statement abgegeben zu haben. Dies hat mir in intensiver Eindrücklichkeit die gesellschaftlich vorherrschende Sichtweise auf Normalitätsabweichung nochmals vor Augen geführt.

Raul Kaufhausen – den ich als nur eine Stimme von Aktivist*innen nennen möchte – zeigt genau auf dieses Phänomen, wenn er schreibt: „Auch ist die Annahme, dass ich an ‚Glasknochen leide‘, eine typische Sicht der Nichtbehinderten. Für viele Menschen mit Behinderung ist die Tatsache, behindert zu sein, einfach Fakt“ (Krauthausen, 2011).

Dieser Fakt sollte gesellschaftlich integriert werden.

4. Doing Dis_ablility und Doing Gender

Das soziale Modell von Be_hinderung mit der Trennung der individuellen und gesellschaftlichen Ebene erinnert an ähnliche Prozesse der Konstruktion im Bereich von Geschlecht, wo eine Trennung von Sex und Gender stattgefunden hat. So ist es nicht verwunderlich, dass es auch die Perspektive des Doing Dis_ability gibt.

Doing Gender ermöglicht die Konstruktionsprozesse von Gender, Genderrollen und Genderstereotypen zu analysieren (vgl.: Köbsell, 2016, S. 91). Gender ist nicht nur durch Sexismus und strukturelle Ungleichheiten konstruiert, sondern auch über Interaktionen im Alltag, die alltäglich Genderrollen und -stereotype (re-)produzieren und verfestigen (vgl.: ebd.). Dieser Prozess beginnt ab dem Moment, wo abgelesen wird, ob ein Kind „oh ein Junge!“ oder „oh ein Mädchen!“ wird. Doing Gender kann sowohl bewusst wie auch unbewusst stattfinden; der unbewusste Anteil geschieht viel über gesellschaftliche Erwartungen und Zuschreibungen, die unsere Sozialisation beeinflussen (vgl.: ebd.). Dieser Sozialisationsprozess bringt verschiedene Verhaltens- und Denkweisen mit sich, die durch eine sexistische, heteronormative Gesellschaft hierarchisch strukturiert sind und meist unbewusst und unreflektiert übernommen werden (vgl.: ebd.). Unsere Gesellschaft strukturiert nicht nur Geschlecht binär, sondern auch andere Kategorien, wie deutsch und fremd oder be_hindert und nichtbe_hindert und schafft auch in ihnen eine hierarchische Differenz, die durch reproduzierendes Handeln naturalisiert wird (vgl.: Köbsell, 2016, S. 91–92).

Wichtiger Teil der Konstruktion von Be_hinderung bzw. Doing Dis_ability ist ‚compulsory abledbodiedness‘ (vgl.: Köbsell, 2016, S. 94). Dies ist ein Konzept, das angelehnt an ‚compulsory heterosexuality‘ aufzeigt, dass alle gesellschaftlichen Bereiche sowohl an einer verpflichtenden Heterosexualität als auch an einer verpflichtenden ablebodiedness ausgerichtet sind und bspw. beides getrennt von Politik gesehen wird und als natürliche Art zu leben (vgl.: Köbsell, 2016, S. 94).

Doing Dis_ability findet auf der Ebene alltäglicher Interaktionen statt, welche bestimmte Handlungen und Fähigkeiten mit der Bedeutung be_hindert oder nichtbe_hindert versehen (vgl.: Köbsell, 2016, S. 92). Die Zuschreibungen, die beim Doing Dis_ability unreflektiert in Wahrnehmungen, Interaktionen und alltagspolitische Handlungen hineinfließen und Wirkung entfalten, sind meist negativ (wie oben auf Seite 7 bereits genannt). Diese negativen Zuschreibungen können sich zu herabwürdigendem und bevormundenden Verhalten entwickeln, wie z.B., dass Menschen mit Be_hinderung nicht als gleichwertige Gesprächspartner*innen gesehen werden oder automatisch zugeschrieben wird, Hilfe im Alltag zu brauchen (vgl.: ebd.). Diese Erwartungen und Zuschreibungen können internalisiert werden und als eigene Handlungsmaximen übernommen werden, so dass sich die Vorannahmen zu erfüllen scheinen (Stichwort: Selbsterfüllende Prophezeiung).

„So schreibt Fredi Saal ‚Ich bin nämlich ein gelernter Behinderter. Die Rede vom ‚gelernten’ Behinderten bitte ich wortwörtlich zu nehmen. Denn ich bin zwar mit einer spastischen Lähmung geboren worden, ich bin aber nicht mit dem Sozialstatus eines Behinderten auf die Welt gekommen. Mich als Behinderten anzusehen, habe ich gelernt – und zwar gründlich!‘ (1996, S. 87)“ (Köbsell, 2016, S. 93).

Fazit

Insgesamt hat mich die Auseinandersetzung mit den Dis_ability Studies dazu angeregt, mich aus erweiterten Perspektiven mit gesellschaftlichen Normalisierungsprozessen auseinanderzusetzten. Diese produzieren im gesellschaftlichen Zusammenleben verschiedenste Diskriminierungsformen. Eine Normalisierung von Nichtbe_hinderung bringt eine Naturalisierung von Be_hinderung als negativ konnotiert und eingeschränkt mit sich. Die Konstruktion von Gender und die Infragestellung von Heteronormativität ist im gesellschaftlichen Diskurs angekommen und es hat sich ein Sensibilisierungsprozess eingestellt. Obwohl das individuell-medizinische Modell bereits vom sozialen Modell abgelöst wurde, ist diese neue Perspektive scheinbar noch nicht in der Gesellschaft angekommen und Be_hinderung wird als ‚Naturphänomen‘ gesehen. Dies ist wegbereitend für Ableismus. Ein gesellschaftlicher Diskurs kann dazu beitragen, dass Be_hinderung gesamtgesellschaftlich als soziales Konstrukt gesehen wird und damit auch als gesamtgesellschaftliche Dekonstruktions-Aufgabe.

Abschließend möchte ich sagen, dass es aus meiner Sicht noch viel Bedarf gibt für Ableismus zu sensibilisieren, damit wir uns alle weiter von einer exkludierenden Gesellschaft wegbewegen, hin zu einer inkludierenden. Dies können nichtbe_hinderte Menschen tun, indem sie sich z.B. selbstständig informieren oder auch mit Geldspenden Einrichtungen, Organisationen usw. unterstützen, die sich gegen Ableismus einsetzen oder auch Beratungen und Fortbildungen anbieten – wie es bspw. der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. tut.

Literaturverzeichnis

Anhorn, R., Bettinger, F., Schmidt-Semisch, H. & Stehr, J. (Hrsg.). (2007). Foucaults Machtanalytik und soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme (Lehrbuch, Bd. 1, 1. Aufl.). Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90710-9

Elsen, H. (2020). Gender – Sprache – Stereotype: Geschlechtersensibilität in Alltag und Unterricht (1. Aufl.). UTB GmbH.

Gümüşay, K. (2021). Sprache und Sein. btb Verlag.

Günthner, S. (2019). Sprachwissenschaft und Geschlechterforschung: Übermittelt unsere Sprache ein androzentrisches Weltbild?. In: Kortendiek, B., Riegraf, B., Sabisch, K. (eds) Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft, vol 65. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12496-0_126

Grochar, P. (2022, 12. August). Das Individuell-medizinische Modell von Behinderung | DISTA. Zugriff am 12.08.2022. Verfügbar unter: https://dista.uniability.org/glossar/das-individuell-medizinische-modell-von-behinderung/

Hentges, G. & Nottbohm, K. (2014). Sprache – Macht – Rassismus (1. Aufl.). Metropol-Verlag.

Köbsell, S. (2016). Doing Dis_ability: Wie Menschen mit Beeinträchtigungen zu „Behinderten“ werden. In K. Fereidooni & A. P. Zeoli (Hrsg.), Managing Diversity (S. 89–103). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-14047-2_6

Krauthausen, R. (2011, 7. November). Wenn Sprache behindert. Raul Krauthausen. Zugriff am 27.07.2022. Verfügbar unter: https://raul.de/wortsport/wenn-sprache-behindert/

N.N. (2022, 15. August). Gendergerechte Sprache • Diversity • Freie Universität Berlin. Zugriff am 15.08.2022. Verfügbar unter: https://www.fu-berlin.de/sites/diversity/antidiskriminierung/sprache/gender/index.html

Nduka-Agwu, A. & Hornscheidt, A. L. (2013). Rassismus auf gut Deutsch: Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen (wissen & praxis) (2., Auflage). Brandes & Apsel.

Ogette, T. (2022). exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen (9. Aufl.). Unrast Verlag.

Payk, K. (2019, 12. März). Hä? Was bedeutet be_hindert? – Missy Magazine. Missy Magazine, 01/19. Zugriff am 15.08.2022. Verfügbar unter: https://missy-magazine.de/blog/2019/03/12/hae-was-bedeutet-be_hindert/

Raab, H. (2012). Doing Feminism: Zum Bedeutungshorizont von Geschlecht und Heteronormativität in den Disability Studies. In K. Rathgeb (Hrsg.), Disability Studies (S. 69–89). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18972-7_6

Sow, N. (2018). Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus (1. Aufl.). BoD – Books on Demand.

Waldschmidt, A. (2022). Handbuch Disability Studies. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18925-3

Zander, M. (2022). Ist Behinderung eine soziale Konstruktion? Zur Kritik sozialkonstruktivistischer Auffassungen in den (deutschsprachigen) Disability Studies. https://doi.org/10.15203/ZDS_2022_1.04


[1] Gerne möchte ich anmerken, dass es DIE deutsche Linke nicht gibt, sondern innerhalb linker Kreise viele verschiedene Strömungen existieren. Insgesamt gibt es viele Diskussions- und Streitpunkte in linken Kreisen, jedoch würde ich meinen, dass es ein verbindendes Glied gibt: Die Auseinandersetzung mit Macht- und Unterdrückungsverhältnissen und damit zusammenhängend Diskriminierungsstrukturen in der Gesellschaft. Ein gemeinsames Ziel, wäre die Abschaffung dieser Unterdrückungsverhältnisse hin zu einer Vielfalt-integrierenden Gesellschaft. Wie das jedoch geht, wo begonnen wird usw. sind wiederum Streitpunkte.

[2] Mit ‚Mainstream‘ meine ich in diesem Zusammenhang Bücher, die nicht nur in einem Fachdiskurs gelesen werden, sondern auch in einer breiteren Gruppe der Gesellschaft.

[3] Wobei ich bei diesem Punkt länger überlegt habe, ob ich den Doppelpunkt verwenden möchte, da ich in einem Vortrag gehört habe, dass sehbehinderte oder eingeschränkte Menschen, die ein Lesegerät nutzen, den Doppelpunkt besser dechiffrieren können. Nun habe ich aber auf der Website der FU gelesen, dass der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. das Sternchen favorisiert, da dieses von den Geräten besser zu lesen sei (vgl.: N.N. (2022). Was ich mich in diesem Zusammenhang noch gefragt habe, ob der Unterstrich, den ich bei Be_hinderung nutze, von den Lesegeräten gelesen werden kann oder ob dieser den Lesefluss stören würde. Dazu habe ich leider nichts gefunden.

[4] Über die Konstruiertheit von impairment gibt es innerhalb der Disability Studies Kritik und unterschiedliche Ansichten. Dies zeigt bspw. ein Artikel in der Zeitschrift für Disability Studies in der Ausgabe vom Februar 2022 (vgl.: Zander (2022).


Quelle: Tomke Thielebein, Be_hinderung ist ein Konstrukt, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 01.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=292

Die Rolle der Sprache im Alltagsrassismus

Lena Hackauf (SoSe 2022)

1. Einleitung

Im November 2020 sowie im Januar 2021 strahle der WDR eine Folge der Talkshow Die letzte Instanz aus.[1] Diskursthema der Show war es unter anderem, sich darüber auszutauschen, ob die Z-Soße[2] einen anderen Namen erhalten sollte. Hintergrund dafür war die jahrelange Beschwerde der Sinti und Roma, dass eben jene Bezeichnung eine Diskriminierung darstelle. Schlussendlich drang dies zu einem Hersteller durch, der die Soße schließlich in Paprikasauce ungarische Art umbenannte. Der WDR-Moderator Steffan Hallaschka und das Team der Show luden vier prominente weiße – und damit vier nicht betroffene – Menschen ein, um über die Frage zu debattieren. Die vier Gäste waren sich einig, dass es nicht diskriminierend sei, das Z-Wort oder auch das N-Wort zu verwenden.

