Intergeschlechtlichkeit in der Psychotherapie

Marla Rohe (WiSe 2024/25)

1. Einleitung

21,7% der inter* Personen haben bereits einen Suizidversuch hinter sich und verspüren weiterhin den (starken) Wunsch zu sterben (Rosenwohl-Mack et al., 2020).

Auch wenn es zahlreiche wissenschaftlich belegte Fakten, Statistiken und Expert:innenbeiträge zum Thema Geschlechterdiversität gibt, halten zeitgleich noch immer Personen an der binären Vorstellung von Geschlecht fest. Dennoch: das wissenschaftliche Interesse an Intergeschlechtlichkeit wächst, so lässt sich dies in den letzten Jahren an der steigenden Anzahl wissenschaftlicher Publikationen ermessen (Hendricks & Testa, 2012). Auch der Psychologie als interdisziplinäres Fach ist diese Entwicklung nicht entgangen. Die mentale Gesundheit von Personen, die sich der LGBTQIA*-Community angehörig fühlen, ist immer häufiger Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Zum Glück, denn: Inter* Personen haben geringe Chancen auf ein gesundes Leben (Kasprowski et al., 2021).

Aus den vorliegenden Studien ließ sich intuitiv folgende Forschungsfrage ableiten:

„Wie muss die psychotherapeutische Begleitung gestaltet sein, um die psychische Gesundheit von inter* Personen zu verbessern?“

2. Intergeschlechtlichkeit – Herausforderungen durch binäres System

Im folgenden Abschnitt sollen zentrale Begriffe der vorliegenden Arbeit genauer definiert werden, so dass alle lesenden Personen über ein fundiertes Verständnis von Intergeschlechtlichkeit verfügen.

2.1 Begriffe, Abgrenzungen und Grundlegendes

Für Intergeschlechtlichkeit gibt es verschiedenste Definitionen, die als Basis für diese Arbeit herangezogen werden können. Um die geschlechtliche Vielfalt möglichst depathologisierend darzustellen, wird die Definition der Trans*Inter*Beratungsstelle (2024) verwendet:

„Inter* […] bezeichnet Menschen, mit angeborenen körperlichen Geschlechtsmerkmalen, die nicht den gängigen gesellschaftlichen und medizinischen Vorstellungen von männlichen oder weiblichen Körpern entsprechen.“

Dies kann sich durch Variationen auf chromosomaler, hormoneller Ebene zeigen oder auch durch vielfältige Ausprägungen der Gonaden (Teil der Geschlechtsorgane) auszeichnen (Antidiskriminierungstelle des Bundes, 2024). Alle Variationen der Geschlechtsmerkmale sind natürlich vorkommende und gesunde Ausprägungen einer geschlechtlichen Vielfalt. Laut Schätzungen des Ethikrates leben etwa 80.000 inter* Personen in Deutschland. Die Zahlen bleiben leider nur grobe Schätzungen, da es zum einen an verlässlicher Dokumentation fehlt und je nach zugrundeliegender Definition manche Personen nicht in ihrer Intergeschlechtlichkeit gesehen werden. Hochrechnungen gehen davon aus, dass circa 1,7% der Weltbevölkerung inter* Personen sind (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2024; Bora, 2012).

Das Wort „Inter“ stellt eine lateinische Vorsilbe dar, die mit dem Begriff „zwischen“ gleichgesetzt werden kann. Häufig als Antonym genutzt, bezeichnet „endo“ bzw. „dyadisch“ Personen, deren körperliche Merkmale, den gesellschaftlichen und medizinischen Normvorstellungen entsprechen. Der Zusatz des Sternchens („*“) wird gewählt, um eine möglichst inklusive Ansprache zu gewährleisten, indem das Sternchen vielfältige Endungen ermöglicht und somit keine Personen aus dem Bedeutungsraum ausschließt (Trans*Inter*Beratungsstelle, 2024). Laut der Trans*Inter*Beratungsstelle (2024) bezeichnet Intergeschlechtlichkeit die Übersetzung des Begriffs „intersex“, welcher insbesondere in der englischen inter* Community genutzt wird. „Sex“ steht im Englischen für die körperliche Ebene von Geschlecht. Im Deutschen könnte der Begriff „Intersex“ allerdings als irreführend wahrgenommen werden, da er Assoziationen zur sexuellen Orientierung einer Person hervorrufen könnte.

