Geschlechtervielfalt in Musikwirtschaft und Livebranche

Was sind die Hintergründe mangelnder geschlechtlicher Diversität im deutschen Musikmarkt?

Eva Briegel (WiSe 2022/23)

Einleitung

„Frauen machen Kunst für Frauen, Männer machen Kunst für Menschen“

(Liere, 2022)

Diversität, Gendergerechtigkeit und Inklusion sind in den vergangenen Jahren in den Fokus der deutschen Musiklandschaft gerückt. Immer mehr Musikschaffende fragen sich, wie es um ihre Chancen, ihre Kunst einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und davon leben zu können, eigentlich bestellt ist. Bereits seit einigen Jahren wird eine lebhafte Debatte darüber geführt, wie es um das Geschlechterverhältnis in allen Bereichen der deutschen Musikindustrie, aber auch bei den Musikschaffenden selbst, den Songschreiber*innen, Musiker*innen auf und hinter der Bühne, im Bereich Komposition, Musikproduktion, Livegeschäft, in Booking-agenturen,  bei Radiostationen, im Mediengeschäft und vielen anderen Teilbereichen des Musikbusiness steht. Die Bilanz ist ernüchternd: Trotz vielfältiger Initiativen, einer wachsenden Anzahl an kritischen Stimmen in den Medien und der Branche selbst und eines sich wandelnden Problembewusstseins sind die Fortschritte seit dem Aufkommen der Debatte um mehr Inklusion im Popgeschäft und eine Entwicklung in Richtung Vielfalt bescheiden. Noch immer ist der allergrößte Teil der Musikwirtschaft männlich.

Ich bin seit vielen Jahren Teil der Musikbranche und habe immer wieder erlebt, in welchen Abhängigkeiten sich junge Künstler*innen befinden, welche große Rolle es spielt, (von Männern) gemocht zu werden und in welchem Ausmaß junge Künstler*innen von allen Formen von Sexismus betroffen sind.

In dieser Arbeit soll beleuchtet werden, welche Gender-Stereotypen dazu führen, dass es einer Branche, die von sich behauptet, sich durch Offenheit, Toleranz und Vielfältigkeit auszuzeichnen, so schwerfällt, sich sichtbar zu verändern.

Hauptteil

Zahlen

Der Anteil an Frauen in den deutschen Charts ist seit Jahren rückläufig. Eine Studie des Streaminganbieters Qobuz kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2021 nur 7,32%  aller Top-20-Titel in Deutschland von Frauen interpretiert wurden (Diversität in den deutschen Charts: Frauenquote erreicht 2021 Tiefstwert, 2022). In einer Erhebung der MaLisa Stiftung sollten noch genauere Daten erhoben werden. 2021 veranlasste sie Recherchen zum Thema Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche. Darüber hinaus wurde in Kooperation mit der GEMA und Music S Women*, dem Dachverband der Musikfrauen* in Deutschland, eine Studie zum Thema „Charts, Werke und Festivalbühnen“ durchgeführt. Aus deren Ergebnissen lässt sich leider das Gegenteil dessen ablesen,  was öffentlich gefordert wird: in jedem der Bereiche Songwriting, GEMA-Mitgliedschaft, Gema-gemeldete Autorenschaft und Engagements bei Musikfestivals lag der Frauenanteil bei weit unter 20 %, und trotz einiger Initiativen, beispielsweise Selbstverpflichtungen der Veranstalter und der medialen Aufmerksamkeit war dieser Prozentsatz in den meisten Bereichen im Vergleich zu 2010 rückläufig. Einzig die weibliche Teilnehmer*innenquote kleinerer Festivals stieg leicht an.  Waren die Festivals von mittlerer bis großer Größe (41.00 – 200.000 Besucher*innen), stieg der Anteil der Musiker*innen von 2010 bis 2019 lediglich von 6 % auf 8 %. Der männliche Autorenanteil aller bei der GEMA gemeldeten Werke liegt sogar bei über 90 %, Tendenz steigend. Dagegen betrug der Anteil an nicht binären Personen und Personen ohne Geschlechtsangabe in allen Bereichen unter 1 %. Songs aus rein weiblicher Autorenschaft machten 2010 noch knapp über 3 %,  2015 knapp 2 % und  2019 weit unter 1% aus (Gender in Music – Charts, Werke und Festivalbühnen, 2022). Eine Ausnahme bildet das öffentlich-rechtliche Radio mit einer Mitarbeiterinnenquote von 50 %. Die redaktionelle und programmliche Entscheidungsmacht liegt aber nach wie vor weitgehend in männlicher Hand (Röben, 2022). Diese Zahlen überraschen, da in unserer Wahrnehmung das Geschlechterverhältnis im Radio und bei Streamingdiensten ausgeglichen zu sein scheint. Es gibt große weibliche Popstars, die vermeintlich das Musikgeschäft dominieren. Doch diese mediale Fokussierung auf einzelne weibliche Superstars wie Taylor Swift oder  Miley Cyrus überdeckt offenbar die Realität.

Die Musikwirtschaft als people business

Die Musikindustrie ist in vielen Bereichen ein sog. „people business“, eine personenbezogene Branche, in der persönliche Kontakte, Freundschaften, und die Eigenschaft, gemocht zu werden von großer Bedeutung sind. Viele Businesskontakte, aber auch Engagements und die Jobvergabe funktionieren über Sympathie, persönliche Präferenzen und Beziehungen. Da extrem viele Angehörige der Branche Autodidakten ohne Berufsabschlüsse sind, bzw. Berufsabschlüsse im Feld der Popmusik eine untergeordnete Rolle spielen, ist die Persona der oder des Einzelnen von größerer Bedeutung als in anderen Branchen. Hier gibt es selten Zeugnisse oder Auswahlverfahren, mit Hilfe derer sich der diskriminierungsfreie Zugang zu verschiedenen Positionen gewährleisten lässt. Das Musikbusiness bietet gute Möglichkeiten für Quereinsteiger*innen, egal ob als Musiker*in, im Management, als Licht-Operator*in, als Gitarrentechnikern*in, als „Roadie“, oder in vielen anderen Berufen. Dabei ist das, was das Musikgeschäft ausmacht, gleichzeitig Chance und Nachteil: Subjektivität und Geschmack. Gerade im Pop ist die Qualität eines Acts nicht objektiv messbar. Die Kunst kann nicht von dem oder der Künstler*in getrennt beurteilt werden und nicht selten hat der oder die Musiker*in mit der objektiv schlechtesten Stimme oder die Band mit den geringsten musikalischen Fähigkeiten den größten Erfolg. Eine langjährige Ausbildung mit anerkanntem Abschluss kann einem oder einer Musiker*in den Weg ins Pop-Geschäft ermöglichen, sie ist aber nicht zwingend notwendig. Im Bereich elektronischer Musik ist der Weg über eine musikalische Ausbildung eher selten, da die verwendeten Technologien relativ neu sind und die technologische Entwicklung so schnell voranschreitet, dass sich die Inhalte der verschulten Weitergabe entziehen. Oft entscheiden Geschmack, die persönliche Sympathie oder private Kontakte über ein Booking auf einem Festival oder einen Slot als Vorband bei einem etablierten Act. Die Musikindustrie funktioniert also häufig und viel über Netzwerke. Suchen Popstars Live-Musiker*innen für ihre Tour, suchen Künstler*innen Produzent*innen für ihre Tonaufnahmen, suchen Bands Toningenieur*innen oder Lichttechniker*innen für ihre Live-Shows, gehen sie bewusst den Weg über Netzwerke, Mund-zu-Mund-Propaganda und persönliche Empfehlungen und Referenzen.

Im Bereich des Live-Tour-Geschäftes gibt es so gut wie keine objektiven Auswahlverfahren. Das wichtigste Qualifikationskriterium für einen dieser Berufe ist neben guten Beziehungen die Erfahrung. Diese kann aber nur erworben werden, wenn es einen initialen Zugang zum Musikgeschäft und Live-Business gibt, somit fällt auch dort Frauen der Quereinstieg deutlich schwerer. Auf die Frage der Malisa-Studie „Mit welchen Barrieren sehen Sie sich persönlich in Ihrer beruflichen Weiterentwicklung konfrontiert?“ antworten 54 % aller befragten Frauen mit „Vetternwirtschaft“, 49 % sahen sich mit „Stereotypen und Vorurteilen“ konfrontiert und 47 % gaben „intransparente Entscheidungskriterien“ als Hindernis an (Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche, 2021).

Mangelnde Repräsentanz im Live-Geschäft und auf Festivals ist aber für viele Musikschaffende in erster Linie ein finanzielles Problem. Die vorwiegende Nutzung von Streamingdiensten und die damit einhergehenden geringen Absatzzahlen physischer Tonträger macht für viele Musiker*innen das Livegeschäft zur einzigen wirklichen Einnahmequelle. Die Kosten einer eigenen Headliner-Tour aber sind oft so hoch, dass sich die Touren kaum selbst finanzieren und nur in der Mischkalkulation mit Festivalauftritten können viele Musiker*innen leben, üben, ihre Musik schreiben und produzieren. Der erschwerte Zugang zu Festivalbühnen stellt für nicht männliche Musiker*innen also sowohl ein inhaltliches als auch ein wirtschaftliches Problem dar. 

Mögliche Hintergründe mangelnder Vielfältigkeit im Musikgeschäft

Fragt man auf Entscheider*innenebene nach, also bei Radioredakteur*innen, Festival-Veranstalter*innen, oder in (überwiegend männlich besetzten) Jurys für die Musikpreisvergabe, werden diverse Gründe genannt. Frauen seien angeblich oft „nicht so gut“, es gäbe ohnehin nicht viele Frauen, die Musik machten oder das Publikum wolle lieber Männer als Frauen sehen, das zeige sich anhand des Kartenverkaufs.

Tatsächlich haben Frauen aufgrund ihres Seltenheitswertes, aber auch wegen inhaltlicher Gründe eine Sonderstellung inne. Nicht selten offenbart sich ein männlicher Blick auf weibliche und nicht-binäre Kolleg*innen. So bezeichnet man Bands, deren Mitglieder zu größeren Teilen weiblich sind, oft als „Frauenbands“. Inhaltlich unterstellt man Künstlerinnen, dass sich ihre Lieder um typische Frauenthemen wie Partnerschaft, ihre Rolle als Frau, ihr Aussehen oder die Anforderungen der Gesellschaft an sie als Frau drehen. In vielen Sparten des Unterhaltungsbetriebs drängt sich der Gedanke auf, dass Frauen, die diesem Klischee entsprechen, öfter gebucht werden. So bestehen zum Beispiel die Inhalte weiblicher Comedians aus typisch „weiblichen Themen“. Das könnte daran liegen, dass Entscheider*innen, die Künstler*innen für Festivals buchen, Künstlerinnen bevorzugen, die ihrem Bild von „weiblicher Kunst“, „weiblichen Themen“ oder auch der Vorstellung von dem, was „weibliches Publikum“ interessiert und bevorzugt, entsprechen. Durch die größtenteils männlich besetzten Entscheidungspositionen definiert also der männliche Blick auf andere Geschlechter, was gut und sehenswert ist.

Das Argument, es gebe keine guten, interessanten Frauen im Rock und Popbusiness lässt sich vergleichsweise schnell widerlegen, indem man sich das Angebot der unterschiedlichen Streamingplattformen ansieht. Dort findet man eine unglaubliche Fülle an Musik, deren Urheber*innen und Interpret*innen von allerlei Geschlechtern vertreten sind. Das Problem liegt also zum einen eher in der Förderung und Sichtbarmachung vorhandener Talente. Zum anderen stellt sich ohnehin die Frage, was „gut“ im Sinne der Popmusik eigentlich bedeutet soll. In erster Linie entspricht „gute Musik“ oft dem eigenen Geschmack und der ist bekanntlich durch individuelle Erfahrungen, Ähnlichkeiten zur eigenen Person und Identifikationspotential des Künstlers geprägt. Umso wichtiger ist es für die Gatekeeper in der Musikwirtschaft, sich vorhandene blinde Flecke bewusst zu machen, um den eigenen Geschmack nicht als Objektivität zu labeln und dadurch Andersartigkeit und fremde Perspektiven, Grundvoraussetzungen des Pop und der Kunst allgemein, zu verhindern.