Insbesondere nach der erneuten Ausstrahlung der Sendung im Januar 2021 war die Kritik an dem Thema, der inhaltlichen Debatte sowie an den Gästen groß (vgl. Dell 2021, Sterz & Haruna-Oelker 2021). Die Debatte in der Show macht deutlich, wie tief verwurzelt Rassismus in der deutschen Gesellschaft ist. Dabei wird ein bestimmter Bereich des Rassismus bedient, der sogenannte Alltagsrassismus. Diese Hausarbeit möchte sich im Bereich des Alltagsrassismus mit diskriminierender Sprache in Deutschland beschäftigen. Dafür soll zunächst einmal geklärt werden, was unter Rassismus sowie Alltagsrassismus verstanden werden kann. Anschließend soll spezifisch auf den Aspekt der rassistischen Sprache in Deutschland eingegangen werden.

2. Rassismus   

 Unter einer rassistischen Tat versteht die Mehrheit der Menschen einen gewalttätigen, mutwilligen und offensiven Akt der Diskriminierung. Hinzu kommt, dass es sich hierbei um seltene Ausnahmen handeln würde, nur eine rechte Minderheit würde beziehungsweise könne rassistisch handeln (vgl. Schramkowski & Ihring 2018, S. 279). Diese Auffassung von Rassismus stimmt jedoch nicht. Ganz im Gegenteil: Die offensive Form von Rassismus spiegelt nicht die ganze Bandbreite der Diskriminierung von Menschen etwa aufgrund ihrer Ethnie, Religion oder Hautfarbe dar. Rassismus ist eine Ideologie, die davon ausgeht, dass die Menschheit in verschieden „Rassen“ unterteilt werden könne (Koller 2015). Dadurch sei es möglich, anhand von willkürlichen Eigenschaften, wie zum Beispiel körperlichen Merkmalen, Menschen nicht nur zu unterscheiden, sondern auch den Gruppen Privilegien zu- oder abzuschreiben. Es geht also darum, sich selbst von anderen, von Fremden, abzugrenzen und gleichzeitig Machtverhältnisse herzustellen (vgl. Hergesell 1992, S. 748).  
Rassismus ist ein System, dessen Wurzeln bis in die Antike zu verfolgen sind (vgl. Rommelspacher 2009, S. 28). Auch das Gesellschaftssystem der Kasten in Indien sind ein Erzeugnis rassistischer Motive (vgl. Rommelspacher 2009, S. 28). Besonders zentral für das heutige Verständnis von Rassismus ist jedoch die Rassentheorie des 18. Jahrhunderts in Europa (vgl. Koller 2015). Diese Theorie soll(te) dazu dienen, Menschen zu kategorisieren und hierarchisch zu sortieren. Auf diese Weise rechtfertigten die Könige europäischer Länder wie beispielsweise Großbritannien, der Niederlande oder Deutschlands die Kolonialisierung auf dem afrikanischen, amerikanischen oder auch süd-ost-asiatischen Kontinent (vgl. Koller 2015).

Auch im 21. Jahrhundert haben die rassistischen Strukturen der Gesellschaft Auswirkungen auf „soziale, politische und wirtschaftliche Handlungen“ (Rommelspacher 2009, S. 25). Zum modernen Rassismus können Formen wie der Antisemitismus, Antiislamismus sowie der Antiziganismus gezählt werden (vgl. Rommelspacher 2009).

2.1 Die Alltäglichkeit von Rassismus

Rassismus zeigt sich vielseitig. Neben der offensiven Form von Rassismus, die sich beispielsweise durch offenkundige Beleidigungen oder physische Angriffe äußert, gibt es eine weitere Form, den sogenannten Alltagsrassismus. Dieser beginnt bei abfälligen Blicken, geht über Fragen nach der ‚wirklichen‘ Heimat und endet schlussendlich in strukturellen Benachteiligungen von BIPoC[3], zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Suche nach einer Wohnung.

Ein wesentlicher Punkt rassistischen Gedankenguts ist es, Menschen mit der Hilfe von Stigmatisierung und Verallgemeinerungen zu gruppieren. Auch mit vermeintlich wohlwollenden Aussagen sollen Menschen eingeordnet werden (Nguyen 2014). Eine solche, aufgrund von Herkunft, Name, Sprache, Religion und vielem weiteren basierten, Verallgemeinerungen wäre zum Beispiel eine Aussage wie ‚Alle Asiaten sind gut in Mathe.‘ Dabei ist es nicht wichtig, ob die Auffassung positiv oder negativ gemeint war. Mit solchen Verallgemeinerungen spricht man den Menschen ihre Individualität, ihr Können und ihre Fähigkeiten ab. Denn es wird gleichzeitig impliziert, dass jeder Mensch, der wie in dem angeführten Beispiel als Asiate gelesen wird, ohnehin gut mit Zahlen umgehen könne und es somit nichts Besonderes sei.

In der Regel werden solche Bemerkungen und Behandlungen von Nicht-Betroffenen nicht als rassistisch eingeordnet (vgl. Schramkowski & Ihring 2018, S. 280). Das hängt zum Teil damit zusammen, dass das Thema Rassismus in unserer Gesellschaft tabuisiert ist und sich die Mehrheitsbevölkerung in Deutschland nur ungern damit beschäftigt – ein Privileg. Denn wie bereits erwähnt, wird davon ausgegangen, dass Rassismus kaum vorkäme. Ein Hauptbestandteil des Alltagsrassismus ist damit die Banalität (vgl. Schramkowski & Ihring 2018, S. 281).

Doch auch BIPoC, also von Rassismus betroffene Menschen, können alltagsrassistische Handlungen und Bemerkungen übersehen (vgl. Nguyen 2014). Das liegt daran, dass auch BIPoC mit den Vorurteilen der hiesigen Gesellschaft aufwachsen und sozialisiert werden. Unter racial bias kann man die Stereotype zusammenfassen, die unterbewusst einen Einfluss auf unsere Handlungsweisen haben (vgl. Valla et al. 2018, S. 195-196). In der Studie von Valla et al. (2015) wird deutlich, dass es sowohl weißen als auch schwarzen Menschen leichter fällt, positive Eigenschaften weiß aussehenden Menschen zuzuordnen. Hingegen fällt es ebenfalls beiden Testgruppen leichter, schwarz gelesenen Menschen negative Attribute zuzuschreiben (vgl. Valla et al. 2015). Die Ergebnisse legen nahe, dass Alltagsrassismus einen Effekt darauf hat, wie BIPoC ihre Umwelt wahrnehmen und sie ebenfalls die rassistischen Stereotype, das „rassistische Wissen”, der Gesellschaft verinnerlichen (Nguyen 2014).

2.2 Diskriminierende Worte

Worte spielen eine elementare Rolle im Alltagsrassismus. Dabei können zwei Arten von Rassismuserfahrungen unterschieden werden (vgl. Çiçek et al. 2014, S. 311): Neben der primären Rassismuserfahrung, durch zum Beispiel offensive Hetze gegen Menschengruppen aufgrund ihrer Ethnie, Religion oder ähnlichem, gibt es auch sekundäre Rassismuserfahrungen. Letztere sind dem Alltagsrassismus zuzuordnen. Dazu zählen neben Kommentaren, den vermeintlichen Komplimenten, Zuschreibungen und vielem mehr ein Pool rassistischer Beleidigungen, auf englisch racial slurs. Die racial slurs sind geschichtlich bis in die Kolonialzeiten zurückzuführen – teilweise auch noch weiter zurück. Sie entstanden und wurden genutzt, um die damit zu bezeichnenden Menschen herabzusetzen. Zu den racial slurs zählen zum Beispiel das N- und M-Wort für schwarze Menschen sowie das Z-Wort für Sinti und Roma.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (2015) schreibt dazu: Das Z-Wort „ist eine von Klischees überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft, die von den meisten Angehörigen der Minderheit als diskriminierend abgelehnt wird.“ Denn egal ob man racial slurs mit oder ohne schlechte Intention verwendet, sie transportiert und reproduzieren die rassistische Vergangenheit, durch die sie geprägt sind (vgl. Çiçek et al. 2014, S. 313). Racial slurs wie das Z-Wort sind mit realen Gewaltakten direkt und unwiderruflich verbunden. Das Z-Wort ist beispielsweise bis in das 16. Jahrhundert in Deutschland zurückzuführen. In seiner etymologischen Entstehung steht es in einer engen Verbindung zu den Stereotypen über die Sinti und Roma (vgl. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 2014). Gewalttaten sowie die systematische Vernichtung der Sinti und Roma im Dritten Reich wurden mit eben jenen Stereotypen begründet und gerechtfertigt.

Die mit Schmerz und Leid verbundenen racial slurs sind noch immer im Alltag aufzufinden und transportieren und verkörpern eben jene Erfahrungen – seien es Straßennamen, Speisen und Süßigkeiten oder ältere Literatur, zu der auch Kinderbücher wie zum Beispiel Pippi Langstrumpf oder Die kleine Hexe zählen. Durch die alltäglich wiederholende Diskriminierung der racial slurs werden die rassistischen Prinzipien und Machtstrukturen gefestigt. Kourabas (2019, S. 20) fasst zusammen:

„Durch sprachliche Bezeichnungen, die an rassistische Bilder der Unterordnung und vermeintlicher Minderwertigkeit und Geschichtslosigkeit anknüpfen, werden Personen und Personengruppen herabgewürdigt, entmenschlicht, beschimpft, homogenisiert, exotisiert, infantilisiert und als Fremde und Andere in einem geschichtslosen Vakuum exkludiert.“

3. Sprache schafft Wirklichkeit

Sprache hat einen direkten Einfluss darauf, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Das belegt zum Beispiel die Studie des Linguisten Levinson (1997). In dieser Beschreibt Levinson, dass es der indigenen Sprache Guugu Yimithirr der Aborigines in Australien keine Begriffe für links, recht, vorne oder hinten gibt. Um zu beschreiben, dass hinter einer Person ein Unwetter aufzieht, nutzen die Menschen stattdessen die Himmelsrichtungen. Also zum Beispiel ‚Nördlich von dir zieht ein Unwetter heran.‘ Da die Menschen sich täglich orientieren müssen, um richtig kommunizieren zu können, haben sie einen ausgeprägten Orientierungssinn. Sogar in einem dunkeln Raum ohne Fenster können sie die Himmelsrichtigen korrekt bestimmen (vgl. Levinson 1997, S. 125).

Mit Sprache formen wir also unser Denken, unsere Realität und schließlich auch, wie wir handeln. Denn wer spricht, der handelt (vgl. Kourabas 2019, S. 19). Menschen können sich nur aktiv dazu entscheiden, zu sprechen. Der Sprechakt oder die Sprechhandlung ist also immer absichtlich. Hinzu kommt, dass Sprache eine performative Eigenschaft innehat (vgl. Kourabas 2019, S. 19). Das bedeutet, Menschen bezeichnen Dinge und Umstände. Neben der Beschreibung ihrer Umwelt reproduzieren sie die dazugehörigen Vorstellungen und geben diese an die Gesprächspartner*innen weiter (vgl. Kourabas 2019, S. 19). Menschen, die innerhalb einer Gesellschaft aufwachsen, lernen durch ihre Sozialisation die Bedeutungen, die hinter den Wörtern stehen. Dadurch ist es möglich, sich zu unterhalten. Gleichzeitig ist es nicht möglich, Wörter auszusprechen, ohne ihre durch die Gesellschaft bestimmten Bedeutungen zu transportieren.

Sprache ist also ein machtvolles Instrument. Mit der Hilfe der richtigen Wörter drücken Menschen nicht nur aus, was sie mit ihren Augen wahrnehmen oder mit ihrem Herzen fühlen, sondern vermitteln auch Machtstrukturen und Beziehungen (vgl. Kourabas 2019, S. 20). Deutlich wird das zum Beispiel auch beim Duzen und Siezen. Je nachdem, ob zwei Menschen untereinander ‚du‘ oder ‚sie‘ beziehungsweise nur einer von beiden duzt und die andere Person siezt, erkennt man, wie eng die Beziehung zwischen ihnen ist.

Auf der Grundlage dessen, dass Sprache ein performativer Akt ist und einen unwiderruflichen Einfluss darauf hat, wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen, sowie der Tatsache, dass die racial slurs noch immer im alltäglichen Sprachgebrauch ihren Platz haben, soll im Folgenden darauf eingegangen werden, welchen Einfluss rassistische Sprache auf Menschen haben kann.

4. Rassismus macht krank

Wenn Sprache handeln ist, dann können Worte zu Waffen werden. Rassistisch konnotierte Bezeichnungen und Bemerkungen sind somit ein Akt der Gewalt (vgl. Kourabas 2019, S. 21).