Intergeschlechtlichkeit beschreibt die körperliche Dimension von Geschlecht und sagt nicht automatisch etwas über die Genderidentität, die sexuelle Orientierung einer Person oder die Genderrollenübernahme und -darstellung aus. Eine dazu passende Abgrenzung zur Transgeschlechlichkeit soll dies verdeutlichen. Trans* Personen identifizieren sich nicht mit dem körperlichen Geschlecht, welches nach der Geburt auf Grundlage der körperlichen Ausprägungen festgelegt wurde. Transgeschlechtlichkeit bezieht sich somit auf die Ebene der Genderidentität. Die Begriffe sind klar voneinander abzugrenzen. Inter- und Transgeschlechtlichkeit treten unabhängig voneinander auf. Trans* Personen können inter* oder auch endo sein (Trans*Inter*Beratungsstelle, 2024).

Auch wenn dieses Kapitel zum Ziel hat, grundsätzliche Begriffe der Intergeschlechtlichkeit darzustellen, ist es unumgänglich inter* Personen immer nach der eigenen Selbstbezeichnung zu fragen, diese anzuwenden und zu respektieren.

Die vorliegende Definition sowie Begriffsdebatte weist zudem auf einen weiteren wichtigen Aspekt von Intergeschlechtlichkeit hin: die gesellschaftliche und medizinische Perspektive. Die gesellschaftlich gelebte Binarität des Geschlechtersystems führt dazu, dass Personen, die nicht dieser Binarität entsprechen, gewissen Stressoren ausgesetzt sind, welche langfristig zu negativen gesundheitlichen Folgen führen können. Neben einer strukturellen Benachteiligung und Diskriminierung im somatisch-medizinischen Bereich durch unter anderem (Zwangs-)Operationen, unzureichende Forschung und mangelnde Fachpersonalschulung, zählt auch psychischer Stress zu einem negativen Outcome der starren Geschlechterbinarität. Psychischer Stress kann sich langfristig negativ auf die mentale Gesundheit einer Person auswirken, sodass gegebenenfalls psychotherapeutische Behandlungen notwendig sind, um die Lebensqualität wieder herzustellen bzw. zu verbessern. Rosenwohl-Mack et al. (2020) fanden heraus, dass 53,6% der befragten inter* Personen ihre mentale Gesundheit als mittelmäßig bis schlecht bezeichnen. Diese subjektiv eher negative Einschätzung der mentalen Gesundheit von inter* Personen zeigte sich vor allem unter jüngeren Menschen (28,2%). 61,1% der befragten inter* Personen gaben an, mit einer depressiven Störung diagnostiziert worden zu sein. 62,6% leiden unter diagnostizierten Angststörungen. Von Suizidversuchen und dem (starken) Wunsch zu sterben berichteten, wie einleitend dargestellt, 21,7% der befragten inter* Personen (Rosenwohl-Mack et al., 2020).

Der Handlungsbedarf zur Verbesserung der mentalen Gesundheit von inter* Personen ist, gemessen an den oben aufgeführten Studienergebnissen, enorm. Während ein langfristiges gesellschaftliches Umdenken zumindest teilweise bereits im Gange ist, braucht es kurzfristigere und schnell umsetzbare Möglichkeiten zur psychologischen Begleitung von inter* Personen. Hierfür ist es notwendig, sich konkreter mit der Lebensrealität, den Erfahrungen und Herausforderungen von inter* Personen auseinanderzusetzen und diese Stressoren in ihrer Komplexität zu verstehen. Ein Modell, das sich den spezifischen Stressoren von Minderheiten widmet, ist das Minoritäten-Stress-Modell, welches als theoretische Grundlage dieser Arbeit im anschließenden Kapitel genauer beleuchtet werden soll.

2.2 Minoritäten-Stress-Modell

Das Minoritäten-Stress-Modell wurde im Jahr 2003 von I. H. Meyer entwickelt und beschreibt, wie chronischer Stress durch soziale Stigmatisierung und Diskriminierung die psychische Gesundheit von Menschen aus marginalisierten Gruppen negativ beeinflusst. Fokusgruppen bei der Entwicklung durch Meyer (2003) bildeten vorrangig lesbische, schwule und bisexuelle Personen. Da allerdings alle, der LGBTQIA* Community angehörigen Personen, von Ausgrenzungen und Diskriminierungen betroffen sein können (van de Grift et al., 2024), lässt sich dieses Modell auch für die vorliegende Arbeit zum Thema Intergeschlechtlichkeit anwenden.