Die Konsument*innensicht ist eine andere: einer Studie der Malisa Stiftung in Kooperation mit der Initiative „Keychange“ zufolge bescheinigt die Altersgruppe der 16 bis 29-jährigen Musikhörer*innen dem Thema Geschlechtervielfalt eine hohe Relevanz. Jede*r Zweite wünscht sich eine verstärkte öffentliche Auseinandersetzung, viele sind bereit, für mehr Diversität auch ihr Konsumverhalten zu verändern oder anzupassen. Allerdings sehen 43 % der Befragten die Verantwortung für geschlechtliche Ausgewogenheit in der Mehrheit bei den Veranstalter*innen, Streamingdiensten und Radioprogrammen (Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche, 2021).

Ein häufig genannter Grund für die Dominanz männlicher Künstler auf Großveranstaltungen und Festivalbühnen wie „Rock am Ring“ ist die Behauptung, „Frauen verkauften keine Tickets“, der Auftritt nicht-männlicher Künstler*innen stelle also nur aufgrund ihren Geschlechtes für Festivalbesucher keinen Kaufanreiz für ein Ticket dar. Eine Behauptung, die sich schwer überprüfen lässt, da aufgrund mangelnder Repräsentanz viele Themen und Formen der Kunst nicht in ausreichender Bandbreite dargeboten werden. Gibt es z.B nur wenige weibliche Rapperinnen, ist die Frage, ob ich Rap mag, der von Frauen gemacht wird, in viel höherem Maße von einzelnen sichtbaren Künstlerinnen abhängig, als wenn es eine Vielzahl an weiblichen Musiker*innen eines Genres gibt, und ich mir unabhängig vom Geschlecht ein geschmackliches Urteil bilden kann.

Auch stellt sich die Frage nach der Zielgruppe von Konzerten und Festivals. Werden Festivals hauptsächlich mit Bands und Künstlern, die eine stereotype Maskulinität erzählen, besetzt, ist womöglich dadurch die Attraktivität für nicht männliche Festivalbesucher geringer und das System reproduziert sich selbst. „Harter Rock“ auf der Bühne, „harte Männer“ im Publikum, Festivalveranstalter, die auf dieses Publikum eingehen, und so weiter. Das rein weiblich besetzte DCKS-Festival von Carolin Kebekus 2022 in Köln erhielt viel mediale Aufmerksamkeit und war außerdem sowohl ausschließlich mit female artists besetzt als auch sehr gut besucht. Beide Argumente, fehlende weibliche Acts sowie die Annahme, weibliche Künstler zögen kein Publikum, sind somit zumindest fragwürdig.

Ein System reproduziert sich selbst

Viele Personen, die als Quereinsteiger in der Musikbranche tätig sind, haben meiner Erfahrung nach vormals als Musiker*innen gearbeitet. Häufig fördern sie in ihrer zweiten Karriere Bands und Solokünstler*innen nach persönlicher Präferenz und nach Kredibilität, also Glaubwürdigkeit und Authentizität. Diese sind subjektiv und nicht messbar. Es bleibt der Verdacht, dass auch hier die Ähnlichkeit ausschlaggebendes Kriterium dafür ist, dass eine Person gefördert wird, die andere nicht. So werden im Rock und Pop Aggressivität und Aktivität, typisch männliche Zuschreibungen, als authentischer eingeschätzt als Introvertiertheit oder Weichheit, Eigenschaften, die gesellschaftlich eher Frauen zugeschrieben werden. Kunst aber beschäftigt sich mit allen Facetten menschlichen Seins. In der neuen Züricher Zeitung schreibt Sarah Pines: „Weibliche Kunst wird vor allem als Kunst anerkannt, wenn sie explizit feministisch ist. Der Rest interessiert nicht wirklich. Unser Verhältnis zu Frauen in der Kunst ist ebenso von Unnatürlichkeit geprägt wie von Ausblendung.“ (Pines, 2022). Künstler*innen, die ihre geschlechtliche Identität zum Thema ihres musikalischen Ausdrucks machen, werden derzeit in besonderer Weise gehört. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, die sich unbedingt weiterentwickeln muss zu einer nicht männlichen Perspektive der Vielfältigkeit menschlichen Erlebens. Immer noch wird auch in der Musik die männliche Sichtweise als „Default“ (Voreinstellung) akzeptiert und von allen Geschlechtern angenommen. Frauen können sich mit männlichen Künstlern besser identifizieren als männliche Zuhörer sich mit Frauen identifizieren. Das lässt darauf schließen, dass die weibliche Perspektive immer noch eine zweitrangige ist, die zwar beachtet, verstanden und respektiert werden kann, sich aber nicht zur Identifikation eignet, keine Vorbildfunktion erfüllt und maximal Begehren, aber kaum Gefolgschaft und Fantum auslösen kann.

Das Problem mangelnder Vielfalt in Kunst und Kultur ist längst ein Trendthema, dem sich Magazine und der Musikjournalismus, Mainstreammedien und Kulturformate verstärkt zuwenden. Sie berichten über das Problem mangelnder Diversität, die Hintergründe und mögliche Faktoren der Entstehung sowie Stellschrauben für Veränderung. Doch auch hier fehlt immer wieder die nicht-männliche Perspektive, denn auch im Musikjournalismus ist das Geschlechterverhältnis traditionell alles andere als ausgewogen. Auffällig ist dabei gerade die Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit in einer Branche, die für sich in Anspruch nimmt, Vordenker und Initiator gesellschaftlicher Veränderungen zu sein.

Problembewusstsein und Lösungswege

So unterschiedlich die verschiedenen, an der Vermarktung und Verbreitung von Musik beteiligten Organisationen sind, aus so unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten sie dabei Diversität. Während Privatradiostationen oder Plattenfirmen neue Käuferschichten suchen und neue Absatzmärkte erschließen möchten, haben institutionell geförderte Kultureinrichtungen eher die Verantwortung, die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden. Häufig sind auch hier Gremien zur Förderung von Kunst und Kultur überwiegend männlich besetzt, so dass aufgrund fehlender objektiver Parameter über die Förderung junger Talente anhand von Geschmacks- und Kritiker*innenurteilen entschieden wird.

Daher fordert der Dachverband der Musikfrauen* in Deutschland „Music Women*“ in seinem 20 Punkte umfassenden Forderungskatalog unter anderem die „Einführungen von intersektionalen Quotenregelungen“, die „Einführung verbindlicher Diversitätskriterien in Gremien, Findungskommissionen, Beiräten, Vorständen, Aufsichtsräten u.a. bei staatlicher Förderung“ sowie die „Einführung von Diversitäts Checklisten bei staatlich geförderten Projekten und Institutionen im Bereich Programm, Personal und Publikum“ (Music Women* Germany, 2022). Die 2015 gegründete Initiative Keychange fordert mehr Geschlechtergerechtigkeit bei Konferenzpanels, Orchestermusikern und Komponisten und will Produzentinnen und Technikerinnen fördern. Der Keychange-Pledge, einer Selbstverpflichtung zu 50 % geschlechtergerechten Quote auf deutschen Festivalbühnen, schlossen sich mehrere deutsche Festivals an. Seit 2020 fördert Keychange 37 Musiker*innen und 37 Akteur*innen aus der Musikindustrie über einen Zeitraum von 4 Jahren und wird dafür von der Europäischen Union mit 1,4 Millionen Euro unterstützt.

Schluss

Geht man der Frage nach, warum das Geschlechterverhältnis in der Musikwirtschaft, unter Musiker*innen, Komponist*innen und in allen mit Musik zusammenhängenden Branchen des Kunst- und Kulturbetriebe,s so unausgeglichen ist, kommt man zu keiner einfachen Lösung. In erster Linie kann man die Qualität und die Qualifikation von Popmusikern schlecht messen. Ein Qualitätsmerkmal populärer Musik ist die Einzigartigkeit und Emotionalität, die sich der objektiven Bewertung entziehen. Daraus folgt, dass die Mechanismen, nach denen eine Karriere im Musikbusiness, ob als Musiker*in oder als Produzent*in, als Sound Engineer*in oder als Fotograf*in, als Musikredakteur*in oder als Autor*in, sehr anfällig sind für Diskriminierung aller Art. Die einzige Möglichkeit, mehr Chancengleichheit zu gewährleisten, ist, die entscheidenden Positionen mit Angehörigen aller Geschlechter zu besetzen. Nur so kann man sicher sein, dass im Pop auch wirklich die Vielfalt aller Perspektiven und aller Gefühle repräsentiert und behandelt werden. Daher unterstütze ich die Forderungen von Music Women* nach einer festen Quote in allen relevanten Bereichen der Musikbranche.

Abschließend bliebe noch die Frage zu klären, was man gewönne, wenn man die Musikwirtschaft um die Perspektiven aller Geschlechter erweiterte. Nicht nur, dass der Pool an Kunst- und Kulturschaffenden sich nahezu verdoppeln würde, sondern es gäbe die Chance auf die Entwicklung einer neuen Art von Musik. Wenn Musiker*innen mehr Unterstützung, Solidarität, Mentor*innenschaft und Schutz erfahren würden, würde das in hohem Maße ihre Musik beeinflussen und würde auf ihren kreativen Ausdruck wirken. Die Folge dessen könnte sein, dass wir ein Verständnis der menschlichen Gefühlswelt erfahren könnten wie noch nie zuvor, unabhängig von Geschlechtszuschreibungen und Stereotypen. 

In dieser Arbeit habe ich mich bewusst dagegen entschieden, der Frage nachzugehen, inwieweit diskriminierende Erfahrungen in Bezug auf das Geschlecht in Zusammenhang mit Sexismus und sexuellen Übergriffen stehen. Dies ist ein Thema, das unbedingt in weiteren Arbeiten reflektiert werden sollte.

 Literaturverzeichnis

Diversität in den deutschen Charts: Frauenquote erreicht 2021 Tiefstwert. (2022, 20. Dezember). Qobuz. Abgerufen am 1. Februar 2023, von https://www.qobuz.com/de-de/info/News/Diversitat-in-den-deutschen-Charts185703

Gender in Music – Charts, Werke und Festivalbühnen. (2022, 19. September). malisa Stiftung. Abgerufen am 1. Februar 2023, von https://malisastiftung.org/gender-in-music/

Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche. (2021, 17. Dezember). malisa Stiftung. Abgerufen am 2. Februar 2023, von https://malisastiftung.org/studien-und-recherchen-zu-geschlechtergerechtigkeit/

Liere, J. (2022, 4. Juni). Mitleid mit Musikmännern. www.zeit.de. Abgerufen am 4. Februar 2023, von https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fkultur%2F2022-06%2Frock-am-ring-festival-maenner-bands-frauenanteil%3Fpage%3D4

Music Women* Germany. (2022, 4. Mai). MW*G Tagung schließt mit Forderungskatalog “Gender Equality Now!” für Politik und Branche. Abgerufen am 4. Februar 2023, von https://www.musicwomengermany.de/news/346-test

Pines, S. (2022, 16. Juli). Kunst von Frauen: Nur feministische Kunst ist gute Kunst. Neue Zürcher Zeitung. Abgerufen am 4. Februar 2023, von https://www.nzz.ch/feuilleton/kunst-von-frauen-nur-feministische-kunst-ist-gute-kunst-ld.1692076?reduced=true

Röben, B. (2022, 28. April). ProQuote im Rundfunk: „Bewusstsein ist da!“ M – Menschen Machen Medien (ver.di). Abgerufen am 3. Februar 2023, von https://mmm.verdi.de/beruf/proquote-im-rundfunk-bewusstsein-ist-da-81093


Quelle: Eva Briegel, Geschlechtervielfalt in Musikwirtschaft und Livebranche, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 16.05.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=35

Who matters? (Fehlende) Diversität in der deutschen Klimabewegung

Kim Winter (WiSe 2022/23)

Wie ich zum Klimaschutz gekommen bin? Na, in der Grundschule habe ich schon bei Umweltschutzaktionen in der bayrischen Kleinstadt mitgewirkt, in der ich aufgewachsen bin. Meine Mutter hat mich begleitet als ich mit 8 Jahren unbedingt zu Greenpeace wollte – auch wenn die mir nur eine Broschüre in die Hand gedrückt haben. Als ich in der Schule war, gab es Fridays for Future nicht, aber ich bin mir sicher ich hätte an den Demos teilgenommen, denn meine Noten ließen es zu, mal einen Tag zu fehlen und die Lehrer*innen meinten es meistens gut mit mir. Wie ich aufgewachsen bin? Na, in einem Reihenhaus mit meiner Mutter, (meinem Vater), meiner Schwester und einer Katze. Klar, war ich auf dem Gymnasium. Absolute deutsche, weiße Mittelschicht. In den späten 2010er Jahren entsprach ich dem absoluten Cliché: Ich esse vegetarisch und kleide mich hippie-esk. Grade mit dem Abi fertig, möchte ich durch die Welt reisen, am liebsten nach Indien oder Südafrika und mich dort sozial engagieren. Rassistisch? Bin ich nicht – ich bin doch kein Nazi!