Anders als bei körperlicher Gewalt sind die Schäden weniger leicht zu greifen. Immerhin zeichnen sich keine blauen Flecken ab, wenn Personen durch Worte verletzt werden.

Neben der gesellschaftlichen Prägung des rassistischen Wissens hat ein alltägliches Differenzieren zwischen ‚wir ‘und ‚ihr‘, auch Othering genannt, durch Kommentare, Blicke und strukturelle Benachteiligungen einen Effekt auf Betroffene, der nicht zu unterschätzen ist (vgl. Nguyen 2014).

Rassismus hat Auswirkungen auf das körperliche Wohlbefinden der Betroffenen, sowie auf die Psyche (vgl. Schramkowski & Ihring 2018, S. 282). Insbesondere das Beobachten oder Erleben von Alltagsrassismus kann auf so eine Weise belastend sein, dass die Menschen Traumata entwickeln (vgl. Yeboah 2017, S. 147-148). Die Folgen davon können unter anderem Stress, Depressionen, Selbstverletzung oder Suizid sein (vgl. Yeboah 2017, S. 148, 150). In Deutschland geborene oder aufgewachsene BIPoC beschreiben zudem, dass sie, durch die alltäglichen Erfahrungen von Rassismus, nicht das Gefühl haben, zu der hiesigen Gesellschaft dazuzugehören (vgl. Schramkowski &Ihring 2018, S. 282). Gleichzeitig bekämen sie das Gefühl, ‚zu deutsch‘ für ihre zum Beispiel türkische oder vietnamesische Familienseite zu sein. Alltagsrassismus, inklusive der racial slurs, kann somit eine Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität auslösen. Hinzu kommt, dass Menschen, die rassistisch diskriminierende Worte erleiden, die kommunizierten Werte verinnerlichen und sich schlussendlich „selbst als ‚Andere‘ [beginnen] wahrzunehmen“ (Kourabas 2019, S. 21).

5. Fazit

Zusammenfassend zeigt die Debatte aus der WDR-Show Die letzte Instanz eindrücklich und beispielhaft, wie tief verwurzelt die rassistische Ideologie noch immer in der heutigen Gesellschaft ist. Bereits die Diskussionsfrage, ob die genannte rassistische Beleidigung diskriminierend sei, belegt dies. Die jeweilig betroffenen BIPoC äußerten sich bereits (mehrfach) dazu. Wie im Beispiel der Sinti und Roma sind racial slurs eindeutig diskriminierend und sollten nicht verwendet werden (vgl. Zentralrat Sinti und Roma 2015). Es gliedert sich in die rassistische Ideologie der ‚weißen Vorherrschaft‘ ein, dass weiße Menschen als die letzte und damit endgültig Instanz es besser wissen würden, um die Diskussionsfrage zu beantworten – ungeachtet dessen, dass keiner der Gäste Rassismus erfahren haben kann.

Rassismus besteht nicht nur aus offensiven Gewalttaten, sondern versteckt sich auch in alltäglichen Handlungen. Versteckt, weil es nicht immer leicht ist, die rassistische Äußerung zu erkennen, sowohl für Betroffene als auch für BIPoC. Alltagsrassismus äußert sich in Bemerkungen, ‚Witzen‘, vermeintlichen Komplimenten, (Fremd)Bezeichnungen sowie auch auf struktureller Ebene. Das bedeutet, aufgrund des alltäglichen Rassismus haben BIPoC schlechtere Chancen auf beispielweise dem Arbeitsplatz, im Gegensatz zu weißen Menschen.

Die rassistische Ideologie basiert zum größten Teil auf einem Konzept aus dem 18. Jahrhundert. Um die Menschen nicht nur physisch zu erniedrigen, sondern auch auf mentaler Ebene, wurden damals verschiedene racial slurs wie das Z- oder N-Wort eingeführt. Somit verkörpern auch die racial slurs das rassistische Gedankengut. Dieses wird bei der Verwendung der Wörter reproduziert. Damit sind racial slurs als Gewalttat zu betrachten. Wie auch bei anderen Formen der (sprachlichen) Gewalt, hinterlassen die Wörter Spuren und können psychisch krank machen.

Sprache ändert sich stetig – und das schon immer. Wir sprechen nicht mehr so wie vor 10, 50 oder 100 Jahren. Ohne den Wandel und das stetige neue Verständnis der Wörter gäbe es die deutsche Sprache, wie wir sie heute kennen, nicht. Tatsächlich kann die deutsche Sprache sogar anhand eines Sprachwandels definiert werden, nämlich der zweiten deutschen Lautverschiebung (vgl. Mohamed 2019). Dadurch wird recht deutlich, dass ein Wandel der Sprache nicht nur nicht vermeidbar ist, sondern, wenn man einen Schritt weitergeht, sogar unabdingbar. Und dennoch weigern sich viele Menschen dagegen, verschiedene Wörter nicht mehr zu benutzen, wie zu sehen und zu hören in Die letzte Instanz. Es fallen Sätze wie ‚Das haben wir schon immer gesagt‘, ‚Das ist doch gar nicht böse gemeint‘ oder ‚Stell dich mal nicht so an‘.

Dabei scheint die Lösung doch so simpel: Von Rassismus betroffene Menschen reden lassen und zuhören. Wie möchte mein Gegenüber bezeichnet werden und wie nicht? Mehr Bildung und Aufklärung ist nötig und vor allem müssen sich auch weiße Menschen mit Rassismus beschäftigen. Nicht nur weil es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt, sondern auch, weil weiße Menschen rassistische Denk- und Handlungsmuster ablegen müssen, um eine Veränderung zu erreichen.

Literaturverzeichnis

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Kourabas, V. (2019). Sprache-Macht-Rassismus: Eine Einführung. Denkanstöße für eine rassismuskritische Perspektive auf kommunale Integrationsarbeit in den Kommunalen Integrationszentren–Ein Querschnittsthema.

Koller, C. (2015, 8. Dezember). Was ist Rassismus? Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen am 26. Juli 2022 von https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/213678/was-ist-eigentlich-rassismus/

Levinson, S. C. (1997). Language and cognition: The cognitive consequences of spatial description in Guugu Yimithirr. Journal of linguistic anthropology7(1), 98-131.

Migrationsrat (2020, 2. April). BIPoC. Abgerufen am 26. Juli 2022 von https://www.migrationsrat.de/glossar/bipoc/

Mohamed, A. S. (2019). Die Ursprünge der deutschen Sprache-Die erste und zweite Lautverschiebung. Beni-Suef University International Journal of Humanities and Social Sciences, 1(1), 123-145.

Nguyen, T. Q. (2014, 6. November). „Offensichtlich und zugedeckt“ – Alltagsrassismus in Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen am 26. Juli 2022 von https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/194569/offensichtlich-und-zugedeckt-alltagsrassismus-in-deutschland/

Schramkowski, B., Ihring, I. (2018). Alltagsrassismus. In: Blank, B., Gögercin, S., Sauer, K., Schramkowski, B. (eds) Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-19540-3_23

Sterz, C., & Haruna-Oelker, H. (2021, 1. Februar). „Ein Beispiel, das repräsentativ für andere steht“. Deutschlandfunk. Abgerufen am 25. Juli 2022 von https://www.deutschlandfunk.de/kritik-an-wdr-talkshow-letzte-instanz-ein-beispiel-das-100.html

Rommelspacher, B. (2009). Was ist eigentlich Rassismus. Rassismuskritik1, 25-38.

Valla, L. G., Bossi, F., Calì, R., Fox, V., Ali, S. I., & Rivolta, D. (2018). Not only whites: racial priming effect for black faces in black people. Basic and Applied Social Psychology, 40(4), 195-200.

Yeboah, A. (2017). Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland. In Rassismuskritik und Widerstandsformen (pp. 143-161). Springer VS, Wiesbaden.

Zentralrat Sinti und Roma (2015, 9. Oktober). Erläuterung zum Begriff „Zigeuner“. Stellungnahmen. Abgerufen am 25. Juli 2022 von https://zentralrat.sintiundroma.de/sinti-und-roma-zigeuner/

Ausschnitt Die letzten Instanz:

Ulirhein (2021, 1. Februar). „Das Ende der Zigeunersauce: Ist das ein notwendiger Schritt?“ aus „Die letzte Instanz – …“, WDR [Video] Abgerufen am 13. August 2022 von https://www.youtube.com/watch?v=v32zQTd7JwA&t=707s


[1] In der WDR-Mediathek ist die Folge nicht mehr zu finden. Auf YouTube ist der Beitrag noch anzuschauen, jedoch nicht auf dem offiziellen YouTube-Kanal der WDR oder der Letzten Instanz. 

[2] Der Buchstabe „Z“ steht an dieser Stelle stellvertretend für eine diskriminierende Bezeichnung für Sinti und Roma, die in dieser Hausarbeit nicht reproduziert werden soll.

[3] BIPoC = Black, Indigenous, and People of Color (vgl. Migrationsrat 2020)


Quelle: Lena Hackauf, Die Rolle der Sprache im Alltagsrassismus, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 01.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=285

Essay zum Thema: Gendergerechte Sprache

Anonym, WiSe 2021-2022

Einleitung

Einer meiner ersten Berührungspunkte mit den Themen um Gender und Diversity war, wenn ich mich richtig erinnere, vor einigen Jahren das Gendern in der Sprache. Meine große Schwester hat sich zu dem Zeitpunkt damit beschäftigt und das Gendern wurde bei uns auch in der Familie diskutiert. Ich selbst habe mich aber nicht wirklich damit auseinandergesetzt und bin erst im und Verlauf meines Studiums und bei meinem Werkstudent*innenjob mehr mit gendergerechter Sprache und generell mit Gender in Verbindung gekommen. Deswegen sehe ich mich selbst auch als Neuling und merke, auch im Rahmen dieses Seminars, dass ich vieles noch nicht weiß und gerade über die komplexen Zusammenhänge von Rassismus, Intersektionalität, Diskriminierung und Gender noch einiges zu lernen habe.

Das Gendern, also bewusst auf eine gendergerechte Sprache zu achten, habe ich dabei recht schnell übernommen. Lange habe ich aber nicht groß darüber nachgedacht oder hinterfragt, warum das vielleicht wichtig ist. Auch ist mir aufgefallen, dass ich im Kontext der Uni und der Arbeit stark darauf achte, aber es im Freundeskreis eher vernachlässige. Ich vermute das liegt daran, dass ich noch zu wenig darüber weiß, beziehungsweise für mich selbst nicht gut begründet habe, warum ich gendergerechte Sprache eigentlich nutzen möchte. Deswegen möchte ich mich in diesem Essay damit auseinandersetzen und herausfinden, was die wesentlichen Argumente im öffentlichen Diskurs für und gegen eine gendergerechte Sprache sind und welche Erkenntnisse es aus der Wissenschaft und Forschung gibt. Zu dem Thema gibt es bereits umfassende Studien, Artikel, Interviews und Meinungen. Das Ziel des Essays soll es nicht sein, dazu einen wissenschaftlichen Mehrwert zu bieten. Ich möchte mir, begründet durch meine Recherche, eine eigene subjektive Meinung bilden. Ich habe mich dazu entschieden, die Formulierung „gendergerechte“ Sprache zu verwenden. Andere Bezeichnungen wären geschlechtergerechte, gendersensible oder genderneutrale Sprache. Für das Gendern selbst werde ich das Gendersternchen * verwenden.  Was der Begriff der gendergerechten Sprache genau bedeutet (und welche Aussage das Gendersternchen in meinem Essay hat), spiegelt für mich die Definition der Uni-Kassel gut wider: „Ziel geschlechter-gerechter Sprache ist es, alle Geschlechter auf respektvolle Art und Weise anzusprechen und sichtbar zu machen. Dabei geht sie über die schlichte Benennung von Männern und Frauen hinaus und spricht Trans*- und Inter- sowie nicht-binär verortete Personen an“.

Argumente im öffentlichen Diskurs

Ich möchte einige Argumente des öffentlichen Diskurses für oder gegen eine gendergerechte Sprache herausarbeiten. Sie sind aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und stellen nur einen kleinen Teil der Gesamtargumentation dar, deren Darstellung den Rahmen des Essays gesprengt hätte. Mein Standpunkt soll in diesem Abschnitt noch keine Rolle spielen und erst zum Ende mit einfließen.

