Die Rolle der Sprache im Alltagsrassismus

Lena Hackauf (SoSe 2022)

1. Einleitung

Im November 2020 sowie im Januar 2021 strahle der WDR eine Folge der Talkshow Die letzte Instanz aus.[1] Diskursthema der Show war es unter anderem, sich darüber auszutauschen, ob die Z-Soße[2] einen anderen Namen erhalten sollte. Hintergrund dafür war die jahrelange Beschwerde der Sinti und Roma, dass eben jene Bezeichnung eine Diskriminierung darstelle. Schlussendlich drang dies zu einem Hersteller durch, der die Soße schließlich in Paprikasauce ungarische Art umbenannte. Der WDR-Moderator Steffan Hallaschka und das Team der Show luden vier prominente weiße – und damit vier nicht betroffene – Menschen ein, um über die Frage zu debattieren. Die vier Gäste waren sich einig, dass es nicht diskriminierend sei, das Z-Wort oder auch das N-Wort zu verwenden.

Insbesondere nach der erneuten Ausstrahlung der Sendung im Januar 2021 war die Kritik an dem Thema, der inhaltlichen Debatte sowie an den Gästen groß (vgl. Dell 2021, Sterz & Haruna-Oelker 2021). Die Debatte in der Show macht deutlich, wie tief verwurzelt Rassismus in der deutschen Gesellschaft ist. Dabei wird ein bestimmter Bereich des Rassismus bedient, der sogenannte Alltagsrassismus. Diese Hausarbeit möchte sich im Bereich des Alltagsrassismus mit diskriminierender Sprache in Deutschland beschäftigen. Dafür soll zunächst einmal geklärt werden, was unter Rassismus sowie Alltagsrassismus verstanden werden kann. Anschließend soll spezifisch auf den Aspekt der rassistischen Sprache in Deutschland eingegangen werden.

2. Rassismus   

 Unter einer rassistischen Tat versteht die Mehrheit der Menschen einen gewalttätigen, mutwilligen und offensiven Akt der Diskriminierung. Hinzu kommt, dass es sich hierbei um seltene Ausnahmen handeln würde, nur eine rechte Minderheit würde beziehungsweise könne rassistisch handeln (vgl. Schramkowski & Ihring 2018, S. 279). Diese Auffassung von Rassismus stimmt jedoch nicht. Ganz im Gegenteil: Die offensive Form von Rassismus spiegelt nicht die ganze Bandbreite der Diskriminierung von Menschen etwa aufgrund ihrer Ethnie, Religion oder Hautfarbe dar. Rassismus ist eine Ideologie, die davon ausgeht, dass die Menschheit in verschieden „Rassen“ unterteilt werden könne (Koller 2015). Dadurch sei es möglich, anhand von willkürlichen Eigenschaften, wie zum Beispiel körperlichen Merkmalen, Menschen nicht nur zu unterscheiden, sondern auch den Gruppen Privilegien zu- oder abzuschreiben. Es geht also darum, sich selbst von anderen, von Fremden, abzugrenzen und gleichzeitig Machtverhältnisse herzustellen (vgl. Hergesell 1992, S. 748).  
Rassismus ist ein System, dessen Wurzeln bis in die Antike zu verfolgen sind (vgl. Rommelspacher 2009, S. 28). Auch das Gesellschaftssystem der Kasten in Indien sind ein Erzeugnis rassistischer Motive (vgl. Rommelspacher 2009, S. 28). Besonders zentral für das heutige Verständnis von Rassismus ist jedoch die Rassentheorie des 18. Jahrhunderts in Europa (vgl. Koller 2015). Diese Theorie soll(te) dazu dienen, Menschen zu kategorisieren und hierarchisch zu sortieren. Auf diese Weise rechtfertigten die Könige europäischer Länder wie beispielsweise Großbritannien, der Niederlande oder Deutschlands die Kolonialisierung auf dem afrikanischen, amerikanischen oder auch süd-ost-asiatischen Kontinent (vgl. Koller 2015).

Auch im 21. Jahrhundert haben die rassistischen Strukturen der Gesellschaft Auswirkungen auf „soziale, politische und wirtschaftliche Handlungen“ (Rommelspacher 2009, S. 25). Zum modernen Rassismus können Formen wie der Antisemitismus, Antiislamismus sowie der Antiziganismus gezählt werden (vgl. Rommelspacher 2009).

2.1 Die Alltäglichkeit von Rassismus

Rassismus zeigt sich vielseitig. Neben der offensiven Form von Rassismus, die sich beispielsweise durch offenkundige Beleidigungen oder physische Angriffe äußert, gibt es eine weitere Form, den sogenannten Alltagsrassismus. Dieser beginnt bei abfälligen Blicken, geht über Fragen nach der ‚wirklichen‘ Heimat und endet schlussendlich in strukturellen Benachteiligungen von BIPoC[3], zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Suche nach einer Wohnung.

Ein wesentlicher Punkt rassistischen Gedankenguts ist es, Menschen mit der Hilfe von Stigmatisierung und Verallgemeinerungen zu gruppieren. Auch mit vermeintlich wohlwollenden Aussagen sollen Menschen eingeordnet werden (Nguyen 2014). Eine solche, aufgrund von Herkunft, Name, Sprache, Religion und vielem weiteren basierten, Verallgemeinerungen wäre zum Beispiel eine Aussage wie ‚Alle Asiaten sind gut in Mathe.‘ Dabei ist es nicht wichtig, ob die Auffassung positiv oder negativ gemeint war. Mit solchen Verallgemeinerungen spricht man den Menschen ihre Individualität, ihr Können und ihre Fähigkeiten ab. Denn es wird gleichzeitig impliziert, dass jeder Mensch, der wie in dem angeführten Beispiel als Asiate gelesen wird, ohnehin gut mit Zahlen umgehen könne und es somit nichts Besonderes sei.

In der Regel werden solche Bemerkungen und Behandlungen von Nicht-Betroffenen nicht als rassistisch eingeordnet (vgl. Schramkowski & Ihring 2018, S. 280). Das hängt zum Teil damit zusammen, dass das Thema Rassismus in unserer Gesellschaft tabuisiert ist und sich die Mehrheitsbevölkerung in Deutschland nur ungern damit beschäftigt – ein Privileg. Denn wie bereits erwähnt, wird davon ausgegangen, dass Rassismus kaum vorkäme. Ein Hauptbestandteil des Alltagsrassismus ist damit die Banalität (vgl. Schramkowski & Ihring 2018, S. 281).

Doch auch BIPoC, also von Rassismus betroffene Menschen, können alltagsrassistische Handlungen und Bemerkungen übersehen (vgl. Nguyen 2014). Das liegt daran, dass auch BIPoC mit den Vorurteilen der hiesigen Gesellschaft aufwachsen und sozialisiert werden. Unter racial bias kann man die Stereotype zusammenfassen, die unterbewusst einen Einfluss auf unsere Handlungsweisen haben (vgl. Valla et al. 2018, S. 195-196). In der Studie von Valla et al. (2015) wird deutlich, dass es sowohl weißen als auch schwarzen Menschen leichter fällt, positive Eigenschaften weiß aussehenden Menschen zuzuordnen. Hingegen fällt es ebenfalls beiden Testgruppen leichter, schwarz gelesenen Menschen negative Attribute zuzuschreiben (vgl. Valla et al. 2015). Die Ergebnisse legen nahe, dass Alltagsrassismus einen Effekt darauf hat, wie BIPoC ihre Umwelt wahrnehmen und sie ebenfalls die rassistischen Stereotype, das „rassistische Wissen”, der Gesellschaft verinnerlichen (Nguyen 2014).

2.2 Diskriminierende Worte

Worte spielen eine elementare Rolle im Alltagsrassismus. Dabei können zwei Arten von Rassismuserfahrungen unterschieden werden (vgl. Çiçek et al. 2014, S. 311): Neben der primären Rassismuserfahrung, durch zum Beispiel offensive Hetze gegen Menschengruppen aufgrund ihrer Ethnie, Religion oder ähnlichem, gibt es auch sekundäre Rassismuserfahrungen. Letztere sind dem Alltagsrassismus zuzuordnen. Dazu zählen neben Kommentaren, den vermeintlichen Komplimenten, Zuschreibungen und vielem mehr ein Pool rassistischer Beleidigungen, auf englisch racial slurs. Die racial slurs sind geschichtlich bis in die Kolonialzeiten zurückzuführen – teilweise auch noch weiter zurück. Sie entstanden und wurden genutzt, um die damit zu bezeichnenden Menschen herabzusetzen. Zu den racial slurs zählen zum Beispiel das N- und M-Wort für schwarze Menschen sowie das Z-Wort für Sinti und Roma.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (2015) schreibt dazu: Das Z-Wort „ist eine von Klischees überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft, die von den meisten Angehörigen der Minderheit als diskriminierend abgelehnt wird.“ Denn egal ob man racial slurs mit oder ohne schlechte Intention verwendet, sie transportiert und reproduzieren die rassistische Vergangenheit, durch die sie geprägt sind (vgl. Çiçek et al. 2014, S. 313). Racial slurs wie das Z-Wort sind mit realen Gewaltakten direkt und unwiderruflich verbunden. Das Z-Wort ist beispielsweise bis in das 16. Jahrhundert in Deutschland zurückzuführen. In seiner etymologischen Entstehung steht es in einer engen Verbindung zu den Stereotypen über die Sinti und Roma (vgl. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 2014). Gewalttaten sowie die systematische Vernichtung der Sinti und Roma im Dritten Reich wurden mit eben jenen Stereotypen begründet und gerechtfertigt.

Die mit Schmerz und Leid verbundenen racial slurs sind noch immer im Alltag aufzufinden und transportieren und verkörpern eben jene Erfahrungen – seien es Straßennamen, Speisen und Süßigkeiten oder ältere Literatur, zu der auch Kinderbücher wie zum Beispiel Pippi Langstrumpf oder Die kleine Hexe zählen. Durch die alltäglich wiederholende Diskriminierung der racial slurs werden die rassistischen Prinzipien und Machtstrukturen gefestigt. Kourabas (2019, S. 20) fasst zusammen:

„Durch sprachliche Bezeichnungen, die an rassistische Bilder der Unterordnung und vermeintlicher Minderwertigkeit und Geschichtslosigkeit anknüpfen, werden Personen und Personengruppen herabgewürdigt, entmenschlicht, beschimpft, homogenisiert, exotisiert, infantilisiert und als Fremde und Andere in einem geschichtslosen Vakuum exkludiert.“

3. Sprache schafft Wirklichkeit

Sprache hat einen direkten Einfluss darauf, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Das belegt zum Beispiel die Studie des Linguisten Levinson (1997). In dieser Beschreibt Levinson, dass es der indigenen Sprache Guugu Yimithirr der Aborigines in Australien keine Begriffe für links, recht, vorne oder hinten gibt. Um zu beschreiben, dass hinter einer Person ein Unwetter aufzieht, nutzen die Menschen stattdessen die Himmelsrichtungen. Also zum Beispiel ‚Nördlich von dir zieht ein Unwetter heran.‘ Da die Menschen sich täglich orientieren müssen, um richtig kommunizieren zu können, haben sie einen ausgeprägten Orientierungssinn. Sogar in einem dunkeln Raum ohne Fenster können sie die Himmelsrichtigen korrekt bestimmen (vgl. Levinson 1997, S. 125).

Mit Sprache formen wir also unser Denken, unsere Realität und schließlich auch, wie wir handeln. Denn wer spricht, der handelt (vgl. Kourabas 2019, S. 19). Menschen können sich nur aktiv dazu entscheiden, zu sprechen. Der Sprechakt oder die Sprechhandlung ist also immer absichtlich. Hinzu kommt, dass Sprache eine performative Eigenschaft innehat (vgl. Kourabas 2019, S. 19). Das bedeutet, Menschen bezeichnen Dinge und Umstände. Neben der Beschreibung ihrer Umwelt reproduzieren sie die dazugehörigen Vorstellungen und geben diese an die Gesprächspartner*innen weiter (vgl. Kourabas 2019, S. 19). Menschen, die innerhalb einer Gesellschaft aufwachsen, lernen durch ihre Sozialisation die Bedeutungen, die hinter den Wörtern stehen. Dadurch ist es möglich, sich zu unterhalten. Gleichzeitig ist es nicht möglich, Wörter auszusprechen, ohne ihre durch die Gesellschaft bestimmten Bedeutungen zu transportieren.

Sprache ist also ein machtvolles Instrument. Mit der Hilfe der richtigen Wörter drücken Menschen nicht nur aus, was sie mit ihren Augen wahrnehmen oder mit ihrem Herzen fühlen, sondern vermitteln auch Machtstrukturen und Beziehungen (vgl. Kourabas 2019, S. 20). Deutlich wird das zum Beispiel auch beim Duzen und Siezen. Je nachdem, ob zwei Menschen untereinander ‚du‘ oder ‚sie‘ beziehungsweise nur einer von beiden duzt und die andere Person siezt, erkennt man, wie eng die Beziehung zwischen ihnen ist.

Auf der Grundlage dessen, dass Sprache ein performativer Akt ist und einen unwiderruflichen Einfluss darauf hat, wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen, sowie der Tatsache, dass die racial slurs noch immer im alltäglichen Sprachgebrauch ihren Platz haben, soll im Folgenden darauf eingegangen werden, welchen Einfluss rassistische Sprache auf Menschen haben kann.

4. Rassismus macht krank

Wenn Sprache handeln ist, dann können Worte zu Waffen werden. Rassistisch konnotierte Bezeichnungen und Bemerkungen sind somit ein Akt der Gewalt (vgl. Kourabas 2019, S. 21).

Anders als bei körperlicher Gewalt sind die Schäden weniger leicht zu greifen. Immerhin zeichnen sich keine blauen Flecken ab, wenn Personen durch Worte verletzt werden.

Neben der gesellschaftlichen Prägung des rassistischen Wissens hat ein alltägliches Differenzieren zwischen ‚wir ‘und ‚ihr‘, auch Othering genannt, durch Kommentare, Blicke und strukturelle Benachteiligungen einen Effekt auf Betroffene, der nicht zu unterschätzen ist (vgl. Nguyen 2014).

Rassismus hat Auswirkungen auf das körperliche Wohlbefinden der Betroffenen, sowie auf die Psyche (vgl. Schramkowski & Ihring 2018, S. 282). Insbesondere das Beobachten oder Erleben von Alltagsrassismus kann auf so eine Weise belastend sein, dass die Menschen Traumata entwickeln (vgl. Yeboah 2017, S. 147-148). Die Folgen davon können unter anderem Stress, Depressionen, Selbstverletzung oder Suizid sein (vgl. Yeboah 2017, S. 148, 150). In Deutschland geborene oder aufgewachsene BIPoC beschreiben zudem, dass sie, durch die alltäglichen Erfahrungen von Rassismus, nicht das Gefühl haben, zu der hiesigen Gesellschaft dazuzugehören (vgl. Schramkowski &Ihring 2018, S. 282). Gleichzeitig bekämen sie das Gefühl, ‚zu deutsch‘ für ihre zum Beispiel türkische oder vietnamesische Familienseite zu sein. Alltagsrassismus, inklusive der racial slurs, kann somit eine Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität auslösen. Hinzu kommt, dass Menschen, die rassistisch diskriminierende Worte erleiden, die kommunizierten Werte verinnerlichen und sich schlussendlich „selbst als ‚Andere‘ [beginnen] wahrzunehmen“ (Kourabas 2019, S. 21).

5. Fazit

Zusammenfassend zeigt die Debatte aus der WDR-Show Die letzte Instanz eindrücklich und beispielhaft, wie tief verwurzelt die rassistische Ideologie noch immer in der heutigen Gesellschaft ist. Bereits die Diskussionsfrage, ob die genannte rassistische Beleidigung diskriminierend sei, belegt dies. Die jeweilig betroffenen BIPoC äußerten sich bereits (mehrfach) dazu. Wie im Beispiel der Sinti und Roma sind racial slurs eindeutig diskriminierend und sollten nicht verwendet werden (vgl. Zentralrat Sinti und Roma 2015). Es gliedert sich in die rassistische Ideologie der ‚weißen Vorherrschaft‘ ein, dass weiße Menschen als die letzte und damit endgültig Instanz es besser wissen würden, um die Diskussionsfrage zu beantworten – ungeachtet dessen, dass keiner der Gäste Rassismus erfahren haben kann.

Rassismus besteht nicht nur aus offensiven Gewalttaten, sondern versteckt sich auch in alltäglichen Handlungen. Versteckt, weil es nicht immer leicht ist, die rassistische Äußerung zu erkennen, sowohl für Betroffene als auch für BIPoC. Alltagsrassismus äußert sich in Bemerkungen, ‚Witzen‘, vermeintlichen Komplimenten, (Fremd)Bezeichnungen sowie auch auf struktureller Ebene. Das bedeutet, aufgrund des alltäglichen Rassismus haben BIPoC schlechtere Chancen auf beispielweise dem Arbeitsplatz, im Gegensatz zu weißen Menschen.

Die rassistische Ideologie basiert zum größten Teil auf einem Konzept aus dem 18. Jahrhundert. Um die Menschen nicht nur physisch zu erniedrigen, sondern auch auf mentaler Ebene, wurden damals verschiedene racial slurs wie das Z- oder N-Wort eingeführt. Somit verkörpern auch die racial slurs das rassistische Gedankengut. Dieses wird bei der Verwendung der Wörter reproduziert. Damit sind racial slurs als Gewalttat zu betrachten. Wie auch bei anderen Formen der (sprachlichen) Gewalt, hinterlassen die Wörter Spuren und können psychisch krank machen.

Sprache ändert sich stetig – und das schon immer. Wir sprechen nicht mehr so wie vor 10, 50 oder 100 Jahren. Ohne den Wandel und das stetige neue Verständnis der Wörter gäbe es die deutsche Sprache, wie wir sie heute kennen, nicht. Tatsächlich kann die deutsche Sprache sogar anhand eines Sprachwandels definiert werden, nämlich der zweiten deutschen Lautverschiebung (vgl. Mohamed 2019). Dadurch wird recht deutlich, dass ein Wandel der Sprache nicht nur nicht vermeidbar ist, sondern, wenn man einen Schritt weitergeht, sogar unabdingbar. Und dennoch weigern sich viele Menschen dagegen, verschiedene Wörter nicht mehr zu benutzen, wie zu sehen und zu hören in Die letzte Instanz. Es fallen Sätze wie ‚Das haben wir schon immer gesagt‘, ‚Das ist doch gar nicht böse gemeint‘ oder ‚Stell dich mal nicht so an‘.

Dabei scheint die Lösung doch so simpel: Von Rassismus betroffene Menschen reden lassen und zuhören. Wie möchte mein Gegenüber bezeichnet werden und wie nicht? Mehr Bildung und Aufklärung ist nötig und vor allem müssen sich auch weiße Menschen mit Rassismus beschäftigen. Nicht nur weil es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt, sondern auch, weil weiße Menschen rassistische Denk- und Handlungsmuster ablegen müssen, um eine Veränderung zu erreichen.

Literaturverzeichnis

Çiçek, A., Heinemann, A., & Mecheril, P. (2014). Warum Rede, die direkt oder indirekt rassistische Unterscheidungen aufruft, verletzen kann. Sprache–Macht–Rassismus, 309-326.

Dell, M. (2021, 1. Februar). Ungenial daneben. Die Zeit. Abgerufen am 25. Juli 2022 von https://www.zeit.de/kultur/film/2021-01/wdr-sendung-letzte-instanz-thomas-gottschalk-rassismus-janine-kunze

Hergesell, B. (1992). Sie sind „faul “,„schwul” und „dumm “. Zum Alltagsrassismus im Betrieb. Gewerkschaftliche Monatshefte, 12, 745-754.

Kourabas, V. (2019). Sprache-Macht-Rassismus: Eine Einführung. Denkanstöße für eine rassismuskritische Perspektive auf kommunale Integrationsarbeit in den Kommunalen Integrationszentren–Ein Querschnittsthema.

Koller, C. (2015, 8. Dezember). Was ist Rassismus? Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen am 26. Juli 2022 von https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/213678/was-ist-eigentlich-rassismus/

Levinson, S. C. (1997). Language and cognition: The cognitive consequences of spatial description in Guugu Yimithirr. Journal of linguistic anthropology7(1), 98-131.

Migrationsrat (2020, 2. April). BIPoC. Abgerufen am 26. Juli 2022 von https://www.migrationsrat.de/glossar/bipoc/

Mohamed, A. S. (2019). Die Ursprünge der deutschen Sprache-Die erste und zweite Lautverschiebung. Beni-Suef University International Journal of Humanities and Social Sciences, 1(1), 123-145.

Nguyen, T. Q. (2014, 6. November). „Offensichtlich und zugedeckt“ – Alltagsrassismus in Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen am 26. Juli 2022 von https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/194569/offensichtlich-und-zugedeckt-alltagsrassismus-in-deutschland/

Schramkowski, B., Ihring, I. (2018). Alltagsrassismus. In: Blank, B., Gögercin, S., Sauer, K., Schramkowski, B. (eds) Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-19540-3_23

Sterz, C., & Haruna-Oelker, H. (2021, 1. Februar). „Ein Beispiel, das repräsentativ für andere steht“. Deutschlandfunk. Abgerufen am 25. Juli 2022 von https://www.deutschlandfunk.de/kritik-an-wdr-talkshow-letzte-instanz-ein-beispiel-das-100.html

Rommelspacher, B. (2009). Was ist eigentlich Rassismus. Rassismuskritik1, 25-38.

Valla, L. G., Bossi, F., Calì, R., Fox, V., Ali, S. I., & Rivolta, D. (2018). Not only whites: racial priming effect for black faces in black people. Basic and Applied Social Psychology, 40(4), 195-200.

Yeboah, A. (2017). Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland. In Rassismuskritik und Widerstandsformen (pp. 143-161). Springer VS, Wiesbaden.

Zentralrat Sinti und Roma (2015, 9. Oktober). Erläuterung zum Begriff „Zigeuner“. Stellungnahmen. Abgerufen am 25. Juli 2022 von https://zentralrat.sintiundroma.de/sinti-und-roma-zigeuner/

Ausschnitt Die letzten Instanz:

Ulirhein (2021, 1. Februar). „Das Ende der Zigeunersauce: Ist das ein notwendiger Schritt?“ aus „Die letzte Instanz – …“, WDR [Video] Abgerufen am 13. August 2022 von https://www.youtube.com/watch?v=v32zQTd7JwA&t=707s


[1] In der WDR-Mediathek ist die Folge nicht mehr zu finden. Auf YouTube ist der Beitrag noch anzuschauen, jedoch nicht auf dem offiziellen YouTube-Kanal der WDR oder der Letzten Instanz. 

[2] Der Buchstabe „Z“ steht an dieser Stelle stellvertretend für eine diskriminierende Bezeichnung für Sinti und Roma, die in dieser Hausarbeit nicht reproduziert werden soll.

[3] BIPoC = Black, Indigenous, and People of Color (vgl. Migrationsrat 2020)


Quelle: Lena Hackauf, Die Rolle der Sprache im Alltagsrassismus, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 01.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=285

Stereotype Threat

Beeinflussung der akademischen Identität durch Stereotype und ihre Auswirkungen

Alina Wusits (SoSe 2022)

Einleitung

Bevor ich auf das eigentliche Hausarbeitsthema zu sprechen komme, möchte ich ein paar Worte zu dem Gebrauch von meiner Schrift und Sprache verlieren. Ich habe mich bewusst dafür entschieden den englischen Ausdruck People of Color (Abkürzung: PoC) zu verwenden, da es sich hierbei um eine internationale Selbstbezeichnung von Menschen handelt, welche Rassismus erfahren. Der Begriff ist emanzipatorisch, solidarisch und verdeutlicht eine politisch gesellschaftliche Position. Außerdem stellt sich die Bezeichnung gegen diskriminierende Fremdbezeichnungen durch die weiße Mehrheitsgesellschaft (Antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit, (o. D.)). Darüber hinaus verwende ich genderneutrale Sprache, da es mir sehr wichtig ist, dass sich alle Menschen, die diesen Text lesen, angesprchen fühlen.

Ich habe mich für das Thema Stereotype Threat entschieden, weil ich die Einteilung von Menschen in Kategorien und die Konsequenzen davon im Allgemeinen sehr spannend finde. Mit der Gruppierung von Menschen und der Zuschreibung von Erwartungen und Eigenschaften entstehen Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung. Der Stereotype Threat Effekt ist eine von vielen Folgen und kann weitreichende Konsequenzen für das Leben einer Person haben. Das Wissen darüber, dass es diesen Effekt gibt, regt zum Nachdenken an und ermöglicht es, diesem Phänomen, zusammen mit anderen Interventionsmaßnahmen, entgegenzuwirken.

In meiner Hausarbeit gehe ich vor allem auf eine Studie von Shelvin et al. (2014) ein, die sich mit Stereotype Threat von PoC Kindern beschäftigt. Die Auswirkungen dieses Phänomens haben beginnend im Kindesalter weitreichende Folgen auf das Leben einer Person of Color. Im Allgemeinen kann man den Effekt aber in ganz unterschiedlichen Gruppen und Situationen beobachten. Beispielsweise gibt es zahlreiche Studien, die sich mit den Auswirkungen des Effekts bei Schülerinnen[1], homosexuellen Menschen oder älteren Personen beschäftigen.

Definitionen

Definition Stereotyp

Menschen werden im Alltag ständig aufgrund bestimmter Merkmale und Eigenschaften zu sozialen Kategorien und Gruppen zusammengefasst, da Kategorisierungen dabei helfen die Realität zu ordnen, zu strukturieren und zu vereinfachen. Jede Person ist Teil mehrerer sozialer Kategorien, ganz unabhängig davon, ob dies gewollt oder ungewollt, beziehungsweise bewusst oder unbewusst geschieht. Abhängig von der jeweiligen Kategorie hat die Gesellschaft unterschiedliche Erwartungen an die Mitglieder einer Gruppe. Jedoch trifft meist nur ein kleiner Anteil der erwarteten Merkmale wie Verhaltensweisen, Vorlieben, Einstellungen etc. zu und die zusätzlichen Erwartungen werden der Gruppe fälschlicherweise zugeschrieben. Auf diesem Wege entstehen stereotype Muster, welche automatisch aktiviert werden, wenn wir mit Mitgliedern einer bestimmten Kategorie interagieren. Stereotype sind eine Kategorisierung, die den weiteren Wahrnehmungen und Informationen eine Richtung geben soll. Ein Stereotyp ist zusammenfassend gesagt eine verallgemeinernde Beurteilung, die mit bestimmten Erwartungen und Informationen einhergeht. Der Prozess der Stereotypaktivierung erfolgt meist automatisch und hilft dabei, die Beobachtungen der Realität einzuschätzen (Garms-Homolová, 2021).

Die meisten Menschen haben das Gefühl zu wissen, was Stereotype sind. Hinton (2019) bringt die Aussagen von verschiedenen Definitionen sowohl in Wörterbüchern als auch in akademischen Quellen auf den Punkt. Zusammenfassend werden Stereotype als eine fixierte, stark vereinfachte und übergeneralisierte Vorstellung über eine Person oder Personengruppe beschrieben, welche oft im Zusammenhang mit Vorurteilen und Diskriminierung stehen. Wichtig zu erwähnen ist außerdem, dass Stereotype in einer Kultur entstehen und weitergegeben werden und es sich nicht um die Vorstellungen nur eines Individuums handelt.

Die Bedeutung des Begriffs Stereotyp wird nochmal klarer, wenn man sich mit seinem sprachlichen Ursprung auseinandersetzt. Das griechische Wort stereos bedeutet starr, hart und fest; typos heißt soviel wie Entwurf, feste Norm und charakteristisches Gepräge (Petersen & Six, 2008).

Definition Stereotype Threat

Steele (1997) definiert Stereotype Threat als eine sozialpsychologische Bedrohung, die entsteht, wenn sich eine Person in einer Situation befindet oder etwas Bestimmtes tut und es ein negatives Stereotyp gegenüber der eigenen Gruppe gibt. Es handelt sich hierbei, um einen generellen situationsabhängigen Druck, der von jeder Gruppe erlebt werden kann, wenn das Wissen eines negativen Stereotyps der eigenen Gruppe in der Gesellschaft weit verbreitet ist. Zu betonen ist hier, dass die betroffene Person selbst das Stereotyp nicht glauben muss. Ausschlaggebend ist, dass der betroffenen Person bewusst ist, dass andere Menschen dieses bestimmte Stereotyp über eine Kategorie von Menschen haben.

Steele and Aronson (1995) nehmen an, dass Menschen Bedrohung verspüren, wenn sie in einer bestimmten Situation die Befürchtung haben, auf der Grundlage von negativen Stereotypen beurteilt zu werden. Folglich wird versucht, durch das eigene Handeln diese negativen Stereotype der Eigengruppe nicht willentlich zu bestätigen.

Schmader et al. (2008) gehen davon aus, dass die Bedingung der Stereotype Threat die Leistung über drei verschiedene und miteinander verbundene Mechanismen stört. Zum einen beeinträchtigt eine physiologische Stressreaktion die präfrontale Verarbeitung und zum anderen haben Menschen die Tendenz ihre Leistung aktiv zu überwachen. Als dritter Punkt kommen die Bemühungen, negative Gedanken und Emotionen als Selbstregulation zu unterdrücken, hinzu. Diese drei Mechanismen verbrauchen alle exekutive Ressourcen, welche jedoch für eine gute Leistung bei kognitiven, aber auch bei sozialen Aufgaben gebraucht werden. Darüber hinaus stört die aktive Überwachung der Leistung die Ausführung von sensomotorischen Aufgaben.

Ausgewählte Studie zu Stereotype Threat

Stereotype threat in African American children: The role of Black identity and stereotype awareness

Kristal Hines Shelvin, Rocío Rivadeneyra, Corinne Zimmerman (2014)

Shelvin et al. (2014) gehen davon aus, dass für das Auftreten der stereotypen Bedrohung entscheidend ist, dass die Teilnehmenden wissen, dass ihre Leistung bewertet wird. PoC Kinder sind sich sehr bewusst, dass ihre Fähigkeiten und Leistungen im Schulkontext kontinuierlich bewertet werden. Aus diesem Grund hat jeder Schultag das Potenzial, eine stereotype Bedrohungssituation mit sich zu bringen und es ist zu erwarten, dass PoC Kinder schlechter bei einer akademischen Aufgabe mit stereotyper Bedrohung abschneiden, verglichen mit einer Kontrollbedingung ohne stereotyper Bedrohung. Nach Schmader et al. (2008) wird die stereotype Bedrohung durch eine Diskrepanz zwischen dem Selbstkonzept einer Person, der Gruppe, zu der sich die Person zugehörig fühlt, und ihren Fähigkeiten ausgelöst.

Die Studie von Shelvin et al. (2014) untersucht die Auswirkungen von stereotypen Bedrohungen auf die schulischen Leistungen von 186 PoC Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren. Die Autor*innen gehen davon aus, dass die Kinder in diesem Alter schulischen Erfolg wertschätzen sollten und sich ausreichend in der Schule engagieren. Darüber hinaus wurde auch das Wissen spezifischer rassistischer Stereotype und die Identitätsprofile von den Teilnehmenden untersucht, welche das Potenzial haben, die Anfälligkeit für das Gefühl einer Bedrohung durch Stereotype zu mildern.

Die teilnehmenden Kinder haben den Multidimensional Inventory of Black Identity-Teen Test ausgefüllt, der Aspekte der Black racial identity misst. Die Fragen beziehen sich auf Gefühle zu PoC als eine Gruppe, Ansichten über die gesellschaftliche Meinung zu PoC, die Wichtigkeit der Hautfarbe für das Selbstkonzept und den Umgang mit Problemen, die PoC haben. Die Teilnehmenden haben verschiedene Aussagen, wie zum Beispiel „I am proud to be Black“ auf einer Likert Skala von 1 (really disagree) bist 5 (really agree) bewertet.

Im Stereotype Awareness Task sollten die teilnehmenden Kinder alle Stereotype, die sie über PoC wissen, auflisten. Die Teilnehmenden haben durchschnittlich 5,1 Stereotype aufgelistet, wobei sieben Kategorien besonders oft vorgekommen sind: “Blacks are less intelligent than Whites”, “Blacks are worthless”, “Blacks are poor”, “Blacks are unattractive”, “Blacks are criminals”, “Blacks are violent”, “Blacks are good athletes”. Das Stereotyp “Blacks are less intelligent than Whites” war mit 44% das am meist genannte Stereotyp und ist darüber hinaus das relevanteste in Bezug auf die Stereotype Threat Aktivierung bei der Absolvierung akademischer Aufgaben. Dies zeigt sehr gut, dass viele Kinder bereits im Alter von 10 Jahren, das in der Gesellschaft verbreitete Wissen von Stereotype über ihre ethnische Gruppe besitzen.

Für die akademische Aufgabe wurde der Subtest Lesen / Vokabular, welcher 30 Items umfasst, des Test of Adolescent Langugae TOAL verwendet. Der Auftrag bestand darin, aus einer Zielwortliste mit fünf Wörtern, jene zwei Wörter auszuwählen, die am ehesten zu dem durch die Zielwortliste repräsentierten Konzept passen. Beispielsweise enthält die Zielwortliste die Begriffe Blau, Grün, Orange und Braun und die Kinder mussten aus der folgenden Liste (z.B. Fuchs, Auto, Rot, Computer, Schwarz) die passenden Wörter auswählen. In diesem Bespiel wäre die richtige Antwort Rot und Schwarz, da in der Zielwortliste verschiedene Farben aufgezählt werden. Die Schwierigkeit der Items steigt mit der Testlänge. Eigentlich ist der Test für Kinder von 12 bis 18,5 Jahren konzipiert. Er wurde dennoch ausgewählt, weil das Ziel der Studie darin bestand, eine Aufgabe zu haben, welche gleichzeitig herausfordernd und akademisch ist.

Es durften nur jene Kinder an der Studie teilnehmen, welche eine schriftliche Zustimmung der Eltern erhalten und ihre eigene Zustimmung gegeben haben. Im ersten Abschnitt der Studie füllten die Kinder den Stereotype Awareness Task, den Multidimensional Inventory of Black Identity-Teen Test und ein demografisches Formular aus. Der zweite Abschnitt fand ein bis zwei Wochen später statt. Die Teilnehmenden wurden per Zufall einer stereotypen Bedrohungsbedingung oder einer Kontrollgruppe zugeordnet. Daraufhin absolvierten die Kinder in beiden Gruppen den Test of Adolescent Langugae TOAL. Der Stereotype Threat Gruppe wurde gesagt, dass der Test die Intelligenz misst und die Ergebnisse von PoC und weißen Kindern verglichen werden. Der Kontrollgruppe wurde gesagt, dass einzelne Fragen getestet werden, um zu entscheiden, ob sie auch in zukünftigen Tests verwendet werden sollten. Abschließend wurde allen Kindern mitgeteilt, dass sie ihr Bestes geben sollten.