Abb. 1 Minority Stress Modell (Meyer, 2003)

Das Modell unterscheidet zwischen distalen (aus Abbildung 1: (d)) und proximalen (f) Stressprozessen (Hendricks & Testa, 2012). Distale Stressoren entstehen durch den vorgestellten Minderheitenstatus (b), welcher sich bei inter* Personen durch die „Nicht-Übereinstimmung der angeborenen körperlichen Geschlechtsmerkmale mit den gängigen gesellschaftlichen und medizinischen Vorstellungen von männlichen oder weiblichen Körpern“ ergibt (abgeleitet aus Begriffsdefinition, vgl. Trans*Inter*Beratungsstelle, 2024).

Unter distalen Stressprozessen versteht man insbesondere von außen einwirkende, also externe, Geschehnisse, welcher eine Person ausgesetzt ist. Dazu kann unter anderem Diskriminierung und Ablehnung durch die Gesellschaft, die Stigmatisierung im medizinischen System – auch im psychotherapeutischen Bereich – aber auch Viktimisierung und fehlende Akzeptanz von Geschlechtervielfalt fallen (van de Grift et al., 2024). Auch die fehlende Sichtbarkeit von Intergeschlechtlichkeit in der Gesellschaft wird von inter* Personen als frustrierend empfunden und führt unter anderem zu Gefühlen der Einsamkeit und Isolation (van de Grift et al., 2024). Diese distalen Stressprozesse setzen wiederum proximale Stressprozesse in Gang bzw. verstärken diese zudem (Meyer, 2003).

Die proximalen Stressprozesse stellen internalisierte Überzeugungen (bspw. „sich unnormal fühlen“) dar, die einen großen Einfluss durch die Minderheitenidentität (e) einer Person erfahren sowie deren Selbstbild definieren (Meyer, 2003). So können Personen einer Minderheit Ablehnungen/ Diskriminierungen auch internalisiert haben, obwohl sie selbst dieser Minderheitengruppe angehörig sind. Zudem spielen bei den proximalen Stressprozessen auch negative Erwartungen bei Outing/ romantischen Beziehungen und Verschweigen von Gefühlen/ Erfahrungen und dadurch eine gespielte Anpassung an Binarität eine große Rolle (Hendricks & Testa, 2012; van de Grift et al, 2024). Zu den proximalen Stressoren ergänzen die Autor:innen der Studie von van de Grift et al. (2024) noch die Überinterpretation von körperlichen Vorgängen, die durch das fehlende Vertrauen in den eigenen Körper entstehen kann. Eine weitere Herausforderung für inter* Personen kann das Kommunizieren von körperlichen Grenzen darstellen. Durch zahlreiche, oft übergriffige medizinische Untersuchungen und die dadurch verringerte körperliche Autonomie fühlen sich inter* Personen häufig ungeschützter bzw. gefährdeter in Bezug auf übergriffige körperliche Begegnungen (ebd., 2024). Der interpersonelle Stress, welcher wie oben aufgeführt u.a. durch internalisierte negative Überzeugungen auftritt, äußert sich bei inter* Personen durch konstante negative Verstimmung. Körperliche und emotionale Intimität kann dadurch für inter* Personen ebenfalls eine große Herausforderung und somit Stressor darstellen (ebd., 2024).

Diese Stressoren wirken sich, gemeinsam mit den generellen Lebensstressoren (c) und unter Berücksichtigung der Merkmale der Minorität (g) auf die mentale Gesundheit von Personen aus (Meyer, 2003). Meyer (2003) beschreibt allerdings auch, ins Deutsche übersetzt, „Bewältigungsstrategien und soziale Unterstützung“ (h). Diese können, wenn richtig ausgeprägt, als Gegenpol zum chronischen Stress wirken und somit die mentale und körperliche Gesundheit von inter* Personen stärken. Hierzu zählen unterstützende Netzwerke („Community“), die Entwicklung von Stolz („Pride“), Selbstakzeptanz und positive Identitätsentwicklung, die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und die positiv unterstützende Gestaltung des unmittelbaren sozialen/ familiären Umfeldes (van de Grift et al., 2024).