Pro

Sprache beeinflusst unser Denken (und sollte die Realität abbilden)

Das generische Maskulin und dessen Gebrauch in der Sprache führt zu einer engen gedanklichen Verbindung zwischen Genus und natürlichem Geschlecht und ist deswegen nicht neutral, sondern führt dazu, dass Frauen gedanklich ausgeschlossen werden (Irmen & Kaczmarek, 2000; Kania, 2021). Die Sprache hat dabei Symbolcharakter und beeinflusst das Denken, die Wahrnehmung und unsere Wirklichkeit, deswegen kann eine gendergerechte Sprache auch Benachteiligungen entgegenwirken. Sprachdebatten sind deswegen auch politische Debatten, bei denen es um Dominanz und Macht geht (Landeszentrale für politische Bildung, 2022).

Weiterhin sollte die Sprache der Realität entsprechen. Diese sieht so aus, dass es, neben einem nahezu gleichen Verhältnis von Männern und Frauen, auch Trans*- und Inter- sowie nicht-binär verortete Personen gibt, welche ebenso in der Sprache Beachtung finden sollten. Eine gendergerechte Sprache ist deswegen auch eine politische Positionierung für eine neue emanzipative Geschlechterordnung (GEO, 2021).

Sprache verändert sich

Unsere Sprache entwickelt sich ständig weiter. Die Veränderungen (die oft mit anfänglicher Ablehnung einhergehen) gehören sozusagen zur linguistischen Geschichte (GEO, 2021). Dabei empfinden die Menschen den Wandel und das Gehirn die unbekannten Wörter als anstrengend. Je öfter wir diese Wörter aber verwenden, umso mehr neuronale Verknüpfungen entstehen und umso leichter fallen sie uns. Mit der Zeit gewöhnen wir uns also an Veränderungen in unserer alltäglichen Sprache, weswegen Argumente zur Lese- und Redefreundlichkeit sowie Verständlichkeit nicht nachhaltig begründet sind (Landeszentrale für politische Bildung, 2022).

Männliche Dominanz in der Sprache

Durch die Verbindung von grammatischem und natürlichen Geschlecht kommt es zu einer männlichen Dominanz in der Sprache. Das liegt auch daran, dass das Maskulinum sowohl für alle Personen („Studenten“) als auch nur für die männlichen Personen („Studenten“) gelten kann. Die feminine Bezeichnung wird demgegenüber nur bei Frauen verwendet („Studentinnen“) und kann die Männlichen nicht ersetzen, was zu einer Asymmetrie zugunsten des Männlichen führt (Wesian, 2007). Das historisch geprägte generische Maskulin ist dabei keine grammatikalische Notwendigkeit, denn es gibt genug Alternativen, sondern eine Gewohnheit des (historisch männlich geprägten) Sprachgebrauchs.

Contra

Das grammatische Geschlecht (Genus) ist nicht gleich dem biologischen Geschlecht

Ein Bestandteil in der Debatte ist das generische Maskulin. Dabei wird argumentiert, dass es in der deutschen Sprache einen Unterschied zwischen dem biologischen und dem grammatischen Geschlecht gibt. Wörter können maskulin („der Teppich“), feminin („die Gitarre“) oder neutral („das Fenster“) sein, unabhängig davon, wie sie mit dem biologischen Geschlecht in Verbindung stehen. So kommt zum Beispiel „der Lehrer“ von dem Wort „lehren“ und sagt nichts über das Geschlecht der Person aus (Kania, 2021). Genus und Sexus sind also unabhängig. Weiterhin wird in diesem Zuge angebracht, dass durch die Betonung beider Geschlechter nicht erreicht wird, dass diese auch als gleichwertig angesehen werden. Außerdem werden durch den Diskurs Frauen bei einer weiteren Verwendung eines generischen Maskulin gedanklich dann erst recht ausgeschlossen werden (Lorenz, 1991).

Sprache hat nicht zwingend etwas mit Gleichberechtigung zu tun

Dem Argument der gedanklichen Kategorienbildung (z.B. bei „Schauspieler“ wird an einen männlichen Schauspieler gedacht) wird entgegengehalten, dass diese Kategorien mehr durch den Kontext beeinflusst werden. So denkt man bei zum Beispiel bei „Politikern“ vor allem an männliche Politiker*innen, weil man nicht so viele weibliche Personen in diesem Berufsfeld kennt- weniger wegen der Formulierung. Bestimmte Berufe werden dabei sozialgesellschaftlich eher den Männern zugeschrieben. Um dem entgegenzuwirken, sollte also nicht die Sprache verändert werden, weil es zweifelhaft ist, dass diese zu mehr Gleichberechtigung und zu einer gerechteren Welt führt (Klein, 1988; GEO, 2021).  

Der Großteil der Bevölkerung lehnt das Gendern ab

Allgemein scheint eine gendergerechte Sprache, unabhängig von der Begründung in Deutschland eher auf Ablehnung zu stoßen. Laut verschiedenen Umfragen lehnen z.B. aktuell circa 65% der Bevölkerung das Gendern ab. Dieser Wert lag im vergangenen Jahr noch bei 56%, ist also gestiegen. Und auch in der Politik sind laut Umfragen (je nach Partei) zwischen 47 % (die Grünen) und 83% (die AfD) gegen eine gendergerechte Sprache (FAZ, 2021). Weiterhin halten über 60% der Menschen in Deutschland eine gendergerechte Sprache (zur Gleichstellung der Frau) für „sehr-“ oder „eher unwichtig“ (INSA-Consulere für „Verein Deutsche Sprache“, 2019).

Sprachästhetik und Lesbarkeit

Es wird angebracht, dass gendergerechte Formulierungen Texte unverständlicher und lese- beziehungsweise hörunfreundlicher machen. Viele deutsche Zeitungen und Nachrichtenagenturen gendern angeblich aus diesem Grund nicht. Kritiker sehen eine Verzerrung der Sprache, die von den Inhalten ablenkt.

Wissenschaft und Forschung

Generisches Maskulin und Sexus

Die Professorin für historische Sprachwissenschaft Damaris Nübling erläutert in Ihrem Artikel „und ob das Genus mit dem Sexus“ aus dem Jahr 2018 verschiedene Studien zur Korrelation von generischem Maskulin und Sexus. Zum Beispiel die Untersuchung von Pascal Gygax um den männlichen Genderisierungsgrad maskuliner Personenbezeichnungen: Den Teilnehmenden wurden hier zunächst Sätze gezeigt, welche Formulierungen mit dem generischen Maskulin enthielten („die Sozialarbeiter liefen durch den Bahnhof“). Anschließend wurden Bilder gezeigt, einmal mit männlichen und einmal mit weiblichen Akteur*innen, wobei bewertet werden sollte, ob dieses Bild eine „mögliche Fortsetzung“ des Satzes sei. Dabei zeigte sich, dass die Fortsetzungen mit den männlichen Akteuren deutlich spontaner und häufiger akzeptiert wurde – unabhängig davon, ob die Tätigkeit gesellschaftlich als eher männlich (Spione), neutral (Zuschauer) oder eher weiblich (Sozialarbeiter) gilt.  Den Vergleich dazu stellte die englische Untersuchungsgruppe dar, wobei es im Englischen kein nominales Genus gibt. Hier wurde die Assoziation ausschließlich durch die sozialen Zuschreibungen, anders als in der deutschen Gruppe, gesteuert. Die Ergebnisse zum Zusammenhang von generischen Maskulin und Sexus wurden durch zahlreiche andere Studien bestätigt.

Textverständlichkeit

Das Argument, das gendergerechte Sprache die Qualität und die kognitive Verarbeitung von Texten beeinträchtigt, wurde zum Beispiel in einer Studie von Friederike Braun et al. im Jahr 2007 untersucht. Dabei lasen 86 Teilnehmer*innen drei verschiedene Versionen einer fiktiven Packungsbeilage eines Medikaments, die sich hinsichtlich der Form der Personenbezeichnung (generisches Maskulin, Beidnennung mit Neutralisierung und Binnen-I) unterschieden. Anschließend wurde erhoben, wie gut sich die Teilnehmenden an den Text und dessen Inhalte erinnerten – aber auch wie der Text hinsichtlich seiner Qualität (Verständlichkeit, Lesbarkeit, Formulierungen) bewertet wurde. Das Ergebnis war, dass es bei den Frauen hinsichtlich der kognitiven Verarbeitung der Texte aber auch bei der Bewertung der Qualität bei unterschiedlichen Personenbezeichnungsformen keine Unterschiede gab. Die männlichen Teilnehmer zeigten in der Erinnerungsleistung ebenfalls keine (bedeutsamen) Unterschiede, bewerteten die Textqualität aber bei den Texten am höchsten, in denen das generische Maskulin verwendet wurde.

Sprache und kindliche Wahrnehmung von Berufen

In einer Studie der Freien Universität Berlin untersuchten Bettina Hannover und Dries Vervecken 2015, wie Sprache die kindliche Wahrnehmung von Berufen prägt. Hintergrund war, dass Mädchen nach wie vor seltener als Jungen Berufe aus dem MINT-Bereich ergreifen. Als eine Begründung dafür vermutete man stereotypischen Vorstellungen über diese Berufe, da sie nach wie vor als typisch männlich gelten. Im Rahmen der Untersuchungen wurde knapp sechshundert Grundschüler*innen aus Deutschland und Belgien im Alter von sechs bis zwölf Jahren Berufsbezeichnungen vorgelesen – entweder in gendergerechter („Ingenieurinnen und Ingenieure“) oder in männlicher Sprachform („Ingenieure“). Anschließend schätzten die Kinder in einem Fragebogen für jeden Beruf ein, wie viel man verdient, wie wichtig er ist, wie schwer er zu erlernen und auszuführen ist und ob sie sich selbst zutrauen würden, diesen Beruf auszuüben. Es zeigte sich, dass die Kinder, denen die geschlechtergerechten Bezeichnungen präsentiert worden waren, sich viel eher zutrauten die Berufe zu ergreifen, die als typisch männlich gelten. Durch eine geschlechtergerechte Sprache können Kinder also ermutigt werden, mehr Berufe in diesem Bereich zu ergreifen. Auch wurde deutlich, dass die Berufe mit geschlechtergerechter Bezeichnung als weniger wichtig und die Bezahlung als niedriger als bei der männlichen Bezeichnung eingeschätzt wurden.

Audiovisuelle Diversität

Die MaLisa Stiftung hat im Jahr 2016 eine Studie initiiert, bei der, gemeinsam mit den größten deutschen TV-Gruppen, eine umfassende Analyse des deutschen Fernseh- und Kinoprogramms durchgeführt wurde. Ziel war es, herauszufinden, wie Geschlechter in Film und Fernsehen dargestellt werden. Dafür wurden über 3500 Stunden Fernsehprogramm sowie 800 Kinofilme aus den Jahren 2010-2016 ausgewertet. Es zeigte sich, dass Frauen deutlich unterrepräsentiert sind. Der Anteil von Männer zu Frauen liegt demnach bei zwei zu eins. Je älter die Frauen dabei werden, desto geringer ist ihr Anteil. Ab dem 30. Lebensjahr verschwinden die Frauen sukzessive von den Bildschirmen. Die Männer hingegen nehmen häufig die Hauptrollen ein: nur jede*r dritte Hauptakteur*in ist weiblich. Dabei sind besonders die Expert*innen und Moderator*innen fast immer männlich (80%). Die Ergebnisse spiegeln dabei nicht nur das Erwachsenenfernsehen wider- bei den Kindersendungen und -filmen ist der Anteil genauso hoch oder höher.