Die Ergebnisse des Test of Adolescent Language TOAL wurden einer 2 (Stereotype Threat: threat vs. neutral) x 2 (Intelligence Stereotype Awareness: stereotype listed vs. stereotype not listed) ANCOVA unterzogen. Man hat einen Haupteffekt der Stereotype Threat gefunden. Kindern in der Threat Bedingung haben niedrigere Ergebnisse im TOAL, im Vergleich zur neutralen Bedingung, erzielt. Eine Analyse des Einzeleffekts hat gezeigt, dass der Stereotype Threat Effekt nur dann eine Wirkung hatte, wenn das Intelligenzstereotyp salient war.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Stereotype Threat ein Faktor im akademischen Alltag von PoC Kindern spielt. Jene Kinder, die in der klassischen Stereotype Threat Bedingung waren, erzielten schlechtere Ergebnisse in akademischen Aufgaben verglichen mit jenen Kindern, die einer neutralen Bedingung ausgesetzt waren. Außerdem wurde gefunden, dass individuelle Differenzen, wie das Bewusstsein von Stereotypen und das Identitätsgefühl mit der Gruppe von PoC den Effekt der Stereotype Threat moderieren. Wie Steele (1997) in seiner Definition schon gezeigt hat, muss den Individuen das Stereotyp bezüglich der Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, bewusst sein, damit es zu einem Stereotype Threat Effekt kommt. Dies wurde auch in der Studie gezeigt, denn nur jene Kinder, die spontan das Stereotyp “Blacks are less intelligent than Whites“ aufgelistet haben, haben die erwarteten Leistungsunterschiede in der akademischen Aufgabe gezeigt. Auch wenn es Unterschiede in der Leistung gab, ist die Studie von noch stärkeren Diskrepanzen, auf Basis von älteren Studien, ausgegangen.

Unter dem Stereotype Threat Effekt kommt es auch dazu, dass PoC es vermeiden, Vorlieben für stereotype Aktivitäten, wie zum Beispiel das Mögen von Jazz, Hip Hop und Basketball, zu äußern. Diese Vermeidung zeigt den Wunsch auf, nicht durch den Blickwinkel von rassistischen Stereotypen gesehen werden zu wollen (Steele & Aronson, 1995).

Folgen von Stereotype Threat

Vulnerable Faktoren

Situationsbedingte Hinweisreize können sowohl die Aktivierung von Stereotypen der eigenen sozialen Identität beeinflussen, als auch die Wahrscheinlichkeit von schlechteren Leistungen als Folge des Stereotype Threat Effekts (Fuligni, 2007). Sowohl akademische Stereotype als auch akademische Selbstkonzepte beeinflussen und formen die akademischen Identitäten von Kindern (Bowe et al., 2017). Wenn eine Person of Colour als Minderheit in einer Gruppe versucht, sich den Text einer verbalen Präsentation zu merken, gelingt dies nicht so gut. Im Vergleich dazu lässt sich dieser Effekt nicht beobachten, wenn die Mehrheit der Teilnehmenden auch PoC sind (Sekaquaptewa & Thompson, 2002).

Die alleinige Angabe des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft vor der Durchführung eines Tests kann zu geringerer Leistung führen, da dadurch die soziale Identität der Gruppe salient gemacht wird. (Fuligni, 2007)

Protektive Faktoren

Das Auffinden von protektiven Faktoren ist der Schlüssel zum Durchbrechen von Stereotype Threat, der Nichtidentifikation mit akademischen Leistungen und somit der Weg, die Lücke von Leistungsunterschieden zu schließen (Shelvin et al., 2014).

Aronson et al. (2002) haben in einer Feldstudie gezeigt, dass PoC Studierende der Stanford Universität signifikant höhere Noten in dem Semester hatten, in dem ihnen gelehrt wurde, dass Intelligenz verformbar ist. Darüber hinaus ist der Aspekt interessant, dass die Personen nicht weniger Stereotype aus ihrer Umwelt berichten. Das bedeutet, dass die Interventionsmaßnahme nicht die Wahrnehmung der stereotypen Umwelt verändert hat, sondern die Vulnerabilität gegenüber Stereotype.

Eine andere mögliche Interventionsmaßnahme könnte darüber hinaus noch die Förderung der wahrgenommenen Ähnlichkeit zwischen den Gruppen sein. Rosenthal and Crisp (2006) haben in drei Experimenten die Hypothese untersucht, dass das Verwischen von Intergruppen-Grenzen den Stereotype Threat Effekt verringern wird. Die erste Studie hat ergeben, dass Frauen[2], die Charakteristiken, die von beiden Geschlechtern geteilt werden, aufgelistet haben, weniger Präferenzen für stereotyp weibliche Berufskarrieren haben, als Teilnehmende der Kontrollbedingung. Im zweiten Experiment wurde offenbart, dass Versuchspersonen, die über gemeinsame Charakteristiken nachgedacht haben, mehr richtige mathematische Fragen beantwortet haben. Im dritten Experiment wurde eine spezifische Bedrohungsmanipulation hinzugefügt. Teilnehmende, die die Aufgabe zu geteilten Charakteristiken vor der Stereotype Threat Bedingung durchgeführt haben, haben signifikant mehr mathematische Fragen richtig beantwortet als in der Kontrollbedingung und der ausschließlichen Threat Bedingung. All diese Ergebnisse unterstützen die Idee, dass Interventionsmaßnahmen zur Reduzierung von Intergruppenvoreingenommenheit erfolgreich zur Reduktion des Stereotype Threat Effekts eigesetzt werden können.

Konsequenzen von Stereotype Threat

Eine sehr weitreichende und langfristige Konsequenz von Stereotype Threat für die soziale Identität kann sein, dass sich Personen in einer akademischen Gemeinschaft unwohl oder sogar fehl am Platz fühlen. Stereotype können in Individuen ausreichend negative Gefühle erzeugen, dass diese ihre professionellen Identitäten ändern. Dies kann zur Folge haben, dass sich professionelle und berufliche Karrieren ändern und neue Karrierewege in einem anderen Feld gesucht werden. Wenn das Gebiet jedoch so fundamental, wie beispielsweise Mathematik ist, schließt diese Vermeidung viele Türen für potenziell lukrative Karrieren, beispielsweise im Bereich der Wissenschaft oder Technik. Eine kurzfristige psychologische Anpassungsfunktion an Stereotype Threat wäre die Strategie des Disengagements[3]. Bei dieser Strategie wird das Selbstwertgefühl psychologisch von den Bereichen gelöst, in denen Personen das Ziel von negativen Stereotypen, Vorurteilen und Benachteiligung sind. Diese defensive Distanzierung des Selbstwertgefühls von Erlebnissen in einem bestimmten Bereich führt dazu, dass das Selbstwertgefühl nicht von Erfolgen oder Misserfolgen in diesem bestimmten Bereich abhängt (Major et al., 1998). Hier wird die Abhängigkeit der eigenen Selbstansichten auf die eigene Leistung abgeschwächt (Fuligni, 2007). Die Strategie des Disengagements wird vor allem in Situationen angewendet, in denen eine relativ schlechte Leistung erwartet wird. Darüber hinaus kann die Abgrenzung des Selbstwertgefühls vom Feedback ebenfalls in Situationen auftreten, in denen das gegebene Feedback als voreingenommen gegen die stigmatisierte Gruppe wahrgenommen wird. In manchen Fällen kann dieser Mechanismus auch einen protektiven Faktor darstellen. Beispielsweise waren PoC nicht von negativem Feedback nach einem Intelligenztest betroffen, nachdem sie auf die Möglichkeit einer rassistischen Voreingenommenheit des Tests geprimed wurden. In unserer Gesellschaf sind PoC von Vorurteilen und Diskriminierung betroffen und die Folgen von sich wiederholenden Erfahrungen mit rassistischer Voreingenommenheit und Diskriminierung kann dazu führen, dass sich das Selbstwertgefühl chronisch von der Leistung in intellektuellen Bereichen löst (Major et al., 1998). Dennoch glauben Major et al. (1998), dass es möglich ist, das Selbstwertgefühl von der eigenen Leistung bei beispielsweise einem Intelligenztest zu lösen, gleichzeitig aber Intelligenz zu schätzen und das Gefühl zu haben, dass Intelligenz ein zentraler und wichtiger Teil des Selbstkonzeptes ist.

Literaturverzeichnis

Antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit. (o. D.). Amadeu Antonio Stiftung. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/juan-faecher.pdf [Abruf am 6.8.2022]

Aronson, J., Fried, C. B., & Good, C. (2002). Reducing the Effects of Stereotype Threat on African American College Students by Shaping Theories of Intelligence. Journal of Experimental Social Psychology, 38(2), 113-125. https://doi.org/https://doi.org/10.1006/jesp.2001.1491

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Fuligni, A. J. (2007). Contesting Stereotypes and Creating Identities: Social Categories, Social Identities, and Educational Participation. Russell Sage Foundation.

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[1] Ich habe hier bewusst nicht die genderneutrale Ausdrucksform gewählt, da die Studien meist von einer binären Geschlechtseinteilung ausgehen.

[2] Ich verwende hier die binäre Einteilung in Männer und Frauen absichtlich, da die Autor*innen in ihren Studien ebenfalls von einem binären Geschlechtssystem ausgegangen sind.

[3] Ich habe mich hier absichtlich für den englischen Begriff entschieden, da ich der Meinung bin, dass die deutsche Übersetzung nicht vollkommen treffend ist.


Quelle: Alina Wusits, Stereotype Threat: Beeinflussung der akademischen Identität durch Stereotype und ihre Auswirkungen, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.10.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=281

Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte im Bildungsplan Baden-Württembergs mit Fokus auf den Völkermord der Herero und Nama

Constanze Luise Selegrad (SoSe 2022)

1. Einleitung

Diese Hausarbeit schließt an eine Gruppenarbeit zum Thema „Rassismus“ im Seminar „Gender, Diversity und Gender Mainstreaming“ an.

Um die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, gibt es viele unterschiedliche Möglichkeiten, eine der effektivsten und auch gesamtgesellschaftlichsten ist und bleibt jedoch die Schule. Deswegen soll im Folgenden betrachtet werden, wie im Bundesland Baden-Württemberg Kolonialismus am Gymnasium behandelt wird und, ob in dem Bildungsplan Raum für Verbesserung besteht.

Dazu soll zuerst der Begriff des Kolonialismus eingegrenzt werden, und dann der Weg zum Aufstand und Genozid der Herero und Nama in der ehemaligen Kolonie Südwestafrika des Deutschen Reiches nachgezeichnet werden. Dies soll als Beispiel für die Grausamkeit des Deutschen Reiches als Kolonialmacht dienen und verdeutlichen, warum es wichtig ist, sich heute mit diesem Teil der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Anschließend daran werden erst die relevanten Punkte des Bildungsplanes von Baden-Württemberg vorgestellt und auch Punkte zur besseren Einarbeitung der kolonialen Erinnerung in den Bildungsplan aufgeführt. Außerdem werde ich meine eigenen Erfahrungen im Schulsystem in Bezug auf die deutsche Kolonialgeschichte nachzeichnen. Zum Schluss werden die resultierenden Schlussfolgerungen aufgeführt.

2. Kolonialismus

2.1 Begriffseingrenzungen

Zu Beginn soll der Begriff des Kolonialismus eingegrenzt und definiert werden. Dieser Begriff wird von Trutz von Trotha wie folgt definiert

„Kolonialismus ist ein Prozeß überregionaler Herrschaftsbildung und Herrschaftsausübung. Auf der Grundlage von kriegerischer Gewalt oder der Drohung mit ihr wird ein Herrschaftsverhältnis von einem Staat oder einer ihm direkt verbundenen, organisierten Gruppe von Menschen über eine Gesellschaft errichtet, die in einem Land beheimatet ist, das typischerweise von dem Territorium des imperialen, besitznehmenden Staates durch einen Ozean getrennt ist, sich mindestens in seiner sozio-kulturellen Ordnung von der Gesellschaft des imperialen Staates in wesentlichen Merkmalen unterscheidet und eine eigene Geschichte besitzt. Das Herrschaftsverhältnis ist territorial bestimmt. Die unterworfene Gesellschaft verliert nach außen ihre politisch-diplomatische und, mehr oder minder vollständig, ihre völkerrechtliche Selbständigkeit und gerät in direkte formelle Abhängigkeit von der Kolonialmacht oder ihren Repräsentanten. Die Ziele der kolonialistischen Herrschaft sind in ausgeprägter Einseitigkeit an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen und der Kultur der Kolonialmacht orientiert.“ (Trotha, 2004, p. 50).

2.2     Deutsche Kolonialgeschichte

Die von Bismarck geprägte Außenpolitik des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert führte dazu, dass Deutschland erst 1884 anfing zu kolonialisieren. In diesem Jahr änderte Bismarck seine Meinung zum Thema Kolonisation (Gründer, 2018, p. 55). Er verfolgte allerdings immer eine Politik, die eine offene Auseinandersetzung mit anderen europäischen Ländern, vor allem Großbritannien, vermied (Gründer, 2018, pp. 92–93). Denn die guten Beziehungen zu den europäischen Nachbarstaaten hatten für ihn eine höhere Priorität als die Kolonien (Gründer, 2018, p. 103).

Mit der Ablösung Bismarcks als Reichskanzler durch Graf Leo von Caprivi änderte sich auch die Außenpolitik des deutschen Kaiserreichs was die Kolonialpolitik betraf. Denn Caprivi wollte die in Südafrika unter „Schutzverträgen“ stehenden Gebiete in „Kolonialgebiete“ umwandeln (Gründer, 2018, p. 121).

Die in diesen Gebieten lebenden Nama-Stämme widersetzten sich von Beginn an gegen die neuen Verträge, da durch diese ihr bisheriges Nomadenleben nicht mehr möglich wäre (Gründer, 2018, p. 121). Im Gegensatz dazu widersetzten sich die Herero zu Beginn nicht gegen die „deutsche Schutzherrschaft“, da sie sich von dieser Schutz vor den Expansionsideen der Nama versprachen (Gründer, 2018, pp. 121–122). Eben diese bereits bestehenden Konfliktlinien zwischen den Herero und Nama wurden vom deutschen Kaiserreich ausgenutzt, um eine „deutsche Oberherrschaft“ schaffen zu können. Außerdem nutzten sie die Stellung der Stammeshäuptlinge, indem sie diesen eine Rente versprachen im Gegenzug für die Gebietsverluste der Stämme und Einflussverluste der Häuptlinge (Gründer, 2018, pp. 122–123). Während das Ziel der Regierung in Deutschland noch eine „Schutzherrschaft“ war, forderten die Siedler*innen [1] vor Ort längst eine „Siedlerkolonie“ (Böcker, 2020, p. 50). Die eskalierende Brutalität sowie die ausbeuterischen Geschäftspraktiken der weißen Siedler*innen gegenüber den Herero und Nama, als auch die Morddrohungen gegen den Oberhäuptling der Herero, Samuel Maharero, werden als die Auslöser für den Aufstand der Herero und Nama gewertet (Gründer, 2018, p. 129).

Der Aufstand begann am 12.01.1904 (Böcker, 2020, p. 51). Im Januar 1904 führten die Herero einen Überraschungsschlag gegen eine Stationsbesatzung, außerdem zerstörten sie Eisenbahnlinien und Telegraphenverbindungen. Die Herero waren bis Juni 1904 erfolgreich, bei Waterberg wurde ein Großteil der Herero-Gruppen eingekesselt, es folgte ein Vernichtungsschlag. Diejenigen, die überlebten, wurden in ein Dürregebiet zurückgedrängt, wo sie dem Wetter und Wassermangel zum Opfer fielen (Gründer, 2018, p. 130).

Nach der Niederlage der Herero widersetzten sich auch die Nama ab Oktober 1904 den deutschen Truppen. Allerdings hatten die Nama nach dem Tod von Hendrik Witbooi keinen gemeinsamen Anführer mehr. So konnten manche Stammesanführer dazu bewegt werden, die Waffen niederzulegen, andere widersetzten sich weiter, bis sie bis 1906 besiegt wurden (Gründer, 2018, p. 131). Am 31.03.1907 wurde der Kriegszustand in Südwestafrika offiziell als für beendet erklärt, manche Stämme hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht am Aufstand beteiligt (Gründer, 2018, p. 131).

Durch die vom Kaiserreich verfolgte Vernichtungsstrategie überlebten von den Herero etwa 25% den Aufstand, bei den Nama waren es in etwa 50%. (Gründer, 2018, p. 131). Die Stammesverbände waren nach dem Aufstand de facto kein Machtfaktor mehr (Gründer, 2018, p. 133). Das Stammesvermögen wurde aufgelöst, für den Besitz von Vieh und Land wurde nicht nur eine Obergrenze eingeführt, es wurde auch eine Genehmigung der Kolonialmacht benötigt. Dies, und der Arbeitsvertragszwang und die Passpflicht, schufen ein System der Abhängigkeit, Überwachung und Kontrolle (Gründer, 2018, pp. 133–134). Außerdem wurden Konzentrationslager für die Herero und Nama geschaffen, die 1908 nur wegen des Arbeitskräftemangels aufgelöst wurden (Böcker, 2020, p. 51). Es wurde versucht, die Herero und Nama davon abzuhalten, Lesen und Schreiben zu lernen und ihre eigenständigen Identitäten aufzulösen, um eine „einheitliche Arbeiter*innenklasse“ zu schaffen (Gründer, 2018, p. 137). 

Heute fällt der Massenmord an den Herero und Nama unter die von der UN gegebene Definition von Genozid (Böcker, 2020, p. 51). Seit 1999 versuchen Vertretungen der Herero vor verschiedenen Gerichtshöfen Klage auf Schadensersatz zu erheben, diese sind bis jetzt allerdings immer wieder gescheitert (Böcker, 2020, p. 52). Die deutsche Politik versucht beständig den Fokus nicht auf den Genozid zu legen, sondern auf die Geldmittel, die Namibia von Deutschland seit der Unabhängigkeitserklärung erhält. Diese Gelder gingen allerdings nicht and die Opfer des Völkermordes (Böcker, 2020, p. 52). Am 14.08.2004 entschuldigte sich die Bundesministerin Wieczorek-Zeul ausdrücklich bei der Gedenkfeier für die Schlacht von Waterberg (Lutz and Brumlik, 2005, p. 23). Bis heute folgte allerdings noch keine Entschuldigung des Regierungs- oder Staatsoberhauptes von Deutschland. In Afrika wird der Aufstand der Herero und Nama heute als Freiheitskrieg interpretiert (Gründer, 2018, p. 132).

3. Koloniale Erinnerung im deutschen Bildungswesen

Um herausarbeiten zu können, inwieweit und in welcher Form koloniale Erinnerung im deutschen Bildungswesen existiert, wird der Bildungsplan Baden-Württembergs von 2016 der Fächer Geschichte, Gemeinschaftskunde und Ethik an Gymnasien untersucht. Es soll herausgearbeitet werden, an welchen Stellen im Bildungsplan auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands besser eingegangen werden kann. Anschließend werde ich darauf eingehen, wie das Thema kolonialer Erinnerung in meiner Schulzeit behandelt wurde.

3.1 Baden-Württemberg

Im Fach Geschichte wird in der 7. Bis 8. Klasse das Konzept des Imperialismus am Beispiel Afrikas eingeführt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Allerdings ist hier weder vorgeschrieben, auf die Lebensrealität in den damaligen Kolonien einzugehen, noch das Deutsche Reich im Speziellen als Kolonialmacht.

In der 9. und 10. Klasse liegt der Fokus beim Thema Imperialismus auf dem Vergleich ehemaliger Imperial-Mächte mit einem Fokus auf Russland, China, dem osmanischen Reich und der Türkei (Bildungspläne Baden-Württemberg). Die Entwicklung der ehemaligen Kolonien, und wie diese bis heute vom Kolonialismus geprägt sind, wird hier nicht thematisiert. Um in Deutschland das Verständnis der Kolonialgeschichte des Landes zu stärken, könnte das Deutsche Reich unter diesem Punkt ebenfalls als Imperiale Macht betrachtet werden, mit einem Fokus auf bis heute andauernden Folgen des Kolonialismus in den ehemaligen deutschen Kolonien.

Im zweiten Halbjahr der 12. Klasse steht die Behandlung postkolonialer Räume auf dem Bildungsplan. Ein Unterpunkt sind antikoloniale Bewegungen, die sich nach 1918 ereigneten, unter anderem mit dem Aspekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker nach dem ersten Weltkrieg (Bildungspläne Baden-Württemberg). Deutschland verpflichtete sich mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages 1918 allerdings alle Kolonien aufzugeben, deswegen können antikoloniale Bewegungen oder Widerstand gegen das Deutsche Reich in den Kolonien mit diesem Zeitrahmen nicht betrachtet werden. Wird allerdings auch die Zeit vor 1918 betrachtet, ist dies ein guter Rahmen, um den Genozid an den Herero und Nama in Schulen zu thematisieren, der vom Deutschen Reich verübt wurde. Den Schüler*innen soll ebenfalls die Kompetenz vermittelt werden, Dekolonialisierungsprozesse beschreiben und aktuelle Probleme auf den Kolonialismus zurückführen zu können (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieser Punkt kann erweitert werden, indem die Rolle Europas in der Kolonisation und Dekolonisation in den Fokus gerückt wird, damit Europa stärker in die Verantwortung gezogen werden kann.

Im Fach Gemeinschaftskunde wird in der Mittelstufe im Bereich Internationale Beziehungen die Bewältigung heutiger Konflikte thematisiert, zum Beispiel unter dem Aspekt des Ziels der universalen Umsetzung der Menschenrechte (Bildungspläne Baden-Württemberg). Wird neben der Konfliktbewältigung auch die Konfliktursache bearbeitet, können auch an dieser Stelle die Folgen des Kolonialismus thematisiert werden, da viele heutige Konflikte auf die Kolonialzeit zurückzuführen sind. So zum Beispiel Grenzkonflikte, die erst durch Grenzziehungen von Europa auf anderen Kontinenten entstanden.

In der Oberstufe wird in Gemeinschaftskunde die Außenpolitik Deutschlands behandelt mit der UN und der NATO als Schwerpunkt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieser Punkt kann um die heutigen Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia erweitert werden, indem zum Beispiel die Gelder thematisiert werden, die von Deutschland nach Namibia fließen, oder die in Deutschland geführte Debatte um eine offizielle Entschuldigung der Bundesrepublik an die Herero und Nama. Auch die bisher stattgefundenen Rückführungen von Gebeinen kann an dieser Stelle eingearbeitet werden.

In der Oberstufe wird auch gesellschaftlicher Wandel behandelt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Derzeitig ändern sich viele Aspekte der Gesellschaft in Deutschland, einer dieser Aspekte ist die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reich als Kolonialmacht und welche Verantwortungen Deutschland heute aus dieser Geschichte übernehmen soll oder muss. So kann zum Beispiel die Kontroverse um die ethnologische Ausstellung des Humboldt Forum und die dort zu besichtigende Raubkunst diskutiert werden.

Im Fach Ethik wird das Konzept der Freiheit unter naturalistischen und anthropologischen Blickwinkeln in der Oberstufe behandelt (Bildungspläne Baden-Württemberg). Dieses Gebiet kann über die Fragen, wie Menschen Freiheit definieren und welchen Stellenwert Freiheit für einzelne Individuen hat, hinweg erweitert werden, dahin zu fragen, was es bedeutet, dass manchen Menschen während der Kolonialisierung nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihr Menschsein abgesprochen wurde und wie verhindert werden kann, dass dies wieder passiert.

3.2 Persönliche Erfahrungen

In der Schule belegte ich Geschichte in der Oberstufe als Leistungskurs und schrieb auch eine Abiturprüfung in diesem Fach. Allerdings konnte ich mich nicht daran erinnern, je das Thema Kolonialismus, geschweige denn den Genozid der Herero und Nama, im Geschichtsunterricht behandelt zu haben. Mein Wissen zu diesem Thema hatte ich mir außerhalb des Rahmens des Schulsystems angeeignet.

In dem Kursbuch für Geschichte, das wir zur Vorbereitung für das Abitur in der Schule nutzten, beschränkt sich die Erwähnung der deutschen Kolonialgeschichte auf einen Absatz mit neun Sätzen (vgl. Berg, 2010, p.209). Hier wird betont, dass das Deutsche Reich später als andere europäische Länder zu Kolonialmacht wurde. Auch werden Bismarcks wirtschaftliche Interessen an den Kolonien erwähnt (Berg, 2010, p. 209). Über die Grausamkeiten, die während der deutschen Kolonialbesetzung stattfand oder dem Genozid, wird kein Wort verloren.

Neben dem Absatz zur Kolonialpolitik bietet das Buch allerdings einen Verweis für LEMO („Lebendiges Museum Online“), der dort verlinkte Beitrag führt zu einem Text über die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches. In diesem Text wird der Aufstand der Herero und Nama zumindest erwähnt, vor allem werden die Opferzahlen der Herero, Nama und auch die der Siedler*innen aufgezählt. Allerdings wird es nicht als Genozid beschrieben (Asmuss, 2011), obwohl es offiziell von der UN als Genozid eingestuft ist.

3.3  Schlussfolgerung

Der Bildungsplan von Baden-Württemberg bietet genug Ansatzstellen, um sich in der Schule mehr mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands und die daraus resultierenden Folgen für die Gegenwart auseinanderzusetzen. Allerdings muss dies explizit in den Bildungsplan festgeschrieben werden, damit es auch in den Schulen umgesetzt wird. Darüber hinaus müssen auch die für den Schulunterricht zugelassenen Schulbücher dahingehend überarbeitet werden, dass der Kolonialismus einen angemessenen Stellenwert erhält und nicht weiterhin in einem Absatz abgehandelt werden kann. 

4. Fazit

Die Schule ist ein Ort, in dem viele junge Menschen den ersten Kontakt zu dem Thema Kolonialismus erhalten. Deswegen ist es wichtig, dass in diesem Rahmen grundlegendes Wissen und ein Gefühl der Verantwortung vermittelt werden kann, um gesamtgesellschaftlich ein besseres Bewusstsein für diesen Teil der deutschen Geschichte zu schaffen. Der Bildungsplan Baden-Württembergs hat bereits die nötigen Voraussetzungen, um diese Grundlagen zu vermitteln, allerdings muss die Umsetzung noch verbessert werden.

Es gilt allerdings weiterhin in allen Lebensbereichen nach neuen Wegen der Aufarbeitung und Wiedergutmachung zu suchen.

Reference list

Asmuss, B. (2011) Kolonialpolitik. Available at: https://​www.dhm.de​/​lemo/​kapitel/​kaiserreich/​aussenpolitik/​kolonien.

Berg, R. (ed.) (2010) Kursbuch Geschichte. Berlin: Cornelsen.

Bildungspläne Baden-Württemberg (no date). Available at: https://​www.bildungsplaene-bw.de​ (Accessed: 8 August 2022).

Böcker, J. (2020) ‘Juristische, politische und ethische Dimensionen der Aufarbeitung des Völkermords an den Herero und Nama’, Sicherheit & Frieden, 38(1), pp. 50–54. doi: 10.5771/0175-274X-2020-1-50

Gründer, H. (2018) Geschichte der deutschen Kolonien // Geschichte der Deutschen Kolonien. 7th edn. (Uni-Taschenbücher, Nr. 1332 // 1332). Paderborn: Ferdinand Schöningh; Schöningh.

Lutz, H. and Brumlik, M. (eds.) (2005) Kolonialismus und Erinnerungskultur: Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft. Münster: Waxmann (Niederlande-Studien, Bd. 40).

Trotha, T. von (2004) ‘Was war Kolonialismus? Einige zusammenfassenden Befunge zur Soziologie und Geschichte des Kolonialismus und der Kolonialherrschaft’, Saeculum, 55(1), pp. 49–96. doi: 10.7788/saeculum.2004.55.1.49


[1] In diesem Text wird mithilfe des Gendersternchen gegendert, um auch Geschlechtsformen, die nicht männlich oder weiblich sind, miteinzubeziehen.


Quelle: Constanze Luise Selegrad, Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte im Bildungsplan Baden-Württembergs mit Fokus auf den Völkermord der Herero und Nama, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.10.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/10/27/erinnerung-an-die-deutsche-kolonialgeschichte-im-bildungsplan-baden-wurttembergs-mit-fokus-auf-den-volkermord-der-herero-und-nama/

Fall 218: Die gestohlenen Frauenstimmen und andere patriarchale Detektivgeschichten

Auf den Spuren meiner Kindheitshelden anhand der Hörspielreihe „Die drei Fragezeichen“

Nikita Kara Helena Träder (SoSe 2022)

Einleitung

„Die drei Fragezeichen. Wir übernehmen jeden Fall.“ Genauso sicher, wie dieser Leitspruch und sein Vorkommen in jeder Folge der Kulthörspielreihe „Die drei Fragezeichen“ ist[1], so sicher ist auch die Welt der drei Detektive Justus, Peter und Bob. Eine Welt, in der jeder Kriminalfall gelöst werden kann und ein Happyend sicher ist. Es gibt keine Morde, keine sexuelle Gewalt und eine eindeutige Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Der Kosmos der drei Fragezeichen zeichnet sich durch Kontinuität aus. Dies wird unter anderem durch das Alter der drei Detektive deutlich, denn innerhalb des Produktionszeitraumes von 40 Jahren sind diese nur um wenige Jahre gealtert.[2] Dem entgegengesetzt ist das Alter der Hörenden, denn trotz dessen, dass die Alterszielgruppe des Hörspiels auf acht bis 14-Jährige ausgerichtet ist, machen die einstigen Kinder im jetzigen Erwachsenenalter einen großen Teil der Hörer*innenschaft aus.[3] Ich bin eines dieser einstigen Kinder. Eine Erwachsene, die immer noch die Krimiserie zum Einschlafen hört – ganz besonders, wenn ich einmal krank oder gestresst bin. Dieser Nostalgieeffekt, den Oliver Rohrbeck, der Sprecher von Justus Jonas, einen „Ausstieg ins Zeitlose“ nennt,[4] versetzt mich in einfache Zeiten, entspannt mich und gibt mir ein Gefühl der Geborgenheit. Durch das Hörspiel kann ich den kindlichen Zustand der Unbeschwertheit wieder abrufen. Ich nehme an, dass jene Beständigkeit der drei Fragezeichen die Faszination für mich und so viele andere ausmacht – besonders in dieser beschleunigten Welt, in der sich alles sehr plötzlich verändern kann und in Frage zu stellen ist. Diesen Heile-Welt-Faktor beschreibt auch Andreas Fröhlich, der Sprecher von Peter Shaw: „Wir erleben es ja ständig, dass eine Bedrohung da ist, dass wir Angst haben, sei es vor einem drohenden Krieg auf der Krim oder vor einem Flugzeugabsturz. Bei den »Drei ???« ist auch immer eine Bedrohung da – aber es geht alles gut aus.“[5] Dennoch stellt sich für mich die Frage, ob diese Welt, die den Hörer*innen geschildert wird, wirklich so eine heile Welt ist und ob diese als positiv zu bewerten ist. Im vorliegenden Essay möchte ich die Hörspielreihe nicht durch die nostalgische Brille, die das Beständige romantisiert, betrachten, sondern einen kritischen Standpunkt einnehmen. Insofern möchte ich aufdecken, welche Weltansichten, Perspektiven und Diskriminierungsmuster die Serie spiegelt. Ich möchte reflektieren, was mir und vielen anderen, hier für Motive, Wissenssysteme und vermeintliche Wahrheiten vermittelt wurden, die mich von Grundschulalter bis jetzt begleitet haben.

Besonders hinsichtlich dessen, dass die Geschichten der drei Detektive in den Medien immer wieder angepriesen werden,, sehe ich es als notwendig an, hier genauer hinzuschauen. „Die drei Fragezeichen“ werden oft im Gegensatz zu der Hörspielreihe „TKKG“ aufgezeigt – ebenfalls eine Detektivbande – und im Vergleich dazu als „(nahezu) politisch korrekt unterwegs“ [6]  aufgefasst, wie im Stern von dem weiß und männlich positionierten Finn Rütten berichtet wird. Ist eine Geschichte gleich politisch korrekt, nur weil das N-Wort nicht benutzt wird, wie bei „TKKG“?![7] Politische Korrektheit meint nicht nur schlichtweg das Streichen rassistischer Wörter, wie das N-Wort oder Z-Wort. Sie stellt Herrschaftssysteme infrage und ist als „Anti-Diskriminierungsarbeit auf sprachlicher Ebene“ zu verstehen, die in einem „nicht rassistischen, nicht (hetero-)sexistischen, nicht diskriminierenden (bspw. Aufgrund von Alter oder Befähigung), nicht beleidigenden, inklusiven, respektvollen, selbst-reflexiven und sensiblen Sprachgebrauch Anwendung [findet].“[8]  Deswegen müssen „Die drei Fragezeichen“ neben „TKKG“ und „Benjamin Blümchen“ in kritische Analysen miteinbezogen und nicht aussortiert werden, „weil sie so viel richtig machen“.[9]

Mir ist es bei der Suche nach wissenschaftlich fundierter Sekundärliteratur schwergefallen, seriöse Quellen zu finden, die „Die drei Fragezeichen“ in einem politischen Kontext behandeln.[10] Ich habe viel auf Onlineforen zurückgegriffen, die ihre drei Helden natürlich größtenteils vor Kritik bewahren. Ich nutze für meine Analyse die Hörspiele als Hauptquelle und ergänze diese durch Zeitungsartikel, Blogbeiträge und Interviews. Die Quellen werden durch Theorietexte, sowie eigene kritisch reflexive Gedanken, ergänzt und kontextualisiert.

Das vorliegende Essay beschäftigt sich besonders mit den Inhalten der Hörspiele, wird aber durch Informationen bezüglich Produktion und Besetzung ergänzt und bezieht sich daher auf die Hörspielreihe und nicht die Buchreihe. Ich fokussiere mich besonders auf die Repräsentation und Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität. Zusätzlich wird die Analyse durch einen rassismuskritischen Ausblick ergänzt, der anschneidet in welche Bereiche noch weiter kritisch gedacht werden sollte.

Ich stelle keinen Anspruch an einen objektiven Analysevorgang, da dies ein weißes rassistisches Konstrukt ist.[11] Insofern möchte ich meine Position betonen: Ich bin eine weiß positionierte ableisierte Frau, die in einer heterosexuellen Kernfamilie aufgewachsen ist.

1. Begriffsdefinition „Geschlecht“

Geschlechtliche Realitäten außerhalb des binären Geschlechtersystems spielen in „Die drei Fragezeichen“ keine Rolle. Daher werde ich mich auf die Repräsentation von Männlichkeiten und Weiblichkeiten beziehen, sowie auf einzelne Figuren eingehen, die sich von cis heteronormativen Bildern abheben. Ich gehe davon aus, dass kein Mensch vollends weiblich oder männlich ist. Diese beiden Kategorien sind lediglich zwei Pole auf einer von vielen möglichen Geraden. Ich schließe mich Judith Buttler an, indem ich Geschlecht als soziales Konstrukt definiere, mit welchem je nach gesellschaftlichem Kontext verschiedene Stereotype und Verhaltensweisen verbunden werden.[12] Somit ist das der Frau zugeordnete „weiblich“ und dem Mann zugeordnete „männlich“ ebenfalls sozial konstruiert. Es ist ein Konstrukt der Performanz, in dem die Geschlechtsidentität als Tun verstanden wird, welches sich aus der Wiederholung kultureller Praktiken ergibt.[13] Ich spreche von Männlichkeiten und Weiblichkeiten im Plural, da es nicht das eine Männliche oder Weibliche gibt, denn je nach gesellschaftlichem Kontext variieren die Ansprüche, die eine Gemeinschaft an Männer und Frauen stellt.  Wenn ich hier von Männlichkeit und Weiblichkeit spreche, meine ich besonders europäisch und US-amerikanisch geprägte Geschlechterbilder, die in einen kapitalistischen und neoliberalen Kontext einzuordnen sind.