3. Intergeschlechtlichkeit in der Psychotherapie

3.1 ICD-11: Wirklich ein Fortschritt?

Das Diagnostikmanual „ICD-11“, welches zum 01. Januar 2022 in Kraft trat und zum Teil auch schon in der psychotherapeutischen Praxis Anwendung findet, hat der Stigmatisierung von trans* Personen entgegengewirkt und somit Transgeschlechtlichkeit im Diagnostikbereich entpathologisiert. Für Intergeschlechtlichkeit jedoch hat das ICD-11 keine solche Verbesserung gebracht. Noch immer wird Intergeschlechtlichkeit als Störung klassifiziert und unter dem Code LD2A als „Fehlbildungen in der Geschlechtsentwicklung“ geführt (oii Germany, 2022; Bundesministerium für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2022). Dieser, aus dem älteren DSM übernommene, Diagnosecode trägt weiterhin zur Stigmatisierung und Pathologisierung von Intergeschlechtlichkeit bei (oii Germany, 2022).

3.2 Überlegungen für psychotherapeutische Praxis: Stärkung von Resilienzen

Ein möglicher Ansatz innerhalb der psychotherapeutischen Betreuung von inter* Personen ergibt sich aus den vorherigen Kapiteln zunächst intuitiv: Stressoren senken bzw. diesen entgegenwirken und Resilienzfaktoren fördern bzw. diese aufrechterhalten. Diese Empfehlung vertreten auch die Autor:innen der Studie von van de Grift et al. (2024): Um gesundheitliche Probleme von inter* Personen zu vermeiden bzw. diesen entgegenzuwirken, empfehlen die Autor:innen, dass klinische Expert:innen aktiv nach Minoritäten-Stressoren fragen, um hier mit psychotherapeutischen Programmen anzusetzen.

Ein weiterer wichtiger Anknüpfungspunkt für psychotherapeutische Maßnahmen stellen die Resilienzfaktoren von inter* Personen dar. Van de Grift et al. (2024) haben auch diese noch einmal genauer differenziert und in distale und proximale Resilienzfaktoren unterschieden. Ein distaler Resilienzfaktor, der sich in der Studie der Autor:innen bestätigen ließ, ist das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Community oder auch Selbsthilfegruppe. Auch das Zuwenden zu „role models“ oder die eigene Annahme einer solchen Modellrolle zählen laut den Autor:innen zu den distalen Resilienzfaktoren. Vorbilder, wie bspw. berühmte queere Persönlichkeiten, helfen dabei, Erfahrungen von inter* Personen zu normalisieren oder neue Bewältigungsstrategien und Wissen zu vermitteln. Aktivismus (bspw. in Form von politischem Engagement) wird ebenfalls aufgeführt, da es die wahrgenommene Kontrolle über die eigene Situation steigert. Psychotherapeutische Maßnahmen sollten insbesondere auf die Förderung von hoffnungsstiftenden Aktivitäten (wie oben beschriebener Aktivismus oder der Zuwendung zu „role models“) abzielen. Hoffnung und das Gefühl von Sinnstiftung wurden von van de Grift et al. (2024) als relevante Resilienzfaktoren zum Abbau von Minoritätsstressoren genannt. Zur Erleichterung der Förderung von Aktivismus und/oder der Zuwendung zu „role models“ sollten psychotherapeutische Praxen über Informationsmaterial zu entsprechenden aktivistischen Vereinen/ Institutionen und Selbsthilfegruppen bereithalten. Auch Namen von (berühmten) queeren Vorbildern sowie Kenntnis über deren Social-Media-Kanäle sollten als Orientierungspunkte für inter* Personen zur Verfügung gestellt werden.

Ausschlaggebend bei der Resilienz von distalem Stress sei aber auch die Akzeptanz und der Support von nahestehenden Menschen und Institutionen, wie bspw. Eltern oder Schule (van de Grift et al., 2024). LGBTQIA* Personen treffen sich signifikant häufiger mit Freund:innen, Nachbar:innen oder Bekannten als cis-Personen. Daraus lässt sich schließen, dass die Bedeutung von zwischenmenschlichen Beziehungen für LGBTQIA* Personen höher ist und aktiver Beziehungsaufbau betrieben wird (Kasprowski et al., 2021). Ableitend für mögliche psychotherapeutische Maßnahmen sollten Eltern, Geschwister oder Freund:innen von inter* Personen stärker in die Therapien miteinbezogen werden, um die (Selbst-)Akzeptanz von Intergeschlechtlichkeit zu fördern und somit soziale Unterstützung zu sichern. Denkbar wäre, zeitgleich zur Individualtherapie workshopähnliche Betreuungen anzubieten, in welchen das enge Umfeld der zu therapierenden Person nähere Informationen und Wissen um Intergeschlechtlichkeit an sich, aber auch der Komplexität von Minoritäten-Stressoren und Resilienzfaktoren erwerben kann. Die „Interdisziplinäre Spezialsprechstunde zu Fragen der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter“ von der Charité bietet in der Begleitung von trans* Personen auch die Arbeit mit Eltern im Sinne des „Ambiguous Loss“ an. Dies kann den Prozess des sozialen Supports stark voranbringen, da Eltern hier zunächst Abschied von internalisierten Vorstellungen und Wünschen über ihre Kinder nehmen können, bisherige Geschlechterannahmen reflektieren und sich anschließend für neue Konzepte öffnen bzw. Stolz („Pride“ als Resilienzfaktor) erarbeiten (Charité, 2025). Auch wenn dieses Beratungsangebot sich auf trans* Personen bezieht, sollte diese Form der Elternarbeit auch in die psychologische Begleitung von inter* Personen Einzug finden.