Diskussion und Fazit

Abschließend betrachtet bin ich etwas enttäuscht. Gerade weil die Debatte rund um gendergerechte Sprache so viel und hitzig diskutiert wird, hatte ich erwartet, dass es ein ausgeglicheneres Verhältnis von (nachvollziehbaren) Argumenten gibt. Auf die Begründungen gegen eine gendergerechte Sprache war ich besonders gespannt und diese finde ich insgesamt dünn. Was dabei von verschiedenen Quellen häufig als Erstes angebracht wurde, ist, dass das grammatische Geschlecht nicht dem biologischen Geschlecht entspricht, was mir grundsätzlich verständlich erscheint. Trotzdem kommt es, denke ich, nicht darauf an, was die ursprüngliche grammatikalische Bedeutung ist, sondern vielmehr, was diese dann in der Realität mit uns macht. Und abgesehen davon, dass die Studienlage hier klar ist, finde ich auch das Argument wichtig, dass es logische Alternativen zum generischen Maskulin gibt. Wenn man eine Frau direkt (mit-) ansprechen könnte, aber stattdessen die männliche Form wählt, ist es für mich logisch, dass wir dementsprechend immer eher etwas Männliches damit assoziieren. Die Begründung, dass Sprache nicht zwingend etwas mit Gleichberechtigung zu tun hat und zu einer gerechteren Welt führt, konnte ich nicht verstehen. Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass Sprache unsere Wirklichkeit bestimmt und die Aussage so höchstwahrscheinlich falsch ist. Zudem haben einige Quellen es auch so formuliert: „Führt nicht zwingend […]“ Aber selbst, wenn nur die Möglichkeit besteht, dass eine gerechte Sprache zu mehr Gerechtigkeit führt, sollte das Grund genug sein. Was ich tatsächlich auch bei mir selbst beobachtet habe, ist, dass ich aus Bequemlichkeit nicht gegendert habe, weshalb ich mich mit dem Argument des Redeflusses identifizieren konnte. Leider habe ich gemerkt, dass die Gründe dafür zu gut sind, weswegen ich mich von der Begründung vor mir selbst wohl verabschieden muss. Spannend war für mich, dass es bereits so viele Studien gibt, die die Wirkung einer gendergerechten Sprache belegen und damit auch die Bedeutung davon unterstreichen. Ich denke, insgesamt ist die Datenlage schon eindeutig und es fühlt sich ein bisschen so an, als würde hier Tatsachen gegen Bequemlichkeit und Tradition argumentieren. Besonders interessiert hat mich die Studie von Hannover und Vervecken, auch weil sie an der FU durchgeführt wurde. Ich denke, die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig eine gesellschaftliche Entwicklung jetzt sein kann – auch für die Zukunft. Die letzte Studie zu den Medien habe ich mit angeführt, obwohl sie nicht hundertprozentig zu gendergerechter Sprache passt. Ich denke die Studie spiegelt wider, was vermutlich eines der Probleme bei der Umsetzung von gendergerechter Sprache ist: Nämlich, dass bei einem zu großen Teil der Gesellschaft das Denken und die Ansichten hin zu einer männlichen Dominanz und Machtposition noch sehr präsent ist. Deswegen glaube ich auch, das gendergerechte Sprache nur ein kleiner (aber sinnvoller Teil) von einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sein kann. Gleichzeitig zeigt sich, dass sich noch viele Menschen gegen das Gendern aussprechen, dass die Entwicklung noch am Anfang steht und einiges passieren muss. Für besonders wichtig halte ich es deswegen herauszufinden, wie man es schafft die „Lager“, die es nach meinem Empfinden gibt, aufzuweichen und das Thema mehr Menschen zugänglich zu machen. Eine wichtige Rolle spielen in meinen Augen die Medien, welche mit ihrer Berichterstattung viel beeinflussen und gleichzeitig viel bewegen können. Leider scheinen besonders diese häufig gegen eine gendergerechte Sprache zu sein. Auf der Seite tagesschau.de, die ich täglich besuche, wird zum Beispiel nicht gegendert.

Was mich persönlich noch sehr interessieren würde ist, wie die Meinungen vom „Betroffenen“ dazu sind, insbesondere von LGBTQ-Personen. Das liegt auch daran, dass (auch wenn ich die Argumente für eine gendergerechte Sprache gut nachvollziehen kann) es mir schwerfällt, die Perspektive von Betroffenen zu übernehmen, beziehungsweise darüber nachzudenken: Wie würde es mir gehen, wenn ich in der Situation wäre und durch Sprache Ungleichbehandlung erfahren würde? Ein erster Gedanke ist dabei, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob es mich stören würde. Damit würde ich es mir aber viel zu einfach machen. Ich weiß nicht, wie sich die Situation anfühlt, was damit verbunden sein kann und auch nicht, wie die persönlichen Hintergründe sein können. Deswegen denke ich, meine eigene Vorstellung ist eher nebensächlich. Genau deshalb würden mich subjektive Meinungen und Erfahrungen dazu interessieren. Im Rahmen der Arbeit zum Essay habe ich leider keine Interviews oder Ähnliches gefunden und bin dahingehend noch auf der Suche.


Literatur- und Quellenverzeichnis

Braun, F., Oelkers, S., Rogalski, K., Bosak, J. & Sczesny, S. (2007). „Aus Gründen der Verständlichkeit…“. Der Einfluss generisch maskuliner und alternativer Personenbezeichnungen auf die kognitive Verarbeitung von Texten. Psychologische Rundschau, 58 (3), 183-189.

FAZ (2021). Die Bürger wollen keine Gendersprache. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/grosse-mehrheit-laut-umfrage-gegen-gendersprache-17355174.html (11.03.2022)

GEO (2021). Was spricht FÜR und GEGEN das Gendern?                                https://www.geo.de/magazine/geo-magazin/pro–und-contra-liste-was-spricht-fuer-und-gegen-das-gendern–30675936.html (09.03.2022)

INSA-Sprachumfrage (2019/20). Was denkt Deutschland über die deutsche Sprache?  https://deutsche-sprachwelt.de/2020/01/insa-sprachumfrage-2019-20-teil-7-gendersterne-haben-wenige-freunde/ (09.03.2022)

Irmen, L. & Kaczmarek, N. (2000). Beeinflusst das grammatische Geschlecht die Repräsentation von Personen in einem mentalen Modell? Ein Vergleich zwischen einer englischsprachigen und einer deutssprachigen Stichprobe. 42. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jena

Kania, T. (2021). Gendern- Eine ehrliche Pro- und Contra-Liste. https://www.blue-satellite.de/gendern-eine-ehrliche-pro-und-contra-liste/ (10.03.2022)

Klein, J. (1988): Benachteiligung der Frau im generischen Maskulin – eine feministische Schimäre oder psycholinguistische Realität?, In: N. Oellers (Hrsg.), Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Selbstbestimmung und Anpassung. Vorträge des Germanistentages Berlin 1987, Band 1 ( 310–319). Tübingen: Niemeyer.

Landeszentrale für politische Bildung (2022). Gendern- ein Pro und Contra.         https://www.lpb-bw.de/gendern#c76345 (11.03.2022) 

Lorenz, D. (1991). Die neue Frauensprache. Über die sprachliche Apartheid der Geschlechter. Muttersprache – Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache, 3, 272-277.

Nübling, D. (2018). Und ob das Genus mit dem Sexus: Genus verweist nicht nur auf das Geschlecht, sondern auch auf die Geschlechterordnung. Sprachreport Jg. 34 (3), 44-50.

Prommer, E. & Linke, C. (2017). Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen in Deutschland. Institut für Medienforschung-Philosophische Fakultät, Universität Rostock.

Universität Kassel (2021). Gendergerechte Sprache. https://www.uni-kassel.de/hochschulverwaltung/themen/gleichstellung-familie-und-diversity/geschlechtergerechte-sprache#:~:text=Das%20Ziel%20geschlechtergerechter%20Sprache%20ist,nicht%2Dbin%C3%A4r%20verortete%20Personen%20an (03.02.2022)

Vervecken, D., & Hannover, B. (2015). Yes I can! Effects of gender fair job descriptions on children’s perceptions of job status, job difficulty, and vocational self-efficacy. Social Psychology, 46, 76-92.

Wesian, J. (2007). Sprache und Geschlecht: Eine empirische Untersuchung zur „geschlechtergerechten Sprache“. Forschungsarbeit Universität Münster


Quelle: Anonym, Essay zum Thema: Gendergerechte Sprache, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 08.06.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/06/08/essay-zum-thema-gendergerechte-sprache/

Zum Mitdenken muss ein Mensch erst mal denken oder inwiefern geschlechtergerechte Sprache einen wichtigen Einfluss auf unser Denken hat

Avital Ginzburg (SoSe 2021)

Immer öfter höre ich Menschen sagen, die deutsche Sprache sei in Gefahr. Anglizismen, Umgangssprache (siehe Jugendwort des Jahres) und natürlich das Gendern seien die Hauptfeinde, die unsere deutsche Sprache in den Abgrund treiben. Für manche Menschen ist geschlechtergerechte Sprache ein unzugängliches Konstrukt, denn sie erfordert ein gezieltes Umstellen des eigenen Sprachgebrauchs und auch der eigenen Wortwahl. Es ist viel Arbeit, die nicht alle bereit sind zu leisten, vor allem, wenn es nicht ersichtlich ist, welche Auswirkungen diese Arbeit auf andere Menschen hat. Genau dieser Frage werde ich in diesem Essay nachgehen: Welche Bedeutung, Wirkung und Relevanz hat geschlechtergerechte Sprache in unserer Gesellschaft und Realität?

Auch im sprachwissenschaftlichen Raum gibt es einen Diskurs darüber, ob und inwiefern geschlechtergerechte Sprache nötig ist oder ob sie doch nur ein Hirngespinst der „links-grün-versifften Radikalen“ ist. So schreibt Peter Eisenberg in seinem Artikel Das Missbrauchte Geschlecht in der Süddeutschen Zeitung, geschlechtergerechte Sprache wäre nicht nur unmöglich zu lesen und zu sprechen, „[s]ie stelle einen Eingriff in unsere Grammatik dar, in der sie keinen Platz finde[t]“ (Eisenberg, 2017). Dieser Standpunkt ist unter den Sprachwissenschaftler*innen oft vertreten: Gendern wäre ein Beweis des grammatischen nicht-Verstehens: Das Nicht-Verstehen, dass die Sprache ein System ist, welches unveränderbar im Vakuum der Zeit existiert. So fragil sogar, dass zu Substantiven konvertierte Partizipien dieses System komplett zerstören könnten. Eisenberg weist uns in seinem Artikel klar in die Schranken: manch eine*r könnte geschlechtergerechte Sprache benutzen, „[a]llerdings zu dem Preis, dass man […] einen wichtigen, tief verwurzelten Wortbildungsprozess untergräbt und ein jahrhundertealtes Wort diffamiert“ (Eisenberg, 2017). Aus dieser Aussage lässt sich schließen, dass Eisenberg geschlechtergerechte Sprache wortwörtlich als Beleidigung der deutschen Sprache sieht.  Er argumentiert, das generische Maskulinum sei schon der geschlechtsneutrale Weg alle einzuschließen, dass Frauen sogar fast überrepräsentiert in der deutschen Sprache seien: „So ist das im Deutschen. Es gibt hier ein Wort, das ausschließlich Frauen bezeichnet (Bäckerin), aber keins, das ausschließlich Männer bezeichnet. Frauen sind sprachlich zweimal, Männer einmal sichtbar“ (Eisenberg, 2017). Auch Henning Brinkmann ist der Auffassung, das generische Maskulinum sei schon die geschlechtsneutrale Lösung des geschlechtsspezifischen Problems. Es ginge hierbei lediglich um Distanz zu dem Subjekt:

„Wer von den ‚Lesern‘ eines Buches spricht, macht zwischen Männern und Frauen keinen Unterschied; er meint vielmehr Menschen, die das Buch lesen […] Männliches Geschlecht erhalten diese Subjektsbegriffe erst, wenn sie eine weibliche Rolle als Partner erhalten, etwa wenn ein Redner die Zuhörer begrüßt: ‚Meine Hörerinnen und Hörer‘“

Brinkmann, 1971

Somit wäre das Problem gelöst, denn das generische Maskulinum bezieht sich nicht auf die Person, lediglich auf das Subjekt, welches eine Tätigkeit ausübt – klar und deutlich. Peter Eisenberg unterstützt diese These, indem er behauptet, eine Symmetrie in den natürlichen Sprachen würde es nicht geben, und deswegen wäre konsequentes Gendern nicht möglich, vielleicht nur durch eine „Markiertheitsumkehrung mit dem Ziel, das Femininum zur unmarkierten Kategorie zu machen“ (Eisenberg, 2017) – doch leider geht Eisenberg in der Gesamtheit seines fortfolgenden Artikels nicht mehr auf diese Idee ein. Auch Richard Schrodt ist sich in seinem „szientistischem Essay“ sicher: es gibt einfach keine Zeit zum Gendern. Wir leben nunmal in einer komplizierten Welt, in der viele Sachen passieren, die schon seit Jahren so passiert sind und geschlechtergerechte Sprache stellt auf institutioneller Ebene einen zu großen Aufwand dar, denn: „Vorschriften und Regeln müssen möglichst eindeutig und nachvollziehbar sein und darüber hinaus vielleicht auch noch sinnvoll. Dass sie auch sprachliche Verhaltensweisen und Praktiken betreffen, müssen wir alle im Kauf nehmen“ (Schrodt, 2018). Alle drei sprechen ähnliche und doch sehr unterschiedliche Punkte an: Geschlechtergerechte Sprache ist ein Eingriff in die Kultur der Sprache, sie würde Institutionen und Abläufe womöglich daran hindern, sinnvoll zu funktionieren und, vor allem da sind sich alle einig, sie ist unnötig, weil es ja schon das generische Maskulinum gibt. Das Ziel sei, sozusagen nicht die Sprache zu verändern (und in dem Sinne auch gleich zu zerstören) sondern zu verstehen, dass das generische Maskulinum sich auf das Subjekt einer Handlung bezieht und sonst geschlechtsneutral ist. Leider fehlt in allen drei Argumentationen das Verständnis dafür, dass ein Subjekt, welches eine Tätigkeit ausübt, in der Regel einer Person entspricht. Wie genau soll diese Trennung funktionieren, wenn am anderen Ende der Semantik eine Person steht, die sich (im schlimmsten Fall) von dem Gesagten angesprochen fühlen soll?