Vielleicht ist schon klar, worauf ich hinauswill. Nämlich, dass mir der Zugang zu politischer Bildung und klimaschützendem Engagement nicht schwer gemacht wurde. Dennoch wurde in meiner Sozialisation so vieles ausgeblendet. Über (Neo-)Kolonialismus wusste ich nichts, außer dass es mal so eine Konferenz gab auf der ein paar alte, weiße Männer aus Europa den ganzen Kontinent Afrika wie einen Kuchen unter sich aufteilten (habe ich in einer Karikatur gesehen). Die kolonialen Kontinuitäten, die anhaltende Ungerechtigkeit, die katastrophalen Auswirkungen des ausbeuterischen Systems Kapitalismus im Globalen Süden wurden nicht erwähnt. Damals hätte man außerdem noch guten Gewissens „Dritte-Welt Länder“ gesagt. Auch das Thema (Anti-)Rassismus wurde nur unzureichend behandelt. Rassismus wurde mit Neo-Nazis gleichgesetzt. Genauso wenig wurde in der Schule oder dem dominierenden öffentlichen Diskurs über die Widerstandsbewegungen marginalisierter Menschen aus dem globalen Süden und/oder BIPoC-Aktivist*innen gesprochen. Dass diese langjährigen, mutigen Bewegungen auch etwas mit meinem persönlichen Herzensthema Umweltschutz zu tun haben könnten, kam mir dabei nie in den Sinn.

Dabei basiert die heutige Klima(gerechtigkeits)bewegung auf der Arbeit so vieler Schwarzer Menschen und Menschen of Color, deren Engagement und Einsatz von der (deutschen,) weißen Dominanzgesellschaft aktiv ausgeblendet und unsichtbar gemacht wird. Wie drastisch diese Tatsache ersichtlich wird, möchte ich im späteren Verlauf an einem Beispiel aufzeigen. Während Menschen des Globalen Norden historisch gesehen für den größten Anteil des menschengemachten Klimawandels verantwortlich sind und von der Ausbeutung des Globalen Südens und der Zerstörung von Ökosystemen enorm wirtschaftlich profitiert haben, sind es Länder und Menschen des Globalen Südens, die am stärksten unter den Folgen der Klimakrise leiden (Bechert, Dodo, Kartal, 2021, S.9). Sehr anschaulich ist diese ungerechte Verteilung von Ressourcen und historischer Verantwortung an der Klimakrise in der Carbon Map dargestellt, die alle Länder der Erde nach Background (Hintergrund), Responsibility (Verantwortung) und Vulnerability (Verwundbarkeit) aufteilt und dabei die Länder je nach Anteil flächenmäßig vergrößert oder verkleinert (Kiln, Carbon Map).

Abb.1: Fläche der Länder nach historischer Verantwortung an freigesetztem CO2 von 1850 bis 2011.

Abb. 2: Fläche der Länder nach Armutsrisiko.

Im Folgenden werde ich die deutsche Klimabewegung anhand verschiedener Diskriminierungsebenen genauer betrachten. Eingehen werde ich hierbei auf die Merkmale Klasse/soziale Herkunft, Gender und race/ethnicity. Auch weitere Diversitätsdimensionen wie Ability spielen eine Rolle für die Diversität in der deutschen Klimabewegung sowie für das Ausmaß der Betroffenheit von Klimafolgen. Leider bietet dieses Essay nicht den Rahmen, auf alle Dimensionen einzugehen, weswegen ich nur die zuvor genannten hier beleuchten werde. Abschließend erörtere ich verschiedene Lösungsvorschläge und Verbesserungsmöglichkeiten, wie die deutsche Klimabewegung inklusiver und gerechter werden könnte.

Zum Begriff Klimagerechtigkeit und Rassismus in der deutschen Klimabewegung

„Rassismus und die Klimakrise haben dieselben Wurzeln. Wir können keines dieser Probleme ignorieren, wenn wir das andere bekämpfen wollen. Eine rassistische Klimabewegung kann niemals eine gerechte Zukunft schaffen.“ (Nowshin, 2020)

Die Klimakrise ist keine Gefahr, die in ferner Zukunft liegt. Für viele Menschen sind die Auswirkungen der Erderhitzung schon seit Jahrzehnten deutlich spürbar. Extremwetterereignisse, Naturkatastrophen, Dürreperioden und der Anstieg des Meeresspiegels nehmen Menschen im Globalen Süden nach und nach die Existenzgrundlagen. Diese Folgen werden für die deutsche Dominanzgesellschaft aber erst relevant, wenn sie hier vor Ort spürbar werden, wie die Flutkatastrophe im Ahrtal im Sommer 2021 gezeigt hat. Über dieses Ereignis berichten deutsche Medien immer noch vereinzelt. Die wesentlich verheerendere, monatelang anhaltende Flutkatastrophe in Pakistan im darauffolgenden Jahr, in der Millionen Menschen ihr Zuhause verloren (bpb, 2022), war den deutschen Medien hingegen nur ein paar Tage der Berichterstattung wert.

Klimagerechtigkeit ist also ein Ansatz, in dem Verantwortung an der Klimakrise und deren Folgen sowie die von dieser Betroffenen mitgedacht werden und globale Gerechtigkeit eine wichtige Rolle spielt. Die Anfänge der Klimagerechtigkeitsbewegung, damals Umweltgerechtigkeitsbewegung, sind vermutlich in den 1980er Jahren der USA zu finden als die mehrheitlich Schwarze Bevölkerung in Warren County, North Carolina, anfing sich zu organisieren, nachdem die Regierung beschlossen hatte, Giftmüll in der Region zu deponieren. Die Bewohner*innen veranstalteten Protestmärsche und übten zivilen Ungehorsam aus, wobei insgesamt über 500 Menschen festgenommen wurden. Die Protestierenden stellten sich nicht nur gegen Umweltverschmutzung, sondern gegen soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Hierarchien. Viele der nachfolgenden Umweltgerechtigkeitsbewegungen entstanden aus dem Engagement von BIPoC-Communities (Bechert, Dodo, Kartal, 2021, S.47f.).

Klimaschutz muss intersektional gedacht werden und umfasst mehr als den Schutz und Erhalt der Ökosysteme. Globale Machtdynamiken und bestehende strukturelle Ungerechtigkeiten müssen beachtet werden. Es reicht nicht aus, auf technische Innovation zu hoffen, um die Erderhitzung einzudämmen. Die Klimakrise ist eine globale Verteilungskrise, die nur aus einer sozialen Perspektive gelöst werden kann. Diversitätskomponenten wie Gender, soziale Herkunft/Klasse, race/Ethnicity, Nationalität sowie Ability spielen eine Rolle in der Klimakrise. Das Konzept Klimagerechtigkeit fordert demnach die gerechte Verteilung der Verantwortung an der Lösung der Klimakrise. Gesellschaftliche Aspekte müssen ebenso mitgedacht werden wie ökologische. Daher spreche ich auch nicht von Umwelt- oder Klimaschutz, sondern vorrangig von Klimagerechtigkeit. Bezugnehmend auf die deutsche Klimabewegung werde ich den Begriff Gerechtigkeit sparsamer miteinbinden, da es sich in einzelnen Organisationen nach Definition teilweise noch nicht um einen Kampf für Klimagerechtigkeit handelt.

Black, Indigenous und People of Color (BIPoC) sind in der deutschen Klimabewegung noch immer unterrepräsentiert und ihr Einsatz wird bewusst unsichtbar gemacht. So z. B. Anfang 2020, als Vanessa Nakate, eine Schwarze Klimaaktivistin aus Uganda, von einer Nachrichtenagentur aus einem Pressefoto vom Weltwirtschaftswirtschaftsforum in Davos mit vier weiteren, weißen Klimaaktivist*innen ausgeschnitten wurde (Weissenburger, 2020). Eine ähnliche Situation ereignete sich später im selben Jahr in Deutschland, als die Klimaaktivistin Tonny Nowshin an einer Protestaktion gegen ein Kohlekraftwerk, das in Bangladesch entstehen sollte, teilnahm. Auf den offiziellen Pressefotos wurden im Nachhinein nur weiße Klimaktivist*innen abgegbildet, Nowshin war als einzige Person of Color nicht abgebildet (Bechert, Dodo, Kartal, 2021S.42). Dies sind offensichtlich rassistische Handlungen, die so vermutlich nicht beabsichtigt waren, aber dennoch deutlich zeigen, wie rassistische Strukturen und internalisierter Rassismus die deutsche Gesellschaft prägen. Aktivist*innen of Color werden unsichtbar gemacht, werden nicht gehört oder gesehen und die Klimabewegung wird weiß gelesen. Weiße Aktivist*innen prägen den Diskurs und ihre Forderungen beziehen sich häufig auf den Globalen Norden. So werden Forderungen aus dem Globalen Süden weniger Aufmerksamkeit zuteil und die Menschen werden schlichtweg nicht beachtet (ebd., S.45f.) Nowshin schreibt selbst zu dem Vorfall und ihrer Position in der deutschen Klimabewegung: „Ich werde in der Klima-Szene geduldet, solange ich sie mir nicht so zu eigen mache wie die weißen Aktivist:innen. Als BIPoC – also Schwarze, Indigene und People of Color – sind wir nur willkommen, wenn wir die Vorzeige-Betroffenen spielen“ (Nowshin, 2020).

Klassismus in der deutschen Klimabewegung

Die taz titelte 2019 „Zu jung, zu weiß, zu akademisch“ und traf den Nagel auf den Kopf. Neben Rassismus ist eine weitere auffallende Komponente der Zusammensetzung von Klimabewegungen in Deutschland die Exklusivität der Bewegung, wie beispielsweise bei Fridays For Future. Am 15. März 2019 fand ein globaler Klimaprostest statt und Forscher*innen nutzten die Gelegenheit, um Teilnehmende in neun europäischen Ländern zu ihrer Person zu befragen. In Deutschland sprachen die Forscher*innen in Bremen und Berlin mit insgesamt 343 Menschen ab 14 Jahren und führten eine Onlineumfrage mit weiteren 339 Teilnehmenden durch. Das Ergebnis war, dass die meisten Personen Schüler*innen zwischen 14 und 19 Jahre alt waren, dicht gefolgt von Studierenden (20-25 Jahre). Außerdem stellten sie fest:

„Mehr als die Hälfte der Befragten wollten das Abitur oder die Fachhochschulreife machen, 30 Prozent hatten einen Uni-Abschluss oder studierten noch, nur knapp 5 Prozent der Aktivisten gaben einen Mittleren Schulabschluss an. 43 Prozent der Befragten fühlten sich der oberen Mittelschicht zugehörig, ein knappes Drittel der unteren, lediglich 4,5 Prozent zählten sich selbst zur Arbeiterschicht.“ (Langrock-Kögel, 2020)

Das zeigt: Die Klimaproteste decken nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen ab. Sie vertreten nicht „die Mitte der Bevölkerung“, sondern setzen sich tendenziell eher aus privilegierteren Schichten zusammen. Klima-Aktivismus und politisches Engagement sind ein Privileg, dass sich nicht alle leisten können. Die wenigsten jungen Menschen können es sich leisten, regelmäßig freitags in der Schule/Uni zu fehlen, denn von der Abschlussnote hängen zu häufig auch die Job- und Ausbildungsperspektiven ab. Außerdem setzt die klimasensible Bubble nicht selten einen bestimmten Lebensstil und Habitus voraus – wer Fleisch oder tierische Produkte isst, ein Flugzeug besteigt oder der akademischen Sprache mit all ihren Fachbegriffen nicht folgen kann, braucht gar nicht erst versuchen, Teil der Gruppe zu werden. So ist zumindest eine weit verbreitete Vorstellung von der Klima-Bubble, die auch Vorurteilen und falscher Repräsentation geschuldet ist, die ich in Teilen aber auch bestätigen kann. Hier greifen auch intersektionale Diskriminierungen: Beispielsweise machen nicht alle Personen, die ein Flugzeug besteigen, einen All-Inclusive-Urlaub auf Bali, sondern viele Menschen möchten ihre Familie in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten sehen. Doch das wird in der Debatte oft außeracht gelassen.