Wenn wir über Geschlecht sprechen, muss immer von Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen gesprochen werden, die eine Norm etablieren, welche ebenfalls sozial konstruiert ist.[14] Jene Normen werden auf vielerlei Ebenen verhandelt: In sozialen Beziehungen, in der Wissenschaft, in Gesetzbüchern und besonders auch in Darstellungen der Medien, wie Werbung, Film und Literatur. So werden auch „[i]n Hörspielen […] bestimmte Gesellschaftsnormen, Rollenbilder, Handlungsentwürfe und unterschiedliche Vorstellungen des Politischen keineswegs wertfrei vermittelt, die Rezeption von Kinderhörspielen kann für junge Zuhörerinnen und Zuhörer vielmehr identifikatorisch verlaufen und die Hörspielheldinnen und -helden zu Vorbildern werden lassen.“ [15] Dennoch „steht durchaus nicht immer das einzelne Hörspiel in der Kritik, sondern die gesellschaftliche Haltung, die es simplifizierend – und damit scheinbar kindgerecht – oder unreflektiert reproduziert.“[16] Wie bereits Chimamanda Ngozi Adichie argumentierte, ist das problematische an Stereotypen und der damit verbundenen Simplifizierung nicht, dass sie unwahr sind, sondern, dass sie unvollständig sind – „They make one story become the only story.“[17] Somit ist das „Problem an medialen Stereotypen […], dass sie Vielfalt und Differenz reduzieren und auch naturalisieren.“[18]

2. Konstruktion von Geschlecht in „Die drei Fragezeichen“

2.1 Männlichkeiten in „Die drei Fragezeichen“

„Die drei Fragezeichen“ ist eine männlich dominierte Hörspielserie. Die meisten Figuren, besonders auch jene, die wiederholt auftreten und somit zur Kontinuität der Serie beitragen, sind männlich. Insbesondere die Bösewichte der Folgen sind männlich, wie z.B. Skinny Norris, der Erzfeind der drei Jungen, der aber gleichzeitig nie eine richtige Bedrohung darstellt, oder Victor Hugeney, der Kunstdieb, der einen würdigen Gegner für die Detektive bietet.[19] Das Bild von Männern als böse und von Frauen als unschuldig wird aufrechterhalten. Ebenso sind beinah alle Kommissare, d.h. zu Beginn Inspector Reynalds und später dann Inspector Cotter, sowie jede Vertretung, männlich. Nur in einer der neueren Folgen gibt es einen bisher einmaligen Auftritt einer weiblichen Kommissarin. Das berufliche Feld der Polizeiarbeit wird als ein männliches konstruiert. Die mögliche Konsequenz ist, dass sich weniger Mädchen den Beruf Polizistin zutrauen, wie Studien zum Thema Gender und Berufsbezeichnungen bewiesen haben. [20]

Alle bisherigen Sprecher für die Rolle der Erzählstimme sind männliche Stimmen.[21] Wenn ich an andere Hörspiele aus meiner Kindheit zurückdenke, wie „TKKG“, „Die fünf Freunde“ oder „Bibi Blocksberg“, so sind auch alle Sprechenden der Erzählstimmen männlich gelesene Namen.[22] Somit erhalten die Hörenden einen männlich positionierten Blick auf das Geschehen, der durch seine berichtende Funktion allerdings oft mit Neutralität verwechselt wird. Wer erzählt, erzählen darf und kann, hat Handlungsmacht, denn Sprache ist Definitionsmacht.[23] Insofern liegt hier die Erzählmacht auf männlicher Seite. Der Erzähler in „Die drei Fragezeichen“ ist einerseits vorrangig über die drei Detektive intern fokalisiert und andererseits ist die Erzählinstanz nicht frei von wertenden Kommentaren, die sich im Hörspiel, anders als im Roman, nicht nur in der Wortwahl, sondern auch in der Stimmlage manifestieren. Beispielsweise in „Der Geisterbunker“ als die Erzählstimme beschreibt: „vor ihm [Justus] lag eine XXL Pizza, die er bereits zur Hälfte verspeist hatte.“[24] Auschlaggebend dabei ist, dass die Erzählinstanz das „XXL“ besonders betont und es in die Länge zieht und Justus Essverhalten damit als unkontrolliert abwertet.

Ebenfalls zu erwähnen, gilt das Genre des Hörspiels, denn es ist „nicht zuletzt das Genre […], das die internen und externen Blickkonstellationen sowie die damit verbundene Geschlechterrepräsentation vorgibt.“[25] Der Krimi ist ein männlich domminiertes Feld. Die großen Detektive in Literatur und Fernsehen sind überwiegend männlich, wie z.B. Sherlock Holmes oder Hercule Poirot – beides Figuren, die im letzten Jahrzehnt im großen Kino zu sehen waren, wohingegen Miss Marple zwar eine der wenigen Frauen ist, aber mittlerweile auch der vergangenen Filmwelt angehört. An diese Form männlicher Dominanz knüpft jener Mythos von Männlichkeit an, welcher diese mit Rationalität und Logik – das Werkzeug eines Detektivs – verbindet.[26] Dem entgegen steht das Emotionale, was zumeist mit Weiblichkeit und Schwäche verbunden wird.[27] Es muss berücksichtig werden, dass es trotz der Verbindung zwischen Rationalität und Männlichkeit, auch Geschichten von Detektivinnen gibt. Als Gegenstück zu „Die drei Fragezeichen“ kann hier „Die drei Ausrufezeichen“ genannt werden. Allerdings ist die Hörspielreihe der drei Detektivinnen von sexistischen Klischees besetzt.[28] Die Taz schreibt: „Dementsprechend ermittelt das weibliche Detektivtrio dann auch auf dem Laufsteg, im Café, oder auf dem Reiterhof. Eine der Protagonistinnen besitzt einen großen Kleiderschrank, die andere ein Pferd und die dritte fühlt sich oft zu dick.“[29] Ebenfalls problematisch ist hierbei, dass mit dem Titel „Die drei Ausrufezeichen“ eine Parallele zu „Die drei Fragezeichen“ gezogen und versucht wird, ihnen nachzueifern. Doch sie können bei Weitem nicht mit „Die drei Fragezeichen“ mithalten, die schließlich schon lange einen Kultstatus genießen. Durch den vergleichenden Namen wird dem weiblichen Detektivtrio das Entwickeln einer eigenen Geschichte und Identität verwehrt, in welcher dem nachgegangen wird, wer diese drei Mädchen wirklich sind, ohne im Vergleich zu einer männlichen Serie definiert zu werden. So wird hier deutlich, wie bereits Simone de Beauvoirs Geschlechtertheorie aufzeigt, dass das Weibliche nicht als das eine, sondern als das andere hervortritt und somit anhand des Mannes definiert wird.[30]

2.1.1 Figurenbetrachtung

Die drei Detektive Justus, Peter und Bob lassen sich alle als cis männlich, heterosexuell, ableisiert und weiß positioniert lesen. In dieser Positionierung wird das sichtbar, was gesellschaftlich als dominierende Norm gilt. Dennoch sind die drei Jungen sehr unterschiedlich und anhand ihrer Figuren werden verschiedene Männlichkeitsbilder deutlich, die im Folgenden exemplarisch beleuchtet werden.

Justus, der erste Detektiv, gilt als überdurchschnittlich intelligent. Er besitzt ein fotographisches Gedächtnis[31] und ist oft den beiden anderen Detektiven gedanklich einen Schritt voraus oder lässt sie absichtlich im Dunkeln tappen.[32] Damit wird sich anhand seiner Figur einer Sherlock Holmes Trope[33] bedient, indem er anknüpfend an den Männlichkeitsmythos von Rationalität das Symbol analytisch-rationalen Denkens verkörpert.[34] Dabei ist er der Innbegriff von Mansplaining, indem er ungefragt die Welt erklärt.[35] Er ist mutig und furchtlos. Allerdings hat er wenig Empathie, z.B. für Peters Unwissenheit oder seine Ängste.[36] Besonders gegenüber Frauen, wie z.B. Kelly, Peters Freundin, oder Jelena, einer Freundin der drei Jungen, ist Justus unhöflich und wertet sie ab.[37] Die daraus resultierende Frauenfeindlichkeit, wird in der Hörspielreihe allerdings nicht als in der Gesellschaft strukturell begründet angesehen, sondern ist darauf zurückzuführen, dass die Freundinnen der Detektive deren Zeit beanspruchen.[38] Darüber hinaus muss auch Justus trotz seines Geniecharakters einiges aushalten, denn in beinah jeder von den bisher über 200 Folgen kommt Fettfeindlichkeit zum Ausdruck, indem Justus Fettshaming ausgesetzt ist, sowohl durch seine Feinde als auch seine Freunde. Dabei wird Justus besonders von Peter gemaßregelt, wie z.B. in „Poltergeist“ als Peter sagt: „Beherrschung Pummel, Beherrschung!“ als Justus meint, das Essen sehe lecker aus.[39] Das Fettshaming geht auch von Seiten der am Geschehen unbeteiligten Erzählstimme aus, wie bereits erwähnt wurde.[40] Durch die wiederholte Thematisierung von Justus Diäten, wird einerseits ein Bild dessen konstruiert, dass, wer nicht der Schlankheitsnorm entspricht, sich gerne an diese angleichen möchte und sollte und andererseits ein Selbst-Schuld-Motiv, wenn es darum geht nicht Gewicht verloren zu haben, indem immer wieder beschrieben wird, wie Justus es nicht schafft, seine Diäten durchzuhalten.[41] Einerseits kann hier festgehalten werden, dass Justus zwar trotz seiner Physis und die Diskriminierung, die er dadurch erfährt, weiterhin schlagfertig und selbstbewusst ist, was als Vorbild gelten kann, doch andererseits beruht seine ganze Anerkennung darauf, dass er überdurchschnittlich intelligent  ist. Damit er also ernst genommen wird, und nicht als undiszipliniert abgewertet wird, müssen seine kognitiven Fähigkeiten überragend sein.

Peter, der zweite Detektiv, gilt als außerordentlich sportlich und gutaussehend.[42] Allerdings ist er oft ängstlich und seinen Kollegen kognitiv unterlegen.[43] Zusätzlich glaubt er oftmals zu Beginn eines neuen Falls an die übernatürlichen Phänomene, wie Geister – im Gegensatz zu Justus, der für alles eine logische Erklärung zu haben scheint.[44] Dies bekommt er immer wieder durch Kommentare zu hören. Diese Kommentare schließen an jenes Männlichkeitsbild an, dass Emotionen unterdrücken soll, z.B. durch ein „Reiß dich zusammen, Peter!“[45], was dieser nicht selten zu hören bekommt. Damit wird besonders kleinen Jungen suggeriert, sie seien schwach, wenn sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen.[46]

Bob bildet in vielerlei Hinsicht die Brücke zwischen Justus und Peter, die oft so unterschiedlich sind. Er ist der Streitschlichter und ergreift mal für den einen und mal für den anderen die Initiative. Dadurch wird er als einfühlsam und empathisch charakterisiert. Er kann sich Informationen gut erschließen, ist damit nicht so intelligent, wie Justus, aber knüpft an das Männlichkeitsbild von Logik an.[47]

Somit vereinen die drei Detektive vermeintlich typisch männliche Eigenschaften in sich, wie „Intelligenz/ kognitive Fähigkeiten (Justus), Sportlichkeit, Charme (Peter) und die Fähigkeit sich Informationen zu erschließen (Bob).“[48] Abgewertet wird die Emotionalität bei Peter, sowie Justus Körper, der nicht der gängigen Schönheitsnorm entspricht.

Grundsätzlich positiv ist, dass anhand der drei eine Jungenfreundschaft geschildert wird, die zeigt, dass auch der beliebte Sportler (Peter) mit den Nerds (Justus und Bob) befreundet sein kann und sich die drei umeinander sorgen und somit deutlich wird, wie wichtig sie sich sind. Dennoch kommunizieren sie ihre Gefühle füreinander zumeist nicht offen, ihre Zuneigung zueinander wird nur in der Furcht um das Leben des anderen deutlich und Körperlichkeit zwischen den dreien, wie eine Umarmung nach dem erfolgreichen Lösen eines Falles, findet keine Erwähnung.

2.2 Weiblichkeiten in „Die drei Fragezeichen“

Frauen- und Mädchenrollen, die von Bedeutung sind, gibt es in den meisten Folgen nicht.[49] Weibliche Figuren fungieren als Nebencharaktere, die ersetzbar sind. Die marginale Position von weiblichen Rollen zeigt sich auch anhand einiger Zahlen: Bis zur Hörspielfolge 71 sind nur 14,91 % Sprecherinnen, d.h. pro Folge sind durchschnittlich 10,45 Sprecher und 1,83 Sprecherinnen zu hören.[50] Heute mag das vielleicht etwas anders sein, aber die männliche Dominanzposition ist immer noch sehr deutlich hörbar: Die letzten zehn erschienenen Folgen (Folge 208-217), die im Durchschnitt 13,5 Sprechrollen aufweisen, haben einen Frauensprechanteil von durchschnittlich 3,2 weiblichen Stimmen, was in etwa 23,5 Prozent an Frauensprecherinnen ausmacht.[51] Grundsätzlich kann angenommen werden, dass nahezu alle Folgen von „Die drei Fragezeichen“ nicht den Bechdel-Test[52] bestehen würden, da einerseits wenig Frauen in den Folgen vorkommen und diese in nahezu keiner Folge miteinander sprechen. Die jüngst erschienene Folge (Folge 217) sticht mit einem Frauensprechanteil von einem Drittel positiv heraus. Allerdings haben zwei der fünf weiblichen Sprechrollen keinen Namen. Sie werden als „Dame“ und „Lady“ aufgelistet,[53] was sie auf ihr Frausein reduziert.

2.2.1 Familienbild

Bei allen drei Jungen wird das Bild einer heterosexuellen weißen Kernfamilie der Mittelschicht[54] deutlich.[55] Familie, so wie auch Schule, spielen in „Die drei Fragezeichen“ eine marginale Rolle, aber dennoch hilft Bobs Vater, Mr. Andrews, den Detektiven bei einigen Fällen, indem er ihnen z.B. Informationen aus dem Archiv besorgt, da er bei der Zeitung arbeitet.[56] Mrs. Andrews, sowie auch Mrs. Shaw, Peters Mutter, haben keinerlei erkenntliche Funktion für die Handlungen und über sie ist nicht viel bekannt.[57] Sie sind lediglich diejenigen, welche besorgt am Telefon zu hören sind, wenn ihre Söhne verschwunden sind.[58] Damit erschienen sie alleinig, um den Hörenden deutlich zu machen, dass Peter und Bob in intakten heterosexuellen Kernfamilien aufwachsen. Ihre Rollen werden auf ihr Muttersein beschränkt. Weibliche Figuren werden reduziert und erscheinen, wie häufig in medialen Darstellungen, ausschließlich als „die Mutter von…“.[59] Sie treten somit nicht als eigenständige Individuen auf, die unabhängig von ihrem Beziehungsstatus zu einem der Detektive existieren.[60]

2.2.2 Unsichtbare Mädchen

Die Position des Ersetzbaren von Frauenrollen, wird auch im wörtlichen Sinne deutlich, denn sowohl Kelly, als auch Jelena wurden aus den Hörspielen explizit herausgeschrieben und z.B. in „Das Geisterschiff“ durch Peters männlichen Freund Jeffrey ersetzt. Die Begründung des Hörspielproduzenten und Autor André Minninger, bezieht sich einerseits darauf, dass die Figuren nicht handlungstragend seien (und genau darin liegt schließlich das Problem) und andererseits, dass die Reaktion der Fans gegenüber den Freundinnen der drei Detektive negativ waren.[61]  Es heißt, dass die Freundinnen „den Handlungs- und Erzählfluss [hemmten] und  […] zudem erwachsene Probleme, die nicht dem ursprünglichen Konzept der Serie entsprachen, [boten].“[62] Hinter dieser Auslöschung weiblicher Figuren steht ein patriarchales System, in welchem Figuren wie Jelena, Kelly und auch Elizabeth (die Freundin von Bob) nur als Partnerinnen der Jungen gedacht werden können und somit lediglich die Detektive heterosexuell und damit normkonform verortet werden können. Daher sind sie, ähnlich wie die Mutterrollen, nur „die Freundin von…“, statt ein eigenständiges Individuum, was an der Entwicklung einer Geschichte beteiligt sein könnte. Sie werden in passive Zustände gedrängt und ihnen wird ihre Agency abgesprochen.[63]

In den früheren Folgen, in denen die Mädchen noch auftreten, wird ihnen wenig Handlungsfähigkeit zugeschrieben. Dies wird unter anderem in „Fußball-Gangster“ deutlich als die Mädchen den Jungen erzählen, dass sie herausgefunden haben, wer für die Briefbomben verantwortlich war. Peter wird an dieser Stelle sehr aufbrausend und ruft: „Seid ihr verrückt geworden?!“[64], da sie versprochen hätten, sich aus den Fällen der Detektive herauszuhalten, da es „zu gefährlich“ sei.[65] Dies ist ein Motiv, dass beispielweise auch in „TKKG“ auftritt, wenn Gaby, die sogar Teil der Detektivbande ist,  von manchen Aktivitäten ausgeschlossen wird, weil sie als zu gefährlich für ein Mädchen eingestuft wird.[66] Besonders in der erwähnten Folge wird deutlich, wie die Detektive die Mädchen übergehen und sie nicht ernst nehmen  – obwohl Elizabeth viel mehr Ahnung von Fußball und seinen Regeln hat als die drei Detektive.[67] Die Wut der Mädchen über die Ignoranz ihrer Freunde wird von den Detektiven abgetan, indem Peter sagt: „Jetzt seid doch nicht albern!“[68] Damit wird hier die Emotion der Mädchen als übertrieben und zu dramatisch abgewertet. Der Stereotyp der Frau als zu emotionsgeladen wird hier somit weitergeführt. Es scheint nicht möglich zu sein, die Freundinnen der drei Jungen, ohne ein Klischee zu besetzen, denn Andreas Fröhlich äußert in einem Interview: „Das hemmt die Ermittlungen, wenn zwischendurch die Freundin kommt und sagt: Du musst jetzt aber mit mir noch shoppen gehen.“[69] Die Aussage, die Fröhlich hier trifft, ist sexistisch, da sie sich eines weiblichen Klischees bedient, welchem die Freundinnenfiguren nicht einmal entsprechen. Deutlich wird damit, dass auch auf Seiten der Sprecher*innen keinerlei Reflexion bezüglich sexistischer Bilder, die hier vermittelt werden, stattgefunden hat.

2.2.3 Figurenbetrachtung

Trotz der grundsätzlich mangelhaften Repräsentation weiblicher Figuren, ist es erforderlich genauer auf die Darstellungsweisen der wenigen weiblichen Figuren einzugehen. Ich werde mich dabei besonders auf Kelly und Jelena fokussieren. Es gilt allerdings zu erwähnen, dass auch Justus eine Freundin, Lys de Kerk, hatte, die jedoch noch weniger Raum in den Folgen einnimmt. Lys‘ Figur wird in den Hörspielen oberflächlich abgehandelt, was sich unter anderem anhand dessen zeigt, dass die verschiedenen Autor*innen sich darüber uneinig waren, ob sie die Freundin, d.h. eine Person mit der Justus in einer romantischen Beziehung ist, oder eine Freundin von Justus ist, d.h. eine Person mit der Justus eine Freund*innenschaft unterhält.[70]

Bob ist in einigen Hörspielfolgen, bis zur Trennung, die allerdings nur irgendwann Erwähnung findet und keinen Handlungsstrang ausmacht, mit Elisabeth Zapata (auch Liz oder Beth genannt) zusammen, die in „Fußball-Gangster“ von Justus lediglich als Bobs „Anhang“ vorgestellt wird.[71] Liz taucht allerdings auch nur in zwei von zehn vertonten Geschichten auf und wird ansonsten lediglich erwähnt.[72] Wie wenig Aufmerksamkeit den Freundinnen und besonders ihrer charakterlichen Tiefe zukommt, wird dadurch bemerkbar, dass sie nicht immer von der gleichen Sprecherin gesprochen werden – im Gegensatz zu den drei Detektiven, deren Stimmen und die dahinterstehenden Sprecher für die Persönlichkeiten der drei Jungens stehen. So wird Lys z.B. in „Fußball-Gangster“ von Kerstin Draeger gesprochen[73] und in „Angriff der Computerviren“ von Anika Pages[74]. In „Giftiger Gockel“ hingegen spricht Draeger Kelly[75], die in „Fußball-Gangster“ von Juliane Szalay gesprochen wird[76]. Diese Vereinheitlichung der Freundinnen der Detektive wird besonders in „Fußball-Gangster“ deutlich, denn hier treten Kelly, Lys und Elisabeth gemeinsam in Erscheinung. Sie werden immer wieder als „die Mädchen“ bezeichnet und oft nicht einzeln erwähnt, sodass den Hörenden nicht immer klar ist, welche der drei spricht.[77] Damit wird ihnen jegliche Individualität genommen.

Kelly Madigan gilt, ebenso wie Peter, als schön und sportlich. Sie entspricht damit – ähnlich wie Peter – einem normativen Schönheitsbild. Kellys Charakter wird als anstrengend dargestellt und sie neigt zu Hysterie,[78] wodurch sogar Peter neben ihr als der Vernünftigere inszeniert wird. Damit bedient Kelly das negativ aufgeladene Klischeebild einer Frau. Die Hysterie ist zudem ein zutiefst sexistisches Konstrukt, was fälschlicherweise in der Biologie von Menschen mit Uterus begründet wurde.[79] In „Gefahr im Verzug“ wird Kelly darüber charakterisiert, dass ihre Lieblingsreporterin eine – wie Justus sie nennt – Klatschreporterin ist, was Kelly damit ihren Intellekt abspricht und diese abwertet.[80]  Ähnlich wird sie auch kognitiv unterlegen dargestellt, als sie in „Fußball-Gangster“ fragt „Warum ist denn da [im Video] kein Ton?“ und Peter genervt antwortet: „Das ist Zeitlupe, Kelly.“[81] Der sonst manchmal auch etwas kognitiv unterlegene Peter wird hier im Vergleich zu Kelly damit aufgewertet. In anderen Folgen wie „Poltergeist“ vermittelt Kelly den drei Detektiven nur einen Fall und somit erfahren die Hörenden wieder nicht mehr über sie als lediglich den Fakt, dass sie Peters Freundin ist.[82] In „Späte Rache“, als Peter verschwunden ist, kombiniert sie allerdings auch und hilft bei der Lösung des Falls, dennoch ist sie keine Konkurrenz für den Intellekt der drei Detektive.[83]

Jelena Charkova hingegen kann als weibliches Gegenstück zu Justus gelesen werden. Sie ist intelligent, mutig und wissbegierig. In „Botschaft von Geisterhand“ eignet sie sich selbstständig die Chemie an und entwickelt eine Flüssigkeit, die eine unsichtbare Schrift sichtbar macht, deren Geheimnis nicht einmal die drei Fragezeichen lösen können.[84] Ebenso wie Justus ist auch sie arrogant und wortgewandt, sehr zum Ärgernis des ersten Detektivs, den, im Gegensatz zu Peter und Bob, mit Jelena eine feindliche Konkurrenzfreund*innenschaft verbindet.[85] Dennoch ist sie die einzige Frauenrolle, die sich gegen weibliche Klischees wendet und als stark und selbstbewusst hervortritt. Darunter leidet allerdings die Sympathie für sie, da sie vor Arroganz strotzt. Den drei Detektiven ganz überlegen ist sie allerdings nicht, da sie im Rollstuhl sitzt und somit nicht so mobil wie die drei Detektive ist. Daher ist sie Justus an physischer Schnelligkeit immer noch unterlegen.[86] Somit ist sie immer wieder auf die Hilfe von den Jungen angewiesen, die sie z.B. hilfsbereit die Treppen hochtragen.[87] Jelena tritt in sieben Büchern in Erscheinung, ist allerdings nur in vier der Hörspiele zu den Büchern als Figur vertreten. [88]

Mathilda Jonas, Justus Tante, ist die einzige weibliche Rolle, die bis heute in den Folgen in Erscheinung tritt. Sie hebt sich besonders durch ihre Backkünste hervor. Sie unterstützt ihren Mann, Titus Jonas, im Trödelgeschäft, aber wird insbesondere als Hausfrau charakterisiert. Sie ist sorgsam und gefühlvoll.[89] Dabei ist sie das Sinnbild unbezahlter Care Arbeit. Somit knüpft ihre Figur an ein weibliches Klischeebild einer Übermutter an. Allerdings wird Mathilda auch immer wieder als anstrengende und lästige Figur inszeniert, indem sie ständig die Hilfe der Jungen benötigt und zum Jammern neigt, was besonders in ihrer Stimme deutlich wird.[90]

Als ich vor einiger Zeit „Geisterbunker“, eine der neusten Folgen hörte, war ich freudig überrascht als plötzlich Kommissarin Merryweather eingeführt wurde, die für diese Folge die Vertretung von Inspector Cotter ist. Doch ich wurde schnell enttäuscht, denn die Kommissarin wird als eine unsympathische Person eingeführt, da sie eigennützig die drei Detektive erpresst, damit diese ihr die Arbeit abnehmen und langweilige Fälle für sie lösen.[91] Sie stellt sich allerdings im Verlauf der Folge als taffe Frau heraus, die jedoch dem Klischee einer Großstadtkommissarin ausgesetzt ist und deren Charakter sich an billigen Motiven bedient, wie ihr harter Ton, der Erlaubnis bei einer Verfolgung das Tempolimit zu überschreiten – „geben Sie Stoff!“[92] – und ihrer aufreizenden Kleidung. Auf den Charakter der Kommissarin lässt sich auch anhand einer Szene schließen, in welcher diese Titus Jonas „schamlos“[93] – so Mathilda – anflirtet. Mathilda greift daraufhin nicht ein, aber wertet später die Kommissarin ab, indem sie ihren Kleidungsstil herabsetzt.[94] Dies führt zu einer sehr negativen Darstellung der Kommissarin.  Zum anderen wird hier deutlich, wie bei diesem Konflikt der Eifersucht der männliche Part, Titus, keinerlei Position bezieht und beziehen muss und somit Matilda nicht sauer auf Titus ist, sondern auf die Kommissarin. All dies sind Komponenten, die in einem patriarchalen System vorherrschen. Somit reproduziert diese Szene patriarchale Rollenbilder und zieht männliche Akteure aus jeder Verantwortung.

Es wird deutlich, dass die Frauen- und Mädchenfiguren starken weiblichen Klischees ausgesetzt sind, die hier reproduziert werden. Die weiblichen Charaktere sind oftmals mit lästigen Eigeschalten besetzt und können daher auf wenig Sympathie der Hörenden hoffen. Somit kann hier von einer misogynen Darstellungsweise gesprochen werden. Statt die weiblichen Figuren „gut altern“ zu lassen und an jetzige gesellschaftliche Errungenschaften von Frauen in den Medien teilhaben zu lassen, wurden ihre Rollen herausgeschrieben. Die Betrachtung macht folgendes deutlich:

By linking women primarily to domestic activities, the family, and private matters, rather than to positions of power and authority, the media socialize a view of women as dependent, inferior, and subordinate. We can see this in the predominance of roles for women as housewives, mothers, and romantic partners.[95]

2.3 Queerness in „Die drei Fragezeichen“

Wie bereits deutlich wurde, zeichnet sich die Welt der drei Detektive durch ein binäres und heterosexuelles System aus. Es gibt wenige Bücher, und noch weniger Hörspielfolgen, in welchen queere Charaktere in Erscheinung treten.[96] Dennoch gibt es wenige Folgen, in welchen mit heteronormativen Vorstellungen von Geschlecht gebrochen wird. In der Folge „Höhenangst“ aus dem Jahr 2019, die von Andre Minninger verfasst wurde,[97] ist die Figur des Bösewichts durch eine Person besetzt, die scheinbar auch ein Mörder[98] aus einem Buch nach wahrer Begebenheit ist, das Bob in der Folge liest. In dem Buch wird der „Psychopath“, wie der Erzähler ihn nennt, dadurch als „geisteskrank“ charakterisiert, weil er seine weiblichen Entführungsopfer dazu zwingt, sich vor ihm zu schminken.[99] Bob erhält während des Lesens einen Drohanruf.[100] Wie sich später herausstellt, handelt es sich dabei nicht um die gleiche Person, wie aus dem Buch, auch, wenn die Detektive dies annehmen sollen. Die Detektive werden während des Falls von einer Person beobachtet, die Frauenkleider trägt, aber laut Peter keine Frau sein kann, wegen der Perücke und der „männlichen Figur“, weswegen die Person wie ein „absoluter Fremdkörper“ wirke.[101] Die Figur weicht mit ihrem Erscheinungsbild von heteronormativen Vorstellungen ab und lässt sich damit dem Begriff von Queercoding zuordnen, gleichermaßen wie die Verbindung von Männlichkeit und einer Affinität für Schminke. Queercoding meint, dass Stereotype und verschiedene Tropen, die mit der LGBTQ Community verknüpft sind, genutzt werden, um einer eindeutigen queeren Zuordnung, wie z.B. der Homosexualität eines Charakters, auszuweichen, sie aber dennoch anzudeuten. Dies beruht auf dem ursprünglichen Verbot, Queerness in Film und Fernsehen abzubilden. Somit wurde Queercoding einst verwendet, um dieses Verbot zu umgehen, doch auch heute noch, obwohl LGBTQ-Figuren längst vielfältig zu sehen sind, wird das Queer-Sein vieler Figuren im Versteckten verhandelt, sodass sich Stereotype weiter reproduzieren und Queerness als unnormal wahrgenommen wird.[102] Die hier verwendete Trope nennt sich „Creepy Crossdresser“. Diese Trope zeichnet Charaktere aus, die meistens sadistische Männer sind und deren Tragen von Frauenkleidern und auch Schminken insbesondere dazu dient, sie als gruselig und böse darzustellen.[103] Die Darstellung des Creepy Crossdressers ist queerfeindlich, da Queer-Sein mit böse und psychisch krank gleichgesetzt wird. Das Motiv des Creepy Crossdressers wird in „Höhenangst“, wie in vielen anderen Filmen,[104]aufgegriffen und reproduziert.