In ihrem Artikel Yes I Can! Effects of Gender Fair Job Descriptions on Children’s Perceptions of Job Status, Job Difficulty, and Vocational Self-Efficacy aus dem Jahr 2015 berichten Bettina Hannover und Dries Vervecken über eine von ihnen durchgeführte Studie zu kindlicher Wahrnehmung von Berufen. In ihrem Experiment wurden 591 sechs- bis 12-jährigen Kindern aus Deutschland und Belgien 16 Berufe vorgestellt, von denen eine Hälfte männlich (z.B. Feuerwehr) und die andere Hälfte weiblich konnotiert (Kosmetik) waren. Anschließend wurden die Kinder gebeten einen Fragebogen auszufüllen und einzuschätzen wie gut bezahlt und wichtig diese Berufe sind, ob sie schwer zu erlernen sind und ob sie sich selbst zutrauen würden, einen Eignungstest für den jeweiligen Beruf zu bestehen. Dieses Experiment wurde in zwei Gruppen durchgeführt: einer Gruppe wurden die Berufe in ausschließlich generischem Maskulinum vorgestellt, der anderen in geschlechtergerechter Sprache. Das Ergebnis dieser Studie ist in einem Fall sehr eindeutig:

„When job titles had been presented in pair forms, children – regardless of their gender, first language, or age – felt more confident that they could pass a qualification test required to do this job than when the professions had been presented as generic masculine “

Vervecken & Hannover, 2015

Interessanter Weise haben sich die Kinder, unabhängig von Geschlecht, eher als geeignet für Berufe eingeschätzt, welche ihnen in geschlechtergerechter Sprache vorgestellt wurden und waren eher der Meinung einen Eignungstest für stereotypisch Männliche Berufe bestehen zu können. Eine weitere Studie von Andreas Damelang und Ann-Katrin Rückel bestätigt, dass sich Frauen, auch im erwachsenen Alter, eher für Jobs bewerben, deren Stellenangebote geschlechtergerecht formuliert sind (Damelang & Rückel, 2021). Hierbei wurden die Positionsbezeichnungen in fünf Variationen formuliert: „Mitarbeiter“, „Mitarbeiter (m/w)“, „Mitarbeitende“, „Mitarbeiter*innen“ sowie „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“. Es konnte eine signifikante Tendenz zu geschlechtergerechten Positionsbezeichnungen festgestellt werden.

Tatsächlich wurde auch von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine offizielle Studie zu einem ähnlichen Thema durchgeführt, und zwar zu geschlechterspezifischen Attributen, welche in Stellenausschreibungen benutzt werden. So stellt die 2018 verfasste Studie fest, dass rund 21,2% von 5.667 von ihr ausgewerteten Stellenausschreibungen ein sogenanntes Diskriminierungsrisiko darstellen, d.h. wenn „eine Formulierung, Anforderung oder ein Bild in der Stellenanzeige“ (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2018) gezielt eine bestimmte Personengruppe anspricht und somit eine andere ausschließt. Solch ein Diskriminierungsrisiko stelle z.B. ein Bild einer männlich gelesenen Person in einer Stellenausschreibung für einen stereotypisch männlichen Beruf mit der Unterschrift „Wir suchen Dich!“ dar. Eine weitere Studie aus dem Jahr 2016 untersucht, ob geschlechtsspezifische Stellenbeschreibungen eine Auswirkung auf die Anzahl der sich bewerbenden Frauen haben. Hierbei konnte festgestellt werden, dass geschlechtsspezifische Stellenbeschreibungen, welche klar geschlechtlich konnotierte Anforderungen (wie analytisches Denken, Entscheidungsvermögen, Durchsetzungsvermögen und Verhandlungsgeschick) stellten, durchaus einen signifikant negativen Einfluss auf die Reaktion, der sich bewerbenden Frauen hatten (Göddertz et al., 2016).

Aber was bedeutet das? Was kann ein*e Leser*in aus diesen Studien schlussfolgern? Zum einen, stellen die Ergebnisse offensichtlich fest, dass Sprache unser Verständnis lenken und beeinflussen kann. Berufsbeschreibungen, die geschlechtergerecht formuliert sind, ziehen nach sich, dass sich bestimmte Personengruppen angesprochen fühlen und, in vielen Fällen, überhaupt erst verstehen, dass sie unmittelbar für diesen Beruf in Frage kommen. Aus Hannover und Verveckens Studie ist klar ersichtlich, dass schon Kinder vom sozialen Konstrukt „Geschlecht“ beeinflusst werden und sensibel auf Sprache reagieren. Auch ZDF hat eine Dokumentationsreihe veröffentlicht, die diesen Punkt bestätigt: hier wurde Kindern die Frage gestellt: Wer repariert Sachen und wer kümmert sich um die Kinder? 100% der Befragten haben bei der ersten Frage den Mann und bei der zweiten Frage die Frau angekreuzt. Erschreckenderweise stammt diese Dokumentation aus dem Jahr 2018, d.h. die Kinder, welche hier befragt wurden, machen heutzutage die Jugendlichen unserer Gesellschaft aus. Es macht leider deutlich, dass die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen und Männer noch heute einen großen Einfluss auf viele unserer Lebensbereiche haben. Und Sprache ist ein großer Teil dessen, was diesen Einfluss verstärkt. Auf der Suche nach Literatur und Belegen für dieses Essay bin ich auf unzählige Studien zum Thema geschlechtergerechte Sprache und Verständnis der Welt gestoßen, alle aus verschiedenen Jahren. Jede dieser Studien belegt in der ein oder anderen Art und Weise dieselbe Tatsache: das generische Maskulinum ist keine Abstraktion, keine neutrale Beschreibung für ein tätigkeitsausübendes Subjekt, und vor allem, nicht schon die genderneutrale Lösung, nach der wir alle so lange gesucht haben. Es ist vielmehr eine Art und Weise immer wieder eine bestimmte Personengruppe anzusprechen und zu fördern, während andere außen vor bleiben und sich mitgedacht, mitgemeint oder mitgeschleppt fühlen sollen.

Tatsächlich aber, ist auch in feministischen Kreisen die Nachsilbe -in umstritten. Bis ins 20. Jahrhundert wurde diese nämlich nur auf „allgemeine Funktionsbezeichnungen (wie „Ehebrecherin“ oder „Einwohnerin“) oder Bezeichnungen für die Frau eines männlichen Funktionsträgers (wie „Bürgermeisterin“ in der Bedeutung „Frau eines Bürgermeisters“) beschränkt“ (Stefanowitsch, 2020). Erst, als Frauen auch der Zugang in die Berufswelt gestattet wurde, fand diese Nachsilbe den Einzug in den alltäglichen Sprachgebrauch, dennoch nur als klare Funktionsbezeichnung. Mit der zweiten Welle des Feminismus kam die Kritik an dieser Sprachpraxis auf. Die meisten Berufsfelder seien durch die Sprache männlich konnotiert und demnach wäre die Vorstellung von Frauen in diesen Bereichen erschwert (Stefanowitsch, 2020). Folglich setzte sich der Gebrauch der Nachsilbe -in in den meisten Bereichen durch, bis 1980 ein Aufsatz von Luise Pusch erschien, welcher genau diese Tendenz kritisierte: „Wenn man den Gebrauch der Endung „-in“ weiter ausweite, würde damit die Kategorie Geschlecht gerade dort ständig betont, wo sie nun endlich keine gesellschaftliche Rolle mehr spielen solle“ (Stefanowitsch, 2020). Das ist verständlich, und bedeutet, dass die Nachsilbe -in nicht nur eine große gesellschaftliche Bedeutung trägt, sondern auch die Sichtbarkeit der Frauen im Allgemeinen. Dennoch lässt sich vermuten, dass auch hier Berufe, welche auf die Nachsilbe -in enden und auf eine weibliche Person schließen lassen, weniger ernst genommen oder gar belächelt werden.

Dennoch denkt Pusch eine wichtige Personengruppe nicht mit: nicht-binäre Personen beziehungsweise Personen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen und sich deswegen weder in der Nachsilbe -in noch im generischen Maskulinum wiederfinden. Diese Personengruppe war bis dato in der deutschen Sprache gar nicht repräsentiert, bis die Nutzung des sogenannten „Gendersternchens*“ den Einzug in manche deutschen Haushalte und zum geringen Teil in die Öffentlichkeit gefunden hat. Mit dem „Gendersternchen*“ werden nicht-binäre Personen nämlich angesprochen und sichtbar gemacht. Denn, wie Stefanowitsch in seinem Artikel im Tagesspiegel schreibt, ist vor allem für diese Personengruppe „Sichtbarkeit die Voraussetzung, um überhaupt am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen“ (Stefanowitsch, 2020). Aus dieser Aussage lässt sich schließen, dass Sprache nicht nur bedeutungstragend, sondern auch identitätsbestätigend sein kann. Sprache kann natürlich „nur“ als Teil der Gesamtlösung gedacht werden, sie allein kann Sichtbarkeit aber verstärken, und auch daran erinnern, dass das binäre System ein gesellschaftliches Konstrukt ist.

Was lässt sich über die Rolle, die Sprache in unserem Weltverständnis spielt sagen? In einem Interview mit EDITION F sagt Anatol Stefanowitsch, die Aussage, Sprache sei realitätsschaffend, sei zu vereinfacht. Dennoch bestätigt er: „Nicht jedes Mal, wenn das generische Maskulinum verwendet wird, wird automatisch das Patriarchat zementiert. Wenn das aber den ganzen Tag, regelmäßig passiert, dann verfestigt es eine bestimmte Denkweise, bei der Frauen im besten Fall mitgedacht sind“ (Parbey, 2019). Ob Sprache geschlechtergerecht oder nicht geschlechtergerecht benutzt wird, ist demnach bedeutungstragend. Durch zahlreiche Studien wurde mal für mal bestätigt, dass durch Sprache Machtrelationen etabliert werden (Hornscheidt, 2008) und genau aus diesem Grund können durch sie Hierarchien aufrechterhalten oder eben abgebaut werden.

Das Argument, die deutsche Sprache sei unter Beschuss, weil ein Diskurs stattfindet, der sich um marginalisierte Gruppen dreht und durch den sich manche Wortendungen verändern, wirkt mit jedem Jahr lächerlicher. Gleichzeitig verstehe ich, dass ich mich in einem Umfeld bewege, welches einen großen Wert auf Inklusion und Anti-Diskriminierung legt. Denn, sobald ich mich außerhalb dieses Umfelds bewege, bemerke ich sofort, dass bei weitem nicht alle die Problematik, welche dieses Essay dargelegt hat, ernst- oder überhaupt wahrnehmen. Und sogar dort, wo besonders betont wird, dass Wert auf Gleichstellung und Gerechtigkeit gelegt wird, lassen sich Fehler und Enttäuschungen auffinden. Denn erst heute fand ich auf der Webseite der Freien Universität Berlin Stellenausschreibungen für „Studentinnen und Studenten“. Denn sogar Statistiken der eigenen Dozierenden belegen, dass sich die Anzahl der Frauen an der Freien Universität Berlin von anfänglichen 61% während des Studiums bis zu der Lebenszeitprofessur auf 36% halbiert (Runge, 2020). In meinem zweiten Studiengang an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin wird in keinem einzigen Fach geschlechtergerechte Sprache benutzt, weder auf den Folien noch in gesprochener Sprache. Und ich frage mich oftmals, ob nicht gerade die Universitäten der Hauptstadt den Weg frei räumen sollten, über den die geschlechtergerechte Sprache irgendwann, hoffentlich, in der Mitte der Gesellschaft ankommen wird.  Sprache ist „in allen […] Realisierungsformen immer eine Handlung“ (Hornscheidt, 2008). Und zu sagen, bestimmte Personengruppen seien bei 90% aller Aussagen mitgedacht, ist demnach zu kurz gedacht. Denn, wenn Sprechen eine Handlung ist, dann bedeutet nicht Sprechen nicht-Handeln. Und während manche gar nicht-Handeln wollen, und lieber wo anders hinsehen, gibt es andere, die versuchen in wissenschaftlichen Schriften oder öffentlich zugänglichen Artikeln, Sprache von dieser wichtigen Bedeutungsebene zu trennen – und das ist, meiner Meinung nach, Wahrheitsverleugnend.