Dass die Klimabewegung immer noch eine zu kleine, exklusive Gruppe von meist weißen, privilegierten, jungen Menschen anspricht, ist unter anderem dem neoliberalen Narrativ des „ökologischen Fußabdrucks“ geschuldet. Natürlich kann und sollte jede*r Einzelne das eigene Konsumverhalten kritisch reflektieren, aber die Klimakrise ist nicht dadurch gelöst, dass wir alle Second Hand Kleidung tragen und Hafermilch kaufen. Es braucht eine Veränderung im Fokus von individuellem Konsumverhalten hin zu der Notwendigkeit einer politisch initiierten gesamtgesellschaftlichen Transformation und der Veränderung unseres Wirtschaftssystems.  Diese Veränderung lässt sich langsam aufgrund von politischer Aufklärungsarbeit von vorrangig BIPoC in Form von Podcasts, Videos, Büchern und Artikeln zu dem Thema, finden (so z. B. im Online-Talkformat Karakaya Talk, dem Podcast Kanackische Welle oder bei BBQ – Der Black Brown Queere Podcast #29). Diese rütteln an den bestehenden eurozentristischen Strukturen und Normen, kritisieren vorherrschende Machtdynamiken und bieten Lösungsvorschläge an, auf die ich später auch noch eingehen möchte.

„In unserer Gesellschaft sei ziviles politisches Engagement ein Privileg, das man sich leisten können müsse. ‚Viele haben erst einmal ganz andere Probleme: Armut, Care-Arbeit oder auch Rassismus und andere Formen von Diskriminierung.‘“ (Langrock-Kögel, 2020, Cordula Weimann zitierend)

Gender in der deutschen Klimabewegung

Die angesprochene Problematik des Privilegs der Klimabewegung manifestiert sich auch in der Diversitätsdimension Gender. Wie im obigen Zitat erwähnt, spielen neben Klasse und race auch Dinge wie Care-Arbeit eine Rolle beim Grad der Betroffenheit von der Klimakrise und dem Kampf für Klimagerechtigkeit. Care-Arbeit bezeichnet in diesem Kontext jegliche unbezahlte Sorgearbeit. Darunter fallen z. B. Kinderbetreuung und Haushaltsaufgaben. Diese Arbeit wird überwiegend von FLINTA* (Female, Lesbian, Inter, Non-Binary, Trans und Agender Personen*) übernommen. Somit haben FLINTA* weniger Zugang zu Macht- und Entscheidungspositionen und erhalten weniger Einkommen als cis-männliche Personen. In der Folge sind sie in Bezug auf Klimafolgen verletzlicher (für eine ausführlichere Erklärung siehe Bechert, Dodo, Kartal, 2021, S.10-12). Auch hier greifen verschiedene Diskriminierungsebenen ineinander: Queere oder trans* BIPoC machen sich angreifbarer, wenn sie sich klimapolitisch engagieren und setzen sich einer anderen Gefahr aus als weiße, cis-Männer, die sich in der Öffentlichkeit politisch äußern. Die deutsche Klimabewegung ist ungewöhnlich stark von FLINTA* dominiert. Das ist eine positive Beobachtung, dennoch muss man sich fragen, woran das liegt. Wie zuvor kurz ausgeführt, sind FLINTA* von den Folgen der Klimakrise stärker betroffen und handeln somit aus einer Position der Unterdrückung heraus, aus der sie sich durch politisches Engagement selbst ermächtigen können.

„Du merkst: Es ist insbesondere für Menschen, die direkt von den Klimafolgen betroffen sind, nicht möglich, Klimakrise und Umweltzerstörung von sozialer Ungleichheit und global wirksamen Macht- und Unterdrückungsstrukturen zu trennen.“ (Bechert, Dodo, Kartal, 2021, S.10-12)

Lösungsansätze für eine diversere Klimabewegung

Durch die herausgearbeiteten Diversitätsdimensionen wird ersichtlich: Die Klimabewegung weist deutlichen Bedarf an Anpassungen und Verbesserungen auf. Hierfür haben Klima-Aktivisti schon einige Vorschläge gemacht. So argumentiert Tonny Nowshinb, dass es für mehr Diversität in der Klimabewegung die Notwendigkeit gibt, dieses Problem zunächst anzuerkennen: „Weltweit gibt es Diversität in der Klimabewegung, sie wird von Medien jedoch unsichtbar gemacht […] Die Klimaproteste in Bangladesch gibt es seit 2011. Seit 2016 sind sie richtig groß. Wenige in Deutschland wissen das.“ (Nowshin, zitiert nach Opitz, 2019) Denn nur wer die globalen Kämpfe für Klimagerechtigkeit kennt, kann sich damit solidarisieren. Um erfolgreich zu sein, muss der Kampf für Klimagerechtigkeit aus vielen verschiedenen Perspektiven solidarisch angegangen werden.

Doch auch hier bleibt die Frage: Wer wird gehört und gesehen? Aufgrund der ungerechten Machtgefälle ist es wichtig, dass von weißen Personen dominierte Klimabewegungen nicht-weißen Menschen zuhören und diesen den Rücken stärken. Hier ist aber auch der Kontext wichtig. Wie zuvor beschrieben, sind BIPoC-Aktivist*innen durch ein rassistisches System höheren Gefahren ausgesetzt als weiße Aktivist*innen und erfahren stärkere Repression. Aktivist*in Winta P. von „BIPoC for Future“ erklärt in Bezug darauf: „Es macht etwa keinen Sinn, BIPoC als Kontaktpersonen zur Polizei zu benennen.“ (Malkiowski, 2022) Es braucht also einen sensiblen Umgang mit marginalisierten Personengruppen sowie anti-rassistische Praktiken. Dazu gehören auch Critical-Whiteness- oder Diversity-Trainings, die in sozialen Bewegungen standardisiert werden sollten. Außerdem, so Winta weiter, braucht es mehr BIPoC- und MAPA-Aktivist*innen (Most Affected People and Areas) in leitenden Positionen, um die Sichtbarkeit zu erhöhen (ebd.).

In Bezug auf Klassismus in der Klimabewegung braucht es ein niedrigschwelliges Angebot für junge Menschen, welches deren eigene Lebenswelt widerspiegelt. Bekannte Personen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, z. B. Sportler*innen, Rapper*innen oder Influencer*innen, können eine Vorbildfunktion erfüllen und Jugendlichen zeigen, dass Klimagerechtigkeit ein Thema ist, das für alle relevant ist und nicht nur einer bestimmten Bubble von privilegierten Personen zugänglich ist (Langrock-Kögel, 2020). Außerdem ist es wichtig, dass die Klimabewegung mit Gewerkschaften und Arbeiter*innen zusammenarbeitet. Wenn Aktivist*innen beispielsweise Straßen blockieren und Menschen daran gehindert werden, ihrer notwendigen Lohnarbeit nachzukommen, von der ihre Existenz abhängt, kann das problematisch sein und abschrecken. Wichtiger wäre es, diese Menschen auf eine gemeinsame Seite zu bringen und zu verdeutlichen, dass die Industrie und große Konzerne den Großteil der Treibhausgas-Emissionen verursachen. Insgesamt müssen für eine diversere Beteiligung am Kampf für Klimagerechtigkeit Selbstwirksamkeitserfahrungen gestärkt werden, sodass Menschen sich ermächtigen können, sich unterstützt und sicher fühlen, egal welchen Hintergrund sie haben. Für deutsche Non-Profit-Organisationen, die an der Schnittstelle von Klimaschutz und Gerechtigkeit arbeiten, gilt: Sie müssen auch die Personen beschäftigen, die sie als Zielgruppen benennen, um betroffenen Gruppen Raum und Gestaltungsmöglichkeiten zu lassen, sowie die vorhandene Expertise nutzen zu können (Cardoso, Groneweg, 2021). Beispielsweise müssen Stellenausschreibungen auch in den passenden Netzwerken gestreut werden und „ausdrücklich die Bewerbung von Menschen fördern, die sich mit marginalisierten Gruppen identifizieren, wie Migrant:innen, BIPoC, Queers und Menschen mit Behinderungen.“ (ebd.)

Gerne würde ich auf die einzelnen Ebenen genauer eingehen und weitere Diversitätsdimensionen miteinbeziehen, die hier leider keinen Platz gefunden haben. Jedoch hoffe ich, dass dieses Essay einen kurzen Überblick über die Vielschichtigkeit der Klimagerechtigkeitsbewegung gibt und einen Anstoß für weitere Überlegungen in diesem Feld bieten kann.

Literatur

Bechert, L./ Dodo, Kartal, S. (Jugend im Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V., 2021). Kolonialismus und Klimakrise. Über 500 Jahre Widerstand. https://www.bundjugend.de/wp-content/uploads/Kolonialismus_und_Klimakrise-ueber_500_Jahre_Widerstand.pdf

Bundeszentrale für politische Bildung (20.10.2022). Flutkatastrophe in Pakistan. https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/514557/flutkatastrophe-in-pakistan/

Groneweg, M./Cardoso, I. (Klimareporter, 13.09.2021) Wie Klima-NGOs inklusiv werden können: Diversität kommt nicht von allein. https://www.klimareporter.de/protest/diversitaet-kommt-nicht-von-allein

Langrock-Kögel, C. (11.02.2020) Nicht wirklich bunt. Wie elitär sind die Klimaproteste? https://goodimpact.eu/recherche/fokusthema/wie-elitar-sind-die-klimaproteste

Malkiowski, J. (taz, 23.09.2022) Kli­ma­ak­ti­vis­t*in über Diversität. „Fridays for Future ist weiß“ https://taz.de/Klimaaktivistin-ueber-Diversitaet/!5879828/

Nowshin, T. (klimareporter, 17.06.2020) Die Klimabewegung hat ein Rassismus-Problem. https://www.klimareporter.de/protest/die-klimabewegung-hat-ein-rassismusproblem

Opitz, N. (taz, 13.12.2019) Diversität beim Klimaprotest. Zu jung, zu weiß, zu akademisch. https://taz.de/Diversitaet-beim-Klimaprotest/!5645995/

Weissenburger, P. (taz, 27.10.2020). Vanessa Nakate und das Foto der AP. Davos, eurozentriert. https://taz.de/Vanessa-Nakate-und-das-Foto-der-AP/!5656696/

Abbildungsverzeichnis

Kiln Enterprises Ltd. The Carbon Map. https://www.carbonmap.org/


Quelle: Kim Winters, Who matters? (Fehlende) Diversität in der deutschen Klimabewegung, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 16.05.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=347

Check your privilege – und dann?

Die Individualisierung des Klassismus-Begriffs und die neo-liberale Vereinnahmung von Diversity

Amelie Kloas (SoSe 2022)

Klassistische Diskriminierung oder kapitalistische Ausbeutung

Während der Begriff des Klassismus nicht nur im akademischen Gebrauch, sondern auch gesamtgesellschaftlich immer präsenter wird, scheint es, als würde der Begriff Klasse(nkampf) in linksradikalen Ecken versauern. Eine kulturalistische Analyse von Klasse und die Individualisierung klassistischer Diskriminierung charakterisieren einen bürgerlichen Diskurs, der die Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiter*innen nicht nur auf die Mikroebene herunterbricht und somit Handlungsmöglichkeiten unterbindet, sondern diese Mechanismen manifestiert. Auch wenn die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien elementar für die weiterführende Analyse mit gesamtgesellschaftlichen Strukturen ist, tut sich eine Falle auf, wenn das Problem white privilege und nicht white supremacy, klassistische Diskriminierung und nicht kapitalistische Ausbeutung, Sexismus und nicht Patriarchat, Homophobie und nicht Heteronormativität heißt. Intersektionale Perspektiven helfen uns, Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen besser zu verstehen, wenn wir analysieren, dass diese anhand verschiedener Kategorien verlaufen und miteinander verzahnt sind. Die Individualisierung dieser intersektionalen Mechanismen aber raubt politische Handlungsmöglichkeiten. Im Folgenden werden in Tradition marxistischer Theorie die Individualisierung des Klassismus-Begriffs und die neo-liberale Vereinnahmung von Diversity analysiert.