In Fankreisen wurden immer wieder Theorien über die mögliche Homosexualität der drei Jungen, insbesondere Peter, diskutiert. Die Sprecher der Detektive haben mehrmals betont, dass die Sexualität der Jungen nicht wichtig sei, dennoch haben sie in Interviews Andeutungen bezüglich der Homosexualität der Figuren von sich gegeben.[105] Dies kann in den Kontext von Queerbaiting eingeordnet werden. Bei Queerbating wird offengelassen, ob eine Figur queer, z.B. homosexuell, ist, um einerseits ein queeres Publikum anzulocken und andererseits mögliche homofeindliche Fans nicht zu verärgern.[106]

Eine offen queere Person ist die Figur Monique Carrera, die in zwei Folgen ihren Auftritt hat. In „Das Hexenhandy“ wird deutlich, dass Monique eine trans Frau ist. Schon ihre Einführung in die Geschichte ist problematisch zu sehen, denn sie wird zunächst als unfreundliche „aufgedonnerte Blondine“ inszeniert.[107] Schon in dieser Beschreibung kommen misogyne Tendenzen zum Ausdruck, da die Weiblichkeit von Mrs. Carrera abgewertet wird. Bei der ersten Begegnung der Detektive mit Mrs. Carrera lesen diese Monique als cis Frau, doch schnell wird von einer Kollegin von Mrs. Carrera ihr trans-Sein thematisiert, indem sie sehr transfeindliche Aussagen trifft, wie „In einem Cabaret wäre die Diva besser aufgehoben als bei einem seriösen Unternehmen.“[108] Durch die Bezugnahme zu dem Cabaret als Ort für oftmals parodistische Verkleidungen wird Mrs. Carrera ihr Frau-Sein abgesprochen und ihr Geschlecht wird invalidiert. Daran anschließend wird dies auch in der Nennung ihres Deadnames, d.h. der Geburtsname, den die Person abgelegt hat, deutlich, der „ihr wirklicher Name“ sei.[109] Auch von Seiten der Detektive wird Mrs. Carrera zuerst nicht als Frau anerkannt, denn Justus spricht von „Mrs. oder Mr. Carrera“.[110] Dennoch sprechen die Detektive im weiteren Verlauf der Handlung immer von Mrs. Carerra und benutzen ausschließlich die Pronomen „sie/ihr“. Auch die Erzählstimme spricht von ihr als Frau. Als Mrs. Carerra von ihrem Chef gefeuert wird, weil sie eine „Schande“ für das Unternehmen sei, äußert sich auch Justus zu diesem transfeindlichen Vorfall: Er spricht von „menschenverachtenden“ Verhalten und meint, dass dies „in keinster Weise zu entschuldigen“ sei.[111] Dennoch auch problematisch zu sehen, ist, dass Mrs. Carerra relativ schnell als die Verdächtige ausgemacht wird, die als gruselige hässliche Hexe Kinder entführt und sie in einen Käfig sperrt. Zwar stellt sich der Verdacht später als falsch heraus, aber dennoch wird erneut das Bild einer queeren Rolle als böse reproduziert. Das Motiv der Hexe und deren Darstellung in der Folge sind ebenfalls kritisch zu betrachten, da es auf misogyne Weiblichkeitskonstrukte der Hexenverfolgung zurückzuführen ist. Trotz dessen, dass Mrs. Carrera sich am Ende als positive Figur herausstellt, wird im Verlauf der Geschichte immer wieder auf ihr bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht verwiesen, obwohl es nicht tragend für die Handlung ist. Damit wird ihre Figur besonders auf ihr trans-Sein reduziert und sie ist Othering ausgesetzt. Othering meint den Prozess des Exkludierens jener Menschen, die nicht als Teil der Dominanzgesellschaft wahrgenommen werden. Besonders durch Tropen findet Othering Ausdruck. [112]

3. Rassismuskritischer Ausblick

Es wurde sich intensiv mit der Genderfrage und Analyse der Reproduktion geschlechtlicher Stereotype befasst. Ein gleichermaßen wichtiger Punkt, den es aufzuarbeiten gilt, und der hier nur exemplarisch angerissen wird, ist die Reproduktion rassistischer und kolonialer Motive und Konzepte in „Die drei Fragezeichen“. Wer sich einmal lediglich die Titel der Hörspiele ansieht, merkt schnell, dass darin viele nicht-weiß-westliche Motive auftauchen, wie „Der Schatz der Mönche“, „Die flüsternde Mumie“, „Im Bann des Voodoo“, „Die Rache der Samurai“ oder „Das Volk der Winde“. Das Unbekannte, was es zumeist zu entdecken und erforschen gibt, ist somit mit nicht-westlich-weißen Motiven zu verknüpfen. Damit tragen die Folgen zu der Konstruktion eines „exotischen“ Anderen bei. Es herrscht zu Spannungszwecken das Konzept des Otherings vor. Dies schließt an das kolonialistische Narrativ des Entdeckens an. Beispielsweise in Folgen wie „Das Grab der Maya“, erschienen im Jahr 2020, werden Bilder einer Entdeckerkultur reproduziert, die an koloniale Zusammenhänge anschließen. Wie auch bereits das Zitat Andreas Fröhlichs bezüglich der Freundinnenthematik gezeigt hat, wird auch durch eine Aussage Oliver Rohrbecks deutlich, dass keine rassismuskritische Reflexion bei den Sprecher*innen vorliegt. In einem Interview antworte Rohrbeck auf die Frage, in welche Zeit er gerne reisen würde: „Ich würde erst einmal in die Zeit der Kolonialisierung reisen und wäre gerne mit den ersten Leuten in Indien gewesen.“[113] Mit den „ersten Leuten“ meint er wohl nicht die indische Bevölkerung, die schließlich vor den Europäer*innen da war, sondern die sogenannten portugiesischen „Entdecker“. Hier negiert Rohrbeck, dass er als „Entdecker“ Indiens wenig mit einem überromantisierten Abenteurer zu tun hat, sondern ein gewalttätiger Ausbeuter ist, der auf Grund von kapitalistischen Interessen die Bewohner*innen eines Landes gewaltsam unterwirft. Der Begriff des „Entdeckens“ unterliegt einer weißen Positionierung und meint eine koloniale Entität, die nicht-weiße Räume als leer imaginiert und das gewaltsame Eindringen in jene als „gute Tat“ konstruiert.[114] Dies zeigt sich auch auf inhaltlicher Ebene in den Hörspielen, wie z.B. in „Das kalte Auge“, erschienen im Jahr 2017, als Bob sagt: „Im Jahr 1590 in der Zeit als Nordamerika zum ersten Mal besiedelt wurde“.[115] Damit negiert auch er, dass vor dem Ankommen der Spanier, Nordamerika bereits von Menschen besiedelt war – nur eben keine weißen europäischen Menschen. Das Interview mit Rohrbeck ist auf der offiziellen Webseite der drei Fragezeichen nachzulesen. Dies macht deutlich, dass auch auf Seiten der Produktion kein kritisches Hinterfragen der Motive stattgefunden hat und keine Differenzierung von Rohrbecks Aussage vorliegt. Die koloniale Definitionsmacht findet sich zusätzlich in immer wieder auftauchenden Wörtern und Motiven wie „Indianer“ wieder, wie z.B. in „Das kalte Auge“. Dabei ziert sogar das Bild einer großen finsteren Figur mit Federschmuck, langem Haar etc. die offizielle Website der drei Fragezeichen. Das Bild soll einem native American nachempfunden sein, aber knüpft an stereotype Bilder der indigenen Bevölkerung Amerikas an, die von Weißen konstruiert wurden. „Indianer“ ist ein kolonialer Begriff, der von europäischen Gesellschaften dazu diente, sich von der Gruppe abzugrenzen, die sie überfallen (haben). [116] Mit dem Begriff wird ein homogenes und willkürliches Bild „verschiedenster geografisch und kulturell diverser Gesellschaften“ Amerikas erzeugt und damit wird ein rassistisches Konstrukt weiter aufrechterhalten.[117]

Besonders deutlich werden in „Die drei Fragezeichen“ auch Narrative, die sich anti-schwarzem Rassismus bedienen. In „Dopingmixer“ beschreibt die Erzählstimme: „Am Nachmittag trafen sich Justus, Bob und Glenn, ein dunkelhäutiger, sportlicher und sehr erfolgreicher Schüler.“[118] Das weiß-Sein der anderen Figuren findet keinerlei Erwähnung. Somit sind sie als Weiße zu lesen, die allerdings in ihrem weiß-Sein unsichtbar sind und daher als Norm deklariert werden. Schwarz wird als das rassifizierte „Andere“ konstruiert.[119] Zusätzlich ist „dunkelhäutig“ eine Fremdbezeichnung von Weißen für Schwarze Menschen, die sich damit der Eigenbezeichnung „Schwarz“ widersetzen.[120] Justus spricht in der Folge „Der Doppelgänger“ aus dem Jahr 1981 sogar von „verschiedenen Rassen“[121] bei Menschen. Damit bedient er sich einem rassistischen Vokabular. „Rasse“ ist ein erfundenes von Weißen erschaffenes Konstrukt, das keineswegs biologisch fundiert ist und dazu dient, die weiße Herrschaft zu legitimieren.[122]

Zusätzlich bedient sich „Die drei Fragezeichen“ auch Motiven, die im anti-asiatischen Rassismus zu verorten sind. In „Das Hexenhandy“, kann die Bedienung eines chinesischen Restaurants kein „R“ sprechen und spricht anstatt dessen ein „L“.[123] Hier wird sich eines rassistischen Stereotyps bedient, der eine Rolle lediglich durch ihre mögliche Nationalität kennzeichnen möchte. Dies kann, ähnlich wie Black- oder Yellow-Facing, als Yellow-Voicing verstanden werden. Besonders hinsichtlich dessen, dass es vermutlich ein weißer Sprecher war, der die Rolle der Bedienung spricht, ähnlich, in „Dopingmixer“, wo der Sprecher von Glenn ebenfalls weiß, ist.[124] Damit wird marginalisierten Gruppen auch im wörtlichen Sinne ihre Stimme abgesprochen. In erwähntem Beispiel geht die Produktion sogar noch einen Schritt weiter, indem sie die Sprechart der Figur nach einem rassistischen Stereotyp auslegen.

Auch Jens Wawrczeck, der Sprecher von Peter, scheint wenig Anspruch an politische Korrektheit zu stellen, denn er merkt in einem Interview an: „Das ist ein Kinderhörspiel, ursprünglich. Es ist kein Produkt, das sich jetzt wirklich gesellschaftskritisch äußert, oder historische Dinge aufrollt.“[125] Anhand dieser durchaus problematischen Perspektive, die den Bildungsauftrag, der Medien für Kinder innewohnt, nicht zu sehen scheint, wird sichtbar, wie wichtig es ist, in der Medienanalyse koloniale und rassistische Kontexte aufzurollen – besonders, weil es auch ein Kinderhörspiel ist und bereits im Kindesalter antirassistische Arbeit anfangen muss, ebenso wie antisexistische Aufklärung.

Schluss

Die Welt der drei Fragezeichen ist voll von problematischen Darstellungsformen, wie sich gezeigt hat. Es wird eine patriarchale und weiß dominierte Welt konstruiert, aber gleichzeitig auch gespiegelt. Weiße, heterosexuelle cis Männer haben jede Definitions- und somit Handlungsmacht, was durch die Dominanz männlicher Sprechrollen deutlich wird. Frauenrollen sind marginal und zeigen wenig charakterliche Tiefe auf. Sie wurden ihrer Stimme beraubt und werden misogyn abgewertet. Queere Rollen sind einem Othering ausgesetzt und werden durch Stereotype diskriminiert. Nicht weiß-westliche Figuren werden als das „Andere“ und zu erforschende Objekt konstruiert.

Das, was in „Die drei Fragezeichen“ deutlich wird, hält uns einen Spiegel unseres Herrschaftssystems vor. Das problematische Männlichkeitsbild z.B. ist schließlich keines, welches sich die Autor*innen ausgedacht haben, sondern es werden Mythen und Stereotype von Männlichkeit aufgegriffen, die bereits gesellschaftlich aktiv sind, wie das „Reiß dich zusammen!“, dem Peter als Mann ausgesetzt ist. Die Hörspielreihe kann als Spiegel unserer patriarchalen Gesellschaft betrachtet werden. Ein Spiegel, der zeigt, dass sich die hier vermittelten Bilder schon über mehrere Jahrzehnte halten und weiter aufrechterhalten werden.

Ich möchte festhalten, dass – zumindest für ein weißes cis Publikum – die sexistischen und rassistischen Aspekte der Serie nicht offenkundig zu erkennen sind, wenn nicht bereits ein grundsätzlich feministisches und antirassistisch reflexives Bewusstsein dafür vorhanden ist. Dies macht vielleicht einen Unterschied zu „TKKG“ aus, da dort Begriffe wie das N-Wort benutzt werden[126] – ein Begriff, dessen Problematik mittlerweile viel mehr Leuten bekannt ist, ohne, dass diese ein rassismuskritisches Denken im weiteren Ausmaß vermittelt bekommen haben. Da dies in „Die drei Fragezeichen“ nicht der Fall ist und die Sexismen und Rassismen hier aus weißer cis Perspektive unterschwellig angelegt sind, wird die Gefahr diskriminierender Motive nicht als solche erkannt. Jedoch heißt das nicht, dass jene Motive deswegen nicht weniger problematisch sind. Da die Hörspiele schließlich besonders während Aktivitäten, wie Aufräumen oder Einschlafen konsumiert werden, läuft die Geschichte der drei Detektiven oftmals als Hintergrundgeräusch ab und so werden rassistische und sexistische Narrative möglicherweise noch weniger als solche wahrgenommen, aber flechten sich dennoch in das Unterbewusstsein mit hinein.  An dieser Stelle wäre es nötig weiterzuforschen, inwiefern der Wissensdiskurs um „Die drei Fragezeichen“ eine weiß und cis positionierte Wissensproduktion ist, in welcher marginalen Stimmen kein Platz zukommt.

Ich denke, dass es definitiv möglich wäre, dass die Folgen der drei Detektive auch ohne Rassismen und Sexismen auskommen, denn sie sind nie handlungtragend, machen nicht den Charakter der Serie aus und haben ihr bestimmt auch nicht zum Kultstatus verholfen. Ich höre die Folgen schließlich nicht, weil Kelly anstrengend ist oder Tante Mathilda bäckt, Justus adipös und Peter sportlich und weniger intelligent ist. Ich höre die Fälle gerne, weil sie für mich Kindheit sind. Eine Kindheit in der mein kleines Ich mitfiebern, sich angenehm fürchten wollte und die Gewissheit hatte, dass alles gut enden und niemand wirklich verletzt werden würde. Das funktioniert auch ohne Diskriminierung.

Ich sehe es als sehr wichtig an, dass, wenn mensch „Die drei Fragezeichen“ trotz seiner Problematik weiterhin hört, über eben jene problematischen Motive spricht und sich somit gegenseitig aufklärt. Wenn also eine neue Folge rauskommt und mensch sich mit anderen darüber austauscht, sollte auch die Thematisierung von kritisch zu betrachtenden Inhalten Teil des Gesprächs sein. Dennoch würde ich das Hörspiel keiner Person weiterempfehlen, die es noch nicht kennt und beispielsweise auf der Suche nach einem spannenden Krimi für Kinder ist. Ich hoffe sehr, dass sich zwischen, oder am besten außerhalb von „Die drei Fragezeichen“ und „Die drei Ausrufezeichen“ noch andere Krimiwelten finden lassen werden. Des Weiteren sehe ich eine Notwendigkeit dafür, dass die Produktion von „Die drei Fragezeichen“ ihren Stil ändert und so ein deutliches Zeichen gesetzt wird, Kinder anders sozialisieren zu wollen. Denn gerade jener Faktor des Beständigen, d.h. dessen, dass sich in der Welt der drei Detektive nichts verändert, ist besonders problematisch, da „Die drei Fragezeichen“ nicht auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse reagiert und somit weiterhin Diskriminierung reproduziert.  Jede Geschichte, die erzählt wird, so auch das Hörspiel, spiegelt und konstruiert Gesellschaft. Deswegen sind Hörspiele auch gesellschaftspolitisch und sollten sich somit ihrer politischen Verantwortung bewusst sein.


[1] „Die drei Fragezeichen“ stammt ursprünglich aus den USA, kam 1968 mit dem ersten Buch nach Deutschland und ist seit 1979 als Hörspiel auf dem Markt. In den USA wurden „Die drei Fragezeichen“ bereits 1990 abgesetzt, doch in Deutschland wird die Hörspielreihe immer noch weiter produziert, die mittlerweile über 200 Folgen umfasst. Auf Grund eines Rechtsstreits wurde die Hörspielreihe von 2006-2007 unter dem Namen „Die Dr3i“ mit kleinen Änderungen veröffentlicht. (Vgl. Europa. Die drei ???: „Bobs Archiv / Geschichte. Geschichte und Live-Hörspiel-Historie.) In den Hörspielen geht es um die drei Detektive Justus Jonas, der Chef des Unternehmens, Peter Shaw, den sportlichen zweiten Detektiv und Bob Andrews, der für Recherchen und Archiv zuständig ist. Die drei Freunde haben ihr Versteck auf dem Gelände des Gebrauchtwahrencenters von Justus‘ Onkel Titus Jonas bei welchem der erste Detektiv wohnt, da seine Eltern nicht mehr leben. Die drei lösen in jeder Folge einen neuen Fall. Dabei treten einerseits Figuren in Aktion, die nur einmalig vorkommen, aber es gibt auch konstante Helfer*innen, wie Inspector Cotter, der Verbündete der drei Jungen bei der Polizei. Auch, wenn manchmal Bezüge zu alten Fällen der Detektive hergestellt werden, steht jede Folge für sich und die einzelnen Folgen müssen nicht in der Reinfolge gehört werden.

[2] Vgl. Benjamin, Knödler: “Die drei Fragezeichen“.

[3] Vgl. Emde, Oliver, Andreas Wicke, and Lukas Staden: „Vorwort“ In Von “Bibi Blocksberg” bis “TKKG”: Kinderhörspiele aus gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. S. 7.

[4] Behrmann, Kai: „Die Rückkehr der Kult-Detektive“.

[5] Buhre, Jakob u. Huppertz, Paula Emilia: „Mit Freundinnen funktioniert es nicht“.

[6] Rütten, Finn: „Was »Die drei Fragezeichen« schon immer besser gemacht haben als »TKKG«“.

[7] Vgl. Schwarz, Carolina: „Tim und das N-Wort“.

[8] Brilling, Julia: „Political Correctness“. S. 496 f.

[9] Fron, Carina: „Von Blocksbergs bis Blümchen. Bibi, Pipi, Benjamin: Welche Werte uns Kinderhörspiele vermittelt haben“.

[10] Allerdings bin ich auf meiner Suche nach Literatur auf eine Masterarbeit gestoßen, die sich mit einem rassismuskritischen Blick mit „Die drei Fragezeichen“ auseinandersetzt. Die Arbeit von Hannah Pfeiffer ist unter dem Titel „»Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?« kritische Dekonstruktion Schwarzer Repräsentation in Die drei ???“ online zu finden. Aus ihren Quellen entnehme ich, dass auch sie kaum wissenschaftliche Sekundärliteratur zu „Die drei Fragezeichen“ gefunden hat.

[11] Vgl. Popal, Mariam: „Objektivität“. S. 464.

[12] Vgl. Buttler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. S. 22 ff.

[13] Vgl. Schößler Franziska: Einführung in die Gender Studies. S. 97 f.

[14] Vgl. ebd. S. 95.

[15] Emde, Oliver, Andreas Wicke, and Lukas Staden: „Vorwort“ In Von “Bibi Blocksberg” bis “TKKG”: Kinderhörspiele aus gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. S. 8.

[16] Vgl. Emde, Oliver, Andreas Wicke, and Lukas Staden: „Vorwort“ In Von “Bibi Blocksberg” bis “TKKG”: Kinderhörspiele aus gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. S. 9.

[17] Adichie, Chimamanda: „Die Gefahr der einen einzigen Geschichte“. 13:13-13:16.

[18] Lünenborg, Margreth, und Tanja Maier: Gender Media Studies. S. 102.

[19] Vgl. Wikipedia: “Figuren aus Die drei ???“.

[20] Freie Universität Berlin: „Automechanikerinnen und Automechaniker – wie Sprache die kindliche Wahrnehmung von Berufen prägt.“

[21] Vgl. Wikipedia: „Die drei ??? (Hörspiel). Figuren und Sprecher“.

[22] Vgl. Wikipedia: „TKKG. Chronik der Hörspielsprecher“, Wikipedia: „Fünf Freunde. Sprecher der Europa-Produktion.“, Wikipedia: „Bibi Blocksberg. Sprecher.“

[23] Vgl. Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß. S. 35.

[24] Folge 2014: „Die drei ??? und der Geisterbunker“. Teil 3.

[25] Schößler Franziska: Einführung in die Gender Studies. S. 152.

[26] Vgl. Bola, JJ: Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungen ist. S. 29.

[27] Vgl. Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. S. 225.

[28] Vgl. Tippe: Sebastian: „Die drei !!!: Selbstbewusste Mädchen oder Manga-Barbie im Ermittlungswahn?“.

[29] Wolny, Teresa: „Hauptsache gut aussehen“.

[30] Vgl. Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht, S. 14.

[31] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Justus Jonas“.

[32] Vgl. Folge 217: „Die drei ??? und der Kristallschädel“. Teil 6;Teil 22.

[33] Der Begriff kommt aus der Rhetorik und hat besonders in der Popkultur Anklang gefunden, wobei hier der enge rhetorische Begriff der Trope von der popkulturellen Definition abweicht. Unter dem geläufigen englischen Begriff „Trope“ ist die Wiederholung von Motiven, Erzählmustern oder bestimmten Konventionen zu verstehen.

[34] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Sherlock Holmes“.

[35] Vgl. Tippe, Sebastian: „Die drei ???-Kids: Sexismus und Frauenverachtung im Männerclub“.

[36] Beispielsweise in „Die drei ??? und der Geisterbunker“ sagt Justus auf Peters drängen hin den Bunker nicht zu betreten „Ach, du solltest mich inzwischen besser kennen, Zweiter. Wenn man Justus Jonas vertreiben will, erreicht man nur das Gegenteil.“ Somit legt er bestimmend fest: „Wir werden da jetzt reingehen.“ (Folge 214: „Die drei ??? und der Geisterbunker“. Teil 5.)

[37] Dies wird beispielsweise in „Gefahr im Verzug“ deutlich, als Kelly meint, dass die Reporterin ihrer Lieblingsshow „Showtime Heute“ vor Ort sei und Justus daraufhin erwidert: „Klatschreportage. Hohlköpfe, die über andere Hohlköpfe labern.“ (Folge 54: „Die drei ??? Gefahr im Verzug“. Teil 6.)

[38] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Freundinnen der drei Fragezeichen“.

[39] Folge 73: „Die drei ??? Poltergeist“. Teil 24.

[40] Siehe Abschnitt 2.1 der vorliegenden Arbeit.

[41] Vgl. Folge 47: „Die drei ??? und der giftige Gockel“. Teil 4, 10.

[42] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Peter Shaw“.

[43] Vgl. Folge 217: „Die drei ??? und der Kristallschädel“. Teil 5.

[44] Vgl. ebd. Teil 7.

[45] Folge 122: „Die drei ??? und der Geisterzug“. Teil 16.

[46] Vgl. Bola, JJ: Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungen ist. S. 26.

[47] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Bob Andrews“.

[48] Tippe, Sebastian: „Die drei ???-Kids: Sexismus und Frauenverachtung im Männerclub“.

[49] Eines weniger Gegenbeispiele, ist die Rolle der Brittany aus „Das Erbe des Meisterdiebes“ und „Fuermond“. Sie hintergeht allerdings die drei Detektive und spielt Justus vor, dass sie in ihn verliebt sei. Somit ist ihre Rolle sehr negativ behaftet. (Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Brittany“.)

[50] Vgl. Tippe, Sebastian: „Die drei ???-Kids: Sexismus und Frauenverachtung im Männerclub“.

[51] Diese Zahlen sind auf eigene Zählungen und Berechnungen zurückzuführen, die anhand der Sprecher*innenlisten auf der offiziellen Webseite der drei Fragezeichen, durchgeführt wurden. (Vgl. Europa. Die drei ???: „Produktwelt / Hörspiele“.)  Folge 208: drei von 18 Stimmen sind weiblich, 209: drei von 13 Stimmen sind weiblich, 210: zwei von elf Stimmen sind weiblich, 211: eine von acht Stimmen ist weiblich, 212: drei von 13 Stimmen sind weiblich, 213: vier von 17 Stimmen sind weiblich. 214: Fünf von 15 Stimmen sind weiblich, 215: drei von 14 Stimmen sind weiblich, 216: drei von 12 Stimmen sind weiblich, 217: Fünf von 15 Stimmen sind weiblich. Damit sind 32 von 136 Stimmen weiblich gelesene Namen. Somit sind von diesen zehn Folgen im Durchschnitt 3,2 Stimmen weiblich, was einen Prozentanteil von 23, 5 Stimmen ergibt.

[52] Der Bechdel-Test richtet sich nach drei Kriterien, die in einem Film eingehalten werden müssen, sodass der Test als bestanden gilt: 1) In dem Film müssen mindestens zwei Frauen vorkommen. 2) Die zwei Frauen müssen miteinander sprechen. 3) In dem Gespräch geht es um etwas anderes als Männer. Über die Jahre sin hier noch weitere Kriterien dazugekommen, wie, dass die weiblichen Figuren nicht über Kinder reden sollten und Namen bekommen. (Vgl. Harvey, Alison: Feminist Media Studies. S. 58.)

[53] Vgl. Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 217: Der Kristallschädel“.

[54] Anhand der Berufe der Eltern und Sorgerechtsbeauftragten liegt die Vermutung nahe, dass die drei Detektive der Mittelschicht angehören.

[55] Dabei ist Justus Familiengeschichte abweichend, im Gegensatz zu der seiner beiden Kollegen. Justus Eltern sind beide verstorben und er wohnt bei dem Bruder seines Vaters, Titus Jonas, und Mathilda Jonas. Dennoch ist er somit durch seine Eltern und auch seinen Onkel und seine Tante in einer heterosexuellen Kernfamilie sozialisiert.

[56] Vgl. Wikipedia: “Figuren aus die drei ???“.

[57] Vgl. ebd.

[58] Vgl. Folge 84: „Die drei ??? Musik des Teufels“. Teil 3.

[59] Vgl. Harvey, Alison: Feminist Media Studies. S. 62.

[60] Zusätzlich gilt zu erwähnen, dass allerdings auch Peters Vater keine große Rolle zukommt.

[61] Vgl. rocky-beach.com: „Fragebox mit André Minninger“.

[62] Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Freundinnen der drei Fragezeichen“.

[63] Agency ist die Fähigkeit eines*einer Akteur*in zu handeln. Dabei geht es nicht um das Verständnis des Menschen als eine Kreatur (mit) der Dinge geschehen (Passivität), sondern als Kreatur, die Dinge geschehen lässt (Aktivität). (Vgl. Blackburn, Simon: „action“, „agent“.)

[64] Folge 63: „Die drei ??? Fußball-Gangster“. Teil 38.

[65] Vgl. ebd.

[66] Vgl. Mayer Katharina: „Rassismus im Kinderzimmer“.

[67] Folge 63: „Die drei ??? Fußball-Gangster“. Teil 18.

[68] Ebd.

[69] Buhre, Jakob u. Huppertz, Paula Emilia: „Mit Freundinnen funktioniert es nicht“.

[70] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Lys de Kerk“.

[71] Folge 63: „Die drei ??? Fußball-Gangster“. Teil 3.

[72] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Elisabeth Zapata“.

[73] Vgl. Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 63. Fußball-Gangster“.

[74] Vgl. Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 56. Angriff der Computer-Viren“.

[75] Vgl. Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 47. Und der giftige Gockel“.

[76] Vgl. Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 63. Fußball-Gangster“.

[77] Vgl. Folge 63: „Die drei ??? Fußball-Gangster“. Teil 18.

[78] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Kelly Madigan“.

[79] Rotermund, Emma: „Hysterie“.

[80] Vgl. Folge 54: „Die drei ??? Gefahr im Verzug“. Teil 6.

[81] Folge 63: „Die drei ??? Fußball-Gangster“. Teil 24.

[82] Vgl. Folge 73: „Die drei ??? Poltergeist“. Teil 7.

[83] Vgl. Folge 69: „Die drei ??? Späte Rache“. Teil 8 ff.

[84] Vgl. Folge 95: „Die drei ??? Botschaft von Geisterhand. Teil 3 f.

[85] Vgl. ebd.

[86] Vgl. ebd. Teil 7.

[87] Vgl. Folge 84: „Die drei ??? Musik des Teufels“. Teil 25 f.

[88] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Jelena Charkova“.

[89] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Mathilda Jonas“.

[90] Vgl. Fogle 28: „Die drei ??? Botschaft von Geisterhand.“ Teil 16.

[91] Vgl. Folge 214: „Die drei ??? und der Geisterbunker“. Teil 2.

[92] Vgl. ebd. Teil 13.

[93] Ebd. Teil 20.

[94] Vgl. ebd.

[95] Harvey, Alison: Feminist Media Studies. S. 65.

[96] Vgl. Fandom. Die drei Fragezeichen Wiki: „Homosexualität und Transsexualität“.

[97] Vgl. Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 201. Höhenangst“.

[98] Da in dem Buch immer vom Mörder im generischen Maskulin gesprochen wird, verwende ich diese Bezeichnung hier auch.

[99] Vgl. Folge 201: „Die drei ??? Höhenangst“. Teil 3.

[100] Vgl. ebd. Teil 1 f.

[101] Ebd. Teil 16.

[102] Vgl. The Take: „Queer Coding, Explained. Hidden in Plain Sight“.

[103] Vgl. TV Tropes: „Creepy Crossdresser“.

[104] Der „creepy Crossdresser“ ist eine beliebte Trope in Krimi und Thriller. Beispielhafte Charaktere dafür sind Norman Bates aus „Psycho“ oder Jame Gumb aka. „Buffalo Bill“ aus „Das Schweigen der Lämmer“, dem im Film sein trans-Sein abgesprochen wird und eine „Geschlechtsidentitätsstörung“ zugeschrieben wird, weswegen er seinen weiblichen Opfern die Haut abzieht. Aber auch neue Filme, wie der Tatort „Die Amme“ aus dem Jahr 2021 greifen diese Trope auf.[104] Auch hier sind die Figuren nicht offensichtlich queer aber queercoded. (Vgl. Brandt, Ela: „Mörderische Transfeindlichkeit“. https://eleabrandt.de/2021/04/08/transfeindliche-motive-krimis/.)

[105] Vgl. Die Hörspieler: „Drei Männer vor dem Mikro“.

[106] Vgl. The Take: „Queer Coding, Explained. Hidden in Plain Sight”.

[107] Folge 101: „Die drei ??? und das Hexenhandy.“ Teil 21.

[108] Vgl. ebd. Teil 22.

[109] Ebd.

[110] Ebd.

[111] Ebd. Teil 32.

[112] Vgl. Harvey, Alison: Feminist Media Studies. S. 64.

[113] Europa. Die drei ???: „Das etwas andere Interview: Oliver Rohrbeck.“

[114] Sow, Noah: „Entdecken“. S.

[115] Special Folge: „Die drei ??? Und das kalte Auge“. Teil 10.

[116] Vgl. Sow, Noah: „Indianer“, S. 690.

[117] Ebd.

[118] Folge 60: „Die drei ??? Dopingmixer“. Teil 6.

[119] Vgl. Sow, Noah: „weiß“. S. 191.

[120] Vgl. Sow Noah: „Dunkelhäutig“. S. 628.

[121] Fogle 28: „Die drei ???und der Doppelgänger.“ Teil 20.

[122] Vgl. Arndt, Susan: „Rasse“. S. 660 f.

[123] Vgl. Folge 101: „Die drei ??? und das Hexenhandy.“ Teil 24.

[124] Vgl. Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 60. Dopingmixer“.

[125] Buhre, Jakob u. Huppertz, Paula Emilia: „Mit Freundinnen funktioniert es nicht“.

[126] Vgl. Schwarz, Carolina: „Tim und das N-Wort“.


Medienverzeichnis

Folge 28: „Die drei ???und der Doppelgänger.“ EUROPA 1881. Spotify: https://open.spotify.com/album/7Dbd2rya9glmBLVxclcU4d?si=dITqUvKFQ5mdYygllsoOdg [01.08.2022].

Folge 47: „Die drei ??? und der giftige Gockel“. EUROPA 1989. Spotify: https://open.spotify.com/album/3iWNsrEs9D0FFlKFfscdvL?si=A33xPX4gT1Si7ZvEQSj2ew [21.07.2022].

Folge 54 „Die drei ??? Gefahr im Verzug“. EUROPA 1992. Spotify: https://open.spotify.com/album/1Fg15cBLFliy6Kr60QqRan?si=n-qJ-AbVR1yRJTiUuBlkHw [21.07.2022].

Folge 60: „Die drei ??? Dopingmixer“. EUROPA. 1994. Spotify: https://open.spotify.com/album/7cBoiWgh1bTMZmCwJE0eMu?si=3EqMfC2DRrqNcX0SIFwXSw [03.08.2022].

Folge 63: „Die drei ??? Fußball-Gangster“. EUROPA 1995. Spotify: https://open.spotify.com/album/5GPTZKrD7eaCp9p6VOBuIN?si=r3plaeiTTeadutiYglRbPg [21.07.2022].

Folge 69: „Die drei ??? Späte Rache“. EUROPA 1996. Spotify: https://open.spotify.com/album/2erJcBofKBO6GFMqDPppsU?si=wsyCdkWWS2GHkH1cvLtYKw [06.08.2022].

Folge 73: „Die drei ??? Poltergeist“. EUROPA 1997. Spotify: https://open.spotify.com/album/1K8kXLhNnHSdPvtUwf74DE?si=Zc_gQaIkR5GFFKmYeDSwEA [21.07.2022].

Folge 84: „Die drei ??? Musik des Teufels“. EUROPA 1999. Spotify: https://open.spotify.com/album/3bhsXwKIDwVK5LTkDCICp0?si=M5jOyP0hR1uT7TYffI4xAw [06.08.2022].

Folge 95: „Die drei ??? Botschaft von Geisterhand.“ EUROPA 2001. Spotify: https://open.spotify.com/album/4KEZWleMTT8lDaQDLgozFc?si=vd3ift07Tr61Fopz8Tc1wQ [01.08.2022].

Folge 101: „Die drei ??? und das Hexenhandy.“ 2001 EUROPA. Spotify: https://open.spotify.com/album/1DZAe0qMw8Pq9EPoX6gETA?si=LbFROEfAQrGOenAEmQTRkg [01.08.2022].

Folge 122: „Die drei ??? und der Geisterzug“. EUROPA 2008. Spotify: https://open.spotify.com/album/68NWcgqeCQMZ3QcPJXBhzH?si=alJHeX1MQy-QsXwhxkvgdg [21.07.2022].

Folge 201: „Die drei ??? Höhenangst“. EUROPA 2019. Spotify: https://open.spotify.com/album/4FxNfDSXqAg8N1D8NBtvZ5?si=DiSR2k3eRo-UFeVyF8Nv_Q [21.07.2022].

Folge 214: „Die drei ??? und der Geisterbunker“. EUPOPA 2022. Spotify: https://open.spotify.com/album/1cJ3fNx6K47p4eDFqhnvsA?si=p0g4J43ATJWGgf1t3IutOA [21.07.2022].

Folge 217: „Die drei ??? und der Kristallschädel“. EUROPA 2022. Spotify: https://open.spotify.com/album/1WlRnNunbHpnRTTVkxMRnd?si=OkivU9gUSsy_sB1IgAbzyQ [07.08.2022].

Special Folge: „Die drei ??? Und das kalte Auge“. EUROPA 2017. Spotify: https://open.spotify.com/album/3egVVb6Zt0LdS6agBMGsiJ?si=MENNHpIpSr-knPlp8uzuNA [03.08.2022].


Literaturverzeichnis

Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 2017.

Bola, JJ: Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungen ist. Hanserblau. München 2020.

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp. Frankfurt am Main 2016.

Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Springer Fachmedien. Wiesbaden 2015.

Emde, Oliver, Andreas Wicke, and Lukas Staden. “Bibi Blocksberg” bis “TKKG”: Kinderhörspiele aus gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Verlag Barbara Budrich. Leverkusen-Opladen 2016.

Harvey, Alison: Feminist Media Studies. Polity. Cambridge 2020.

Lünenborg, Margreth, und Tanja Maier: Gender Media Studies. Eine Einführung. UVK Verlagsgesellschaft. Konstanz; München 2013.

Schößler, Franziska: Einführung in die Gender Studies. Akademie Verlag. Berlin 2008.

Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß. Der Alltägliche Rassismus. Norderstedt. 2018.

Nachschlagewerke:

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Brilling, Julia: „Political Correctness“. In Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Hg. von Susan Arndt u. Nadja Ofuatey-Alazard. Unrast Verlag. Münster 2021.

Popal, Mariam: „Objektivität“. In Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Hg. von Susan Arndt u. Nadja Ofuatey-Alazard. Unrast Verlag. Münster 2021.

Sow Noah: „Dunkelhäutig“. In Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Hg. von Susan Arndt u. Nadja Ofuatey-Alazard. Unrast Verlag. Münster 2021.

Sow, Noah: „Entdecken“. In Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Hg. von Susan Arndt u. Nadja Ofuatey-Alazard. Unrast Verlag. Münster 2021.

Sow, Noah: „Indianer“. In Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Hg. von Susan Arndt u. Nadja Ofuatey-Alazard. Unrast Verlag. Münster 2021.

Sow, Noah: „weiß“. In Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Hg. von Susan Arndt u. Nadja Ofuatey-Alazard. Unrast Verlag. Münster 2021.


Internetquellen

  • Zeitungsartikel und Blogbeiträge:

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Brandt, Elea: „Mörderische Transfeindlichkeit“. Elea Brandt. Autorin für Fantasy, Mistery und Horror 2021. https://eleabrandt.de/2021/04/08/transfeindliche-motive-krimis/ [15.07.2022].

Buhre, Jakob u. Huppertz, Paula Emilia: „Mit Freundinnen funktioniert es nicht“. Planet Interview 2014. https://www.planet-interview.de/interviews/die-drei-fragezeichen/45686/ [15.07.2022].

Fron, Carina: „Von Blocksbergs bis Blümchen. Bibi, Pipi, Benjamin: Welche Werte uns Kinderhörspiele vermittelt haben.“ Zett 2016. https://www.zeit.de/zett/2016-12/bibi-pipi-benjamin-welche-werte-kinderhoerspiele-uns-vermittelt-haben [15.07.2022].

Knödler, Benjamin: „Die drei Fragezeichen. A-Z.“ der Freitag 2017. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-drei-fragezeichen-1 [05.08.2022].

Mayer, Katharina: „Rassismus im Kinderzimmer“. Kontext: Wochenzeitung 2012. https://www.kontextwochenzeitung.de/kultur/83/rassismus-im-kinderzimmer-926.html [21.07.2022].

Rotermund, Emma: „Hysterie“. Archiv UniCROSS 2020. https://archiv.unicross.uni-freiburg.de/2020/07/hysterie/ [01.08.2022].

Rütten, Finn: „Was »Die drei Fragezeichen« schon immer besser gemacht haben als »TKKG«“. Stern 2019. https://www.stern.de/neon/feierabend/musik-literatur/-die-drei-fragezeichen–wird-40–was-die-serie-besser-macht-als-tkkg-8950844.html [15.07.2022].

Schwarz, Carolina: „Tim und das N-Wort“. Taz 2018. https://taz.de/Rassismus-in-TKKG-Hoerbuechern/!5478011/ [05.08.2022].