Selbstakzeptanz, positive Erfahrungen mit Offenheit und vor allem das Gefühl von Handlungskompetenz werden von van de Grift et al. (2024) als Resilienzfaktoren gegen proximale, also innerliche Stressoren aufgeführt. Die psychotherapeutische Betreuung von inter* Personen sollte positive Erfahrungen mit subjektiver Offenheit ermöglichen, diese verstärken und so zu mehr Selbstakzeptanz und auch Handlungskompetenz beitragen. Wichtig hierbei könnte eine gendersensible Ansprache und empathische, wertfreie Perspektivenübernahme für die Lebensrealität der inter* Person sein. Handlungskompetenzen könnten beispielsweise durch die Vermittlung von Wissen über individuelle Rechte/ Möglichkeiten im medizinischen System gestärkt werden. Aber auch Skills-Training zur Steigerung der Selbstwirksamkeit und die Beihilfe zur Entwicklung von realistischen Selbstzielen könnten dazu beitragen, dass die inter* Person über mehr Handlungskompetenzen verfügt. Das Training von Kommunikationsstrategien und konkrete Gesprächssimulationen (bspw. Gespräche mit Ärzt:innen), könnten eingesetzt werden, um Grenzen setzendes Verhalten zu fördern.

4. Konklusion

Die vorliegende Arbeit erläutert kompakt die Stressoren und Resilienzen von inter* Personen und leitet daraus erste intuitive Implikationen für die psychotherapeutische Betreuung ab. Auch wenn inter* Personen die Variation in angeborenen Geschlechtsmerkmalen sowie die Erfahrung von Diskriminierungen gemeinsam haben, kann der Leidensdruck von Person zu Person unterschiedlich ausgeprägt sein. Abschließend sei deshalb wichtig zu erwähnen, dass es nicht die eine inter* Lebensrealität gibt. Psychotherapeutische Ansätze müssen die Individualität einer Person einbeziehen und Interventionen an individuelle Belastungs- und Bedürfnissituationen anpassen. Komorbiditäten wie Depressionen oder Angststörungen sollten ebenfalls Bestandteil einer psychotherapeutischen Begleitung von inter* Personen sein. Psychotherapeutische Begleitung von inter* Personen sollte sich zudem nicht allein auf die zu therapierende Person fokussieren, sondern das Umfeld der inter* Person einbeziehen. Sozialer Support und Akzeptanz ist für die mentale Gesundheit von inter* Personen entscheidend (van de Grift et al., 2024) und sollte in direkter Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld erarbeitet werden.

5. Resümee

Abschließend noch ein paar subjektive Worte. Da ich später eine Karriere als psychologische Psychotherapeutin anstrebe, hat mir das Seminar „Gender & Gesundheit“ und auch die Ausarbeitung der vorliegenden Arbeit viele neue Sichtweisen und Denkanstöße für die spätere Berufspraxis geliefert. Ich konnte detaillierteres Wissen über die Komplexität der Stressoren der LGBTQIA* Community erlernen. In einem möglichen Berufsalltag würde ich mich deshalb stark für mehr Sichtbarkeit von Intergeschlechtlichkeit einsetzen, beispielsweise durch mehr Aufklärung und genderneutrale Dokumente. Zudem hat mich das Seminar zum Überdenken von eigenem heteronormativem Sprachgebrauch angeregt, welcher auch in zukünftiger Berufspraxis eine große Rolle spielen wird. Die Beziehung zwischen Therapeut:in und Klient:in macht etwa 30% des Therapieerfolges aus (Lambert & Barley, 2001). So ist mir noch deutlicher bewusst geworden, dass ich beispielsweise bei der Frage nach dem Beziehungsstatus einer Person nicht direkt von heterosexueller Bindung ausgehen sollte, sondern auch hier auf eine genderneutrale Sprache achten muss, um anderen sexuellen Orientierungen Sichtbarkeit zu verschaffen und das Vertrauensverhältnis und die Möglichkeit zur Offenheit von der bzw. dem Klient:in zu sichern.