Dazu wird zunächst die Genese des Klassismus-Begriffs skizziert. In diesem Zuge soll ergänzend auch der Begriff Klasse besprochen werden und inwiefern sich diese Kategorie von anderen Identitätskonstruktionen unterscheidet. Daran anschließend soll die Individualisierung von Diskriminierungsformen, insbesondere des Klassismus diskutiert werden. Nach einer Skizzierung des Konzeptes der Intersektionalität und ihrer Relevanz für klassenpolitische Fragen wird umrissen, welche Bedeutung aus dem Umgang mit den eigenen Privilegien weiterhin aus dem Konzept der Diversity Trainings hervorgeht. Abschließend sollen Handlungswege und das emanzipatorische Potential ebendieser aufgezeigt werden. Dieses Essay will als schwesterliche Kritik einen Beitrag zu der Diskussion zum Verhältnis der eigenen politischen Praxis, des eigenen politischen Seins, der eigenen Situiertheit in unserer Gesellschaft und den strukturellen Problemen des Systems beitragen.

Genese des Klassismus-Begriffs

Der Klassismus-Begriff ist umstritten. Er bezeichnet je nach Definition die Diskriminierung einzelner Personen oder Personengruppen entweder aufgrund ihrer jeweiligen Klassenumstände oder ihrer sozialen Herkunft/Schicht/Position. Der Begriff reiht sich auch semantisch durch sein Suffix in andere Diskriminierungsformen ein, thematisiert innerhalb der meisten Definitionen eher die Auswirkungen, nicht eigentlichen Ursprünge von Klassismus (Dermitzaki, 2020).

Zurückführen lässt sich die Nutzung des Begriffs auf die Lesbengruppe Furies, welche sich in den USA in den 1970ern gegen das neoliberale Narrativ des sozialen Aufstiegs durch Anstrengung positioniert und aus einer gesellschaftlichen Positionierung als Arbeiter*innen_töchter die klassistische Diskriminierung skandalisiert. Durchsetzen konnte sich diese kapitalismuskritische Analyse aber nicht und einer der heute bekanntesten Klassismusforscher, Chuck Barone, verhandelt Klasse als sozial konstruierte Kategorie. Im deutschsprachigen Raum besteht die Schwäche des englischen Begriffs class, nämlich die mangelnde Unterscheidung zwischen Klasse und Schicht, zumindest semantisch nicht. Trotzdem setzt sich in Deutschland bis heute das Verständnis von Klassismus als „persönliche, intergruppale und kulturelle Unterdrückung“ aus den USA nicht nur in sozialwissenschaftlichen, sondern auch aktivistisch politischen Kontexten durch (Baron, 2014). Andreas Kemper definiert Klassismus als „Ausbeutung, Marginalisierung, Gewalt, Macht und Kulturimperialismus aufgrund der sozialen Herkunft oder Position“ (Kemper, 2016). Gegenstand von Diskussion sollte hier durchaus sein, warum in dieser Definition der Grund als soziale Herkunft oder Position, nicht die Klassenzugehörigkeit benannt wird. Anhand dessen stellt sich heraus, dass dieser Klassismusbegriff eben als alltagspolitischer Begriff Wirkung entfaltet- die ursächlichen Gründe, nämlich das kapitalistische Wirtschaftssystem, geraten hier mindestens in den Hintergrund und Klassismus wird zu einer Form von Diskriminierung, die durch „anti-klassistische Praxis“ wie das Besuchen von Workshops aufgehoben werden kann. Auffällig sind wohl auch Berührungsängste mit den Begriffen Klasse und Klassenkampf. Beispielhaft: Andreas Kemper stellt im Zuge der Konzeptualisierung einer Anti-Klassismus Matrix vier analytische Elemente von Klassismus auf. Eines davon der Klassenkampf. Kemper aber schreibt, dass dieser besser als „Klassenaufhebungspraxis“ bezeichnet werden könne (Kemper, 2016). Begriffe mit marxistischer Konnotation werden gemieden bzw. neue Begriffe für solche erfunden, die es seit Jahrhunderten gibt. Weiter noch, die ein und dasselbe meinen.

Differenzkategorien – warum Klasse anders ist

Einige Klassismus-Forscher*innen verhandeln die Kategorien class, race, gender, sexuality und body analytisch einheitlich. Somit entsteht teilweise die Annahme, auch Klasse wäre sozial konstruiert. Die analytische Kategorie Klasse aber beschreibt keine mehrheitsgesellschaftlich zugeschriebene Zugehörigkeit, sondern trifft Aussagen über die Widersprüche des kapitalistischen Systems und versucht die Ursachen struktureller Ungleichheit zu verorten (Baron, 2014). In anderen Worten: Differenzkategorien wie gender und race münden zwar in materieller Ungleichbehandlung, lassen sich aber nicht dadurch begründen. Sie sind sozial konstruiert, lassen sich historisch mit Kolonialismus, Patriarchat und Kapitalismus verknüpfen. Klasse hingegen ist eine Kategorie, die sich aus den systemimmanenten materiellen Ungleichheiten des Kapitalismus begründet. Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit und Ableismus stellen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse im Kapitalismus dar. Tupoka Ogette beschreibt, wie Rassismus schon im 15. Jahrhundert die „ideologische Untermauerung“ einer „weltweiten Plünderungsindustrie“ bildet. Auch wenn wir zu dieser Zeit noch nicht von Kapitalismus sprechen können, so wird deutlich, wie die Differenzkategorie race konstruiert wird, um Profitmaximierung durch Ausbeutung, hier durch die Maafa, zu generieren. Weiterhin, dass wir die Entstehung der Differenzkategorie race nicht von Kolonialismus und Imperialismus, später auch von Kapitalismus trennen können (Ogette, 2020).

Die Individualisierung von Klassismus

Die eben angeführte Argumentation verwirft nicht den Anspruch, klassistische Diskriminierung anzuerkennen und dagegen zu kämpfen. Die Reflektion der eigenen Sprache, die Auseinandersetzung mit Exklusionsmechanismen und Zugangsmöglichkeiten im eigenen Umfeld muss zwangsläufig erfolgen, darf aber nicht verkennen, dass nicht klassistische Diskriminierung ursächlich für Unterdrückung und Ausschluss ist, sondern die Ausbeutung im kapitalistischen System. Diese raubt Arbeiter*innen jegliche Ressourcen die nötig wären, um am gesellschaftspolitischen Leben teilzuhaben. Personen in Lohnarbeit erwirtschaften mit ihrer Arbeitskraft einen Mehrwert, welcher durch die Kapitalist*innenklasse angeeignet wird. Die Differenz von geschaffenem Mehrwert und vergüteter Arbeitskraft stellt den erwirtschafteten Profit (Lhotzky, 2016, 2021). Diese Logik bildet die ökonomische Grundlage des Kapitalismus und verzahnt sich mit patriarchaler und rassistischer Unterdrückung. Das Kapital – ökonomisches, kulturelles sowie soziales – sammelt sich monopolartig in den Händen weniger Menschen. Seeck und Theißl formulieren treffend: „Klassismus lediglich als Diskriminierungsform zu verstehen, ohne die (Um-)Vertei-lungsfrage zu stellen, greift zu kurz und steht einer emanzipatorischen antiklassistischen Politik entgegen“ (Seeck & Theißl, 2021).

Die Individualisierung von Klassismus, wie auch bei allen anderen sozialen Kategorien, entlässt das System aus der Verantwortung und verschleiert und/oder manifestiert damit die bestehenden Verhältnisse. Erfolgt eine Reduktion von Klassismus auf Einstellungen und Verhalten einzelner Personen(gruppen), so gerät außer Acht, dass Klassismus keine Nebenwirkung des kapitalistischen Systems, sondern eine Notwendigkeit ist. Anti-Klassistische Arbeit ist durchaus notwendig, bleibt aber nur ein leeres Versprechen, wenn nicht auch die ökonomischen Verhältnisse in Analyse und Handlungsstrategien mit einbezogen werden. Weiterhin sind Differenzkategorien wie Klasse, Sexualität, Geschlecht und race keine Identitätsmarker, die ahistorisch und isoliert auftreten, sondern soziale Beziehungen, die sich erst in Einbettung bestehender Machtverhältnisse ausformulieren lassen.

Individuelle Erfolgsgeschichten werden exemplarisch gerne dafür genutzt, das neoliberale Narrativ von sozialem Aufstieg zu untermauern. Dass Klassen- oder Schichtmigration nur den wenigsten möglich ist und dem Großteil der Arbeiter*innenklasse verwehrt bleibt, wird dabei ausgelassen. Laut Daten der Hans-Böckler Stiftung ist ein sozialer Aufstieg in den Jahren 2009-2013 36% aller armen Menschen in die „untere Mitte“ gelungen. Das sind 11% weniger als noch 1991-1995. Der Aufstieg in die „obere Mitte“ gelang 2009-2013 nur 7% aller armen Menschen. Als arm gilt in diesen Berechnungen, wer weniger als 60% des mittleren Einkommens in Deutschland erhält (Spannagel, 2016). Weiterführend ist nicht nur das Erfolgsversprechen unrealistisch, auch wird nicht danach gefragt, warum sozialer Aufstieg überhaupt notwendig oder wünschenswert ist. Neben dem kapitalistischen Leistungsgedanken ist es wohl das Bewusstsein darüber, dass die Lebensqualität armer Menschen mit erheblichen Mängeln verknüpft ist. Das Versprechen des sozialen Aufstiegs versucht diese Widersprüche abzudämpfen. Weiterhin relevant ist hier, dass die Gründe für das Nicht-Gelingen von Klassenmigration wieder individuell bei Einzel-Personen selbst angesiedelt werden.

Hanappi-Egger und Kutscher kritisieren, dass die „oftmals rein sozialkategorische, auf der sozialen Identitätsebene angesiedelte Konzeptionierung von Gruppen und Subgruppen [.] persönliche Individualität, nicht aber Gemeinschaftlichkeit und Solidarität in den Blick [nimmt]“. Weiterhin Gegenstand von Kritik ist hier die „Reproduktion [..] essentialistischer Identitätskonzepte[.]“ (Hanappi-Egger & Kutscher, 2015, S. 22). Eine festzustellende Individualisierungstendenz des neo-liberalen Zeitalters verschiebt Fragen der sozialen Gerechtigkeit in den privaten Raum und verortet die Verantwortung eben dafür bei Einzelpersonen oder Gruppen, nicht aber im Kollektiv. Damit einher geht ein Verlust emanzipatorischen Potentials- ist es doch die eigene individuelle Verantwortung, wenn sich das Versprechen des sozialen Aufstiegs nicht erfüllt. Weiterhin relevant ist eine „Generalisierungstendenz“, wonach sich immer mehr Menschen der Mittelschicht zugehörig fühlen und eine Art klassenlose Gesellschaft postuliert wird, sowie die Zugehörigkeit der sozialen Schicht/Klasse als fluide verstanden wird. Damit einher geht auch hier die Verantwortungszuschreibung für die eigene sozioökonomische Position zu einzelnen Individuen. Eine Identifikation mit der Arbeiter*innenklasse findet nicht statt, was das Erkennen struktureller Ungleichheit unterbindet (Hanappi-Egger & Kutscher, 2015).

Insgesamt also resultiert aus der Generalisierungstendenz unserer neo-liberalen Gesellschaft zunächst eine erschwerte Identifikation als Teil der Arbeiter*innenklasse, also als Gegenstand eines Kollektivs. Weiterhin, selbst wenn eine solche Identifikation erfolgt, wird durch die Individualisierungstendenz die Kausalität für die eigene Armut nicht etwa im strukturellen Kontext verortet, sondern der individuellen Verantwortung zugeschrieben.