Tippe, Sebastian: „Die drei ???-Kids: Sexismus und Frauenverachtung im Männerclub“. Feministischer Blog von Sebastian Tippe 2019. https://feministinprogress.de/die-drei-fragezeichen-kids-sexismus-und-frauenverachtung-im-maennerclub/ [15.07.2022].

Tippe, Sebastian: „Die drei !!!: Selbstbewusste Mädchen oder Manga-Barbie im Ermittlungswahn?“. Feministischer Blog von Sebastian Tippe 2019. https://feministinprogress.de/diedreiausrufezeichen/ [15.07.2022].

Wolny, Teresa: „Hauptsache gut aussehen“. Taz 2020. https://taz.de/!5665862/ [15.07.2022].

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Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 56. Angriff der Computer-Viren“. https://dreifragezeichen.de/produktwelt/details/angriff-der-computer-viren [15.07.2022].

Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 60. Dopingmixer“. https://www.dreifragezeichen.de/produktwelt/details/dopingmixer [03.08.2022].

Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 63. Fußball-Gangster“. https://dreifragezeichen.de/produktwelt/details/fussball-gangster [15.07.2022].

Europa. Die drei ???: „Die drei ???, Folge 201. Höhenangst“. https://dreifragezeichen.de/produktwelt/details/hohenangst [15.07.2022].

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Freie Universität Berlin: „Automechanikerinnen und Automechaniker – wie Sprache die kindliche Wahrnehmung von Berufen prägt.“ https://www.fu-berlin.de/presse/informationen/fup/2015/fup_15_223-einfluss-geschlechtergerechte-sprache/index.html#:~:text=Die%20Studie%20zeigte%2C%20dassKinder%2C%20denen,m%C3%A4nnliche%20Pluralform%20genannt%20worden%20war [01.08.2022]

rocky-beach.com: „Fragebox mit André Minninger“. https://www.rocky-beach.com/forum/box/min_box_alt02.html [15.07.2022].

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Wikipedia: „Fünf Freunde. Sprecher der Europa-Produktion.“ https://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%BCnf_Freunde#Sprecher_der_Europa-Produktion [01.08.2022].

Wikipedia: „TKKG. Chronik der Hörspielsprecher“. https://de.wikipedia.org/wiki/TKKG#Chronik_der_H%C3%B6rspielsprecher [01.08.2022].

  • Videoquellen:

Adichie, Chimamanda: „Die Gefahr der einen einzigen Geschichte“. https://www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_the_danger_of_a_single_story/transcript?language=de [15.07.2022].

The Take: „Queer Coding, Explained. Hidden in Plain Sight“. https://www.youtube.com/watch?v=K5-6UXGmeGA&t=495s [15.07.2022].


Quelle: Nikita Kara Helena Träder, Fall 218: Die gestohlenen Frauenstimmen und andere patriarchale Detektivgeschichten, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.08.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=231

Die post-koloniale Zeug*innenschaft der afro-deutschen Community –

Sichtbarmachung von Rassismus als Form der kolonialen Kontinuität in Deutschland

Lotta Klister (WiSe 2021-22)

Dieser Essay steht im Kontext eines Seminars zu Theorien und Praktiken der Dekolonialisierung. Während des Seminars arbeitete ich zeitweise mit einer Gruppe zusammen, in der wir uns dem Thema des anti-kolonialen Widerstandes in Berlin näherten und unter anderem das May-Ayim-Ufer besuchten, das ein Zeichen für die fehlende Thematisierung kolonialer Kontinuitäten in Deutschland setzt. Ausgangspunkt meines Essays ist eine kritische Haltung gegenüber meiner eigenen Aneignung von Wissen, in der ich als weiße Person nur eine begrenzte epistemische Einsicht in koloniale Kontinuitäten wie bspw. die Erfahrung von Rassismus habe. In meinem Reflexionsprozess fragte ich mich daher, ob sich eine koloniale Kontinuität auch über Analyse- und Erzählpraktiken auf Basis von Archiven des Wissens erstrecken kann: Inwiefern birgt der Versuch des Sammelns, Selektierens und Aneignens von Wissen zu kolonialer Geschichte selbst das Risiko, eine koloniale Kontinuität zu werden – gerade, wenn der Versuch von Personen wie mir praktiziert wird, die nur eine begrenzte Einsicht haben in die akute Bedeutung der Aufarbeitung von kolonialer Geschichte für das von alltäglicher Diskriminierung und Marginalisierung geprägte Leben in Deutschland? Die Wahrscheinlichkeit, blinde Flecken nicht nur zu übersehen, sondern niemals auflösen zu können, wurde mir in meiner Auseinandersetzung immer klarer. Die einzige Möglichkeit für mich, diesen Essay zu schreiben, ist, diese blinden Flecken permanent mitzudenken und sprachlich zu reflektieren.

1.  Hinführung

Im ersten Teil des Essays werde ich mich der Frage nähern, inwiefern die Wissenslücken ‚offizieller‘ Archive durch eine post-koloniale Zeug*innenschaft aufgezeigt und dadurch alternative Wissenssysteme konstituiert werden können. Beginnen werde ich diese Überlegungen mit Arbeiten von May Ayim, die als Zeugin alltäglich erfahrenen Rassismus als Form der kolonialen Kontinuität versuchte, auf die geschichtlichen Hintergründe dieser Kontinuitäten zu verweisen. May Ayims Zeug*innenschaft stand und steht im Kontext der Bildung einer afro-deutschen Community in Deutschland, die sich an der Bildung einer transnationalen afrikanischen Diaspora orientiert(e). Eine fundamentale Kritik an den tief verankerten Rassismen europäischer Wissenssysteme ist konstitutiver Bestandteil jener Formulierung einer diasporischen Gemeinschaft.

Im zweiten Teil meines Essays werde ich thematisieren, wie die koloniale Vergangenheit Deutschlands und die post-kolonialen Bedingungen in Deutschland die Debatten um Rassismus und um koloniale Kontinuitäten beeinflussen. Diese komplexen Bedingungen haben laut Monika Albrecht auch Auswirkungen auf die Möglichkeiten anti-kolonialen Widerstands. Als Beispiel wendet sich Albrecht der als anti-koloniale Widerstandspraktik zu verstehende Umbenennung des in Berlin Kreuzberg verorteten Gröben-Ufers in May-Ayim-Ufer zu, die ihrer Meinung nach eine kompetitive Erinnerungskultur in Deutschland widerspiegelt und deshalb zu kritisieren ist. Ich werde mir daran anschließend die Frage stellen, inwiefern die Kritik an eben dieser anti-kolonialen Widerstandspraktik deren tatsächliche subversiven Möglichkeiten verfehlen könnte. Schließen werde ich den Essay mit einer poetischen Form der post-kolonialen Zeug*innenschaft, indem ich auf ein Gedicht May Ayims verweise, das Rassismus als Form der intersektionalen, kolonialen Kontinuität poetisch reflektiert.

2.  Post-koloniale Zeug*innenschaft der afro-deutschen Community

2.1.  Durchbrechen offizieller Archive durch kollektivierende Zeug*innenschaft

Im Vorwort von Farbe bekennen schreiben die Herausgeberinnen May Ayim, Katharina  Oguntoye und Dagmar Schultz über den Prozess, ihre „subjektiven Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam weiterzudenken, andere Afro-Deutsche anzusprechen und in diesen Prozess einzubeziehen“, sowie über den Prozess, sich auf Nachforschungen ihrer „Geschichte zu begeben und schließlich – was mit diesem Buch geschieht – an die Öffentlichkeit zu gehen.“ (Ayim et al. 2020, 19). Die kollektivierende Auseinandersetzung mit subjektiven Erfahrungen ist in Farbe bekennen direkt mit einer Hinwendung zu öffentlichen Diskursen sowie deren gezielter Herstellung und Veränderung verbunden: „Mit diesem Buch wollen wir in Verbindung mit persönlichen Erfahrungen gesellschaftliche Zusammenhänge von Rassismus offenlegen“ (Ebd., 19). Diese Zusammenhänge betreffen die koloniale und nationalsozialistische Geschichte Deutschlands sowie deren Folgen, die laut der Herausgeberinnen zu wenig aufgearbeitet wurde und noch immer verdrängt wird – ansonsten fänden afro-deutsche Menschen sowie deren Lebenshintergründe gegenwärtig mehr Beachtung (Vgl. ebd., 20). Die Veränderung „der mit Unwissenheit und Vorurteilen durchdrungenen Öffentlichkeit“ (ebd.) setzt also voraus, dass offizielle Archive sich für die gegenwärtigen subjektiven Erfahrungen afro-deutscher Personen öffnen und das geschichtliche Wissen, auf das diese Erfahrungen hinweisen, auch als genuines Wissen anerkennen müssen.

Die Kritik an fehlenden öffentlichen Auseinandersetzungen mit Rassismus berührt auch die Frage, inwiefern dekoloniale bzw. post-koloniale Zeug*innenschaften das Potenzial haben, hegemoniale Strukturen der offiziellen Wissensarchive und der Wissensarchivierung zu durchbrechen. Solche Ordnungen offizieller Archive lassen sich auch mit Hito Steyerls Begriff der „Politik des Archivs“ fassen:

Das offizielle Archiv erkennt die individuelle Geschichte nicht an, es demonstriert seine archontische, patriarchale Macht. Das Archiv sammelt nicht nur Zeichen und hält sie unter Kontrolle, sondern es erzeugt auch den Eindruck nahtloser Kontinuität, einer natürlichen, selbstverständlichen und transparenten Ordnung. Es stellt ein Korpus dar, dessen Elemente in idealer Konfiguration organisiert sind und eine auf den ersten Blick glatte und kontinuierliche Oberfläche bilden: Effekte einer Politik des Archivs. (Steyerl 2015, 33f.)

Steyerl beschreibt in ihren Ausführungen zur Zeug*innenschaft, wie die Integration der epistemischen Standpunkte von sprechenden Zeug*innen die offiziellen Archive durchkreuzen und nicht nur neues Wissen präsentieren, sondern auch die offizielle Konzeption des Wissens in Frage stellen kann. Darauf werde ich in 2.3. näher eingehen. Zunächst möchte ich darauf verweisen, dass der Versuch, die öffentlichen Diskurse für die geteilten Erfahrungen marginalisierter Communities zu öffnen, voraussetzt, dass diese Communities als solche sichtbar werden. So wird die Bildung der Community performativ in der Hinwendung zur Öffentlichkeit vollzogen. Audre Lorde beschreibt diese Gleichzeitigkeit am Anfang von Farbe bekennen wie folgt:

Dieses Buch ist als Aufforderung der hier schreibenden Frauen an alle Bürgerinnen und Bürger ihres Landes gedacht, sich einem neuen Aspekt des deutschen Bewusstseins zuzuwenden, über den die meisten weißen Deutschen noch nicht nachgedacht haben. Ihre Worte dokumentieren ihre Weigerung, die Verzweiflung lediglich mit Blindheit oder Stillschweigen abzuwehren.

Lorde 1986, 25

Die Weigerung, die individuell erfahrene Verzweiflung auf der subjektiven Ebene zu belassen und sie stattdessen kollektivierend zu thematisieren, dokumentiert gleichzeitig die Hinwendung zur deutschen Öffentlichkeit und damit zur Öffnung offizieller Wissensbestände, die das deutsche Bewusstsein bisher beschränkten.

Das Buch Farbe bekennen beinhaltet verschiedene Essays, die individuelle Erfahrungen in den Kontext dieser Community-Bildung setzen. May Ayim schreibt von ihrem Großwerden als Pflegekind in einer Familie, die krampfhaft versuchte, gegen rassistische Vorurteile vorzugehen: 

Meine Eltern haben mich aus Liebe, Verantwortung und Unwissenheit besonders streng erzogen, geschlagen und gefangengehalten. Im Wissen um die Vorurteile, die in der weißen deutschen Gesellschaft bestehen, passten sie ihre Erziehung unbeabsichtigt diesen Vorurteilen an. Ich wuchs in dem Gefühl auf, das in ihnen steckte: beweisen zu müssen, dass ein ‚Mischling‘, ein ‚N****‘, ein ‚Heimkind‘, ein vollwertiger Mensch ist.

Ayim 2020, 266

Erst in der Konstituierung der afro-deutschen Community, die auch mithilfe von Farbe bekennen ermöglicht wurde, kann diese individuell erfahrene Gewalt in den Kontext rassistischer Kontinuitäten in Deutschland gesetzt werden. Die auf Ayim von ihren Pflegeeltern projizierte Notwendigkeit, als Einzelperson gegen Vorurteile zu kämpfen, indem das ‚Normalsein bewiesen‘ wird, ist ebenso eine Form des Rassismus. Diese Form des Rassismus wird im Kontext der afro-deutschen Community als solche aufgedeckt, indem deren Erfahrbarkeit der individuellen Position entrissen wird und stattdessen auf die Sozialisierung in einer weißen deutschen Gesellschaft rückgeführt wird. Dies möchte ich im nächsten Kapitel vertiefen.

2.2.  Bildung einer afro-deutschen Community mit post-kolonialem Hintergrund

Der Begriff ‚afro-deutsch‘ kennzeichnet die Gemeinsamkeit der Erfahrung, als afro-deutsche Person in einer weißen deutschen Gesellschaft sozialisiert zu werden, also in einer Gesellschaft, die Andersheit aufgrund von Hautfarbe markiert (Vgl. Ayim et al. 2020, 20). In dem von Dagmar Schultz gedrehten Film über Audre Lordes Berliner Jahre äußert sich Lorde über den

Entstehungskontext des Begriffs ‚afro-deutsch‘. Dabei erzählt sie davon, dass es in der Selbstbezeichnung und im Selbstbewusstsein durch das Anerkennen der eigenen Sozialisierung in einer weißen deutschen Gesellschaft auch um die Notwendigkeit geht, überhaupt erst eine afro-deutsche Community zu bilden. Im Film sprechen Bekannte von Audre Lorde davon, dass sich die Lebensrealität durch die Zugehörigkeit zu einer Community radikal verändern kann, da eigene Erfahrungen dort Resonanz finden und geteilt werden (Vgl. Schultz 2012). In Farbe bekennen schreibt Lorde über dieses Bilden einer Community:

Diese Erhebung kann eine wachsende Macht zur Herbeiführung einer nationalen Veränderung im Verein mit anderen, ehemals schweigenden Afro-Deutschen, männlichen wie weiblichen, alten wie jungen, darstellen. Eine wachsende Macht zur Herbeiführung einer internationalen Veränderung im Verein mit anderen AfroEuropäern, Afro-Asiaten, Afro-Amerikanern, allen ‚Bindestrich-Menschen‘, die ihre Identität bestimmt haben, ist kein schamhaftes Geheimnis mehr, sondern die Machterklärung einer wachsenden vereinigten Front, von der die Welt noch nichts gehört hat. (Lorde 1986, 24)

Laut Arina Rotaru war und ist es nur bedingt möglich, die Bildung einer afro-amerikanischen Diaspora als direkten Referenzrahmen für die Bildung einer afro-deutschen Diaspora zu definieren (Vgl. Rotaru 2017, 87). Orientierungspunkt war lange Zeit trotzdem der von Theoretikern wie Stuart Hall und Paul Gilroy geprägte Referenzrahmen der afroamerikanischen Identität, der besonders W.E.B. DuBois Modell der „double consciousness“ (zitiert in ebd.) Folge leistete. In diesem Modell wird die Dissoziation hervorgehoben, die der Lebenssituation afro-amerikanischer Personen entspringt: Das Bewusstsein von der eigenen afrikanischen Teilidentität wird stets von der Umgebung einer rassistischen, weißen Gesellschaft geprägt, was die Anerkennung der gleichwertigen amerikanischen Identität verunmöglicht. Zudem beschreibt der Begriff in diasporischen Kontexten das Vorhandensein einer kulturellen Dopplung, in der kaum repräsentiertes afrikanisches Kulturerbe dem hegemonialen europäischen Kulturerbe erst entgegengesetzt werden muss. Im afroamerikanischen Kontext, aber auch im Versuch, afro-amerikanische Kontexte mit afroeuropäischen Kontexten zusammenzubringen – wie z.B. in Gilroys Begriff „black Atlantic“ (zitiert in Rotaru 2017, 87) – ist es dabei vor allem die Erfahrung von Sklaverei, die als identitätsstiftende, geschichtliche Realität den gemeinsamen Referenzrahmen bildet (Vgl. ebd.). Laut Rotaru wird das jedoch nicht ganz der afro-deutschen Diaspora gerecht. Daran anschließend fragt Rotaru: „Can the African American Anglophone paradigm as the referential counterpart to an Afro-German experience be rethought along with other significant historical discrepancies such as the black German subject’s postcolonial status?“ (Ebd., 89)

Die Schwierigkeit, auf Basis einer post-kolonialen Diaspora eine afrikanische Diaspora in Deutschland zu festigen, ist in unterschiedlichen geschichtlichen Voraussetzungen begründet. Rotaru führt auf, dass die früher eingeläutete post-koloniale Ära Deutschlands 1919 und die daran anschließende Umverteilung kolonialer Strukturen an andere Kolonialmächte dazu führte, dass post-koloniale Perspektiven in Deutschland sich gegen kein klar definiertes Machtzentrum positionieren können (Vgl. ebd.). Rotaru schlägt vor, die Rolle post-kolonialer afro-deutscher Perspektiven stattdessen in der Bildung diasporischer Allianzen zu suchen: „I propose imagining the postcolonial black German subject not in the key of writing back to a center but rather as forging diasporic alliances“ (Ebd.). Es ist diese Allianzbildung, die sich im Buch Farbe bekennen vollzieht. Rotaru hebt dabei die dialogische Dimension hervor, die Post-

Kolonialität in Deutschland aus einer „cross-historical and cross-cultural perspective“ betrachtet und „a reconsideration of diasporic memory as more than just a process of generational transmission“ (Ebd.) ermöglicht. Diesen Fokus auf die allianzbildende Dialogizität werde ich im nächsten Kapitel im Kontext einer Kritik an Wissenssystemen thematisieren. Die Kritik stellt sich gegen jede Form der Unsichtbarkeit und Marginalisierung als Formen kolonialer Kontinuitäten. 

2.3.  Kritik an Wissenssystemen

Kritische post-koloniale und dekoloniale Dokumentationen kolonialer Geschichte und kolonialer Kontinuitäten in Deutschland werden gerade von jenen Perspektiven ermöglicht, die in normativen Geschichtsschreibungen kaum Raum und in der Gesellschaft kaum Sichtbarkeit finden. Der Versuch, koloniale Geschichten und Kontinuitäten aus unterdrückten Perspektiven öffentlich Sichtbarkeit zu verleihen, entspricht der Schwierigkeit, anerkannter, hegemonialer, strukturell tief verankerter Wissensgerüste den Boden zu entreißen. Speziell am deutschen Kontext ist laut Rotaru, dass der im deutschen Idealismus verankerte Rassismus zum gänzlichen Ausschluss einer konstruierten Andersheit führte: „the Afro-German subject as an ‚Other-from-without,‘ a model indebted to G. W. F. Hegel’s thematization of the Black Other as located outside the Western paradigm“ (Rotaru 2017, 90). Mit dem Hintergrund des für die Unsichtbarkeit konstitutiven Ausschlusses scheint es zunächst schwieriger, die Verbindungen zwischen deutsch-europäischer und afrikanischer Geschichte sichtbar zu machen und Gegendiskurse zu bilden, die die hergestellte und sich strukturell reproduzierende Andersheit dekonstruieren.

Wie tief dieser unsichtbarmachende Ausschluss in den westlichen und deutschen Wissenssystemen verankert ist, wird auch von Gayatri Chakravorty Spivaks Begriff des native informant verdeutlicht. Laut Patricia Purtschert lässt sich der Begriff als Kritik an der europäischen Philosophie verstehen, die ihre Subjektvorstellungen in einer eurozentristischen, rassistischen Perspektive konstruierte: Europäische Vorstellungen ‚des Subjekts‘ bzw. ‚des Menschen‘ implizieren den Ausschluss vermeintlich ‚unzivilisierter‘ Subjekt-Vorstellungen, die in eine Arbeitsposition gezwängt werden, die europäische Freiheits- und Lebensmodelle durch materielle Grundlagen erst ermöglicht (Vgl. Purtschert 2011, 348). Hier geht es jedoch nicht nur um Subjekt-Vorstellungen, sondern um die tatsächliche Abhängigkeit ‚des europäischen Menschen‘ von Ressourcen aus kolonialisierten Ländern, die ein vermeintlich ‚menschliches Leben‘ erst denkbar bzw. es als solches erst konstruierbar machen.  

An dieser Stelle möchte ich mich auf einige Lernerfahrungen aus dem Seminar beziehen. So wurde mir klar, dass es in Deutschland nicht nur eine schwierige Aufgabe ist, die deutsche koloniale Vergangenheit als solche zu erkennen, sie als solche anzuerkennen, sondern auch, die kolonialen Kontinuitäten zu thematisieren. Eine solche Kontinuitäten ist, wie bereits oben beschrieben, nicht nur der Rassismus selbst, sondern auch die Leugnung von tief verankerten Rassismen in den europäischen Wissenssystemen, die wiederum der Leugnung der kolonialen Vergangenheit entspringt. Ich habe mich deshalb gefragt: Wie kam es zu dieser komplexen Situation der Leugnung kolonialer Vergangenheiten und der damit verbundenen Stabilisierung kolonialer Kontinuitäten, die ebenfalls geleugnet werden?

3.  Sichtbarmachung kolonialer Vergangenheiten und Kontinuitäten in Deutschland

3.1.  Post-koloniale Bedingungen Deutschlands

Die Schwierigkeit, in Deutschland post-koloniale Zeug*innen sprechen zu lassen und damit die Bildung post-kolonialer Narrative jenen Positionen zu überlassen, die sich mit epistemischen Recht gegen die Leugnung kolonialer Vergangenheiten und Kontinuitäten in offiziellen Archiven und Diskursen stellen, hat verschiedene komplexe Hintergründe. In diesem Kontext plädiert Monika Albrecht dafür, die spezifische post-koloniale Situation in Deutschland anzuerkennen. Diese unterscheidet sich bspw. von der post-kolonialen Situation in Frankreich, wenngleich es laut Albrecht gegenwärtig Ähnlichkeiten zwischen den post-kolonialen Diskursen beider Länder gibt (Albrecht 2017, 204). Der Versuch, eine „German colonial memory culture and politics“ (ebd.) zu konstituieren, muss sich jedoch an der spezifischen kolonialen Vergangenheit orientieren: „It therefore must be taken into consideration that different spatial and temporal colonial realities may bring about different post-colonial conditions“ (Ebd., 205). Das bedeutet im deutschen Kontext das Miteinbeziehen der (kürzeren) Dauer aktiver kolonialer Expansion (ca. 30 Jahre) im Vergleich zu anderen Kolonialmächten sowie die spezifischen „geographic spread and size of overseas possessions“ (ebd.). Zudem gab es laut Albrecht im deutschen kolonialen Kontext keine „extended period of decolonization“ (ebd.), was die post-koloniale Situation und das Ausbilden einer Erinnerungspolitik ebenfalls beeinflusst. Sowohl der selbst-herbeigeführte Verkauf deutscher Kolonien an die Niederlande als auch die fremdbestimmte Abgabe von Kolonien an die Allianzen nach dem ersten Weltkrieg bestimmen die Art, wie post-koloniale Diskurse in Deutschland geführt werden (Vgl. ebd.).

In der Erinnerungskultur Deutschlands haben laut Albrecht die Ereignisse des zweiten Weltkriegs die koloniale Vergangenheit und den Eintritt der post-kolonialen Situation weitestgehend abgelöst (Vgl. ebd., 205f.). Überhaupt gibt es im gesamteuropäischen Diskurs Albrecht zufolge das Problem, dass die vier Blocks der Erinnerung (zweiter Weltkrieg, Holocaust, Kommunismus und Kolonialismus) hierarchisiert werden, obwohl sie alle miteinander verbunden sind. Die daraus entstehende „memory competition“ (ebd., 206) trägt dazu bei, dass die tatsächliche Komplexität historischer Ereignisse in den aktiven Praktiken der Erinnerung, die bestimmte Ereignisse voranstellen, reduziert wird.

Aus Albrechts Perspektive wird die post-koloniale Situation in Deutschland weiterhin davon beeinflusst, dass es in der deutschen Gesellschaft eine Unsichtbarkeit von Rückkehrer*innen aus ehemaligen deutschen Kolonien gibt, zumindest im Vergleich zu der Anwesenheit postkolonialer Subjekte in anderen europäischen Ländern mit kolonialer Vergangenheit (Vgl. Albrecht 2017, 206). Die „absence of ‚living reminders‘ of Germany’s colonial history“ (ebd.), das heißt das Fehlen post-kolonialer Subjekte, sowie der starke Fokus auf einen scheinbaren deutschen Multikulturalismus ohne koloniale Verbindungen, machen es schwierig, einen spezifischen post-kolonialen Diskurs in Deutschland zu etablieren, der sich nicht nur an anderen europäischen Diskursen orientiert. Obwohl die gegenwärtigen multikulturellen Gesellschaften in Europa unterschiedlich sind und deshalb auf unterschiedliche Art und Weise an post-koloniale Vergangenheiten erinnern, kann das laut Albrecht nicht heißen, dass sich das scheinbare Fehlen gegenwärtiger post-kolonialer Communities in Deutschland der post-koloniale Diskurs nur an Diskursen orientiert, die von post-kolonialen Communities in anderen europäischen Gesellschaften geführt werden. Die tatsächliche Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit (und Kontinuität) in Deutschland wird dadurch laut Albrecht übergangen (Vgl. ebd., 207).

Aufgrund der genannten Punkte spielt Kolonialismus in der deutschen Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik eine untergeordnete Rolle: „the idea of any continuity between Germany’s imperial history and the present as a source of memory politics does not play a major role in Germany“ (ebd). Ein Grundproblem der post-kolonialen Erinnerungsdiskurse ist dabei die „potential incompatibility of memories“ (ebd.), in der unterschiedliche Communities die Vergangenheit unterschiedlich erinnern. Laut Albrecht ist die Grundfrage deshalb: „how to deal with eras or events of the past which possess different meanings for different communities“ (ebd.). Albrecht zufolge stehen in der gegenwärtigen Aufarbeitung der Vergangenheit stets die Opfer unterschiedlicher geschichtlicher Ereignisse im Vordergrund. In der realen Umsetzung von Erinnerungspolitik und -kultur bedeutet das aber, dass „existing hierarchies of suffering“ aufrechterhalten werden und eine „competition between victim groups“ (ebd., 208) gefördert wird. Im nächsten Kapitel werde ich mich auf eine solch komplexe Erinnerungssituation im Kontext anti-kolonialen Widerstands konzentrieren und anhand dieses Beispiels meine bisherigen Gedanken zur post-kolonialen Zeug*innenschaft mit den Praktiken anti-kolonialen Widerstands zusammenführen.  

3.2.  Praktiken anti-kolonialen Widerstands: Straßen-Umbenennung

Eine kompetitive Erinnerungssituation in Deutschland war laut Albrecht die Straßenumbenennung des ehemaligen Groeben-Ufers in May-Ayim-Ufer. Albrecht zufolge kam es in dieser Situation zur Missachtung der vielfältigen Geschichte des Ufers, an dem in der DDR drei Kinder im Wasser ertrunken sind, weil DDR-Offiziere es nicht zuließen, dass West-Berliner ihnen zur Hilfe kommen durften (Vgl. Albrecht 2017, 212). Mit der Umbenennung in May-Ayim-Ufer fand laut Albrecht eine Überschreibung des Ortes statt, die Ausdruck einer potenziell kompetitiven Situation zwischen Opfergruppen sein könnte. Albrecht kritisiert die aufgeladenen politischen Debatten zwischen Minderheiten dafür, einen solchen Wettbewerb zu fördern und die tatsächliche Erfassung der historischen Hintergründe zu verunmöglichen (Vgl. ebd.). Albrecht konkludiert deshalb, dass der Versuch, die gegenwärtige Situation von Minderheiten – wie die der afro-deutschen Community – mit dem deutschen Kolonialismus zu verbinden, daran gescheitert ist, eine bewusstere post-koloniale Bedingung in Deutschland zu schaffen: „[C]onnecting German minority issues with German colonialism does not provide the potential for increased historical awareness of the colonial past or the generation of new insights into the post-colonial condition.“ (Ebd., 213) 

Zunächst erinnert mich Albrechts Argument, dass es im Wettbewerb der Erinnerungen zu Komplexitätsreduktion kommen kann, an Chimamanda Adichies Vortrag „The Danger of a Single Story“[1]: Die Gefahr, dass einzelne Erinnerungspole fokussiert werden, entspricht auch der Gefahr, dass die Intersektionen zwischen historischen Ereignissen von der Analysefläche verschwinden. Gleichzeitig scheint Albrechts Kritik an der Umbenennung auf einen spezifischen politischen Kontext zu zielen, der die Erinnerungskultur und -politik primär im Rahmen demokratischer Debatten und Diskussionen rund um koloniale Vergangenheiten verortet, was es so scheinen lässt, als könnten allein diese die post-koloniale Situation in Deutschland gestalten. Was im Fokus auf die Erinnerung weniger zur Sprache kommt, sind die kolonialen Kontinuitäten, wie die des Rassismus. Mir scheint also, als würde Albrecht nicht ganz den Rahmen treffen, in dem die Umbenennung des May-Ayim-Ufers vollzogen wurde. Joshua Kwesi Aikin aus der ISD ruft bei der Eröffnung der Gedenktafel am May-Ayim-Ufer dazu auf: „Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Tafel viele weitere folgen. Lasst uns daran arbeiten, dass dieser Ort zu einem umfassenderen Perspektivwechsel beiträgt: Weg von dem, wofür Gröben stand, hin zu dem wofür May Ayim stand, steht und stehen wird.“[2] Bisher wurden die dekolonialen Projekte, die der Umbenennung folgen sollten, so noch nicht weitergeführt. Eine Welle der Umbenennung, die zu einem „umfassenderen Perspektivenwechsel beiträgt“, ist noch nicht eingetreten. Es fehlt an einer radikalen Sichtbarkeit, die Kontroversen ermöglicht, in denen die Erinnerungen an Deutschlands koloniale Vergangenheit auch in die Thematisierung der kolonialen Kontinuitäten überführt wird. Eine intersektionale Perspektive einzunehmen heißt hier auch, dass diese Kontinuitäten mit anderen historischen Ereignissen direkt verbunden und thematisiert werden. Eben dies ist es aber, wofür May Ayim und die afro-deutsche Community steht: Die Bildung von Allianzen zwischen unterschiedlichen Communities.  

Das setzt jedoch voraus, dass post-koloniale Zeug*innenschaft eine Stimme in den ‚offiziellen‘ Archiven erhält und die Erinnerungspolitik und -kultur in die Gegenwart überführt. Gerade die Umbenennung kann als ein Durchbrechen der patriarchalen „Politik des Archivs“ gedeutet werden: Durch Umbenennung wird ein neues Archiv geöffnet, das Zeug*innen sprechen lässt, die das Fehlen der Erinnerung an koloniale Geschichte aus ihrer heutigen Perspektive auf gegenwärtige soziale Verhältnisse dokumentieren. Die eigentliche Leistung der Umbenennung ist dabei auch, die Lücken des Erinnerns aufzuzeigen: Indem auf das heutige Bestehen des Rassismus verwiesen und gezeigt wird, dass dieser noch immer geleugnet wird, kann abgeleitet werden, dass die Aufarbeitung kolonialer Hintergründe als einer der wesentlichen Entstehungskontexte von Rassismus noch immer zu wenig Folge geleistet wird. Würde die koloniale Vergangenheit Deutschlands nämlich deutlicher thematisiert werden, wäre die Frage nach gegenwärtigen rassistischen Strukturen womöglich präsenter. Zudem wäre dadurch bspw. die Verbindung zwischen kolonialen Anfängen, auf Rassismus beruhendem deutschem Nationalismus und der Entstehung nationalsozialistischer Ideologie sowie Eugenik klarer (Vgl. Ayim et al. 2020).

Der Kontext, in dem May Ayims Schaffen verortet werden kann, ist also nicht nur die Bildung einer afrikanischen Diaspora im geteilten Deutschland der 80er Jahre, sondern auch die Thematisierung der problematischen offiziellen Erinnerungskultur, geleitet von einer Politik der Archive, die der afro-deutschen Community kein grundsätzliches epistemisches Recht ‚in Sachen‘ Kolonialismus, Nationalsozialismus und Rassismus ermöglicht. So möchte ich diesen Essay mit dem Anfang von May Ayims Gedichts „gegen leberwurstgrau – für eine bunte Republik“ (Ayim 2021, 70) beenden, das eben diese problematische Archiv-Politik beschreibt:

zu besonderen anlässen und bei besonderen ereignissen aber besonders kurz vor und kurz nach den wahlen sind wir wieder gefragt werden wir wieder wahrgenommen werden wir plötzlich angesprochen werden wir endlich einbezogen sind wir auf einmal unentbehrlich werden wir sogar eingeflogen auf eure einladung versteht sich als »liebe ausländische mitbürgerInnen« ohne bürgerrechte natürlich als migrantinnen aus aller herren länder als experten in Sachen rassismus als »betroffene« 

zusammen mit aktivistInnen und politikerInnen mit prominenten und engagierten diskutieren analysieren debattieren wir über forderungen protestaktionen appellationen in diskussionen hearings talkshows

auf dem podium im forum oder plenum

und dann – was dann

die forderungen werden sauber aufgelistet

die listen werden sauber abgeheftet und sicherlich und zuverlässig an die entsprechenden stellen mit den wirklich zuständigen leuten

weitergeleitet

und dann – was dann

die show ist aus

wir gehen nach haus

die engagierten fühlen sich erleichtert – zum teil die betroffenen fühlen sich verarscht – total

[…]


Literaturverzeichnis

Albrecht, Monika. 2017. „Negotiating Memories of German Colonialism: Reflections on Current Forms of Non-Governmental Memory Politics“. Journal of European Studies 47 (2): 203–18.

Ayim, May. 2020. „Aufbruch“. Farbe bekennen: afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, herausgegeben von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz. 2. Aufl., 261–270. Berlin: Orlanda.

Ayim, May. 2021. blues in schwarz weiss / nachtgesang. Münster: Unrast.

Ayim, May; Oguntoye, Katharina; Schultz, Dagmar, Hrsg. 2020. Farbe bekennen: afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. 2. Aufl. Berlin: Orlanda.

Lorde, Audre. 1986. „›Gefährtinnen, ich grüße euch‹“. Farbe bekennen: afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, herausgegeben von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz. 2020. 2. Aufl., 23–25. Berlin: Orlanda.

Purtschert, Patricia. 2011. „Postkoloniale Philosophie. Die westliche Denkgeschichte gegen den Strich lesen“. Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, herausgegeben von Julia

Reuter und Alexandra Karentzos, 1. Aufl., 343–55. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV).

Rotaru, Arina. 2017. „May Ayim and Diasporic Poetics“. The Germanic Review 92 (1): 86– 107.

Schultz, Dagmar, Reg. 2012. Audre Lorde – Die Berliner Jahre 1984 bis 1992. Deutschland, New York: Third World Newsreel. 2012. DVD.

Steyerl, Hito. 2015. Die Farbe der Wahrheit: Dokumentarismen im Kunstfeld. Nachdruck. Wien, Berlin: Verlag Turia + Kant.