Bibliografie

Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierung in Stellenanzeigen (2018). Berlin , Germany .

Brinkmann, H. (1971). In Die deutsche Sprache. gestalt und leistung (pp. 18–19). essay, Paedagogischer Verlag Schwann.

Damelang, A., & Rückel, A.-K. (2021, March 15). Was Hält Frauen von Beruflichen Positionen fern? Ein faktorieller Survey zum Einfluss der Gestaltung einer Stellenausschreibung auf deren Attraktivitätseinschätzungg. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Retrieved October 23, 2021, from https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs11577-021-00729-z.

Eisenberg, P. (2017, March 3). Das Missbrauchte Geschlecht. Süddeutsche.de. Retrieved October 22, 2021, from https://www.sueddeutsche.de/kultur/essay-das-missbrauchte-geschlecht-1.3402438.

Göddertz, S., Isidor, R., & Wehner, M. (2016). Genderspezifische Eigenschaften und Statements in Stellenausschreibungen. Personal Quarterly, 40–45.

Hornscheidt, A., & Hornscheidt, A. (2008). 2: Die konstruktivistische Konzeptualisierung von Sprache und Gender. In Gender resignifiziert. Schwedische (Aus)Handlungen in und um Sprache (pp. 17–28). essay, Nordeuropa-Inst.

Parbey , C. (2019, December 19). Anatol Stefanowitsch: „Frauen müssen nicht mitgedacht, Sondern Gleichwertig gedacht werden“. EDITION F. Retrieved October 22, 2021, from https://editionf.com/anatol-stefanowitsch-eine-frage-der-moral-politsch-korrekte-gendergerechte-sprache/#.

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Runge, A. (2020, February 27). Unconscious Bias und wissenschaftliche Qualität. Schreiben und Publizieren in der Geschlechterforschung. Berlin; Freie Universität Berlin.

Schrodt, R. (2018). Genus, Sexus, Sprache und Schreibung: Gendern – kommunikativ notwendiges Ärgernis oder ärgerliches Kommunikationshindernis? Zeitschrift Für Literatur- Und Theatersoziologie , 15, 20–39. https://doi.org/ 10.25364/07.11:2018.15.3

Stefanowitsch, A. (2020, September 3). Der professor, die professor, Das professor. Der Tagesspiegel. Retrieved October 22, 2021, from https://www.tagesspiegel.de/wissen/warum-sprachwandel-notwendig-ist-der-professor-die-professor-das-professor/26155414.html.

Vervecken, D., & Hannover, B. (2015). Yes I can! Social Psychology, 46(2), 76–92. https://doi.org/10.1027/1864-9335/a000229

ZDF. (2018, June 5). No More Boys and Girls. zdf.de. episode. Retrieved October 23, 2021, from https://www.zdf.de/dokumentation/no-more-boys-and-girls/sendung-eins-100.html.


Quelle: Avital Ginzburg, Zum Mitdenken muss ein Mensch erst mal denken oder inwiefern geschlechtergerechte Sprache einen wichtigen Einfluss auf unser Denken hat, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/31/zum-mitdenken-muss-ein-mensch-erst-mal-denken-oder-inwiefern-geschlechtergerechte-sprache-einen-wichtigen-einfluss-auf-unser-denken-hat/

Gendern ist Weltsicht: Ein Plädoyer für gendergerechte Sprache

Paula Kleuters (SoSe 2021)

Ein Plädoyer fürs Gendern

Jedes Mal, wenn ich aus Berlin in die Heimat fahre, ist es dasselbe. Ich komme an, treffe meine Schulfreund*innengruppe, wir trinken ein paar Bier und unterhalten uns. Meistens über die Vergangenheit, viel über ehemalige Stufen­kamerad*innen, manchmal über Zukunftspläne und selten über wirklich interessante Dinge. Egal worum es geht, letztendlich gelangen wir immer an den Punkt, an dem die neue Reglung zum Semesterticket „behindert“ ist, oder die Musik auf der letzten Party – vor Corona selbstverständlich – „voll schwul“ war. Das Thema „politisch korrekte Sprache“ ist also, zumindest implizit, immer schnell auf dem Tisch. Spätestens, wenn dann einem oder einer meiner Freund*innen auffällt, dass ich versuche, mich mehr oder weniger konsequent gendergerecht auszudrücken, zu gendern also, ist ein Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt und eine große Debatte losgeht. Meist nur halb ernsthaft, weil alle schon zwei Bier getrunken haben, aber doch ernst genug, um zu merken, dass ich und die meisten meiner Freund*innen hier grundlegend unterschiedlicher Auffassungen sind. „Das ist doch nicht so gemeint!“, „Ach komm, jetzt entspann dich mal!“ oder „Ich hab aber nen Freund, der ist schwul und den stört das nicht, wenn ich das so sage…“ und ganz besonders „Das mit dem Gendern ist ja so albern, Paula!“. Immer sind es die gleichen Sprüche, denen ich versuche, entgegenzuhalten.

„Die Heimat“ ist übrigens eine kleine Großstadt tief im Westen. Immer wieder denke ich, so langsam müssten die sprachlichen Veränderungen, die hier in Berlin mittlerweile zu meinem Alltag gehören, doch auch dort angekommen sein. Und immer wieder stelle ich fest, dass dem nicht so ist und dass das, was ich hier in meiner ‚Bubble‘ als so alltäglich erlebe, dort noch längst nicht zum Standardrepertoire gehört. Ganz besonders das Gendern nicht. Und immer wieder merke ich komischerweise gerade in diesen Situationen der Uneinigkeit, wie sehr mir das Thema am Herzen liegt und wie wichtig und sinnvoll ich diskriminierungsfreie Sprache finde. Exemplarisch werde ich mich hier besonders auf gendergerechte Sprache als eine Form der diskriminierungsfreien Sprache konzentrieren. Für alle, die immer noch nicht verstanden haben, warum gendergerechte Sprache eine gute Idee ist, (oder auch für die, die sich in ihrer Meinung bestärkt fühlen wollen), ist das hier ein Plädoyer fürs Gendern.

Haben wir wichtigere Probleme oder formt Sprache unsere Welt?

Von vielen Kritiker*innen des Genderns wird häufig angeprangert, dass man sich in Nichtigkeiten verrenne; es gäbe doch viel größere Probleme und sprachliche Veränderungen seien nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Man solle sich doch lieber auf die „richtigen“ Probleme konzentrieren. Ich will überhaupt nicht abstreiten, dass es „größere“ Probleme gibt, als unseren Sprachgebrauch. Frauen werden überall auf der Welt systematisch diskriminiert, benachteiligt, belästigt, vergewaltigt, getötet; die Liste ist leider lang. Und diese Dinge sind schrecklich und müssen sich ohne Frage verändern. Nun scheiden sich aber genau hier, an der Frage der Herangehensweise, die Geister: Kritiker*innen des Genderns würden sagen, man muss die großen Probleme direkt angehen, alles andere würde diese verkennen und sei somit überflüssig, ja fast schon unverschämt; sie vertreten quasi einen „Top-down“-Ansatz: Wir schaffen die übergeordneten Probleme aus der Welt, vielleicht ändern sich deren Grundlagen ja dann von allein. Ich glaube nicht, dass das so funktioniert. Ich glaube, dass es mehr Sinn ergibt, an kleinen, leicht handhabbaren Stellschrauben, also beispielsweise unserem alltäglichen Sprachgebrauch, zu drehen. Diese vielen kleinen Veränderungen auf ganz grundlegender Ebene mögen banal scheinen, können aber in der Summe auch auf übergeordneter Ebene von unten nach oben Veränderungen herbeiführen, “Bottom-up“also.

Schon Wilhelm von Humboldt stellte im 19. Jahrhundert fest, „so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche [sic!] Weltansicht.“ (1836, S. 58). Damals von von Humboldt eher auf Nationalsprachen bezogen, lässt sich das Konzept auch auf die vorliegende Thematik anwenden: Eine Sprache, in der alle Geschlechter außer dem explizit männlichen, nicht vorkommen, beeinflusst natürlich, wie wir die Welt wahrnehmen und formen und untermauert so patriarchalische Strukturen.  Auch die Autorin und Rednerin Kübra Gümüşay untermalt fast 200 Jahre später in ihrem Buch Sprache und Sein (2020) mit eindrucksvollen Beispielen, wie sehr sprachliche Feinheiten unsere Wahrnehmung der Welt prägen. Gümüşay beschreibt, wie sie plötzlich ganz banale Dinge anders wahrnimmt oder diese ihr zum ersten Mal auffallen, weil sie die Phänomene plötzlich benennen kann:

„Weil ich das Wort kenne, nehme ich wahr, was es benennt […] So beschreibt das japanische Wort komorebi das Sonnenlicht, das durch die Blätter von Bäumen schimmert. Gurfa, ein arabisches Wort, steht für die Menge an Wasser, die sich in einer Hand schöpfen lässt. Das griechische Wort meraki beschreibt die hingebungsvolle Leidenschaft, Liebe und Energie, mit der sich jemand einer Tätigkeit widmet“

Gümüşay, 2020, S. 11f

Genauso sei unsere Vorstellung von Mengen, von Farben, von Zeit und Raum, unsere ganze Weltsicht also, davon beeinflusst, wie diese in unserer Sprache repräsentiert sind (Gümüşay, 2020). Besonders spannend im Kontext von genderfairer Sprache sind auch ihre Ausführungen zum grammatikalischen Geschlecht von  Dingen: „Im Deutschen werden Brücken eher als ‚schön, elegant, fragil, friedlich, hübsch und schlank‘ beschrieben, im Italienischen eher als ‚groß, gefährlich, lang, stark, stabil und gewaltig“ (Gümüşay, 2020, S. 16). Für die grammatikalisch feminine Brücke im Deutschen werden also stereotyp weibliche Attribute gefunden, während das Gegenteil für das italienische grammatikalisch maskuline il ponte der Fall ist. Wenn Sprache also sogar unsere Vorstellung von Dingen so massiv beeinflusst, kann man sich gut vorstellen, dass das beispielsweise bei Personenbezeichnungen oder Anreden erst recht der Fall ist.

Die Forderung nach gendergerechter Sprache ist also kein konstruiertes oder nichtiges Problem; ganz im Gegenteil: Sprache beeinflusst ganz entscheidend, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Und eine Sprache, die mehr als die Hälfte der Menschen systematisch unsichtbar macht, sorgt dafür, dass diese Menschen auch abseits der Sprache nicht mitgedacht, übersehen und unsichtbar gemacht werden.

Warum die deutsche Sprache nicht „gerettet“ werden muss

Als der Duden Anfang dieses Jahres ankündigte, alle eingetragenen Personenbeschreibungen geschlechtergerecht anpassen zu wollen, hagelte es Kritik, ja Empörung von allen Seiten. Wahlweise ist von „Gendergaga“, „Verhunzung der deutschen Sprache“, oder „Genderwahn“ die Rede (Bednarz, 2020). Der Verein Deutsche Sprache rief sogar eine Petition ins Leben, um die „deutsche Sprache vor dem Duden [zu retten]“ (Verein Deutsche Sprache e.V., 2021). Wie absurd, wenn man sich vor Augen führt, dass es Sprachwandel schon immer gab und immer geben wird. So erklärt auch der Duden diesen Schritt damit, dass Sprache dynamisch ist und sich ganz selbstverständlich verändert – gemeinsam mit unserer Lebensrealität (Deutsche Welle, 2021). So scheint es doch nur logisch, dass in einer Gesellschaft, in der geschlechtliche Vielfalt immer sichtbarer wird, diese Diversität auch in der Sprache repräsentiert ist – einfach, weil wir sprachlich so unsere Realität akkurater beschreiben können: Gendern sei „schlicht und ergreifend genauer, weil es alle aufzählt, die eigentlich gemeint sind“, schreibt Sophie Passmann (2021), Kolumnistin fürs ZEITmagazin.

Weiterhin pochen der Verein Deutsche Sprache und konservative Sprachwissenschaftler*innen in der oben genannten Petition auf die Verwendung des generischen Maskulinums; es wird sogar davor gewarnt, es nicht mehr standardmäßig zu verwenden. Die Erweiterung der Einträge im Duden führe zu einer „problematischen Zwangs-Sexualisierung“ (Verein Deutsche Sprache e.V., 2021). Wie genau eine geschlechtersensible Sprache diese sogenannte „Zwangs-Sexualisierung“ herbeiführen soll, wird nicht richtig klar. Warum, ganz im Gegenteil, geschlechtergerechte Personenbeschreibungen eine gute und vor allem notwendige Veränderung darstellen, zeigt sich, sobald man wissenschaftliche Studien zu dem Thema betrachtet.