Intersektionalität

Der Begriff der Intersektionalität erlaubt es, Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen zu analysieren, die anhand verschiedener Differenzkategorien verlaufen. Auch wenn sich zumindest Ambitionen feststellen lassen, Klassismus in Diversitäts-Diskurse zu integrieren, greifen diese die strukturelle Benachteiligung von Arbeiter*innen zumeist noch eher selten auf. Dabei ist die Klassenzugehörigkeit elementar für die Entstehung der Theoretisierung von Intersektionalität. Der Begriff wurde erstmalig von 1989 von der Juristin Kimberlé Crenshaw eingeführt und geht zurück auf eine arbeitsrechtliche Klage, die nach einer Entlassungswelle von Arbeiter*innen – dezidiert Schwarzer Frauen* – bei General Motors veranlasst wurde. Das Unternehmen konnte weder für Rassismus noch Sexismus belangt werden, denn weder weiße Frauen*, noch Schwarze Männer* wurden entlassen. Hier findet die Intersektionalität Anwendung: die Diskriminierung lässt sich bei diesem Beispiel nicht nur auf gender oder race beziehen, sondern auf die Intersektion dieser Kategorien. Auch heute noch können wir Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen nur treffsicher analysieren, wenn wir die Intersektionen von Differenzkategorien in den Blick nehmen.

Beispielhaft zeichnet sich hier die Korrelation der Intersektion Armut/Lebensverhältnisse und Rassismus durch eine Wechselwirkung aus. In Deutschland wird der Niedriglohn- bzw. der prekäre Sektor von Migrant*innen dominiert – insbesondere Frauen*. Diese Intersektion lässt sich in Deutschland historisieren, spätestens ab der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird diese mehr als deutlich: Im Zuge der Gastarbeiter*innenbewegung aus europäischen Südstaaten und der Türkei, ab den 70’ern Migrationsbewegungen in die DDR aus zum Beispiel Vietnam, 1988 dann Zuwanderungen aus Russland und später Fluchtbewegungen aus zum Beispiel Syrien oder Afghanistan. Gerade im Kontext organisierter Arbeitsmigration migrieren Personen aus eher ärmeren Ländern nach Deutschland, um dann Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, die gesellschaftlich wenig bis nicht anerkannt sind. Das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder steht auf den Schultern der Ausbeutung von Arbeitskraft besonders migrantischer Arbeiter*innen. Die Unterscheidung von weiß/nicht-weiß des deutschen Rassismusbegriffs reicht oft nicht aus, wie am Beispiel rumänischer Arbeiter*innen auf deutschen Spargelhöfen deutlich wird. Die Intersektion von Rassismus und Klassismus wird, wie bei vielen anderen Intersektionen, oft nicht erkannt. Im Weg steht das neoliberale Narrativ: jede*r ist seines Glückes Schmied. Der Zugang zu den benötigten Ressourcen aber ist stark abhängig von den finanziellen Mitteln des Elternhauses und Zugangsmöglichkeiten von struktureller Diskriminierung geprägt. Das beginnt bereits im Kindergarten und der Schule, äußert sich bei der Wohnungssuche oder am Arbeitsplatz (Dermitzaki, 2020). Was die Konzeptualisierung von Intersektionalität auch mit sich bringt, ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien. Besonders, die Bewusstmachung der eigenen Identitätsmarker und der gesamtgesellschaftliche Situiertheit.

Privilegiencheck und Diversity Trainings

Beliebte politische Praxis im Kontext der Diversity Sensibilisierung ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien. Auch in aktivistischen Kreisen ist immer wieder die Rede von „Check your privilege“. Ob Privilegiengalerie, kritische Männlichkeitsworkshops, critical whiteness oder allyship: all diese Ideen verbindet eine Gemeinsamkeit: der Glaube daran, es selbst besser und damit zumindest das eigene Umfeld zu einem diskriminierungsärmeren Raum zu machen. Aber: Welche fundamentalen Zugeständnisse macht das Patriarchat, wenn Cis-Männer einen Workshop zu kritischer Männlichkeit besuchen? Lackieren sich dann endlich alle die Nägel? Das ist nicht der Anspruch dieser Trainings – vielen ist das klar. Und trotzdem sind diese skizzierten Diskurse keine Seltenheit.

Privilegien sind Vorteile, Ansprüche und Dominanz, die bestimmten Gruppen innerhalb spezifischer Kontexte gesellschaftlich zugesprochen werden. Sie sind Sondervorteile – nicht universell, nicht für alle gültig. Privilegien werden zugestanden, nicht durch persönliche Anstrengung verdient und stehen in Korrelation zu einem präferierten Status. Die Ausübung von Privilegien erfolgt unter Profitierung derjenigen, die sie besitzen – auch wenn bei privilegierten Gruppen oft kein Bewusstsein über den Besitz dieser Privilegien besteht. Die Unterdrückung von Personen ohne spezifische Privilegien erhält den status quo aufrecht. Im Falle klassenspezifischer Privilegien wird das Bestehen der Klassengesellschaft abgesichert (Black & Stone, 2011).

Die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien kann ein erster Schritt sein, um greifbar zu machen, in welchem System wir leben. Allein die Bewusstmachung der eigenen Situiertheit in der Gesellschaft, kann Möglichkeiten zur Analyse struktureller Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen eröffnen.  Privilegienchecks sind wertvoll im Kontext des nahen sozialen Umfelds, die Identifikation der eigenen Perspektive notwendig, um ernsthaft und glaubwürdig politische Arbeit zu leisten und dem eigenen Anspruch der Schaffung diskriminierungsarmer Räume gerecht zu werden. Unterdrücker und Unterdrückte müssen sich ihrer relativen Rolle, also auch dem Besitz von Privilegien, bewusst sein, um gegen ein System der Ungerechtigkeit zu kämpfen (Black & Stone, 2011). Privilegien sind etwas Strukturelles, nicht individuell. Entscheidend ist die eigene Auseinandersetzung nicht damit, Privilegien zu besitzen, sondern, mit diesen umzugehen. Eine konstruktive Verhandlung der eigenen Privilegien erkennt an, dass diese aus einem System der Unterdrückung hervorgehen und nutzt die damit einhergehenden Ressourcen für einen Beitrag zur Befreiung der Unterdrückung Aller (Kashtan, 2019).

Konzepte und Umsetzungen von Diversity Trainings unterscheiden sich mitunter stark. Während es solche gibt, die die eben skizzierten Chancen eröffnen, lässt sich gleichzeitig feststellen, dass oft auch eine Aneignung von Diversity für Profitmaximierung festzustellen ist (Hanappi-Egger & Kutscher, 2015). Diversity Trainings können zwar zu einem Abbau von persönlicher Voreingenommenheit und Vorurteilen führen, evidenzbasiert zeigt sich aber, dass damit nicht automatisch ein Rückgang von (struktureller) Diskriminierung zu verzeichnen ist. Diese nämlich ist Produkt von Einstellungen und Gewohnheiten aber auch institutionalisierten Mechanismen und lässt sich nicht allein durch un(ter)bewusste Voreingenommenheit erklären. Diversity Trainings müssen als Teil weiterer Diversity Maßnahmen verstanden werden, um strukturelle Diskriminierung abzubauen (Dobbin & Kalev, 2018).

Handlungswege und emanzipatorisches Potential

„Individualisierung macht Diskriminierung unsichtbar“ – fasst Dimitra Dermitzaki zusammen (2020). Der Umgang mit den eigenen Privilegien, wie auch das Konzept von Diversity Workshops ist fruchtbar in direkter sozialer Umgebung, für ein systemisches Problem aber braucht es kollektive Antworten. Dafür elementar ist zuallererst natürlich ein Problembewusstsein, welches durchaus auch durch eine individualisierte Perspektive geschaffen werden kann. Dabei darf es aber nicht bleiben – die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien muss weiterführen und sich mit Fragen struktureller Diskriminierung, mit systemimmanenten Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen auseinandersetzen. Durch die Individualisierung, egal welcher Differenzkategorien, werden Handlungswege verschlossen und emanzipatorisches Potential untergraben. Die Identifikation als Kollektiv und die Verortung von Barrieren auf struktureller, systemischer Ebene erst erlaubt es, auf Veränderung zu hoffen. Der Klassismus-Begriff unterscheidet sich je nach Denkschule – deutlich ist aber, dass die dominante Auslegung auf die soziale Schicht verweist und sich zumeist mit den Auswirkungen klassistischer Diskriminierung befasst. Nicht die Dekonstruktion sprachlicher Vertikalismen, wie einige poststrukturalistische Ansätze innerhalb der Diskussion um die Konzeptualisierung des Klassismus-Begriffs versieren, sondern die Identifikation der lohnabhängigen Klasse als potentiell handlungsfähiges Kollektiv, sowie eine explizite Integration einer Analyse der ökonomischen Verhältnisse entfaltet emanzipatorisches Potential und eröffnet Handlungsmöglichkeiten hin zu einer gerechteren Gesellschaft (Baron, 2014). Diversity Trainings können, wenn eingebettet in breitere antikapitalistische, diskriminierungskritische Zusammenhänge, einen Teil dazu beitragen. Auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien, der eigenen Situiertheit in der Gesellschaft kann ein erster Schritt zu einer weiterführenden Kritik an den unterdrückerischen Strukturen des Systems sein, sowie ein essenzieller Bestandteil der eigenen politischen Befreiungskämpfe.

Literaturverzeichnis

Baron, C. (2014). Klasse und Klassismus. Eine kritische Bestandsaufnahme. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft(175), S. 225-235. doi:10.32387/prokla.v44i175.172

Black, L. L., & Stone, D. (2011). Expanding the Definition of Privilege: The Concept of Social Privilege. Journal of Multicultural Counseling and Development(4), S. 243-255. doi:10.1002/j.2161-1912.2005.tb00020.x

Dermitzaki, D. (2020). Zur Überschneidung von Rassismus und Klassismus. „Individualisierung macht Diskriminerung unsichtbar“. (A. Vangelista, Interviewer) Von https://rdl.de/beitrag/individualisierter-gesellschaft-ist-diskriminerung-unsichtbar abgerufen

Dobbin, F., & Kalev, A. (2018). Why Doesn’t Diversity Training Work? The Challenge for Industry and Academia. Anthropology Now(2), S. 48-55. doi:10.1080/19428200.2018.1493182

Hanappi-Egger, E., & Kutscher, G. (2015). Entgegen Individualisierung und Entsolidarisierung: Die Rolle der sozialen Klasse als suprakategorialer Zugang in der Diversitätsforschung. In E. Hanappi-Egger, & R. Bendl, Diversität, Diversifizierung und (Ent)Solidarisierung. Wiesbaden: Springer VS.

Kashtan, M. (2019). Why and How Facing Your Privilege Can Be Liberating. Understanding & Dismantling Privilege(1), S. 22-30.

Kemper, A. (2016). Klassismus. Eine Bestandsaufnahme. Thüringen: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Lhotzky, K. (Hrsg.). (2016, 2021). Karl Marx und Friedrich Engels. Gesammelte Werke. München: Anaconda Verlag.

Ogette, T. (2020). exit RACISM. rassismuskritisch denken lernen. Münster: UNRAST-Verlag.

Seeck, F., & Theißl, B. (2021). Solidarisch gegen Klassismus organisieren, intervenieren, umverteilen. UNRAST.

Spannagel, D. (2016). Soziale Mobilität nimmt weiter ab. WSI-Verteilungsbericht 2016. Düsseldorf: Sertzkasten GmbH.