[1] Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=D9Ihs241zeg, zuletzt aufgerufen am 11.05.2022.

[2] https://isdonline.de/rede-may-ayim-ufer-von-joshua-kwesi-aikins/, zuletzt aufgerufen am 11.05.2022.


Quelle: Lotta Klister, Die post-koloniale Zeug*innenschaft der afro-deutschen Community – Sichtbarmachung von Rassismus als Form der kolonialen Kontinuität in Deutschland, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.06.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=226

Essay zum Thema: Gendergerechte Sprache

Anonym, WiSe 2021-2022

Einleitung

Einer meiner ersten Berührungspunkte mit den Themen um Gender und Diversity war, wenn ich mich richtig erinnere, vor einigen Jahren das Gendern in der Sprache. Meine große Schwester hat sich zu dem Zeitpunkt damit beschäftigt und das Gendern wurde bei uns auch in der Familie diskutiert. Ich selbst habe mich aber nicht wirklich damit auseinandergesetzt und bin erst im und Verlauf meines Studiums und bei meinem Werkstudent*innenjob mehr mit gendergerechter Sprache und generell mit Gender in Verbindung gekommen. Deswegen sehe ich mich selbst auch als Neuling und merke, auch im Rahmen dieses Seminars, dass ich vieles noch nicht weiß und gerade über die komplexen Zusammenhänge von Rassismus, Intersektionalität, Diskriminierung und Gender noch einiges zu lernen habe.

Das Gendern, also bewusst auf eine gendergerechte Sprache zu achten, habe ich dabei recht schnell übernommen. Lange habe ich aber nicht groß darüber nachgedacht oder hinterfragt, warum das vielleicht wichtig ist. Auch ist mir aufgefallen, dass ich im Kontext der Uni und der Arbeit stark darauf achte, aber es im Freundeskreis eher vernachlässige. Ich vermute das liegt daran, dass ich noch zu wenig darüber weiß, beziehungsweise für mich selbst nicht gut begründet habe, warum ich gendergerechte Sprache eigentlich nutzen möchte. Deswegen möchte ich mich in diesem Essay damit auseinandersetzen und herausfinden, was die wesentlichen Argumente im öffentlichen Diskurs für und gegen eine gendergerechte Sprache sind und welche Erkenntnisse es aus der Wissenschaft und Forschung gibt. Zu dem Thema gibt es bereits umfassende Studien, Artikel, Interviews und Meinungen. Das Ziel des Essays soll es nicht sein, dazu einen wissenschaftlichen Mehrwert zu bieten. Ich möchte mir, begründet durch meine Recherche, eine eigene subjektive Meinung bilden. Ich habe mich dazu entschieden, die Formulierung „gendergerechte“ Sprache zu verwenden. Andere Bezeichnungen wären geschlechtergerechte, gendersensible oder genderneutrale Sprache. Für das Gendern selbst werde ich das Gendersternchen * verwenden.  Was der Begriff der gendergerechten Sprache genau bedeutet (und welche Aussage das Gendersternchen in meinem Essay hat), spiegelt für mich die Definition der Uni-Kassel gut wider: „Ziel geschlechter-gerechter Sprache ist es, alle Geschlechter auf respektvolle Art und Weise anzusprechen und sichtbar zu machen. Dabei geht sie über die schlichte Benennung von Männern und Frauen hinaus und spricht Trans*- und Inter- sowie nicht-binär verortete Personen an“.

Argumente im öffentlichen Diskurs

Ich möchte einige Argumente des öffentlichen Diskurses für oder gegen eine gendergerechte Sprache herausarbeiten. Sie sind aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und stellen nur einen kleinen Teil der Gesamtargumentation dar, deren Darstellung den Rahmen des Essays gesprengt hätte. Mein Standpunkt soll in diesem Abschnitt noch keine Rolle spielen und erst zum Ende mit einfließen.

Pro

Sprache beeinflusst unser Denken (und sollte die Realität abbilden)

Das generische Maskulin und dessen Gebrauch in der Sprache führt zu einer engen gedanklichen Verbindung zwischen Genus und natürlichem Geschlecht und ist deswegen nicht neutral, sondern führt dazu, dass Frauen gedanklich ausgeschlossen werden (Irmen & Kaczmarek, 2000; Kania, 2021). Die Sprache hat dabei Symbolcharakter und beeinflusst das Denken, die Wahrnehmung und unsere Wirklichkeit, deswegen kann eine gendergerechte Sprache auch Benachteiligungen entgegenwirken. Sprachdebatten sind deswegen auch politische Debatten, bei denen es um Dominanz und Macht geht (Landeszentrale für politische Bildung, 2022).

Weiterhin sollte die Sprache der Realität entsprechen. Diese sieht so aus, dass es, neben einem nahezu gleichen Verhältnis von Männern und Frauen, auch Trans*- und Inter- sowie nicht-binär verortete Personen gibt, welche ebenso in der Sprache Beachtung finden sollten. Eine gendergerechte Sprache ist deswegen auch eine politische Positionierung für eine neue emanzipative Geschlechterordnung (GEO, 2021).

Sprache verändert sich

Unsere Sprache entwickelt sich ständig weiter. Die Veränderungen (die oft mit anfänglicher Ablehnung einhergehen) gehören sozusagen zur linguistischen Geschichte (GEO, 2021). Dabei empfinden die Menschen den Wandel und das Gehirn die unbekannten Wörter als anstrengend. Je öfter wir diese Wörter aber verwenden, umso mehr neuronale Verknüpfungen entstehen und umso leichter fallen sie uns. Mit der Zeit gewöhnen wir uns also an Veränderungen in unserer alltäglichen Sprache, weswegen Argumente zur Lese- und Redefreundlichkeit sowie Verständlichkeit nicht nachhaltig begründet sind (Landeszentrale für politische Bildung, 2022).

Männliche Dominanz in der Sprache

Durch die Verbindung von grammatischem und natürlichen Geschlecht kommt es zu einer männlichen Dominanz in der Sprache. Das liegt auch daran, dass das Maskulinum sowohl für alle Personen („Studenten“) als auch nur für die männlichen Personen („Studenten“) gelten kann. Die feminine Bezeichnung wird demgegenüber nur bei Frauen verwendet („Studentinnen“) und kann die Männlichen nicht ersetzen, was zu einer Asymmetrie zugunsten des Männlichen führt (Wesian, 2007). Das historisch geprägte generische Maskulin ist dabei keine grammatikalische Notwendigkeit, denn es gibt genug Alternativen, sondern eine Gewohnheit des (historisch männlich geprägten) Sprachgebrauchs.

Contra

Das grammatische Geschlecht (Genus) ist nicht gleich dem biologischen Geschlecht

Ein Bestandteil in der Debatte ist das generische Maskulin. Dabei wird argumentiert, dass es in der deutschen Sprache einen Unterschied zwischen dem biologischen und dem grammatischen Geschlecht gibt. Wörter können maskulin („der Teppich“), feminin („die Gitarre“) oder neutral („das Fenster“) sein, unabhängig davon, wie sie mit dem biologischen Geschlecht in Verbindung stehen. So kommt zum Beispiel „der Lehrer“ von dem Wort „lehren“ und sagt nichts über das Geschlecht der Person aus (Kania, 2021). Genus und Sexus sind also unabhängig. Weiterhin wird in diesem Zuge angebracht, dass durch die Betonung beider Geschlechter nicht erreicht wird, dass diese auch als gleichwertig angesehen werden. Außerdem werden durch den Diskurs Frauen bei einer weiteren Verwendung eines generischen Maskulin gedanklich dann erst recht ausgeschlossen werden (Lorenz, 1991).

Sprache hat nicht zwingend etwas mit Gleichberechtigung zu tun

Dem Argument der gedanklichen Kategorienbildung (z.B. bei „Schauspieler“ wird an einen männlichen Schauspieler gedacht) wird entgegengehalten, dass diese Kategorien mehr durch den Kontext beeinflusst werden. So denkt man bei zum Beispiel bei „Politikern“ vor allem an männliche Politiker*innen, weil man nicht so viele weibliche Personen in diesem Berufsfeld kennt- weniger wegen der Formulierung. Bestimmte Berufe werden dabei sozialgesellschaftlich eher den Männern zugeschrieben. Um dem entgegenzuwirken, sollte also nicht die Sprache verändert werden, weil es zweifelhaft ist, dass diese zu mehr Gleichberechtigung und zu einer gerechteren Welt führt (Klein, 1988; GEO, 2021).  

Der Großteil der Bevölkerung lehnt das Gendern ab

Allgemein scheint eine gendergerechte Sprache, unabhängig von der Begründung in Deutschland eher auf Ablehnung zu stoßen. Laut verschiedenen Umfragen lehnen z.B. aktuell circa 65% der Bevölkerung das Gendern ab. Dieser Wert lag im vergangenen Jahr noch bei 56%, ist also gestiegen. Und auch in der Politik sind laut Umfragen (je nach Partei) zwischen 47 % (die Grünen) und 83% (die AfD) gegen eine gendergerechte Sprache (FAZ, 2021). Weiterhin halten über 60% der Menschen in Deutschland eine gendergerechte Sprache (zur Gleichstellung der Frau) für „sehr-“ oder „eher unwichtig“ (INSA-Consulere für „Verein Deutsche Sprache“, 2019).

Sprachästhetik und Lesbarkeit

Es wird angebracht, dass gendergerechte Formulierungen Texte unverständlicher und lese- beziehungsweise hörunfreundlicher machen. Viele deutsche Zeitungen und Nachrichtenagenturen gendern angeblich aus diesem Grund nicht. Kritiker sehen eine Verzerrung der Sprache, die von den Inhalten ablenkt.

Wissenschaft und Forschung

Generisches Maskulin und Sexus

Die Professorin für historische Sprachwissenschaft Damaris Nübling erläutert in Ihrem Artikel „und ob das Genus mit dem Sexus“ aus dem Jahr 2018 verschiedene Studien zur Korrelation von generischem Maskulin und Sexus. Zum Beispiel die Untersuchung von Pascal Gygax um den männlichen Genderisierungsgrad maskuliner Personenbezeichnungen: Den Teilnehmenden wurden hier zunächst Sätze gezeigt, welche Formulierungen mit dem generischen Maskulin enthielten („die Sozialarbeiter liefen durch den Bahnhof“). Anschließend wurden Bilder gezeigt, einmal mit männlichen und einmal mit weiblichen Akteur*innen, wobei bewertet werden sollte, ob dieses Bild eine „mögliche Fortsetzung“ des Satzes sei. Dabei zeigte sich, dass die Fortsetzungen mit den männlichen Akteuren deutlich spontaner und häufiger akzeptiert wurde – unabhängig davon, ob die Tätigkeit gesellschaftlich als eher männlich (Spione), neutral (Zuschauer) oder eher weiblich (Sozialarbeiter) gilt.  Den Vergleich dazu stellte die englische Untersuchungsgruppe dar, wobei es im Englischen kein nominales Genus gibt. Hier wurde die Assoziation ausschließlich durch die sozialen Zuschreibungen, anders als in der deutschen Gruppe, gesteuert. Die Ergebnisse zum Zusammenhang von generischen Maskulin und Sexus wurden durch zahlreiche andere Studien bestätigt.

Textverständlichkeit

Das Argument, das gendergerechte Sprache die Qualität und die kognitive Verarbeitung von Texten beeinträchtigt, wurde zum Beispiel in einer Studie von Friederike Braun et al. im Jahr 2007 untersucht. Dabei lasen 86 Teilnehmer*innen drei verschiedene Versionen einer fiktiven Packungsbeilage eines Medikaments, die sich hinsichtlich der Form der Personenbezeichnung (generisches Maskulin, Beidnennung mit Neutralisierung und Binnen-I) unterschieden. Anschließend wurde erhoben, wie gut sich die Teilnehmenden an den Text und dessen Inhalte erinnerten – aber auch wie der Text hinsichtlich seiner Qualität (Verständlichkeit, Lesbarkeit, Formulierungen) bewertet wurde. Das Ergebnis war, dass es bei den Frauen hinsichtlich der kognitiven Verarbeitung der Texte aber auch bei der Bewertung der Qualität bei unterschiedlichen Personenbezeichnungsformen keine Unterschiede gab. Die männlichen Teilnehmer zeigten in der Erinnerungsleistung ebenfalls keine (bedeutsamen) Unterschiede, bewerteten die Textqualität aber bei den Texten am höchsten, in denen das generische Maskulin verwendet wurde.

Sprache und kindliche Wahrnehmung von Berufen

In einer Studie der Freien Universität Berlin untersuchten Bettina Hannover und Dries Vervecken 2015, wie Sprache die kindliche Wahrnehmung von Berufen prägt. Hintergrund war, dass Mädchen nach wie vor seltener als Jungen Berufe aus dem MINT-Bereich ergreifen. Als eine Begründung dafür vermutete man stereotypischen Vorstellungen über diese Berufe, da sie nach wie vor als typisch männlich gelten. Im Rahmen der Untersuchungen wurde knapp sechshundert Grundschüler*innen aus Deutschland und Belgien im Alter von sechs bis zwölf Jahren Berufsbezeichnungen vorgelesen – entweder in gendergerechter („Ingenieurinnen und Ingenieure“) oder in männlicher Sprachform („Ingenieure“). Anschließend schätzten die Kinder in einem Fragebogen für jeden Beruf ein, wie viel man verdient, wie wichtig er ist, wie schwer er zu erlernen und auszuführen ist und ob sie sich selbst zutrauen würden, diesen Beruf auszuüben. Es zeigte sich, dass die Kinder, denen die geschlechtergerechten Bezeichnungen präsentiert worden waren, sich viel eher zutrauten die Berufe zu ergreifen, die als typisch männlich gelten. Durch eine geschlechtergerechte Sprache können Kinder also ermutigt werden, mehr Berufe in diesem Bereich zu ergreifen. Auch wurde deutlich, dass die Berufe mit geschlechtergerechter Bezeichnung als weniger wichtig und die Bezahlung als niedriger als bei der männlichen Bezeichnung eingeschätzt wurden.

Audiovisuelle Diversität

Die MaLisa Stiftung hat im Jahr 2016 eine Studie initiiert, bei der, gemeinsam mit den größten deutschen TV-Gruppen, eine umfassende Analyse des deutschen Fernseh- und Kinoprogramms durchgeführt wurde. Ziel war es, herauszufinden, wie Geschlechter in Film und Fernsehen dargestellt werden. Dafür wurden über 3500 Stunden Fernsehprogramm sowie 800 Kinofilme aus den Jahren 2010-2016 ausgewertet. Es zeigte sich, dass Frauen deutlich unterrepräsentiert sind. Der Anteil von Männer zu Frauen liegt demnach bei zwei zu eins. Je älter die Frauen dabei werden, desto geringer ist ihr Anteil. Ab dem 30. Lebensjahr verschwinden die Frauen sukzessive von den Bildschirmen. Die Männer hingegen nehmen häufig die Hauptrollen ein: nur jede*r dritte Hauptakteur*in ist weiblich. Dabei sind besonders die Expert*innen und Moderator*innen fast immer männlich (80%). Die Ergebnisse spiegeln dabei nicht nur das Erwachsenenfernsehen wider- bei den Kindersendungen und -filmen ist der Anteil genauso hoch oder höher.

Diskussion und Fazit

Abschließend betrachtet bin ich etwas enttäuscht. Gerade weil die Debatte rund um gendergerechte Sprache so viel und hitzig diskutiert wird, hatte ich erwartet, dass es ein ausgeglicheneres Verhältnis von (nachvollziehbaren) Argumenten gibt. Auf die Begründungen gegen eine gendergerechte Sprache war ich besonders gespannt und diese finde ich insgesamt dünn. Was dabei von verschiedenen Quellen häufig als Erstes angebracht wurde, ist, dass das grammatische Geschlecht nicht dem biologischen Geschlecht entspricht, was mir grundsätzlich verständlich erscheint. Trotzdem kommt es, denke ich, nicht darauf an, was die ursprüngliche grammatikalische Bedeutung ist, sondern vielmehr, was diese dann in der Realität mit uns macht. Und abgesehen davon, dass die Studienlage hier klar ist, finde ich auch das Argument wichtig, dass es logische Alternativen zum generischen Maskulin gibt. Wenn man eine Frau direkt (mit-) ansprechen könnte, aber stattdessen die männliche Form wählt, ist es für mich logisch, dass wir dementsprechend immer eher etwas Männliches damit assoziieren. Die Begründung, dass Sprache nicht zwingend etwas mit Gleichberechtigung zu tun hat und zu einer gerechteren Welt führt, konnte ich nicht verstehen. Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass Sprache unsere Wirklichkeit bestimmt und die Aussage so höchstwahrscheinlich falsch ist. Zudem haben einige Quellen es auch so formuliert: „Führt nicht zwingend […]“ Aber selbst, wenn nur die Möglichkeit besteht, dass eine gerechte Sprache zu mehr Gerechtigkeit führt, sollte das Grund genug sein. Was ich tatsächlich auch bei mir selbst beobachtet habe, ist, dass ich aus Bequemlichkeit nicht gegendert habe, weshalb ich mich mit dem Argument des Redeflusses identifizieren konnte. Leider habe ich gemerkt, dass die Gründe dafür zu gut sind, weswegen ich mich von der Begründung vor mir selbst wohl verabschieden muss. Spannend war für mich, dass es bereits so viele Studien gibt, die die Wirkung einer gendergerechten Sprache belegen und damit auch die Bedeutung davon unterstreichen. Ich denke, insgesamt ist die Datenlage schon eindeutig und es fühlt sich ein bisschen so an, als würde hier Tatsachen gegen Bequemlichkeit und Tradition argumentieren. Besonders interessiert hat mich die Studie von Hannover und Vervecken, auch weil sie an der FU durchgeführt wurde. Ich denke, die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig eine gesellschaftliche Entwicklung jetzt sein kann – auch für die Zukunft. Die letzte Studie zu den Medien habe ich mit angeführt, obwohl sie nicht hundertprozentig zu gendergerechter Sprache passt. Ich denke die Studie spiegelt wider, was vermutlich eines der Probleme bei der Umsetzung von gendergerechter Sprache ist: Nämlich, dass bei einem zu großen Teil der Gesellschaft das Denken und die Ansichten hin zu einer männlichen Dominanz und Machtposition noch sehr präsent ist. Deswegen glaube ich auch, das gendergerechte Sprache nur ein kleiner (aber sinnvoller Teil) von einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sein kann. Gleichzeitig zeigt sich, dass sich noch viele Menschen gegen das Gendern aussprechen, dass die Entwicklung noch am Anfang steht und einiges passieren muss. Für besonders wichtig halte ich es deswegen herauszufinden, wie man es schafft die „Lager“, die es nach meinem Empfinden gibt, aufzuweichen und das Thema mehr Menschen zugänglich zu machen. Eine wichtige Rolle spielen in meinen Augen die Medien, welche mit ihrer Berichterstattung viel beeinflussen und gleichzeitig viel bewegen können. Leider scheinen besonders diese häufig gegen eine gendergerechte Sprache zu sein. Auf der Seite tagesschau.de, die ich täglich besuche, wird zum Beispiel nicht gegendert.

Was mich persönlich noch sehr interessieren würde ist, wie die Meinungen vom „Betroffenen“ dazu sind, insbesondere von LGBTQ-Personen. Das liegt auch daran, dass (auch wenn ich die Argumente für eine gendergerechte Sprache gut nachvollziehen kann) es mir schwerfällt, die Perspektive von Betroffenen zu übernehmen, beziehungsweise darüber nachzudenken: Wie würde es mir gehen, wenn ich in der Situation wäre und durch Sprache Ungleichbehandlung erfahren würde? Ein erster Gedanke ist dabei, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob es mich stören würde. Damit würde ich es mir aber viel zu einfach machen. Ich weiß nicht, wie sich die Situation anfühlt, was damit verbunden sein kann und auch nicht, wie die persönlichen Hintergründe sein können. Deswegen denke ich, meine eigene Vorstellung ist eher nebensächlich. Genau deshalb würden mich subjektive Meinungen und Erfahrungen dazu interessieren. Im Rahmen der Arbeit zum Essay habe ich leider keine Interviews oder Ähnliches gefunden und bin dahingehend noch auf der Suche.


Literatur- und Quellenverzeichnis

Braun, F., Oelkers, S., Rogalski, K., Bosak, J. & Sczesny, S. (2007). „Aus Gründen der Verständlichkeit…“. Der Einfluss generisch maskuliner und alternativer Personenbezeichnungen auf die kognitive Verarbeitung von Texten. Psychologische Rundschau, 58 (3), 183-189.

FAZ (2021). Die Bürger wollen keine Gendersprache. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/grosse-mehrheit-laut-umfrage-gegen-gendersprache-17355174.html (11.03.2022)

GEO (2021). Was spricht FÜR und GEGEN das Gendern?                                https://www.geo.de/magazine/geo-magazin/pro–und-contra-liste-was-spricht-fuer-und-gegen-das-gendern–30675936.html (09.03.2022)

INSA-Sprachumfrage (2019/20). Was denkt Deutschland über die deutsche Sprache?  https://deutsche-sprachwelt.de/2020/01/insa-sprachumfrage-2019-20-teil-7-gendersterne-haben-wenige-freunde/ (09.03.2022)

Irmen, L. & Kaczmarek, N. (2000). Beeinflusst das grammatische Geschlecht die Repräsentation von Personen in einem mentalen Modell? Ein Vergleich zwischen einer englischsprachigen und einer deutssprachigen Stichprobe. 42. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jena

Kania, T. (2021). Gendern- Eine ehrliche Pro- und Contra-Liste. https://www.blue-satellite.de/gendern-eine-ehrliche-pro-und-contra-liste/ (10.03.2022)

Klein, J. (1988): Benachteiligung der Frau im generischen Maskulin – eine feministische Schimäre oder psycholinguistische Realität?, In: N. Oellers (Hrsg.), Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Selbstbestimmung und Anpassung. Vorträge des Germanistentages Berlin 1987, Band 1 ( 310–319). Tübingen: Niemeyer.

Landeszentrale für politische Bildung (2022). Gendern- ein Pro und Contra.         https://www.lpb-bw.de/gendern#c76345 (11.03.2022) 

Lorenz, D. (1991). Die neue Frauensprache. Über die sprachliche Apartheid der Geschlechter. Muttersprache – Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache, 3, 272-277.

Nübling, D. (2018). Und ob das Genus mit dem Sexus: Genus verweist nicht nur auf das Geschlecht, sondern auch auf die Geschlechterordnung. Sprachreport Jg. 34 (3), 44-50.

Prommer, E. & Linke, C. (2017). Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen in Deutschland. Institut für Medienforschung-Philosophische Fakultät, Universität Rostock.

Universität Kassel (2021). Gendergerechte Sprache. https://www.uni-kassel.de/hochschulverwaltung/themen/gleichstellung-familie-und-diversity/geschlechtergerechte-sprache#:~:text=Das%20Ziel%20geschlechtergerechter%20Sprache%20ist,nicht%2Dbin%C3%A4r%20verortete%20Personen%20an (03.02.2022)

Vervecken, D., & Hannover, B. (2015). Yes I can! Effects of gender fair job descriptions on children’s perceptions of job status, job difficulty, and vocational self-efficacy. Social Psychology, 46, 76-92.

Wesian, J. (2007). Sprache und Geschlecht: Eine empirische Untersuchung zur „geschlechtergerechten Sprache“. Forschungsarbeit Universität Münster


Quelle: Anonym, Essay zum Thema: Gendergerechte Sprache, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 08.06.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/06/08/essay-zum-thema-gendergerechte-sprache/

Frauenhass und Antifeminismus

Misogynie als erwartete Normalität

Nadine Schicke (WiSe 2021-2022)

Frauenfeindlichen Aussagen zu begegnen oder sexistischen Situationen ausgeliefert zu sein, ist für die meisten Frauen ein alltägliches Unterfangen. So alltäglich sogar, dass es oft nicht mal mehr auffällt, wenn beispielsweise eine unangemessene Bemerkung in einem professionellen Setting fallen gelassen wird. Aus eigener Erfahrung erinnere ich mich an mehrere Momente, die ich in der Situation als einen lustig gemeinten Witz aufgefasst habe. Doch erst Stunden später fiel mir auf, dass solch ein Kommentar niemals gegenüber einen meiner männlichen Mitmenschen geäußert worden wäre und die Aussage allein aufgrund meines biologischen Geschlechts gemacht worden ist. Da ich glaube, dass sich viele Frauen mit dieser Erfahrung identifizieren können, möchte ich mich in diesem Essay mit der Frage beschäftigen, ob Misogynie in unserer modernen Gesellschaft immer noch ein fester und akzeptierter Bestandteil des alltäglichen Lebens ist. An verschiedenen Beispielen aus unterschiedlichen Lebensbereichen möchte ich dabei aufzeigen, wie Frauenfeindlichkeit sich in allen Ecken unserer Gesellschaft versteckt, als Normalzustand aufgefasst wird und sogar gerechtfertigt wird. Diese Rechtfertigungen kommen besonders aus antifeministischen Lagern, die es im Zeitalter des Internets immer einfacher haben, neue Anhänger*innen für ihre fragwürdigen bis geradezu gefährliche Ideologien zu rekrutieren.

Die offensichtlichste Form des Frauenhasses und Sexismus findet man, wie bereits angesprochen, im Internet und auf sozialen Netzwerken. Die Kommentarspalte unter Videos oder Fotos, in denen weibliche Personen abgebildet sind, ist zumeist gefüllt mit hasserfüllten, gewaltverherrlichenden oder pornographischen Aussagen. Digitaler Alltagssexismus ist somit ein fester Bestandteil des Lebens von Frauen und Mädchen. Die Organisation „Plan International“ hat zu diesem Thema 14,000 weibliche Teilnehmerinnen aus aller Welt befragt und kam zu dem Ergebnis, dass 58 Prozent aller Frauen und Mädchen im Internet schon einmal belästigt worden sind. In Deutschland ist die Zahl sogar noch höher, denn hier erleben etwa 70 Prozent aller Frauen digitale Gewalt.[1] Diese Zahlen sprechen natürlich für sich, denn es zeigt auf, dass die Mehrheit an Frauen sowohl im internationalen als auch im lokalen Raum eigene Erfahrungen im Internet gemacht haben, die einen sexistischen Hintergrund zu haben scheinen. Hate speech ist natürlich trotzdem kein Phänomen, das nur Frauen betrifft. Allerdings ist anzumerken, dass grundlose und diskriminierende Hasskommentare öfter Personen treffen, die nicht dem weißen, cis-männlichen, gesunden und heterosexuellen Standard entsprechen.

Jedoch möchte ich mich viel mehr mit der Seite des Internets beschäftigen, die im Gegensatz zu vereinzelten Kommentaren in sozialen Netzwerken, gezielt und organisiert Antifeminismus und Frauenhass verbreitet. In Deutschland von größter Bedeutung sind dabei Vereine und Foren, wie Agens, MANNdat und wgvdl.com. Im Fokus dieser Gruppierungen steht in vielen Fällen die Ideologie einer biologistischen Geschlechterkonstruktion auf Grundlage von meist sehr konservativen und oftmals auch christlichen Vorstellungen.[2] Mitglieder solcher Vereine sehen zumeist das Konzept der traditionalen Werte und die männliche Vorherrschaftsstellung in historisch rein männlichen Räumen, wie in der Politik, Wirtschaft und auch innerhalb der Familie, durch die feministische Bewegung bedroht.[3] Um für die Aufrechterhaltung der alten Werte zu kämpfen, wird oftmals zu sehr abwegigen Argumenten gegriffen, die sich auf die Viktimisierung des männlichen Geschlechtes stützen.[4] Gemeint ist damit, dass die Anhänger*innen dieser antifeministischen Bewegungen der Auffassung sind, dass die feministischen Leitideen schon so tief in der Politik, Justiz und in den Medien verankert sind, dass nun die Männer in der benachteiligten Position sind.[5] Dabei fallen oft Begriffe, wie „FemiNazis“, „Femografie“ oder auch „Femi-Faschismus“, um den Feminismus als ein männerhassendes und totalitäres Weltbild zu beschreiben.[6] Nach dieser Theorie wird also davon ausgegangen, dass der feministische Gedanke der geschlechtlichen Gleichberechtigung und Gleichheit nicht nur schon erreicht worden ist, sondern auch über das eigentliche Ziel hinausgeschossen worden sei. Frauendiskriminierung wird geleugnet und heutzutage seien es die Männer, die unterdrückt werden würden.[7] Wie im vorherigen Abschnitt bereits angesprochen, musste sich die Mehrzahl der Frauen und Mädchen mit digitaler Gewalt, die sich allein auf ihr biologisches Geschlecht zurückführen ließ, schon oft befassen. Aufgrund dessen sind solche antifeministischen Aussagen als sehr problematisch einzustufen, da sie die gewalttätige und gefährliche Realität von Frauen leugnet und dadurch gleichzeitig versucht wird weiblichen Opfern die Stimme und/oder die Glaubwürdigkeit zu nehmen. Wirklich gefährlich wird es außerdem, wenn sich die Anhänger*innen solcher Ideologien auf diesen Foren so sehr radikalisieren, dass sich der digitale Frauenhass zu aktiver Gewalt umwandelt. Ein Beispiel für einen solchen Vorfall war die Preisgabe von Adresslisten und der Aufruf zum Vandalismus von anonymen Frauenhäusern. Bei den Täter*innen handelte es sich um Einzelpersonen, die sich auf den Foren, wie wgvdl.com organisiert haben.[8]

Das nächste öffentliche Setting, welchem ich mich widmen möchte, ist der Arbeitsplatz oder auch der generelle Arbeitsmarkt. Die schiere Brandbreite an Filmen, Büchern, Seminaren und Broschüren, die sich mit genau diesem Thema auseinandersetzten, sollte Hinweis genug sein, wie groß das Problem zu sein scheint. Doch wird hier nur eine bestimmte Seite der vielen verschiedenen frauenfeindlichen Realitäten von arbeitenden Frauen und Müttern beleuchtet, nämlich die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Dass das Problem über dieses bereits sehr ernste Thema hinausgeht, ist allerdings die traurige Wahrheit. Besonders debattiert wurden dabei in den letzten Jahren die Entlohnung und die Verteilung von Führungspositionen an Frauen im Vergleich zu Männern. Im Jahr 2021 verdienten Frauen im Durchschnitt 12 Prozent weniger als Männer.[9] Zwar hat sich die Gender Pay Gap somit in den letzten Jahren etwas verringert, allerdings ist hier immer noch ein bemerkenswert großer Unterschied zwischen der Bezahlung von Männern und Frauen vorzufinden. In Führungspositionen spezifisch ist der Gehaltsunterschied noch deutlicher zu erkennen, da Männer durchschnittlich mindestens 21 Prozent mehr verdienen als Frauen.[10] Aber auch der Einsatz dieser weiblichen Aufsichts- oder Führungspersonen fällt mit 27 Prozent sehr gering aus.[11] Diese Unterrepräsentation ist äußerst fraglich, wenn gleichzeitig knapp die Hälfte aller Beschäftigten mit akademischen Abschlüssen weiblich sind.[12]

Doch auch zu der ungleichen Behandlung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt haben antifeministische Männerrechtsbewegungen ihre Argumente, die eine ganz andere Sicht auf diese Problematiken offenlegen. Die unabhängige, überparteiliche Interessenvertretung für männliche Bürger „MANNdat“ argumentiert beispielsweise nicht nur gegen das Existieren der Gender Pay Gap, sondern kehrt dessen Bedeutung komplett um, da nach ihren Aussagen Männer auf den Arbeitsmarkt benachteiligt seien. Dabei werden die höheren Steuerabgaben der Männer angeprangert, da sie die arbeitenden Mehrverdiener seien. Gleichzeitig würden die Männer sehr viel mehr Ausgaben haben als ihre weiblichen Mitarbeiterinnen, weil sie zusätzlich dazu gezwungen sein würden den Unterhalt ihrer geschiedenen Frauen bezahlen zu müssen und das alltägliche Leben ihrer Ehefrauen mitzufinanzieren haben.[13] Die Gender Pay Gap käme dabei aus dem alleinigen Grund zustande, da sich die Frauen die bequemeren Entscheidungen hinsichtlich ihrer Karrierelaufbahn aussuchen würden und die Folge daraus wäre, dass ihre Berufsauswahl in einer geringeren Bezahlung resultieren würde.[14] Bei dieser Argumentation fällt wieder die offensichtliche und konstruierte Opferhaltung der Vertreter*innen dieser Initiative auf. Gleichzeitig widersprechen sich viele der Argumente mit den Leitideen solcher antifeministischen Gruppierungen. Einerseits werden arbeitende Frauen problematisiert, da sie nicht dem konservativen Familienbild einer häuslichen Ehefrau entsprechen. Anderseits kann man an den Erklärungen des MANNdat sehen, dass zur gleichen Zeit auch das traditionelle Bild des männlichen Alleinverdieners kritisiert wird. Zusätzlich wird das berufliche Scheitern von Männern vornehmlich als ein strukturelles Problem betrachtet, doch die weibliche Arbeitslosigkeit auf biologische oder individuelle Ursachen zurückgeführt.[15] Im Gegensatz zum Bild des Mannes hat sich die Frauenrolle in den letzten Jahrzehnten sehr viel schneller weiterentwickelt. Die ökonomischen Veränderungen und die geschlechtlichen Rollenverhältnisse sind dabei sehr eng miteinander verstrickt. Das Resultat dieser Verstrickung ist die männliche Furcht vor einem Verlust ihrer bislang von Männern dominierten gesellschaftlichen Ressourcen und Räume. Durch die Emanzipationsbewegungen der letzten Jahrzehnte fühlen sich besonders konservative Männer in eine völlig neue Situation gedrängt, in der sie dazu gezwungen sind, ihre bis jetzt nicht umkämpfte und ohne Nachdenken akzeptierte Machtposition in der Gesellschaft verteidigen zu müssen.[16]

Schlussendlich möchte ich noch einen Einblick auf den Sexismus innerhalb der deutschen Politik geben. Obwohl Frauen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, wird diese Zahl nicht in der Regierung repräsentiert. In den letzten Jahren befand sich die Anzahl der weiblichen Abgeordneten immer stetig bei circa einem Drittel. Die Personen an der Macht, die über die aktuellen Gesetze auch in Sachen Frauenpolitik, Frauenmedizin und Frauenrechte entscheiden, sind somit männlich. Diese Tatsache erschwert es den deutschen Frauen deutlich ihre Interessen und Bedürfnisse ordnungsgemäß zu vertreten und durchzusetzen. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass nicht nur Frauen unterrepräsentiert sind, sondern eine jede Person, die nicht in die Kategorie alter, weißer, gesunder, christlicher, heterosexueller und finanziell abgesicherter Cis-Mann fällt. Doch erst in das offensichtlich frauenfeindliche Lager bewegt sich die deutsche Politik, wenn wir uns bestimmte Aussagen und Vorstellungen von ausgewählten Parteien und Politiker*innen anschauen. Besonders negativ fällt dabei die AfD auf, die am offenkundigsten frauendiskriminierende Inhalte unter ihren Anhänger*innen verbreitet. Das Grundsatzprogramm der AfD zur Familienpolitik macht sehr deutlich, dass die Partei die traditionelle Familie als Leitidee für die deutsche Familienplanung sieht. Durch die explizite Verwendung von Begriffen, wie „Vollzeitmütter“, „Kinderfrauen“ und „Tagesmütter“, macht die AfD außerdem unterschwellig sehr deutlich, dass die Fürsorge und Pflege der Kinder somit immer noch dem weiblichen Geschlecht zufallen sollte. Der letzte Punkt zur Familienpolitik der Partei weist zudem darauf hin, dass Schwangerschaftsabbrüche unter allen Umständen zu vermeiden sind.[17] Doch auch ganz von dem Fakt abgesehen, dass Frauen und Minderheiten in der Politik deutlich unterrepräsentiert sind und die Ziele gewisser Parteien diskriminierende und veraltete Züge zu haben scheinen, muss man feststellen, dass der Bundestag ein generelles Sexismus-Problem hat. Ganze 61 Prozent der weiblichen Abgeordneten, die freiwillig an einer Umfrage teilnahmen, gaben an, dass die aktuellen Entwicklungen sowohl im Bundestag als auch innerhalb der Gesellschaft einen großen Rückschritt für die Gleichberechtigung der Frauen bedeuten könnten.[18] Innerhalb des Parlaments gäbe es nach Angaben der Befragten eine sehr frauenfeindliche Grundstimmung, die zwar weitestgehend von der AfD auszugehen scheint, allerdings auch überparteilich ein großes Problem ist. Das frauenverachtende Verhalten äußere sich in Form von Herrenwitzen, sexistischen oder herablassenden Kommentaren zur Kleidung der weiblichen Abgeordneten oder auch im offenkundig respektlosen Verhalten während eine Frau das Wort am Podium ergreift.[19] Überraschend erscheint die frauenfeindlich aufgeladene Atmosphäre im Bundestag nicht, wenn man bedenkt, dass die deutliche Mehrheit der Abgeordneten ältere Männer sind, die aus einer Zeit stammen, wo Frauen noch die traditionelle Rolle der liebenden und folgsamen Hausfrau und Mutter übernehmen mussten und unsichtbar in den Augen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit waren. Aus diesem Grund muss sich die jetzige politische Repräsentation des deutschen Volkes deutlich verändern. Nicht nur muss sie jünger werden, sondern auch weiblicher, inklusiver und diverser. Zum jetzigen Zeitpunkt wird nur eine Interessengruppe der deutschen Bevölkerung vertreten und diese fällt Entscheidungen für Menschen, mit denen sie sich nicht identifizieren kann.