So wurde beispielsweise in einer Studie der Freien Universität Berlin untersucht, inwieweit die sprachliche Präsentation von stereotyp männlichen Berufen deren Wahrnehmung bei Kindern beeinflusst (Vervecken & Hannover, 2015). Es wurden Berufsbeschreibungen von stereotyp männlichen Berufen, z.B. Erfinder*in, entweder in der generisch maskulinen Form, also „Erfinder“, präsentiert, oder in Paarform, also „Erfinder und Erfinderinnen“, genau wie der Duden es eingeführt hat. Weitere als typisch männlich gelistete Berufe waren z.B. Astronaut*in, Bürger-meister*in oder Geschäftsmann/-frau. Gemessen wurde dann, wie die jeweilige sprachliche Präsentation sich darauf auswirkte, wie Kindern im Alter von 7-12 Jahren die Zugänglichkeit der präsentierten Berufe sowie die eigene berufliche Selbstwirksamkeit einschätzten. „Zugänglichkeit“ wurde anhand des wahrge-nommenen Status sowie der wahrgenommenen Schwierigkeit der Betätigung operationalisiert. „Selbstwirksamkeit” ist ein Konstrukt, das von Albert Bandura (1995, S. 2) als „the belief in one’s capabilities to organize and execute the courses of action required to manage prospective situations” definiert wurde. Die individuelle berufliche Selbstwirksamkeit zeigt also an, wie zuversichtlich die Kinder waren, die Qualifikationen für die jeweiligen Berufe erreichen zu können. Wie erwartet, und wie in anderen wissenschaftlichen Studien bestätigt, ergab sich aus der sprachlichen Intervention, dass sowohl Jungen als auch Mädchen (dass es weitere Geschlechter gibt, wurde hier außer Acht gelassen) sich als selbstwirksamer bezüglich der Berufswahl erfuhren und die stereotyp männlichen Berufe als zugänglicher angesehen wurden, wenn die Bezeichnungen paarweise präsentiert wurden (Vervecken & Hannover, 2015). Solche Ergebnisse führen deutlich vor Augen, warum die Änderung im Duden sinnvoll und dringend nötig ist: Auch wenn das generische Maskulinum auf dem Papier alle Menschen gleichermaßen inkludieren soll, heißt das nicht, dass sich auch wirklich alle inkludiert fühlen. Geschlechtergerechte Sprache löst mitnichten eine „Zwangs-Sexualisierung“ aus; stattdessen sorgt geschlechterUNgerechte Sprache dafür, dass der patriarchale Status Quo untermauert wird, indem schon Grundschulkindern sprachlich suggeriert wird, welche Berufe für sie erreichbar sind und welche nicht. Auch hier zeigt sich, wie oben schon erläutert, wie mächtig Sprache ist und wie massiv sie unsere Realität beeinflussen kann.

Zu kompliziert, zu hässlich, oder einfach nur nervig

Wenn, wie oben beschrieben, von der Verschandelung der deutschen Sprache geredet wird, springen auch ganz schnell Phonetiker*innen (oder wahlweise auch Freund*innen aus der Heimat, denen Phonetik zum ersten Mal in ihrem Leben wichtig ist), auf den Zug auf und bemängeln, das Gendern störe ihren natürlichen Redefluss. Welch fadenscheiniges Argument: So schwer kann es nicht sein, zwischen Lehrer- und *innen diese minimal kurze Pause – unter Phonetiker*innen auch Glottisschlag genannt – zu machen. Das kriegen wir alle bei beliebigen anderen Wörtern auch hin. Außerdem: so schlecht ist es vielleicht auch nicht, wenn der kleine Moment Pause ein wenig unbequem ist. Jedes Mal, wenn jemand stutzt, sei es Sprecher*in oder Hörer*in, wird Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass in unserem status quo sowohl sprachlich als auch darüber hinaus nicht alle Menschen gleich sichtbar sind. Passmann (2021) vertritt hier eine ähnliche Meinung und meint, es sei „raffiniert […], dass […] ein im Grunde niedliches Satzzeichen daran erinnern soll, dass bis vor ein paar Jahrzehnten diese ganze Welt von Männern geleitet wurde.“

Geht es um geschriebenes Gendern wird kritisiert, so etwas sei „unlesbar“. Margarete Stokowski (2021) merkt hierzu an, dieser Einwand würde „gerne vorgebracht von Menschen, die diverse Fremdsprachen sprechen und auch sonst intellektuell eigentlich gut mitkommen.“. Noch eine sehr fadenscheinige Argumentation also, denn natürlich können diese Menschen gegenderte Texte lesen, sie wollen nur nicht. Alternativ wird mit Vorliebe das Ästhetik-Argument angeführt: Gegenderte Sprache sehe hässlich aus, höre sich hässlich an und sei ein einziges „Gendergaga“. Dabei ist es doch laut Stokowski (2021) so: „Wer ,Gendergaga‘ sagt, hat sich in sprachästhetischer Hinsicht doch eh völlig aufgegeben.“

Egal wie die Einwände lauten, in den meisten Fällen zeigt sich, so auch Stokowski (2021), dass die meisten – überwiegend tatsächlich männlichen – Verfechter*innen der ungegenderten Sprache krampfhaft Argumente suchen, um zu verdecken, worum es eigentlich geht: Nämlich, dass es sie nervt und dass sie keine Lust haben, den Aufwand zu betreiben, ihre Sprache umzustellen. Als immer explizit inkludierter Mann ist das natürlich leicht gesagt.

Gewaltvolles generisches Maskulinum

Letztendlich geht die Thematik in meinen Augen über ästhetische oder praktische Fragen, ja vielleicht sogar über Weltansicht hinaus. Ist es nicht irgendwie auch eine Form von Gewalt, mehr als der Hälfte aller Menschen eine explizite sprachliche Repräsentation zu verweigern? Von verschiedenen Theoretiker*innen wird im Kontext der Sprechakttheorie erläutert, inwieweit Sprache gewaltvoll sein kann. Hierzu beschreibt Sybille Krämer, Professorin im Ruhestand für theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin,

„dass Worte immer auch Taten sind: indem wir sprechen, handeln wir. John Searles Sprechakttheorie und Jürgen Habermas’ Kommunikationstheorie haben uns – im Anschluss an Austin – aufgeklärt darüber, dass das, was das Sprechen handelnd hervorbringt, ›soziale Fakten‹ sind, Gegebenheiten also, deren Sein auf ihrem Anerkanntsein beruht. Wir reden nicht nur über die Welt, sondern konstituieren unsere Welt als eine soziale Welt auch durch unser Reden: zu sprechen heißt, eine Beziehung zu den Angesprochenen aufzunehmen und einzugehen.“

Krämer, 2015, S. 32

In Bezug auf Gewalt müsse zwar nach wie vor zwischen verbaler und physischer Gewalt unterschieden werden, dennoch solle zugestanden werden, dass auch sprachliche Äußerungen gewaltvoll sein können (Krämer, 2015). Judith Butler (1997) geht noch weiter, indem sie alle Menschen als sprachliche Wesen beschreibt, die erst durch Sprache, genauer sprachliche Benennung und Ansprache, beginnen zu sein. Weiterhin schlussfolgert sie, dass gerade darin die gewaltvolle Macht der Sprache liegt, die Existenz Einzelner auch wieder zu zerstören: „If language can sustain the body, it can also threaten its existence.“ (Butler, 1997, S. 5).

Und nichts anderes passiert doch, wenn auf dem generischen Maskulinum bestanden wird: All denjenigen Menschen, die sich von diesem nicht repräsentiert fühlen, wird die von Butler beschriebene, essentielle Ansprache verwehrt. Und damit wird ihnen nicht bloß, wie zu Beginn des Abschnitts formuliert, sprachliche Repräsentation verweigert, sondern sogar ihre komplette Existenz. Und das, finde ich, kann durchaus als Akt der Gewalt bezeichnet werden.

Und nun?

Was erzähle ich also jetzt meinen Freund*innen, wenn der nächste feuchtfröhliche Abend ansteht und wir uns wieder auf kontroversem Terrain bewegen?

Nun, ich werde mit Gewissheit sagen können, dass Sprache ganz entscheidend unsere Weltsicht formt. Ganz besonders die Art und Weise, wie wir andere Menschen bezeichnen und anreden, hat reale Auswirkungen und die Macht, patriarchalische Strukturen entweder zu stützen oder sie im Kleinen zu dekonstruieren. Natürlich wird sich durch eine gerechtere Sprache das Patriarchat nicht einfach in Luft auflösen, da mache ich mir keine Illusion. Weder alltäglicher noch struktureller Sexismus lassen sich allein durch sprachliche Veränderungen beseitigen; und trotzdem glaube ich, dass eine fairere Sprache ein Anfang sein kann, bottom-up gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.

Weiterhin kann ich allen erklären, warum die deutsche Sprache nicht gerettet werden muss (zumindest nicht vor dem Duden, vor konservativen Sprach-wissenschaftler*innen vielleicht schon eher). Durch differenzierte Personen-bezeichnungen entsteht mitnichten die befürchtete Zwangssexualisierung; stattdessen könnten sie helfen, geschlechterspezifische Berufsstereotype aufzuweichen und Kindern mehr Selbstvertrauen in ihrer Berufswahl zu geben.

Für mindestens genauso wichtig halte ich den Ansatz der Sprachakttheorie, nach dem das Beharren auf dem generischen Maskulinum in dem Sinne gewaltvoll ist, dass es den nicht explizit Genannten ganz simpel ihre Existenz abspricht.            

Ich kann verstehen, dass es anstrengend oder aufwändig erscheint, die eigene Sprache so grundlegend umzustellen. Ich kann auch verstehen, dass es nervig ist. Aber erstens verlangt dabei niemand Perfektion, ich schaffe es häufig auch nicht, mich komplett konsequent „politisch korrekt“ auszudrücken; und zweitens fände ich es schön, wenn sich Gender-Kritiker*innen wenigstens auf die Thematik einlassen und sich ihr nicht von vorneherein verweigern würden. Vielleicht kann ich mit meinem Plädoyer ja das nächste Mal zumindest meine Freund*innen davon überzeugen, dass gendergerecht Sprache gar nicht so eine schlechte Idee ist.


Literaturverzeichnis

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Bednarz, L. (2020, June 5). Wer hat Angst vor dem “Genderwahn”? Spiegel Kultur. https://www.spiegel.de/kultur/wer-hat-angst-vor-dem-genderwahn-kommentar-von-liane-bednarz-a-948ed8f6-fa1f-465c-9b07-86cfcf34ccb0

Butler, J. (1997). Excitable Speech: A Politics of the Performative. Routledge.

Deutsche Welle. (2021, February 11). Online-Duden: Gendern ist keine “Sprachmanipulation.” https://www.dw.com/de/online-duden-gendern-ist-keine-sprachmanipulation/a-56539248

Gümüşay, K. (2020). Sprache und Sein (4th ed.). Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Company KG.

Krämer, S. (2015). Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte? In S. K. Herrmann, S. Krämer, & H. Kuch (Eds.), Verletzende Worte (pp. 31–48). transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839405659-001

Passmann, S. (2021, July 21). [Aus der Serie: Alles oder Nichts]. ZEITmagazin. https://www.zeit.de/zeit-magazin/2021/30/gendern-sprachwandel-moral-aesthethik-schoenheit

Stokowski, M. (2021, January 12). Auch durch Astronautinnen ändert sich nicht alles. SPIEGEL Kultur. https://www.spiegel.de/kultur/gendergerechte-sprache-auch-durch-astronautinnen-aendert-sich-nicht-alles-a-4d47d2de-32be-4166-8a71-d0e87729b78f

Verein Deutsche Sprache e.V. (2021). Rettet die deutsche Sprache vor dem Duden. https://vds-ev.de/allgemein/aufrufe/rettet-die-deutsche-sprache-vor-dem-duden/

Vervecken, D., & Hannover, B. (2015). Yes I Can! Effects of Gender Fair Job Descriptions on Children’s Perceptions of Job Status, Job Difficulty, and Vocational Self-Efficacy. Social Psychology, 46(2), 76–92. https://doi.org/10.1027/1864-9335/a000229

von Humboldt, W. (1836). Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts. Dümmler.


Quelle: Paula Kleuters, Gendern ist Weltsicht – Ein Plädoyer für gendergerechte Sprache, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 30.08.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=120