Quelle: Amelie Kloas, Check your privilege – und dann? Die Individualisierung des Klassismus-Begriffs und die neo-liberale Vereinnahmung von Diversity, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 07.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=309

„Was hat das alles mit mir zu tun?“- Plädoyer für einen diversen Geschichtsunterricht

Marcus Schäfer (SoSe 2020)


Als ich neulich in einem Seminar für lateinamerikanische Geschichte saß, in dem viele Aspekte dieses spannenden Kulturkreises behandelt wurden, teilweise auch unter feministischen Vorzeichen, da versuchte ich mich zu erinnern, ob ich während meiner Schulzeit jemals etwas anderes gelernt hatte als europäische und vor allem deutsche Geschichte. In diesen Erzählungen behandelten wir meist weiße Männer, die vermeintlich große politische Dinge taten. Das war zweifellos bedeutsam, aber sollte es da nicht noch mehr geben? Das folgende Essay wird sich mit diesem Gegenstand fehlender Diversität im Geschichtsunterricht tiefergehend befassen und danach fragen, wie eine Darstellung und Perspektivierung von Geschichte mit Bezug zu Gender und Diversity im Unterricht aussehen könnte. Und was genau könnte mit solch einer Neujustierung eigentlich erreicht werden? Welche Umstände stehen dieser Neujustierung oder De- und Rekonstruktion des Bildungssystems möglicherweise im Weg? Fest steht, dass in diesem so elementaren Sektor trotz einer sichtbaren und kaum bestreitbaren Werte- sowie Normenverschiebung innerhalb der Gesellschaft definitiv Nachholbedarf besteht. Und nicht nur dort, auch bzgl. anderer Thematiken, wie ich sie dieses Semester kennenlernen durfte, seien es Self-Awareness, Vielfalt, Heteronormativität, Rassismus, Intersektionalität, Mechanismen der Diskriminierung im Allgemeinen, Feminismus und andere Gender & Diversity-Faktoren sieht es trotz sicherlich vorhandener Fortschritte in den letzten Jahrzehnten noch einigermaßen düster aus und bedarf es vielschichtiger Reformbestrebungen. Und dies ist keine einfache Aufgabe, wie die Professorin für Sozialpädagogik Christine Riegel feststellt:

„ Der Umgang mit sozialen Differenzen und sozialer Ungleichheit stellt eine gesellschaftliche und auch pädagogische Aufgabe und Herausforderung dar.“[1]

Eine intersektionale Perspektive wäre für ein solches Bildungsangebot, wie es auch für das deutsche Bildungswesen insgesamt notwendig ist, unabdingbar: „Intersektionalität stellt eine Analyseperspektive dar, um hegemoniale und selbstverständliche Grenzziehungen und Kategorisierungen, Normierungen und Normalisierungen zu hinterfragen.“[2] Eine Neuperspektivierung muss als Kernelement moderner, zeitgemäßer Bildung gelten. Das Hinterfragen der eigenen Position und Denkmuster muss hier unbedingt miteinbezogen und als Kernkompetenz gelehrt werden. Die Historikerin Christiane Kohser-Spohn betont im Zuge didaktischer Überlegungen, dass bspw. Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte im Geschichtsunterricht unbedingt gelehrt werden sollte. Sie stellt aber auch fest, dass, obwohl diesbezüglich bereits eine breitgefächerte Einsicht vorhanden ist, kaum vernünftige Konzepte vorliegen, diese Einsicht in eine gute Praxis umzusetzen, welche dem Themenkomplex würdig wäre. So beschränken sich derartige Versuche oftmals damit, in Schulbüchern hier und dort ein zusätzliches Kapitel anzuhängen, welches „Aspekte im Leben der Frau“ erwähnt.[3] Der Historiker und Geschichtsdidaktiker Vadim Oswalt nennt diesen frühen Ansatz „additiv-kompensatorisch“ – das Hinzufügen eines „ergänzenden“ aber schlussendlich auch isoliert dastehenden „Frauenthemas“. Die eingangs genannte Einsicht, Geschlechtergeschichte in den Geschichtsunterricht miteinzubeziehen, ist natürlich vernünftig, dennoch erscheint ein Ansatz wie der gerade genannte doch recht plump und kontraproduktiv. Bärbel Kuhn, Professorin für Didaktik der Geschichte an der Universität Siegen, spricht sich für eine Vertiefung bzgl. eines geschlechtergerechten Geschichtsunterrichts durch die Nutzung oder „Integration autobiografischer Quellen“ aus, da durch deren Nutzung Individuen betrachtet werden und keineswegs lediglich anonyme Beispielpersonen und „statische Lebenswelten“. Stattdessen würden Schüler*innen Menschen kennenlernen, welche „[…] mit ihren Erfahrungen, ihren Leiden, ihren Gegensätzen, ihren Normen und Wertevorstellungen, ihrer Weltauffassung und ihrer subjektiven Darlegung von Ereignissen […]“ einen tiefen Eindruck hinterlassen könnten und gerade so zum Nach- und/oder Umdenken bewegen könnten. Sie sollen nicht nur ein Alltagsleben zeigen, sondern eben die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Einzelperson aufzeigen, und auch, wie ein solches Individuum möglicherweise geschichtliche Prozesse empfunden hat. Des Weiteren sei die Behandlung des Entstehens und Fortbestehens von „Klischees und Stereotypen“ hier möglich, betont Kuhn.[4] Solch ein „persönlicher“ und diverser Unterricht würde der Schülerin oder dem Schüler eben auch mehr Identifikationspotenzial bieten und ein erweitertes Spektrum an Lebensformen aufzeigen (und somit auch der so lebenswichtigen Orientierung von Jugendlichen dienen, die ja oftmals nicht wirklich gegeben ist), als das schlichte Abhandeln von Politik- und Zeitgeschichte und dem eindimensionalen Auswendiglernen von Daten und Namen: „Ein Unterricht, der dem Menschsein und den menschlichen Erfahrungen eine zentrale Rolle zuspricht, antwortet mit Leichtigkeit auf die Frage: „Was hat das alles mit mir zu tun?“[5] Die hier zitierten Ausführungen beziehen sich zwar „nur“ auf die Beziehung von Mann und Frau, dennoch können sie auf alle möglichen Personenkreise bezogen werden und somit Homosexuelle, Transgender-Personen, andere Nationalitäten, u.a. miteinbeziehen. Ich habe in meinem 3. Semester an der Freien Universität ein Seminar zu Migration im 19. und 20. Jahrhundert belegt, in welchem multiperspektivisch nach diversen Migrationserfahrungen in verschiedensten Nationen und Kulturen gefragt wurde, welche sich nicht nur auf Deutschland bezog. Solch ein Geschichtsunterricht sollte Standard an wirklich jeder Schule sein, um Verständnis für andere Lebenslagen zu entwickeln. Dann würden vielleicht auch in Deutschland einmal weniger Flüchtlingsheime brennen. Gerade das Fach der Geschichtswissenschaft kann ein „Vermittler der Heterogenität“ sein, wie es Oswalt ausdrückt: „Nur wer die Verschiedenheit sozialer und kultureller Lebensbedingungen und Wertvorstellungen als einen Normalfall menschlicher Gesellschaften begreift, kann ein reflektiertes historisches Denken entwickeln.“[6] Somit sind es wohl gerade die Geschichtswissenschaften, die sich perfekt dazu eignen (könnten), Schüler*innen u. a. ein tiefergehendes Verständnis von Gender und Diversity zu vermitteln.

Der Problematik eines allzu homogenen Geschichtsunterrichts könnte auch mithilfe von Projektwochen begegnet werden: Ich plädiere für eine ein- oder mehrwöchige Projektwoche pro Schuljahr, in welcher Informationsangebote zu verschiedenen Kontinenten, Ländern und Bevölkerungsteilen angeboten werden, die sonst eher seltener im Fokus stehen, so eben Asien, Afrika oder auch Südamerika und hier eben nicht in der uns allen bekannten einseitigen Darstellung. Hier sollte sich umfassend mit möglicherweise dem Individuum noch „fremden“ oder vielmehr unbekannten Kulturen beschäftigt werden, vor allem natürlich mit ihren Geschichten und auch Leidenswegen, so beispielsweise mit Rassismus, Kolonialismus und Postkolonialismus. Aber nicht ausschließlich. Denn ein Kontinent oder Land definiert sich nicht ausschließlich durch ihre Unterdrücker oder Kolonialismus. Was definiert das Selbstbild einer Kultur? Ihre Traditionen, Strukturen, Religion, Musik, Film, Literatur und so vieles mehr. Es könnte also auch abseits von Klischees eine reichhaltige Geschichte erzählt werden. Und diese Betrachtung muss differenziert geschehen. Warum nicht einmal einen kubanischen Film zur sozialistischen Revolution schauen und den historischen Hintergrund analysieren? Oder wie wäre es mit Straßentouren, in denen geschichtsträchtige Orte besucht werden, deren Besuch äußerst pädagogisch sind? Die „Berliner Spurensuche“ bietet Straßenführungen im Wedding an („Kolonialer Wedding“), in denen diverse Straßen abgeklappert werden und die historischen Hintergründe einiger Straßennamen mit kolonialem Hintergrund erklärt werden. Dort erfahren wir, was der Kolonialismus eigentlich war und was Deutschland hiermit zu tun hatte (und hat!). Der regelmäßige Besuch solcher Veranstaltungen sollte ein Pflichtprogramm werden. Und auch der Austausch mit Korrespondenten oder Besuchern aus dem jeweiligen Land könnte sinnvoll sein. Von Menschen, die von ihrer Welt und ihrem Leben erzählen. Gerade durch eine multiperspektivische und diverse Betrachtung von Geschichte, Kulturen, Gesellschaften, Geschlechtern, Lebenswegen, Lebensmodellen, etc. kann auch eine Inklusion geschaffen werden, die einer Ausgrenzung vorbeugen kann. Deutschland ist ein Einwanderungsland und dies nicht erst seit gestern. Warum sollte beispielsweise nicht auch türkische oder griechische Geschichte behandelt werden? Und wenn schon über weltbewegende Individuen gesprochen werden muss, warum nur über Winston Churchill, Richard Löwenherz und Napoleon Bonaparte reden, wenn es auch weltbewegende Frauen, wie Indira Ghandi, Isabella I. oder Ulrike Meinhof gab und gibt? Diese aber nur als Beispiel.

Auf der Gegenseite steht natürlich die Frage nach dem Zeit- und Kostenfaktor. Hier müsste verstärkt in ein veraltetes und gegenwärtig sowieso relativ marodes Bildungssystem investiert werden, welches dringend einer Generalüberholung bedarf. Hierbei wünscht man sich die Offenheit und das Verantwortungsbewusstsein der verantwortlichen staatlichen Institutionen, eben solche neuen Projekte in Angriff zu nehmen. Des Weiteren lassen sich bei genauerer Betrachtung immer wieder auch Ungleichgewichte in unserem klassifizierten Bildungssystem finden; zwar gibt es bereits in einigen Bundesländern zahlreiche Gesamtschulen, welche das veraltete dreigliedrige Schulsystem – Hauptschule, Realschule & Gymnasium – obsolet gemacht haben, sodass alle den gleichen Stoff lernen, dennoch ist diese Dreigliederung weiterhin fester Bestandteil des reformbedürftigen deutschen Bildungssystems. Zwar sterben Hauptschulen laut einem Artikel der Süddeutsche Zeitung teilweise aus bzw. gehen in Gesamtschulen oder im Verbund mit Realschulen in sog. Regional- oder Sekundarschulen auf, die aber – genau wie Realschulen – eher praxisorientiert sind, wodurch gerade dort solche Konzepte eher hinten anstehen.[7] Als ich nun in meinem Lateinamerika-Seminar saß, wurde mir als ehemaligem Realschüler bewusst, dass eine Bildung, wie sie hier besprochen wird, immer noch eher für bildungsbürgerliche Schichten erreichbar ist, dem entgegengesetzt stehen Personen aus dem „unteren“ Bildungssektor, welche mit Gender & Diversity keinerlei Kontakt und möglicherweise auch privat keine Motivation oder Gelegenheit haben, dieser Thematik nachzugehen. Also ist es wohl nur richtig, zu beanstanden, dass bei einer Reform des Schul- und Bildungssystems alle Schulformen gleichmäßig behandelt werden müssen. Haupt- und Realschüler beispielsweise sollten diese essentiellen Theorien ebenfalls nähergebracht werden und nicht nur, wie man Vogelhäuschen zimmert oder Schrauben sortiert. Die Fragmentierung des deutschen Bildungssystems muss also generell neu bewertet und überdacht werden, damit die Vorteile modernisierter Bildungsinhalte auch jeden Menschen erreichen, und eben nicht nur bildungsbürgerliche Schichten hiervon profitieren. Des Weiteren darf auch ein ideologischer Faktor nicht ausgeblendet werden: In einer Zeit, in der eine Partei wie AFD versucht, Minderheiten und marginalisierte Gruppen zu diskreditieren und rückständige Meinungen, Werte und Normen in der Mitte der Gesellschaft zu integrieren, ist es einerseits natürlich ein Indiz dafür, dass in einer angeblich sehr aufgeklärten bundesdeutschen Gesellschaft noch einiges an Nachholbedarf besteht. Andererseits wird klar, dass es bei angestrebten Reformen, wie sie dieses Bildungssystem nötig hätte, auch darum gehen muss, hearts and minds der Menschen für einen modernisierten und somit zeitgemäßen Unterricht zu gewinnen. Und hier besteht eine grundlegende Schwierigkeit, da derzeit eben auch ein stark reaktionärer und rückwärtsgewandter Wind weht, der in die entgegengesetzte Richtung bläst. Auch Riegel sieht hier ein Problem:

„Auch wenn es inzwischen ein gewisses Bewusstsein für eine Vielfalt an Lebensformen, für heterogene Lebenslagen sowie für gesellschaftliche Diskriminierungs- und Ungleichheitsverhältnisse gibt, erweist sich der Umgang damit als höchst ambivalent und umstritten – und bleibt allzu oft in vorherrschenden Macht- und Normalitätsverhältnissen gefangen.“[8]

Solch eine Ablehnung oder doch zumindest Reserviertheit sei in den Geschichtswissenschaften keine Seltenheit. Erst vor wenigen Tagen wurde ich von einem Historiker am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität darauf hingewiesen, dass es gerade in den Geschichtswissenschaften wohl eine bisher eher ablehnende Haltung gegenüber der Anwendung einer geschlechtergerechten Sprache gäbe – Gründe hierfür konnte er mir leider keine geben. Als er die Frage ins Plenum warf, wer denn bereits in seiner Schulzeit mit dem Gendern in Berührung gekommen sei, war die Antwort negativ, sprich: Es war einfach kein Thema, welches auf den meisten Gymnasien aktiv behandelt wurde, was im Jahr 2020 schon einigermaßen schockierend ist. Da passt es wohl, wenn Kohser-Spohn meint, dass Geschlechtergeschichte als solche (auch im Bildungssektor) mit Argwohn betrachtet werden würde: „Nevertheless, innovations brought by gender history are considered with reserve.“[9]

Die Vorteile einer Vertiefung des Gender & Diversity – Komplexes liegt ganz klar auf der Hand: Durch entsprechende Bildungsangebote könnte bereits frühzeitig Verständnis für andere Flecken dieser Erde und Situationen diverser Charaktere mit intersektionalen Erlebnissen und Erfahrungen geschaffen werden. Bzgl. des geschichtswissenschaftlichen Studiums an der Freien Universität Berlin wird bereits versucht, den in vorigen Generationen noch sehr populären Eurozentrismus abzulegen, neue Perspektiven einzunehmen und andere Fragen zu stellen. In vielen Schulen sieht es meist noch nicht ganz so positiv aus. Und dieser Eurozentrismus kommt somit einer Degradierung anderer Kontinente und Länder gleich, als ob diese einer näheren Untersuchung die Zeit nicht wert wären. Was natürlich falsch ist. Durch die Beschäftigung mit möglicherweise „fremden“ oder noch unbekannten Kulturen werden Distanzen abgebaut, eine Nähe zur jeweiligen Thematik hergestellt. Kinder und Jugendliche würden so besser verstehen, Verständnis entwickeln, Ängste und Vorurteile abbauen, die eh völlig unsinnig sind, und somit bereits früh zu weltoffeneren Menschen werden. So zumindest meine Hoffnung. Weiterhin würden die Projektideen Kinder und Jugendliche zur Selbstständigkeit erziehen und ihr Selbstbewusstsein stärken. Sie müssen ihre Interessen selbstständig kommunizieren und sich mit einer Kultur beschäftigen, welche ihnen in diesem oder jenem Moment interessant erscheint. Wenn sich die Person mit dieser anderen Kultur auseinandersetzt, und diese besser versteht, wird sie gleichzeitig auch offener dafür, andere Interessen und Befindlichkeiten zu verstehen und zu respektieren.

Der Vermittlung bspw. der Erkenntnisse der Geschlechterforschung auch im Geschichtsunterricht muss generell größerer Raum zugestanden werden. Dies befürwortet auch der Geschichtsdidaktiker und Historiker Martin Lücke, der die „Genderkompetenz als Teilkompetenz des historischen Lernens“ im gleichnamigen Kapitel behandelt:

„Das von der Geschlechterforschung produzierte Wissen über die sozialen und kulturellen Ungleichheiten der Geschlechter und die damit verbundene Erkenntnis einer Geschlechter-Ungerechtigkeit dient der Forschung jedoch nicht als bloßer Selbstzweck, sondern soll für die Behebung dieser Missstände in der Gegenwart nutzbar gemacht werden.“[10]

Dieses Zitat bringt es ziemlich akkurat auf den Punkt. Somit ist es im Sinne einer aufgeklärten Gesellschaft und im Zuge des Gender Mainstreaming auch alles andere als falsch, Genderkompetenz im geschichtswissenschaftlichen Kontext tiefergehend zu behandeln. Beispiel: In Tagen, in denen wir über die Ungleichbehandlung der Geschlechter und toxische Männlichkeit sprechen, in denen diese Probleme immer noch gegenwärtig sind, ist es mehr als angebracht, diese Problemfelder historisch zu dekonstruieren, ihr Zustandekommen und die Hintergründe zu untersuchen, und eben auch, wohin dies alles führen kann. Nur wer die Vergangenheit erforscht, kann die Gegenwart verstehen und eine bessere Zukunft designen. Zwar gibt es bereits vernünftige Ansätze, wie sie bereits in der schönen Toolbox[11]der Freien Universität zu finden sind, doch wird der Forschungsgegenstand vor allem im außeruniversitären Bildungsbereich noch verhältnismäßig stiefmütterlich behandelt, so zumindest mein bisheriger Eindruck. Dennoch ist davon auszugehen, dass die heterogenen Betrachtungsweisen von Gender & Diversity einen zunehmend breiteren Raum im Bildungssektor zugeschrieben bekommen werden, wie es auch Oswalt für möglich hält, denn die gesellschaftlichen Einflüsse auf die Betrachtung und Bewertung der Geschichte sind erheblich:

„Aus dem starken Einfluss der Gegenwart auf die Wahrnehmung der Vergangenheit wird deutlich, dass jeder wie auch immer geartete gesellschaftliche Veränderungsprozess auch einen profunden Einfluss auf alle Formen geschichtlichen Denkens haben muss. Die Zunahme gesellschaftlicher Heterogenität muss insofern profunde Auswirkungen auf alle Aspekte historischer Deutung haben.“[12]

Diesem Zitat ist eigentlich nichts weiter hinzuzufügen, außer, dass zu hoffen bleibt, dass die zunehmend heterogene und diverse Betrachtung von Geschichte sich auch tatsächlich bald im Geschichtsunterricht und der Pädagogik im Allgemeinen niederschlagen wird.

Folgende Arbeiten bzgl. der Thematik könnten sich perspektivisch auf eine grundständigere Ebene der Pädagogik zubewegen und hierbei nicht unbedingt die Lerninhalte behandeln, sondern den Zugang zu diesen, welcher nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht. Wie Bernd Wagner feststellt, besteht beispielsweise noch ein starker Handlungsbedarf bzgl. einer „individuellen Lernberatung für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern“.[13]

Literaturverzeichnis

Ebitsch, Sabrina, Wo ihr Kind am besten lernt, 2017, https://www.sueddeutsche.de/bildung/schulformen-in-deutschland-wo-ihr-kind-am-besten-lernt-1.1482236-2 (abgerufen am 6. Juli 2020).

Kohser-Spohn, Christiane, Die Kategorie Geschlecht in der Geschichtswissenschaft und in der Geschichtsdidaktik in Deutschland. Rückblick und Ausblick, in: ebd., Farkas-Baumann, Dorothea, Internationale Schulbuchforschung. Frauen- und Geschlechtergeschichte im Unterricht aus europäischer Perspektive / Teaching the history of women and gender in Europe, 2005, Vol. 27, No. 2, S. 157-166.

Lücke, Martin, Walk on the wild side. Genderkompetenz, Zeitgeschichte und Historisches Lernen, in: Barricelli, Michele, Hornig, Julia, Aufklärung, Bildung, „Histotainment“. Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt / Main u. a. 2007, S. 223-236.

Oswald, Vadim, Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung, in: Beckmann, Christof (Hrsg.), Qualitätsmanagement und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2009, S. 167-192.

Riegel, Christine, Diversity-Kompetenz? – Intersektionale Perspektiven der Reflexion, Kritik und Ver-änderung, in: Faas, Stefan, Bauer, Petra, Treptow, Rainer (Hrsg.), Kompetenz, Performanz, soziale Teilhabe. Sozialpädagogische Perspektiven auf ein bildungstheoretisches Konstrukt, Wiesbaden 2014, S. 183-198.

Toolbox. Gender und Diversity in der Lehre. https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/index.html (abgerufen am 07. Juli 2020).

Wagner, Bernd, Intersektionalität und Inklusion im Sachunterricht, in Backhaus, Joanna, Blmer, Daniel, u. a. (Hrsg.), Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen, Wiesbaden 2015, S. 65-70, hier: S. S.65.


[1] Vgl. Riegel, Christine, Diversity-Kompetenz? – Intersektionale Perspektiven der Reflexion, Kritik und Ver-änderung, in: Faas, Stefan, Bauer, Petra, Treptow, Rainer (Hrsg.), Kompetenz, Performanz, soziale Teilhabe. Sozialpädagogische Perspektiven auf ein bildungstheoretisches Konstrukt, Wiesbaden 2014, S. 183-198, hier: S. 183.

[2] Vgl. ebd., S. 189.

[3] Vgl. Kohser-Spohn, Christiane, Die Kategorie Geschlecht in der Geschichtswissenschaft und in der Geschichtsdidaktik in Deutschland. Rückblick und Ausblick, in: ebd., Farkas-Baumann, Dorothea, Internationale Schulbuchforschung. Frauen- und Geschlechtergeschichte im Unterricht aus europäischer Perspektive / Teaching the history of women and gender in Europe, 2005, Vol. 27, No. 2, S. 157-166, hier: S. 161.

[4] Vgl. ebd., S. 163.

[5] Vgl. ebd., S. 164.

[6] Vgl. Oswalt, Vadim, Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung, in: Beckmann, Christof (Hrsg.), Qualitätsmanagement und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2009, S. 167-192, hier: S. 175.

[7] Vgl. Ebitsch, Sabrina, Wo ihr Kind am besten lernt, 2017, https://www.sueddeutsche.de/bildung/schulformen-in-deutschland-wo-ihr-kind-am-besten-lernt-1.1482236-2 (abgerufen am 6. Juli 2020).

[8] Vgl. Riegel 2014, S. 183.

[9] Vgl. Kohser-Spohn 2005, S. 157.

[10] Vgl. Lücke, Martin, Walk on the wild side. Genderkompetenz, Zeitgeschichte und Historisches Lernen, in: Barricelli, Michele, Hornig, Julia, Aufklärung, Bildung, „Histotainment“. Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt / Main u. a. 2007, S. 223-236, hier: S. 226.

[11] Vgl. https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/index.html (abgerufen am 02. Juli 2020).

[12] Vgl. Oswalt 2009, S.  171.

[13] Vgl. Wagner, Bernd, Intersektionalität und Inklusion im Sachunterricht, in Backhaus, Joanna, Blmer, Daniel, u. a. (Hrsg.), Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen, Wiesbaden 2015, S. 65-70, hier: S. S.65.


Quelle: Marcus Schäfer: „Was hat das alles mit mir zu tun?“- Plädoyer für einen diversen Geschichtsunterricht, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.04.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/04/22/was-hat-das-alles-mit-mir-zu-tun-plaedoyer-fuer-einen-diversen-geschichtsunterricht/