Trotz der so klar ersichtlichen Diskriminierung gegenüber dem weiblichen Geschlecht in der Politik, gibt es auch hier Versuche die Beweislage herumzudrehen. Antifeminist*innen versuchen auch zu diesem Thema die männliche Benachteiligung innerhalb der deutschen Politik hervorzuheben oder gar zu konstruieren. Ihre Argumente stehen dabei im kompletten Widerspruch zur eigentlichen Realität. Obwohl circa nur ein Drittel aller Bundestagsabgeordneten Frauen sind, wird davon ausgegangen, dass Frauenbewegungen die Politik und die Medien schon lange infiltriert und für sich beansprucht haben.[20] Durch sich immer mehr verbreitende Konzepte, wie dem „Gendern“ und der „political correctness“ fühlen sich Männerrechtsbewegungen in ihren Verschwörungstheorien bestätigt. Anhänger*innen antifeministischer Gruppierungen befürchten, dass durch diese gesellschaftlichen Entwicklungen der Stellenwert der traditionellen Familie und das heteronormative Weltbild in Gefahr geraten. Auch der Einsatz des Gender Mainstreamings wird als negativ gewertet, obwohl politische Akteure mit diesem Konzept eine gleichberechtigte und faire Geschlechterpolitik für Frauen, aber auch Männer ermöglichen wollen.[21]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Frauenhass eine alltägliche Erfahrung für fast alle Frauen zu sein scheint. Misogynie und Antifeminismus erstreckt sich allerdings noch deutlich über die von mir vorgestellten Settings hinaus. Genauso wie jegliche anderen Formen von Diskriminierung ist der Frauenhass tief in den Strukturen unserer Gesellschaft verwurzelt und lässt bis zum Anfang unserer Menschheitsgeschichte hin zurückverfolgen. Nicht nur in der Politik oder im Internet begegnen Frauen (sexueller) Gewalt, Formen von Benachteiligungen oder unterschwelligen Sexismus. Frauendiskriminierung findet im Sport statt, innerhalb der Familie und ist durch gesellschaftliche Rollenzwänge ein durch und durch strukturelles Problem. Ich musste feststellen, dass auch die Medien sehr zur Instandhaltung und Verbreitung der stereotypischen Rollenbilder beitragen und der ausschlaggebende Grund für die übermäßige Sexualisierung des weiblichen Körpers sind, da nach dem Marketing-Prinzip „sex sells“ gehandelt wird. Dass die ständige Darstellung von Frauen als Sexobjekte die unrealistische Erwartungshaltung von Männern zu steigern scheint, ist dabei die gefährliche Realität. Zusätzlich kann ich aus eigener Erfahrung berichten, dass die Abbildung der „perfekten Weiblichkeit“ in den Medien zu einer Störung des eigenen Selbstbildes bei Frauen führen kann. Die Schönheitsideale und -erwartungen für Frauen sind für eine Normalperson fast nicht zu erreichen und können somit sehr starke Komplexe und Selbstzweifel auslösen. Trotz der offensichtlichen Tatsache, dass die volle Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen noch lange nicht erreicht ist, gibt es sehr viele Stimmen, die sich vehement gegen diesen Fakt stellen. Mit Verschwörungstheorien und fragwürdigen Argumenten wird sich gegen die Gleichbehandlung von Frauen ausgesprochen oder die Benachteiligung ganz und gar geleugnet. Aus diesem Grund muss ich meine Frage, ob Misogynie in unserer modernen Gesellschaft immer noch ein fester und akzeptierter Bestandteil ist, leider sehr deutlich bejahen. Nicht nur findet Sexismus und Frauenfeindlichkeit in versteckten Räumen statt, sondern wird immer noch in aller Öffentlichkeit zur Schau getragen und mit abstrusen Argumenten gerechtfertigt. Dabei werden die Opfer dieser Übergriffe äußerst selten ernst genommen und müssen mit den möglichen negativen Auswirkungen und Folgen auf ihre Psyche und ihren Körper selbst zurechtkommen.


[1] Vgl. HateAid.org 2020

[2] Vgl. Rosenbrock 2012, S. 11

[3] Vgl. Claus 2014, S. 28

[4] Vgl. Rosenbrock 2012, S. 13

[5] Vgl. Ebd. S. 14

[6] Vgl. Claus 2014, S. 55

[7] Vgl. Ebd. S. 52

[8] Vgl. Rosenbrock 2012, S. 15

[9] Vgl. Bundesagentur für Arbeit 2021, S. 14

[10] Vgl. Ebd. S. 14

[11] Vgl. Ebd. S. 15

[12] Vgl. Ebd. S. 15

[13] Vgl. Claus 2014, S. 39

[14] Vgl. Ebd. S. 40

[15] Vgl. Ebd. S. 41

[16] Vgl. Ebd. S. 14

[17] Vgl. Alternative für Deutschland 2016

[18] Vgl. Der Tagesspiegel 2021

[19] Vgl. Ebd.

[20] Vgl. Rosenbrock 2012, S. 14

[21] Vgl. Ebd. S. 15


Literaturverzeichnis

Alternative für Deutschland (Hrsg.) (2016): Grundsatzprogramm für Deutschland. URL: https://www.afd.de/grundsatzprogramm/, Abruf: 09.03.2022.

Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.) (2021): Die Arbeitsmarktsituation von Frauen und Männern 2020. URL: https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Statistiken/Themen-im-Fokus/Frauen-und-Maenner/generische-Publikationen/Frauen-Maenner-Arbeitsmarkt.pdf?__blob=publicationFile, Abruf: 09.03.2022.

Claus, Robert (2014): Maskulismus. Antifeminismus zwischen vermeintlicher Salonfähigkeit und unverhohlenem Frauenhass. Bonn: Brandt GmbH.

Der Tagesspiegel (Hrsg.) (2021): Hass, Sexismus, Drohungen – Alltag für Frauen im Bundestag. URL: https://www.tagesspiegel.de/politik/abgeordnete-machen-afd-verantwortlich-hass-sexismus-drohungen-alltag-fuer-frauen-im-bundestag/26910516.html, Abruf: 09.03.2022.

HateAid.org (Hrsg.) (2020): Sexistische digitale Gewalt: #NoSpaceForHate. URL: https://hateaid.org/sexistische-digitale-gewalt/, Abruf: 06.03.2022.

Rosenbrock, Hinrich (2012): Die antifeministische Männerrechtsbewegung. Denkweisen, Netzwerke und Online-Mobilisierung. 2. Auflage. Berlin: agit-druck.


Quelle: Nadine Schicke, Frauenhass und Antifeminismus – Misogynie als erwartete Normalität, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 30.05.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=210

Das Konstrukt der weiblichen Jungfräulichkeit

Mina Basergan (WiSe 2021/20)

Dieser Text wird sich mich mit dem sozialen Konstrukt Jungfräulichkeit befassen. Das Thema beschäftigt mich, da ich erst vor wenigen Wochen zum ersten Mal darüber nachgedacht habe, dass ein Jungfernhäutchen keine verschließende Haut in dem Sinne ist. Dies habe ich über einen Podcast gelernt; nicht im Sexualunterricht in der Schule, nicht bei Aufklärungsgesprächen mit meinen Eltern und auch nicht bei Frauenarztbesuchen. Das ist erstaunlich, denn obwohl zwischen meiner ersten Periode und meinem ersten Geschlechtsverkehr einige Jahre lagen, habe ich mich nie gefragt, wie das Blut rausfließen kann, wenn ich scheinbar ein Häutchen in meiner Vulva habe, was „einreißen“ wird, wenn ich meinen ersten Penetrationssex habe. Irgendwann hätte ich durch den Blutstau doch explodieren müssen.

Um diese geläufigen Missverständnisse zu klären, wird es zunächst um biologische Grundlagen Rund um das Konzept der weiblichen „Jungfräulichkeit“ gehen. Anschließend setze ich mich mit unterschiedlichen Definitionen für Jungfräulichkeit auseinander. Dann wird es um die gesellschaftliche Funktion des Konzept Jungfräulichkeit gehen und im Anschluss um die Kontrollformen von Jungfräulichkeit.

Biologische Grundlage

Jungfräulichkeit ist ein kulturelles und soziales Konzept, ohne medizinische oder biologische Grundlage (Gralki, 2020: 1). Ich werde im folgenden Hymen, anstelle von „Jungfernhäutchen“ sagen, da wie bereits angesprochen das Wort Haut irreführend ist. Das Wort Hymen leitet sich vom griechischen Hochzeitsgott Hymenaios ab, auf die enge Verknüpfung zwischen Jungfräulichkeit und Ehe wird später im Text eingegangen. Das Hymen ist ein Gewebekranz aus Schleimhaut, der sich direkt am Eingang der Vagina befindet. Er hat keinen medizinischen Zweck und schützt nicht vor Infektionen (Brown, 2019: 2). Es gibt unterschiedliche Hymenalformen. Was die Allermeisten jedoch vereint, ist dass sie geöffnet sind. Wenn dies nicht der Fall ist, liegt eine Hymenaltresie vor. Bei diesen Ausnahmefällen ist eine Operation erforderlich, bei der das Hymen geöffnet werden muss, damit Ausfluss (und damit der natürliche Reinigungsmechanismus der Vulva) und Blutung nicht behindert werden (Brown, 2019: 2). Der Hymen ist so dehnbar, dass sogar ein Babykopf hindurch passt. Die Hymen von Jungfrauen und Müttern sehen identisch aus und sind medizinisch nicht zu unterscheiden (Brown, 2019: 2). Und obwohl ein Penis weit schmaler ist als ein Säuglingskopf, bluten ca. 60% der Frauen beim ersten Penetrationssex (Brown, 2019: 2). In vielen Kulturen gilt es gar als schambehaftet, nicht zu bluten (Elliot, 2020: 5). Wie passt das zusammen? Das Bluten beim ersten Penetrationssex kommt durch eine Verletzung, also ein Riss der inneren Schleimhäute der Frau, welche am Hymen oder einer anderen Stelle sein kann (Gralki, 2020: 2). Diese Verletzungen heilen jedoch vergleichbar mit Verletzungen an Schleimhäuten im Mundinnenraum innerhalt weniger Tage ab, und sind so nach kurzer Zeit medizinisch nicht mehr nachvollziehbar. Jungfräulichkeitstests oder Hymenrekonstruktionen haben dementsprechend keine medizinische Grundlage (Brown, 2019: 2 f.). Verletzungen der vaginalen Schleimhäute sind viel wahrscheinlicher, wenn die Frau angespannt ist und die vaginale Lubrikation (die durch eine sexuelle Erregung bei Frauen ausgelöst wird) ausbleibt. In der Folge heißt das, dass die Erwartung, dass Frauen bei ihrem ersten Penetrationssex bluten, daherkommt, dass es gesellschaftliche Norm ist, dass sie sich unwohl und angespannt fühlen. Sexuelle Praktiken bei der eine Seite sich unwohl fühlt und in der Folge Schmerzen und Verletzungen erleidet, sind in meinen Augen sexuell übergriffig. Zugespitzt kann man sagen, dass die Erwartung des blutbefleckten Lakens die gesellschaftliche Normalisierung von sexueller Übergriffigkeit gegen Frauen ist. Dabei muss jedoch eingeschränkt werden, dass es gewiss auch Frauen gibt, die trotz Einvernehmlichkeit Anspannung fühlen und sich verletzen.

Eine weitere Schwäche bei der Verknüpfung von Hymen und Jungfräulichkeit ist ihre Heteronormativität, durch den Fokus auf Penetrationssex. Andere sexuelle Präferenzen und Auslebungsformen werden ausgeblendet. Beispielsweise haben homosexuelle Menschen Sex, der aber nicht die Penetration einer Vulva durch einen Penis beinhaltet. Weiter haben viele Menschen mit einer Vulva nicht oder nicht immer einen Orgasmus durch vaginale Stimulationen. Viele reagieren stärker auf klitorale Stimulation. Ein reiner Fokus auf Penetrationssex blendet ihre Bedürfnisse aus und richtet sich zuallererst auf Männer (Elliot, 2020: 2f.). Interessanterweise machen sich einige Frauen in konservativen Lebensrealitäten diese „Lücke“ in der Definition von Jungfräulichkeit zu nutzen. So kenne ich einige Frauen, die aus religiösen Gründen keinen vaginalen Geschlechtsverkehr vor der Ehe haben möchten, alternativ haben sie Anal- und Oralverkehr mit ihren Partner*innen. Dies wird in der Forschung um Jungfräulichkeit in muslimischen Communities als „technische Jungfräulichkeit“ bezeichnet (Mahadeen, 2018: 161).

Definitionen von Jungfräulichkeit

Das Konzept der Jungfräulichkeit kam zum ersten Mal vor 5000-10000 Jahren mit der neolithischen Revolution auf (Guilbeau & Aguilera, 2021: 1). Die ersten Menschen gaben ihr Nomadenleben auf und ließen sich nieder, um Landwirtschaft zu betreiben. Sie bauten feste Häuser und häuften Eigentum an. Mit dem Eigentum kam die Frage nach der Erbschaft und Elternschaft und das Konzept der weiblichen Jungfräulichkeit gewann an Bedeutung, denn Männer hatten ein Interesse daran sicherzustellen, dass ihre Partnerinnen ihre Familienlinie fortführten (Wagner, 2019: 1f.). Demnach diente Jungfräulichkeit dazu, weibliche Körper zu kontrollieren und Erbschaftsfragen abzusichern (Elliot, 2020: 3).

Allerdings gab es nie eine universell einheitliche Definition von Jungfräulichkeit. Beispielsweise war es im antiken Ägypten akzeptiert, vorehelichen Geschlechtsverkehr zu haben. Mit der Abschließung der Ehe wurde allerdings von den Ehepartner*innen erwartet, monogam zu leben. Eine aus unserer heutigen Perspektive außergewöhnliche Definition von Jungfräulichkeit gab es bei den skythischen Amazon*innen, einem nomadischen Reitervolk im heutigen Zentralasien: Für sie galten Frauen erst als Jungfrau, und somit als „rein“ und heiratsfähig, wenn sie auf dem Schlachtfeld einen Mann töteten. Jungfräulichkeit hatte für sie eine enge Verknüpfung mit dem „Wert“ und der „Reinheit“ einer Frau und nicht mit einem „intakten“ Hymen (Wagner, 2019: 2). Mit dem Aufstreben der abrahamitischen Religionen und ihrem Verständnis von Jungfräulichkeit wuchs die Sorge, bei ärztlichen Untersuchungen mit einem Spekulum das Hymen zu verletzten und somit die Jungfräulichkeit zu nehmen. So galt für Mediziner*innen im europäischen Mittelalter bei „Jungfräulichkeitstests“, die Vulva der Frau nicht zu berühren. Andere konstruierte Indikatoren wurden zur Bestimmung herangezogen. Wagner zitiert aus „De Secretis Mulierum“ einer Schrift aus dem 12. Jahrhundert: „…Shame, modesty, fear, a faultless gait and speech, casting eyes down before men […] The urine of virgins is clear and lucid, sometimes white and sparkling […]“ (2019: 4). Die Angst von Mediziner*innen vor der Vulva zog sich bis in das 19. Jahrhundert. Hier bestand die Sorge, dass eine Berührung durch das Spekulum einen unkontrollierbaren sexuellen Trieb bei Frauen auslöse, der Hysterie und Nymphomanie mit sich brächte (Wagner, 2019: 5). In einigen Kulturen gelten Frauen nur als Jungfrauen, wenn sie weiblicher Genitalverstümmelung unterzogen wurden. 2020 waren nach Zahlen der Vereinten Nationen über 200 Millionen Frauen und Mädchen weltweit davon betroffen. Die Dunkelziffer liegt jedoch viel höher, da es in vielen Regionen und Ländern keine offiziellen Zahlen gibt (Equality Now, 2020:2).  Die höchsten Zahlen gab es in Äthiopien und im Sudan. Hier gelten Frauen nur als Jungfrau und somit als ehrbar und heiratsfähig, wenn eine Infibulation durchgeführt wurde. Unbeschnittene Frauen gelten als sexuell unkontrolliert und vor sexuellen Übergriffen von Männern ungeschützt (Johansen, 2018:  78f.). Die Infibulation ist eine Form der weiblichen Genitalverstümmelung bei der die Klitoris, die inneren Schamlippen, sowie die Innenseite der äußeren Schamlippen entfernt werden. Die verbleibende Haut der äußeren Schamlippen wird zugenäht, sodass nur noch eine enge Öffnung bleibt zum Ausfluss von Urin und Menstruationsblut. Infibulation ist mit hohen gesundheitlichen Risiken und Schmerzen für die betroffenen Frauen verbunden. Viele erleiden immer wieder Infektionen, die Wundheilung ist langsam oder bleibt aus. Einige Frauen sterben an dem Eingriff oder den Folgen. Beim Geschlechtsverkehr nach der Eheschließung „öffnet“ der Mann die Vagina der Frau im wortwörtlichen Sinne, in dem er seinen Penis in die Narbe rammt. Auch dieses erneute Aufreißen der Wunde geht mit hohen gesundheitlichen Risiken einher. Eine enge vaginale Öffnung gilt als grundlegend für die sexuelle Befriedigung von Männern (Johansen, 2018: 79). Auch in Gesellschaften und Kulturen in denen keine Infibulation praktiziert wird, gilt die „enge“ einer Vagina als Grundlage für männliche Befriedigung. So habe auch ich schon von Menschen in meinem direkten Umfeld oder in Filmen und in Musik, die ich konsumiere, gehört das Frauen, die mit vielen Männern Sex hatten, „ausgeleiert“ sind und Jungfrauen für die männliche Befriedigung zu bevorzugen seien. Dies ist aus drei Gründen unlogisch: Erstens ist die gespürte enge oder weite einer Vagina abhängig von der Kontraktion der Muskeln im unteren Beckenboden einer Frau, dies ist trainierbar und nicht angeboren. Zweitens hat Jungfräulichkeit hiermit nicht zu tun, denn selbst wenn man sich bei Jungfräulichkeit unlogischerweise auf das Hymen berufen möchte, ist dieses wie bereits erwähnt stark dehnbar und sieht unabhängig von der sexuellen Aktivität von Frauen gleichbleibend aus. Und drittens, wenn es eine Abnutzung und Ausleierung tatsächlich gäbe, müssten Frauen, die immer wieder mit demselben Partner Penetrationssex haben doch auch irgendwann eine gedehnte Vagina haben, davon spricht aber nie jemand.

Gesellschaftliche Funktionen von Jungfräulichkeit

Wie bereits erwähnt nahm die Wichtigkeit des Konzepts der Jungfräulichkeit mit der neolithischen Revolution zu. Im Zuge der Sesshaftigkeit verändert sich die Strukturierung des gesellschaftlichen Miteinanders der Menschen. Staatlichkeit wird zur Gesellschaftsstruktur. Das Patriarchat erlebt einen Aufschwung. Im Kleinen spiegelt sich dies in patriarchalen Familienstrukturen wider, hier geraten Frauen zum ersten Mal klar unter die direkte systemische Kontrolle von Männern und ihren Familien (Ortner, 1987: 25). Denn Clans und Familien spielen eine strukturierende Rolle in Staaten. Dem Mann wird dabei eine Verantwortung für seine Familie und ihr Wohlergehen zugeschrieben. Damit geht auch eine Verantwortung für die Handlungen seiner Familienangehörigen einher. In der Folge wird die „Männlichkeit“, Stärke und Macht eines Mannes daran gemessen, inwieweit er in der Lage ist, die Handlungen seiner Familienangehörigen zu kontrollieren und in der Folge die Sexualität seiner Frau und Töchter (Ortner, 1987: 26 & 29)

Die Kontrolle der weiblichen Sexualität durch Männer hat noch weitere Gründe. Frauen werden als Ressource wahrgenommen, ihre Reproduktionsfähigkeit spielt eine bedeutende Rolle im Wettkampf mit rivalisierenden Gruppen oder Clans (Ortner, 1987: 21). Außerdem werden strategische Eheschließungen als politisches Mittel zur Bildung von Allianzen genutzt. In der Konsequenz ist die Wahrung der Jungfräulichkeit der Frauen der eigenen Gruppe eine Form von Realpolitik (Ortner, 1987: 21). Das Patriarchat ist dabei ein soziales Austauschsystem, bei dem Frauen die Ware sind. Erst gehören sie der Familie ihres Vaters an, bei einer Hochzeit wird die Frau dem Ehemann und seiner Familie übergeben, was sich in vielen gängigen Hochzeitstraditionen spiegelt (Ortner, 1987: 24). Die Wahrung der Jungfräulichkeit ist eine Absicherung für beide Seiten bei der Eheschließung, die Familie der Frau kann ein höheres Brautgeld erwarten und die des Mannes, dass sie die Familienlinie weiterführen wird (Mahadeen, 2018: 161).  Mit der Eheschließung geht in vielen Kulturen ein Einzug der Frau in der Familie des Ehemannes einher, wo die Frau ihre Arbeitskraft nun einbringen muss.  Doch auch in vermeintlich geschlechtergerechten Gesellschaften offenbart sich der Gedanke der Frau als Besitz durch die Abgabe des Namens des Vaters und die Übernahme des Nachnamens des Ehemannes. Die Verknüpfung von „Reinheit“ und „Jungfräulichkeit“ mit dem Wert einer Frau auf dem Hochzeitsmarkt führt dazu, dass grade Familien in Armut eher dazu verleitet sind, ihre Töchter sehr jung und somit mit größerer Sicherheit jungfräulich zu verheiraten. Die ökonomischen Vorteile sind das Brautgeld und die wegfallende finanzielle Verantwortung für die Tochter. Diese Anreize führen zur Schließung von Zwangsehen und Kinderehen, welche von den Vereinten Nationen als Formen moderner Sklaverei bezeichnet werden (Gralki, 2020: 3).

Mit dem Aufkommen von Staatlichkeit und einer erhöhten Produktionsfähigkeit von Menschen wurden Frauen zunehmend aus Produktionssphären verdrängt und in häusliche Sphären mit Reproduktionsaufgaben verschoben (Ortner, 1987: 27). Damit wurden sie ökonomisch vollständig abhängig von Männern. Jungfräulichkeit blieb eines der letzten Dinge, über welches Frauen selbst verfügen konnten. Bei der Eheschließung bedeutet dies konkret ein kleines bisschen Verhandlungsmacht für die Frau. Ihre Jungfräulichkeit ist eine „Ware“, welche der Mann nur über sie erhalten kann. Dies erklärt auch teilweise, wieso sexuelle Unterdrückung häufig durch andere Frauen exerziert wird. Ausschluss einer sexuell aktiven Frau aus ihrer Gruppe, ist dann eine Ausdrucksform des Ärgers, dass das geteilte Gut der Jungfräulichkeit „umsonst“ von Männern erlangt werden konnte. Die Verhandlungsmacht aller Frauen sinkt dann potenziell (Berger und Wenger, 1973: 666f.). Eine Umkehrung dieses Trends macht sich in liberalen Gesellschaften bemerkbar in der eine Korrelation zwischen einer vergleichsweise höheren sexuellen Freiheit von Frauen und ihrer zunehmenden finanziellen (und allgemeinen) Unabhängigkeit besteht (Berger und Wenger, 1973: 667).

Nachdem die gesellschaftlichen Funktionen der weiblichen Jungfräulichkeit umrissen wurden, wird nun darauf eingegangen, wie die sexuelle Inaktivität von Frauen sichergestellt wurde und wird. Eine Strategie ist es, Frauen auf häusliche Sphäre zu beschränken. Dies muss man sich jedoch leisten können. Ärmere Familien sind häufig gezwungen, dass auch ihre Frauen sich außerhalb des Hauses bewegen und arbeiten. Um den weiblichen Körper hier zu kontrollieren, gibt es komplexe und je nach Gesellschaft variierende Verhaltenskodexe. Sie können von der Kleiderwahl (bedeckende Kleidung, Kopftücher, Zölibatringe und Keuschheitsgürtel), bis hin zur Einschränkung von Bewegungsraum und -zeitpunkt (nächtliche Ausgangssperren, getrennte öffentliche Räume für Frauen und Männer), Regeln für den Habitus einer Frau (wie sie sich zu bewegen hat, was sie sagen darf), aber auch scheinbar banale Dinge, wie die Kontrolle von Hobbies (dem Verbot von Pferdereiten, Turnen oder Fahrradfahren) oder der Nutzung von Menstruationsprodukten, wie Tampons, um ein intaktes Hymen sicherzustellen (Mahadeen, 2018: 169).[1] Die Einhaltung der Verhaltensregeln werden sowohl von der Familie, von der Gemeinschaft (Ortner, 1987: 20) und in einigen Fällen auch von staatlichen Institutionen (beispielsweise der sogenannten Sittenpolizei) kontrolliert. Sie erfolgt durch Männer und durch Frauen (Ortner, 1987: 21). Sanktionen reichen von Lästern, Zurechtweisung, Ausschluss aus der Gemeinde bis hin zum „Ehren“mord.

Fazit

Jungfräulichkeit ist kein biologischer Zustand. Sie ist ein gesellschaftliches Konzept mit ökonomischen, politischen, kulturellen und religiösen Implikationen. Diese Zusammenhänge gilt es aufzudecken, um die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen zu erreichen. Penetrationssex ist nur eine von vielen Formen, sexuell aktiv zu sein. Sexuelle Inaktivität oder Aktivität sollte nicht nur für ein Geschlecht ein Wort haben (Jung’frau‘), sondern für alle. Sexualität sollte keine fremdbestimmte Ware sein. Und vielleicht sagen wir ja irgendwann nicht mehr, dass jemandem die Jungfräulichkeit „genommen“ wurde oder sie gar „verloren“ wurde, sondern dass eine Person, egal welchen Geschlechts, in die Lebensphase der sexuellen Aktivität übergangen ist, eigenmächtig.


[1] Meine Nachhilfeschülerin hat mir vor kurzem aus dem nichts erzählt, dass ihre Mutter ihr die Nutzung von Tampons verboten hatte. Sie war zu dem Zeitpunkt 14 Jahre alt und hatte aktuell Sexualkunde im Biologieunterricht. In der Schule hatten sie über die Nutzung von Tampons geredet. Sie war verwirrt gewesen hatte sich in dem Kontext jedoch nicht getraut nachzufragen. Ich sprach mit ihr darüber, dass ein Tampon nichts an ihrer Jungfräulichkeit ändern würde.  Sie glaubte mir, hat aber trotzdem erstmal vor weiter Binden zu nutzen.


Literaturverzeichnis

Berger, D.G., & Wenger, M.G. (1973). The Ideology of Virginity. In: Journal of Marriage and Family, 35, 666.

Brown, V. (2019). Der Mythos der Jungfräulichkeit. In: https://hpd.de/artikel/mythos-jungfraeulichkeit-17436

D’Avignon, A. (2016). Why Have We Always Been So Obsessed With Virginity? In: https://medium.com/the-establishment/a-quick-and-dirty-history-of-virginity-9ceb24b7e08a

Elliot, K. (2020). Why ‘virginity’ is a damaging social construct. In: https://schoolofsexed.org/blog-articles/2020/04/2/virginity#:~:text=Social%20constructs%20are%20shaped%20by,penis%2Din%2Dvagina%20sex.

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Gralki, P. (2020). Mythos Jungfräulichkeit: Warum das Jungfernhäutchen reine Erfindung ist. In: https://www.globalcitizen.org/de/content/mythos-jungfraeulichkeit-diskriminierung-frauen/

Guilbeau, C. & Aguilera, E. (2021). The Concept of Virginity. In: https://www.depts.ttu.edu/rise/RISE_Peer_Educator_Blog/TheConceptOfVirginity.php

Johansen, R. E. B. (2018). Resistance to Reconstruction: The Cultural Weight of Virginity, Virility and Male Sexual Pleasure. In: Body, migration, re/constructive surgeries: Making the gendered body in a globalized world

Mahadeen, E. (2018). Hymen reconstruction surgery in Jordan – Sexual politics and the economy of virginity. In: Body, Migration and Re/Constructive Surgeries: Making the gendered body in a globalized world.

Ortner, S. B. (1978). The Virgin and the State. Feminist Studies4(3), 19–35. https://doi.org/10.2307/3177536

Wagner, B. (2019). The Shocking History of Virgin Tests and Cures. In: https://www.ancient-origins.net/history-ancient-traditions/virginity-00126


Quelle: Mina Basergan, Das Konstrukt der weiblichen Jungfräulichkeit: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 12.04.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/04/12/das-konstrukt-der-weiblichen-jungfraeulichkeit/

„Catcalling“ – kein Flirt, sondern sexuelle Belästigung!

Kristin Thimsen (SoSe 2021)

Einleitung

Es war zwanzig vor acht. Ich war mal wieder viel zu spät dran. Ich rannte die Treppen runter, zog meine Overkneestiefel über meine Beine, holte die Jeansjacke vom Hacken und war gerade dabei die Haustür zu öffnen, um mich auf mein Fahrrad Richtung Schule zu schwingen. Meine Mutter rief laut meinen Namen und kam aus dem Badezimmer auf mich zugeeilt. Sie musterte mich von oben bis unten. Ich stand verunsichert vor ihr. Dabei hatte ich mich an diesem Tag so wohlgefühlt, mit mir, meinem Körper und meinem neuen Leoprintrock. „Geh sofort nach oben und zieh dich um!“, sagte sie mit wütender Stimme. „Nein! Warum sollte ich?“, werfe ich ihr entgegen. Ihre Stimme verliert mehr an Wut und hört sich besorgter an: „Weil ich dich beschützen möchte! Ein vierzehnjähriges Mädchen in einem kurzen Leo-Rock und langen schwarzen Stiefel bis über das Knie… das provoziert. Keine Widerrede. Du ziehst dich um!“ Ich schaute sie mit Tränen in den Augen an, streifte meine Overknees langsam von meinen Beinen und lief die Treppen nach oben zu meinem Kleiderschrank. Ich fühlte eine so tiefe Ungerechtigkeit in mir. Eine Ungerechtigkeit, die bis heute in mir andauert.

Jedoch hatte sich dieses Gefühl der Ungerechtigkeit im Teenie-Alter oft gegen meine Mutter gerichtet. Heute richtet sie sich viel mehr an das von patriarchalen Strukturen durchzogene System, in dem ich lebe. Mit zweiundzwanzig verstehe ich sehr gut, wovor meine Mutter so besorgt war. Lange wusste ich es selbst nicht zu benennen, doch heute sprechen Wissenschaftler*innen von “Catcalling“.

Ein Forschungsprojekt des kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. zu Catcalling

Das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. (KTN) versteht unter Catcalling:

… [die] sexuell konnotierte Verhaltensweisen bzw. verschiedene Arten der sexuellen Belästigung ohne Körperkontakt […]. Darunter fallen unter anderem Pfeiff- oder Kussgeräusche, aufdringliche Blicke, vermeintliche Komplimente, anzügliche Bemerkungen oder Kommentare über das Äußere einer Person im öffentlichen Raum oder auch sexuelle Belästigung mittels digitaler Medien, z. B. durch die ungewollte Konfrontation mit Bildern oder Videos sexuellen Inhalts.

Lehmann & Goede, 2021

Das KTN hat seit Juli 2021 ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Dr. Lena Lehmann zum Thema Catcalling gestartet.  Der Forschungszeitraum endet erst zum Dezember 2021, doch erste Ergebnisse wurden bereits veröffentlicht. Es wurden 1000 überwiegend weibliche Teilnehmende befragt.

Die Studie zeigt, dass vor allem weiblich gelesene Menschen und insbesondere weiblich gelesene Personen, die sich der LGBTIAQ+[1] Community zugehörig fühlen, von Catcalling betroffen sind. Dabei widerfahren den Befragten nicht nur nonverbales Catcalling. Knapp 80 Prozent der weiblich Befragten haben bereits konkrete sexuelle Kommentare und köpernahes Catcalling erfahren. Bei den Befragten der LGBTIAQ+ Community liegen die Zahlen sogar über 80 Prozent. Vor allem abends und an öffentlichen Plätzen oder in Verkehrsmitteln kommt es zu diesen Übergriffen. Die meisten der Befragten waren entweder allein oder mit anderen weiblich gelesenen Menschen unterwegs. Nur zwei Prozent der Befragten geben an, Catcalling in Anwesenheit eines männlich gelesenen Begleiters erlebt zu haben. Gerade einmal fünf Prozent der Befragten waren bei der Polizei, von denen wiederum nur knapp 20 Prozent geholfen wurde. Über 40 Prozent hingegen fühlten sich von der Polizei nicht ernst genommen. Die drei häufigsten Begründungen, weshalb die Betroffenen nicht zur Polizei gegangen sind: Der Vorfall sei zu trivial gewesen, Catcalling sei ein alltägliches Phänomen, fehlende Beweise.

Catcalling ist nicht „normal“

Vor einem Jahr klappte ich meinen Laptop auf und stieß auf eine Reportage der Mediengruppe Funk auf YouTube mit dem Titel „Streit um sexistische Anmache. Catcalling“ (vgl. Represent, 2020). Ich hatte von „Catcalling“ zuvor noch nie was gehört. Ich war neugierig und betätigte den Play Button, eine Frau beginnt zu erzählen: „Die schlimmste Situation, die mir bisher passiert ist, war im Supermarkt. Auf einmal haben sich drei Männer um mich herum platziert. Dann hat der eine Mann eine Salatgurke in die Hand genommen und damit rumgewedelt. Und ausschweifend erklärt, was man damit alles machen kann und wie gut man mich damit penetrieren könnte.“ Ich drückte den Stopp-Button. Ich war angewidert! Doch leider konnte ich zu gut nachvollziehen, wovon die Frau in diesem Video spricht. So schlimm diese Geschichte war, so erstaunt war ich darüber, dass solche Taten endlich benannt werden können und dass es auch andere weiblich gelesene Menschen außer mir gibt, die das als eine klare Grenzüberschreitung wahrnehmen. So saß ich also da, an meinen Laptop, vor einem Jahr, mit einundzwanzig Jahren und realisierte zum ersten Mal wie sehr ich „Catcalling“ bisher als etwas alltägliches im Leben einer weiblich gelesenen Person abgetan hatte. Ich wurde wütend, dann traurig, dann kochte in mir die Wut wieder auf und ganz plötzlich kam in mir ein Gefühl der Erleichterung hoch. Eine Erleichterung darüber, dass mir das Recht zusteht, solche tagtäglichen Belästigungen nicht mehr als etwas „Normales“ hinzunehmen. Es ist nicht normal, wenn ein Mann mir hinterherruft „Na Blondie, Lust durchgefickt zu werden?“. Es ist nicht normal, wenn eine Gruppe von Männern aufhört zu reden, sobald ich an Ihnen vorbeilaufe, sie mich alle mit ekligen Blicken durchdringen und anfangen herabwürdigend wie ein Hund nach mir zu pfeifen. Es ist nicht normal, dass dieses Catcalling stoppt, sobald eine männlich gelesene Person mit mir unterwegs ist. Es ist nicht normal, sondern ein Ausspielen von Macht. Eine Macht, die bei vielen Betroffenen gravierende Folgen hinterlässt.

Folgen für Betroffene von Catcalling

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass „Catcalling“ sowohl psychische, physische als auch ökonomische Folgen für die Betroffenen mit sich zieht. Catcalling zu erleben, bedeutet für die Betroffene Stress – Stress der sich körperlich unter anderem durch eine irreguläre Atmung, Zittern, Muskelanspannungen, Übelkeit, Schwindel und einer erhöhten Herzfrequenz bemerkbar machen kann (vgl. Mores, 2020).

Auch auf einer psychischen Ebenen leiden die Betroffenen oft sehr stark. Catcalling löst nicht nur körperlichen Stress aus, sondern auch mentale Angst – Angst vor schlimmeren sexuellen Übergriffen, wie beispielweise einer Vergewaltigung. Diese Angst ist nicht unbegründet, denn weiblich gelesen Menschen werden schon im frühen Kindesalter durch die Medien, die Werbung und die Gesellschaft sozialisiert, Angst vor sexuellen Übergriffen zu haben (vgl.  Hanna, 2019). Eine Angst, die sich in der Selbstbestimmung und Freiheit der Betroffene gravierend niederschlägt. Nicht selten vermeiden Betroffene bestimmte Routen, verlassen nachts bewusst nicht das Haus oder nutzen öffentliche Transportmittel nicht. Auch versuchen sich Betroffene oft durch unauffällige Kleidung, wie Sonnenbrille, Schal und bedeckte dunkle Klamotten vor Catcalling zu schützen (vgl. Mores, 2020).

Viele Wissenschaftler*innen verweisen bei den Folgen von Catcalling auf die Objektivierungstheorie von Fredrickson und Roberts von 1997.  Diese Theorie “[…] was designed to explain the effects of living in a culture, where women are consistently sexually objectified or reduced to bodies to be used/or evaluated by others rather been seen as full persons” (Fisher, Lindner & Ferguson, 2019, S. 1496).  Catcalling objektiviert die betroffene Person, sie wird nicht mehr als Individuum gelesen, sondern als ein sexuelles Objekt. Dies kann zur Folge haben, dass Betroffene unter Bodyshaming, Essstörungen und Depressionen leiden (vgl. Hanna, 2019). Depressionen können oftmals zu Schlafstörungen und Konzentrationsmangel führen (vgl. Del. Greco & Christensen, 2020).

Auch der ökonomische Schaden, der durch Catcalling entsteht, darf nicht verharmlost werden. Durch das Vermeiden von bestimmten Routen und öffentlichen Transportmitteln ist es manchen Betroffenen nicht möglich, zu ihrem Beruf pünktlich zu erscheinen. Zudem löst die Objektivierung, die Betroffene durch das Catcalling erfahren, in ihnen möglicherweise ein vermindertes Selbstwertgefühl am Arbeitsplatz aus. Depressionen, Schlafstörungen und Konzentrationsmangel führen nicht selten zu einem Verlust an Professionalität im Arbeitsalltag (vgl. Mores, 2020). Im schlimmsten Falle könnte die betroffene Person dadurch ihren Job verlieren.

Als eine Person, die bereits selbst sexuelle Gewalt erfahren hat, können für mich diese Angstzustände sehr intensiv sein, vor allem wenn ich allein als weiblich gelesene Person unterwegs bin. Umso weniger kann ich Männer verstehen, die Catcalling betreiben. Ich spreche hier bewusst von Männern! Denn aus meiner Erfahrung heraus kann ich sagen, dass es sich bei den Tätern von Catcalling immer um cis-Männer mit heteronormativen Denkmustern gehandelt hat. Dennoch sind es Männer, denen wohl bewusst sein dürfte, dass Frauen und Menschen aus der LGBTIAQ+ Community tagtäglich unter den patriarchalen Strukturen der Gesellschaft leiden. Für mich ist das ein reines Ausspielen von Macht und eine Aufrechterhaltung der Binarität von Geschlechtern: der Mann als das erhabene und unterdrückende Geschlecht und die Frau als das zu kontrollierende Gegengeschlecht. In dieser Recherche stellte sich mir also umso öfter die Frage: Warum verüben Menschen, insbesondere cis-Männer, Catcalling?

Motivationen der Täter hinter Catcalling

Es besteht Einigkeit darüber, dass sexuelle Belästigung Teil einer breiteren Kultur ist, die Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt gegenüber Frauen akzeptiert, wenn nicht sogar ermutigt (vgl. Glick & Fiske, 1996; Pryor, 1987; Thomae & Pina, 2015). Sexismus ist tief in traditionellen bzw. konservativen Vorstellungen von Geschlechterrollen verwurzelt (vgl. Spence & Helmreich, 1978; Swim & Cohen, 1997). Soziale Dominanz, in diesem Zusammenhang, ist stark mit Sexismus und traditionellen bzw. konservativen Geschlechterrollenüberzeugungen verbunden. Personen mit hoher sozialer Dominanzorientierung neigen dazu, sexistische Ideologien und Geschlechterrollenstereotypen zu unterstützen (vgl. Pratto et al., 1994; Pryor, 1987).

In meiner Recherche bin ich kaum auf Studien oder wissenschaftliche Texte gestoßen, die sich mit der Motivation hinter Catcalling auseinandersetzen, obwohl genau solche Studien wichtig wären, um gegen Catcalling vorzugehen. Einer der wenigen Texte war eine Studie, die von K. A. Walton und C. L. Pedersen im April 2021 unter dem Titel „Motivations behind catcalling: exploring men‘s engangement in street harassment behaviour“ veröffentlicht wurde.

In dieser Studie wurden insgesamt knapp 260 heterosexuelle cis-Männer befragt, von denen 33 Prozent angaben, im letzten Jahr Catcalling betrieben zu haben. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die Ergebnisse kein reales Bild der Täter von Catcalling darstellen, sondern die Ergebnisse durchaus von der sozialen Erwünschtheit der Antworten beeinflusst wurden.

Der meistgenannte Grund für Catcalling war mit 85 Prozent „to show that I like the women“. Über 73 Prozent sehen Catcalling auch als „ a normal way of flirting” oder “to complimente the women”.  Für knapp 50 Prozent der Befragten war die Motivation hinter Catcalling „to improve my mood or to cheer me up “, „because it turns me on” und “because the women was dressed provocatively”. Auch das Ausüben von Kontrolle ist nicht irrelevant, so bestätigten 12 Prozent der Teilnehmer „because it makes me feel in control“. Catcalling passiert in einem anonymen Setting, dies ist auch maßgeblich für den Catcaller. Knapp 40 Prozent bekräftigen dies mit der Antwort „because the women doesn‘t know who I am“. Der Einfluss von Gruppendynamiken der Catcaller darf hierbei auch nicht unterschätzt werden:  20 Prozent gaben an „because it makes me feel like one of the guys“. Catcalling als Ausdruck von Misogynie wurde von den Befragten kaum in Zusammenhang gebracht. Nur knapp 2,5 Prozent bestätigten die Aussage „to make fun of the women“.

Für mich ist es kein seltenes Phänomen, dass heteronormative cis -Männer scheinbar oft nicht den Unterscheid zwischen Flirten und grenzüberschreitenden Catcalling ausmachen können oder vielleicht auch einfach nicht wollen. Ich habe bisher eine große Ignoranz der Catcaller gespürt.

Wenn meine mentale Gesundheit und mein Körpergefühl es zugelassen haben den Catcaller zu konfrontieren, so war es immer ein sehr herabwertendes Gelächter, was mir als Antwort widerfuhr. „Stell dich doch nicht so an!“, wie oft ich diesen Satz zu hören bekam. Nicht selten kamen mir auch Beleidigungen entgegen. Ich habe nicht immer die Kraft in der Situation, in der ich Catcalling erlebe, den Täter zu konfrontieren. Früher habe ich mir dafür oft Vorwürfe gemacht, heute tue ich das aber nicht mehr. Es ist nicht meine Aufgabe und schon erst recht nicht meine Verantwortung, mich selbst für den bestehenden Sexismus und die patriarchalen Strukturen des Systems verantwortlich zu machen. Ich bin nicht diejenige, die sich anstellt, das weiß ich und mit mir viele Betroffene und leidtragenden Menschen von Catcalling. Vielmehr ist es die Politik in Deutschland, die sich anstellt. Eine Politik, die Catcalling bisher noch nicht als einen Strafbestand aufgenommen hat, im Gegensatz zu Frankreich, Belgien oder Portugal.

Petition-Catcalling strafbar machen

Die 22 -jährige Antonia Quell schreibt in ihrer Petition, welche dafür kämpft, Catcalling in Deutschland strafbar zu machen: „Catcalling ist vielmehr das Ausnutzen von Dominanz und Macht. Wieso macht man das überhaupt? Die Antwort ist simpel: weil man es kann.“ (vgl. Quell, 2020). Von 2020 bis August 2021 sammelte sie knapp 70.000 Unterschriften. Dies waren somit genug Befürworter*innen, um die Petition in den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zu bringen. Bisher befindet sich die Petition dort in Bearbeitung. Sollte der Ausschuss zum Entschluss kommen, dass die jetzige Gesetzgebung in Bezug auf Catcalling unzureichend ist, kann dieser eine Debatte im Parlament anstoßen (vgl. Weinmann, 2021).

Unzureichend ist die Gesetzgebung durchaus, denn verbale sexuelle Belästigung ist in Deutschland kein Strafbestand. Voraussetzung für eine sexuelle Belästigung ist strafrechtlich ein sexuell bestimmter Körperkontakt. Zwar können auch Beleidigungen strafrechtlich verfolgt werden, jedoch gilt das für verbale sexuelle Belästigung nur dann, wenn die Äußerung ausdrücklich herabsetzend war (vgl. Weinmann, 2021). Die Formulierung ‘ausdrückliche herabsetzende Äußerungen‘, ist in dem Kontext von Catcalling viel zu vage. Denn schon allein der Akt des Catcalling ist eindeutig herabsetzend. Wie zuvor schon beleuchtet, findet in diesem Moment eine Objektivierung der weiblich gelesenen Person statt. Umso wichtiger ist es, dass strafrechtlich klar festgelegt ist, was Catcalling ist und dass es unter eine Straftat fällt. In Frankreich wird seit 2018 Catcalling beispielsweise mit einem Bußgeld von bis zu 750 Euro belegt (vgl. Berghöfer, 2020). 

Konklusion

Natürlich wird das Strafbarmachen von Catcalling nicht das Catcalling an sich bekämpfen, das wird in Belgien deutlich. Dort steht Catcalling schon seit 2014 unter Strafe. Es ist seitdem jedoch nur zu 25 Strafanzeigen gekommen und einer einzigen Verurteilung (vgl. Schwarz, 2020). Dennoch würde es ein richtiges Zeichen setzten – ein Zeichen dafür, dass wir gesamtgesellschaftlich bereit sind, an einer toleranteren, aufgeklärteren, und feministischeren Gesellschaft zu arbeiten. Es setzt ein Zeichen für marginalisierte Gruppen, wie Frauen und Menschen aus der LGBTIAQ+ Community.

Doch es bedarf nicht nur ein geschriebenes Gesetz. Viel wichtiger ist es, maßgeblich zu einer Aufklärung über Catcalling beizutragen. Betroffene tuen dies bereits mit sogenannten „Ankreiden“ in Großstädten. Dabei sammeln Aktivist*innen Catcalls von Betroffenen und schreiben die sexuellen Beleidigungen auf die Straße – genau dort, wo sie den Betroffenen widerfahren sind. Sie wollen damit sichtbarmachen, wie präsent sexuelle Beleidigungen im Alltag von weiblich gelesenen Personen sind (vgl. Fink, 2021).

Allein bei dem ‚Ankreiden‘ darf es nicht bleiben. Eine Aufklärung über Catcalling muss strukturell stattfinden. Schulen sollten schon frühzeitig Kinder und Jugendliche über Catcalling unterrichten und den Schüler*innen aufzeigen, was es heißt als weiblich gelesene Person strukturell benachteiligt zu sein und Sexismus zu erfahren. Es ist vor allem unter jüngeren Menschen wichtig zu zeigen, dass wir in einem System leben, in dem Menschen immer noch aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Aussehens diskriminiert werden. Und ihnen verständlich machen, dass dies nicht hinzunehmen ist und es gilt, diese patriarchalen Strukturen aufzubrechen.


[1] LGBTIAQ+ ist eine Abkürzung für die Gemeinschaft der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Pansexuellen, Transgender, Intersexuellen, Agender, Asexuellen, Genderqueer, Queer, und Verbündeten. Das Akronym bildet sich aus den englischen Begriffen: Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexed, Agender, Queer


Literaturverzeichnis

Internetquellen:

Berghöfer, B. (2020). »Catcalling« ist kein Kompliment. Aufgerufen von https://www.nd-aktuell.de/artikel/1142781.catcalling-catcalling-ist-kein-kompliment.html [zuletzt abgerufen am 13.12.2021].

Fink, A. (2021): Catcalling ist kein Flirten – es ist ein sexueller Übergriff aufgerufen von https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/01/catcalling-berlin-sexuelle-belaestigung-gewalt-sprueche-frauen-strassen.html [zuletzt abgerufen am 13.12.2021].

Goede , L.-R., & Lehmann, L. (2021). Catcalling. Erste Ergebnisse einer Online-Befragung. Aufgerufen von https://kfn.de/wp-content/uploads/2021/11/Vortrag%20Catcalling.pdf [zuletzt abgerufen am 13.12.2021]

Quell, A. (2020): „Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein“ aufgerufen von https://www.openpetition.de/petition/online/es-ist-2020-catcalling-sollte-strafbar-sein [zuletzt abgerufen am 13.12.2021].

Represent, (2020). Streit um sexistische Anmache. Catcalling. Aufgerufen von https://www.youtube.com/watch?v=gW15lVmSIpU [zuletzt abgerufen am 13.12.2021]

Schwarz, C.  (2020): Raus aus der gesetzlichen Grauzon. Aufgerufen von  https://taz.de/Petition-gegen-Catcalling/!5713269/ [zuletzt abgerufen am 13.12.2021].

Weinmann, T. (2021). Frauen im Kampf gegen verbale sexuelle Belästigung. Aufgerufen von https://www.dw.com/de/frauen-gegen-catcalling-tod-sarah-everard-text-me-when-you-get-home/a-55565555 [zuletzt abgerufen am 13.12.2021].

Literarische Quellen:

DelGreco, M., & Christensen, J. (2020). Effects of street harassment on anxiety, depression, and sleep quality of college women. Sex Roles, 82(7), 473–481.

Fisher, S., Lindner, D., & Ferguson, C. J. (2019). The effects of exposure to catcalling on women’s state self-objectification and body image. Current Psychology, 38(6), 1495–1502.

Glick, P., & Fiske, S. T. (1996). The ambivalent sexism inventory: Differentiating hostile and benevolent sexism. Journal of Personality and Social Psychology, 70(3), 491.

Hanna, R. (2019). “Hey Sexy Thing, Why Don’t You Come Over Here?” Simulated Stranger Harassment and Its Effects on Women’s Emotions and Cognitions.

Mores, C. L. (2020). When a Stranger Catcalls: The Need for Street Harassment Remedies in Iowa. Iowa L. Rev., 106, 971.

Pratto, F., Sidanius, J., Stallworth, L. M., & Malle, B. F. (1994). Social dominance orientation: A personality variable predicting social and political attitudes. Journal of Personality and Social Psychology, 67(4), 741.

Pryor, J. B. (1987). Sexual harassment proclivities in men. Sex Roles, 17(5), 269–290.

Spence, J. T., & Helmreich, R. L. (1979). Masculinity and femininity: Their psychological dimensions, correlates, and antecedents. University of Texas Press.

Swim, J. K., & Cohen, L. L. (1997). Overt, covert, and subtle sexism: A comparison between the attitudes toward women and modern sexism scales. Psychology of Women Quarterly, 21(1), 103–118.

Thomae, M., & Pina, A. (2015). Sexist humor and social identity: The role of sexist humor in men’s in-group cohesion, sexual harassment, rape proclivity, and victim blame. Humor, 28(2), 187–204.

Walton, K. A., & Pedersen, C. L. (2021). Motivations behind catcalling: exploring men’s engagement in street harassment behaviour. Psychology & Sexuality, 1–15.


Quelle: Kristin Thimsen, „Catcalling“ – kein Flirt, sondern sexuelle Belästigung!: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 10.02.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/02/10/catcalling-kein-flirt-sondern-sexuelle-belaestigung/

Ein Essay über Rassismus im Gesundheitswesen

Jacqueline Franz (SoSe 2021)

Vergangenes Jahr wurde William Tonou-Mbobd im Universitätsklinikum Hamburg getötet. Der 34-Jährige, aus Kamerun stammende Ingenieurstudent, der an einer Schizophrenie erkrankt war, begab sich im April 2020 auf eigene Initiative und auf der Suche nach Hilfe in psychiatrische Behandlung. Der Vorfall ereignete sich, als Tonou-Mbobd offensichtlich eine Medikation, die ihm verabreicht werden sollte, ablehnte. Folglich stürzten sich mehrere Security-Kräfte auf den Mann, zwangen ihn vor Zeug*innen zu Boden, schlugen auf ihn ein. Sein Herz setzte noch an Ort und Stelle aus, doch der Reanimationsversuch glückte. Fünf Tage später starb Tonou-Mbobd auf der Intensivstation. Er könne nicht atmen, habe er laut Zeug*innen gesagt (Vgl. Ruddath, Effenberger 2019). Dieser Satz kommt uns heute, wenn auch über ein Jahr später und aus einem anderen Kontext, sehr bekannt vor: George Floyd und die Black Lives Matter Bewegung. Hier starb ein schwarz gelesener Mensch durch die Polizei, während er um sein Leben flehte, dort durch einen Sicherheitsdienst an einem vermeintlich sicheren Ort, dem Krankenhaus. Die Gemeinsamkeit beider Taten: Struktureller Rassismus. Und beide sind mit Sicherheit keine Einzelfälle. Struktureller Rassismus macht auch vor unserem Gesundheitssystem nicht Halt, denn postkoloniale Strukturen sind in der deutschen Medizin fest verankert. Sie treten in verschiedensten Ebenen auf, ihre Aufarbeitung und Reflexion im alltäglichen Klinik- und Praxisalltag, sowie in der medizinischen Lehre wurde weitestgehend versäumt.  

Der Irrglaube über den Zusammenhang von Herkunft und Schmerzempfinden

Zum Schreiben dieses Essays versuche ich, mich an meine Ausbildung und die ersten Jahre meiner Tätigkeit auf einer Station für Innere Medizin und Onkologie zurückzuerinnern. Wo sind mir Rassismen begegnet, die ich, gerade 18 Jahre alt und zu diesem Zeitpunkt noch völlig unsensibel gegenüber der Thematik, vielleicht gar nicht als solche wahrgenommen habe. Meine erste Erinnerung führt mich ins zweite Lehrjahr meiner Ausbildung, in das Modul „Versorgung vonSchmerzpatient*innen“. Die Aussage der Dozentin sollte ich in meiner Pflegelaufbahn nicht zum letzten Mal gehört haben: „Wenn ihr südländisch Patient*innen pflegt, müsst ihr wissen, dass deren Schmerztoleranz deutlich geringer ist als die von Menschen aus dem Westen.

Da wird gerne mal geschrien oder laut geweint, das hat mit Kultur zu tun.“ Angespielt wird hier auf die unter medizinischem Personal weit verbreitete Annahme der Existenz des „Morbus Bosperus“ oder „Morbus Medditereneus“. Schmerzempfinden hänge von der Herkunft ab und dabei seien nicht weiß gelesene Personen besonders hart im

Nehmen und „der Rest“ nun mal eben nicht (Vgl. Wanger, Kilgenstein, Poppel 2020:2). Ich glaube nicht, dass die Dozentin mit ihrer Aussage bewusst und gezielt rassistische Stereotype vermitteln wollte. Vielmehr ging es ihr vermutlich darum, unsere Aufmerksamkeit für die Subjektivität in der Schmerzwahrnehmung zu schärfen. Doch welche Konsequenzen haben die unreflektierte Weitergabe und damit die Aufrechterhaltung solch rassistischer Stereotype im Stationsalltag?  

Ich erinnere mich an einen jungen, schwarz gelesenen Mann, der an einem Sonntagabend mit starken Bauchschmerzen zur stationären Aufnahme auf unsere Station eingeliefert wurde. Sein schmerzhaftes Stöhnen störte uns insgeheim. Betätigte der Mann den Pflegeruf, verdrehten wir die Augen. Aussagen wie, „Naja, morgen ist ja auch Montag, keine Lust zu arbeiten“ wurden eher scherzhaft, aber doch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit ausgesprochen. Während des Schreibens und Zurückerinnerns erkenne ich das erste Mal die Intersektionalität, die die Unprofessionalität unseres Verhaltens noch zusätzlich beförderte. Der Patient wurde von uns nämlich nicht nur schwarz, sondern auch männlich gelesen und er befand sich irgendwo am Anfang seiner Zwanziger. Neben unserer Vorstellung, der Mann könne unter Morbus Bosperus leiden, könnten auch unbewusste Annahmen wie „junge männliche Personen sollten Schmerzen aushalten“ unserem Verhalten inne gelegen haben. Und auch wenn wir unsere innere Haltung dem Patient gegenüber nicht offen kommunizierten, bin ich mir heute sicher, dass er unsere gereizte, ungeduldige Stimmung wahrnehmen konnte. 

Die Annahme, nicht weiß gelesene Personen würden bei Beschwerden gerne übertreiben und müssten deshalb weniger ernst genommen werden, führt nicht nur nachweislich zu Behandlungsfehlern und zum verspäteten Erkennen medizinischer Komplikationen (vgl. Wanger et al., 2020:2), sondern hat auch psychische Auswirkungen. Ich kann mir vorstellen, dass eine Person, deren Leiden bagatellisiert wird, Beschwerden länger aushält, ohne sie zu kommunizieren. Leid wird dann eher verschwiegen, vielleicht internalisiert der- oder diejenige sogar die externen Rassismen. „Ich bin es nicht wert, dass man mich versorgt, wie meine weißen Mitpatient*innen.“ Studien zeigen außerdem, dass diskriminierende Erfahrungen zur verzögerten Inanspruchnahme medizinischer Versorgung führen und die Zustimmung zu medizinischen Maßnahmen beeinträchtigen (vgl. Kluge/ Heinz/ Udeogu-Gözalan/ Abdel-Fatah 2020:1020).

Innerhalb von Krankenhäusern, die eigentlich einen Ort des Heilens und Genesens darstellen sollen, wird Macht häufig unreflektiert ausgeübt und reproduziert. Diese Machtausübungen stellen sich vielschichtig dar und durchdringen alle Bereiche. Im Kontext von Rassismus zeigen sie sich häufig darin, dass so dargestellte „kulturelle Eigenheiten“ nicht gerne gesehen oder toleriert werden. „Man ist hier in Deutschland im Krankenhaus, also sollte man sich auch wie ein deutscher Patient oder eine deutsche Patientin verhalten“, lautet häufig die Einstellung des medizinischen Personals. Das startet beispielsweise bei der Voraussetzung für Akzeptanz und Unterwerfung gegenüber eines dominanten westlichen Behandlungssystems, dass meist ausschließlich auf Biomedizin ausgerichtet ist und keinen Spielraum für medizinische Pluralität zulässt. Es zeigt sich auch im Umgang mit Trauer und Tod, der hier meiner Erfahrung nach bestenfalls still und diszipliniert und nicht laut klagend und emotional vor sich gehen sollte. Und auch wie häufig der oder die Kranke Besuch zu erhalten hat und wie Angehörige sich verhalten sollen, unterliegt westlichen Regeln und Vorstellungen. Wenn nicht weiß gelesene Patient*innen viel Besuch von Familienmitglieder über mehrere Stunden haben, stößt das beim Stationspersonal schnell auf Unmut. Die Reaktionen innerhalb meines Teams reichten dann regelmäßig von unverschämten Aussagen wie „jetzt kommt da wieder die ganze Großfamilie mit ihrem Essen, gleich stinkt wieder das ganze Zimmer nach Zwiebeln, als würde der/ die hier verhungern bei uns“, als auch zu Zimmerverweisen während der Durchführung von Behandlungen wie Blutdruckmessen und Infusionsgaben. Diese waren eigentlich nicht nötig, sondern sollten in meinen Augen nur demonstrieren, wer hier schlussendlich das Sagen hat.

Gern gesehen wurde nur, wenn Angehörige von BIPOC Pflegemaßnahmen wie Waschen und Anziehen übernahmen, die das Pflegepersonal entlasteten, doch eine Reflexion dieser Doppelmoral fand meiner Erfahrung nach leider nicht statt. 

In den bisher aufgeführten Beispielen äußerte sich Rassismus überwiegend auf der persönlichen und zwischenmenschlichen Ebene. Doch innerhalb der Institutionen des Gesundheitswesens ist Rassismus vor allem strukturell verankert. Das fehlende Vorhandensein deutscher Studien zum Thema gibt erste Aufschlüsse auf das mangelhafte Bewusstsein sowie den geringen Willen zur Auseinandersetzung mit der Problematik hierzulande. Struktureller Rassismus ist auf den ersten Blick weniger sichtbar, das macht ihn schwerer zu identifizieren und zu bekämpfen. Im Gesundheitswesen äußert er sich vielseitig: Zum Beispiel in Zugangsbarrieren zu Versorgungsstrukturen (Vgl. Razuum/ Geiger/ Zeeb/ Ronellenfitsch 2004:101), in der Ausbildung und im Studium medizinischer Berufe, sowie in einer Wissenschaft, die in erster Linie auf die Versorgung weißer Menschen ausgerichtet ist (Vgl. Wanger et al., 2020:2,6). Ein aktuelles Beispiel zur Illustration von Ungleichheit aufgrund ethnischer Unterschiede im medizinischen Kontext ist die Coronapandemie.  In vielen Ländern zeigen Studien, dass sowohl das Risiko der Aussetzung gegenüber dem Virus als auch die Mortalitätsrate unter Infizierten hohen ethnischen Unterschieden unterliegt (Vgl. Rogers/ Rogers/ VanSant-Webb/ Gu/ Yan/ Qeadan 2020; Platt/ Warwick 2020;

Laurencin/ McClinton 2020). Einen Erklärungsansatz liefert dabei die sogenannte „Wheatering Theory“, die davon ausgeht, dass gesundheitliche Konditionen, die aufgrund ethnischer Unterschiede bestehen, durch strukturelle und allgegenwärtige Benachteiligungen bedingt werden, denen nicht weiß gelesene Personen ausgesetzt sind. Diese Benachteiligungen führen zu einem schlechteren Gesundheitszustand und begünstigen die Chronifizierung von Krankheiten (Vgl. Rogers et al., 2020:312). Chronische Vorerkrankungen wiederrum erhöhen bekanntermaßen das Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf bei Covid-19. 

Strukturelle Benachteiligungen können sich außerdem in ökonomische Faktoren äußern: Diese sind beispielsweise eine niedrigere Position auf dem Arbeitsmarkt, geringeres Einkommen und höhere finanzielle Betroffenheit durch Maßnahmen wie Lockdowns, sowie Benachteiligungen in der Wohnsituation durch beengten Wohnraum bewi ärmeren Communities und somit weniger Möglichkeiten zum Social-Distancing (Vgl. Bentley 2020:2).

In Deutschland liegen bedauerlicherweise nur wenige Studien zum Zusammenhang von ethnischen Unterschieden und dem Risiko einer Infektion und einem schweren bis tödlichen Verlauf bei Covid-19 vor, denn repräsentative Daten existieren kaum. Hier besteht also dringender Nachholbedarf: Zukünftige Studien müssen dabei intersektional ausgerichtet sein, um den Einfluss sich überschneidender, diskriminierender Faktoren genau herauszuarbeiten, so dass politische Maßnahmen zur Gegensteuerung zielorientiert entworfen und angewendet werden können. 

Während des Verfassens dieses Essays habe ich den Lesenden einen Einblick in Situationen gegeben, die von meinem jüngeren Ich erlebt wurden. Heute, einige Jahre, nachdem ich die Klinik und den Beruf der Gesundheits- und Krankenpflegerin hinter mir gelassen habe, erinnere ich mich häufig beschämt und nachdenklich an die Menschen zurück, die auch unter meiner Mitwirkung, Aufrechterhaltung und Förderung Rassismus im klinischen Alltag erleben mussten. Auch ich habe Auszubildende angeleitet. Obwohl ich mich zumindest nicht erinnern kann, Rassismen direkt an sie weitergegeben zu haben, habe ich ihre Aufmerksamkeit mit Sicherheit nicht dafür geschult, die Strukturen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Heute würde ich anders wahrnehmen, beurteilen und handeln. Ein Bewusstsein für die Problematik setzte bei mir erst gegen Ende meiner Pflegelaufbahn ein. Aufgewachsen in einem unpolitischen, konservativen und bildungsschwachen Kontext, hatte ich das Glück, mit meinem Umzug nach Berlin mit Menschen in Berührung zu kommen, die mir Denkanstöße gaben, meinen Horizont erweiterten und mich zum kritischen Denken anregten. Auch im Abitur, dass ich erst nach meiner Ausbildung auf dem zweiten Bildungsweg nachholte, lernte ich wichtige theoretische Fakten, die mir halfen, Kontexte zu verstehen, Verbindungen zu schlagen und analytisch denken zu lernen. Bis heute befinde ich mich in einem ständigen Prozess des bewussten Verlernens von Gelerntem. Aufgrund meiner Erfahrungen empfinde ich die Annahme, das Anstoßen solcher wichtigen Reflexionsprozesse sei privat und müsse aus eigenem innerem Antrieb erfolgen, schwierig. Meiner Meinung nach sollte die Anerkennung und folglich der Abbau rassistischer Strukturen eine gesellschaftliche Aufgabe darstellen. Die Sensibilisierung für die Thematik sollte schon früh fest in die allgemeine Schulbildung integriert werden. Notwendig dafür ist die bewusste Auseinandersetzung mit postkolonialen Strukturen innerhalb aller Bildungseinrichtungen. Im speziellen Kontext der gesundheitlichen Versorgung halte ich aber regelmäßige, von nicht weiß gelesenen Personen durchgeführte und verpflichtende Fortbildungen und Sensibilisierungstrainings für unerlässlich, genauso wie die Implementierung von Anlaufstellen für BIPoC, die Diskriminierung und Rassismus erfahren haben. Dies könnten erste, wichtige Schritte zu einem fairen Gesundheitssystem sein, dass den Anspruch der Gleichbehandlung aller Menschen unabhängig von Ihrer Hautfarbe und Herkunft nicht nur theoretisch vertritt, sondern in allen Bereichen realisiert. 


Literaturverzeichnis

Ruddath, Marthe/ Effenberger, Phillip (2019): Psychiatriepatient William TonouMbobda: Tödlicher Zwang, in: TAZ, 22.07.2019, online unter URL: https://taz.de/PsychiatriepatientWilliamTonouMbobda/!5607926/ Abruf: 1.10.2021

Wanger, Lorena/ Kilgenstein, Hannah/ Poppel, Julius (2020): Über Rassismus in der Medizin. Ein Essay der kritischen Medizin München, in: Kritische Medizin München, 14.08.2020, online unter URL: https://kritischemedizinmuenchen.de/wp-content/uploads/2020/08/%C3%9Cber-Rassismus-in-der-Medizin_14.08.2020_KritMedMuc.pdf Abruf: 29.09.2021, Seite 2,6

Qay11111 U. Kluge/ M. C. Aichberger/ E.Heinz/ C. Udeogu-Gözalan/ D.Abdel-Fatah (2020): Rassismus und psychische Gesundheit, in: Nervenarzt, 15.09.2020, online unter URL: https://link.springer.com/article/10.1007/s00115020009901 Abruf: 30.09.2021, Seite 1020

Razuum, Oliver/ Geiger, Ingrid/ Zeeb, Hajo/ Ronellenfitsch, Ulrich (2004): Gesundheitsversorgung von Migranten, in: Dtsch Arztebl [Heft 43], 26.04.2004, online unter URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/43977/Gesundheitsversorgung-vonMigranten Abruf: 30.09.2021, Seite 101: A 2882–2887 

Platt, Lucinda/ Warwick, Ross (2020): Covid 19 and Ethnic Inequalities in England and Wales, in: Fiscal Studies. The Journal of Applied Public Economics, 03.06.2020, online unter URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/14755890.12228 Abruf: 03.10.2021

Rogers, Tiana,N/ Rogers, Charles R./ , VanSant-Webb, Elizabeth/ Gu, Lily Y./ Yan, Bin/ Qeadan, Fares (2020): Racial Disparities in COVID-19 Mortality Among Essential Workers in the United States, in: WMHP World Medical & Health Policy, 05.08.2020, online unter URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/wmh3.358  Abruf: 03.10.2021, Seite: 312

Bentley, Gillian, R. (2020): Don´t blame the BAME Ethnic and structural inequalities in susceptibilities to COVID-19, in: American Journey of Human Biology, 16.07.2021 online unter URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/ajhb.23478 Abruf: 03.10.2021, Seite: 2 


Quelle: Jacqueline Franz, Ein Essay über Rassismus im Gesundheitswesen: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/31/ein-essay-ueber-rassismus-im-gesundheitswesen/