6. Literaturverzeichnis

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2024). inter*, abgerufen über: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/inter/inter-node.html#:~:text=Laut%20Sch%C3%A4tzung%20des%20Deutschen%20Ethikrats%20leben%2080.000%20intergeschlechtliche%20Personen%20in%20Deutschland.

Bora, A. (2012). Deutscher Ethikrat. Zur Situation intersexueller Menschen. Berlin.

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (2022). IDC-11 in Deutsch – Entwurfsfassung, abgerufen über: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html

Charité Berlin (2025). Interdisziplinäre Spezialsprechstunde für Fragen der Geschlechtsidentitä im Kindes- und Jugendalter, abgerufen über: https://kinder-und-jugendpsychiatrie.charite.de/fuer_patienten_eltern/ambulanzen/interdisziplinaere_spezialsprechstunde_fuer_fragen_der_geschlechtsidentitaet_im_kindes_und_jugendalter

Hendricks, M. L., & Testa, R. J. (2012). A conceptual framework for clinical work with transgender and gender nonconforming clients: An adaptation of the Minority Stress Model. Professional Psychology: Research and Practice, 43(5).

Kasprowski, D., Fischer, M., Chen, X., de Vries, L., Kroh, M., Kühne, S., Richter, D. & Zindel, Z. (2021). Geringere Chancen auf ein gesundes Leben für LGBTQI*-Menschen. DIW Wochenbericht, 88(6).

Lambert, M. J., & Barley, D. E. (2001). Research summary on the therapeutic relationship and psychotherapy outcome. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training38(4), 357–361.

Meyer, I. H. (2003). Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: Conceptual issues and research evidence. Psychological Bulletin, 129(5), 674–697.

oii Germany (2022). Stellungsnahme OII Germany zum Eckpunktepapier für ein Selbstbestimmungsgesetz, abgerufen über: https://oiigermany.org/eckpunktepapier-selbstbestimmungsgesetz/

Rosenwohl-Mack, A., Tamar-Mattis, S., Baratz, A. B., Dalke, K. B., Ittelson, A., Zieselman, K., Flatt, J. D., & Useche, S. A. (2020). A national study on the physical and mental health of intersex adults in the U.S. PloS One15(10).

Trans*Inter*Beratungsstelle (2024). Begriffsklärungen, abgerufen über: https://www.trans-inter-beratungsstelle.de/de/begriffserklaerungen.html 

Van de Grift, T. C., Dalke, K. B., Yuodsnukis, B., Davies, A., Papadakis, J. L., & Chen, D. (2024). Minority stress and resilience experiences in adolescents and young adults with intersex variations/differences of sex development. Psychology of Sexual Orientation and Gender Diversity.


Quelle: Marla Rohe, Intergeschlechtlichkeit in der Psychotherapie in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=501

Entwicklung von Inter*-Rechten in der medizinischen Gesetzgebung

Mia Taheri (WiSe 2023/24)

1. Einleitung

“Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt”, so steht es im Grundgesetzbuch (BT, 2010, §1, Abs. 1).

Dennoch gibt es viele Menschen, die immer noch für ihre Würde und Rechte kämpfen müssen. So auch Inter* Menschen, die erst seit Ende des 20. Jahrhunderts mehr Aufmerksamkeit erlangt haben. Der erste öffentliche Protest von Inter* Personen fand am 26. Oktober 1996 in Boston (USA) statt. Kritisiert wurden dort unter anderem die geschlechtsverändernden Eingriffe an Inter* Kindern, die selbst heute teilweise noch durchgeführt werden (Regenbogenportal, o.D.). 2021 verabschiedete der Bundestag das “Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung” (Bundestag, o.D.). Dies ist der erste gesetzliche Versuch gewesen, Inter*-Rechte zu schützen.

In der vorliegenden Arbeit wird durch ausgewählte Aspekte der Verlauf von Inter*-Rechten im deutschen Gesundheitssystem behandelt. Dazu werden der “Zwitterparagraph” (1794) und das “Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung” (2021) gegenübergestellt, um den heutigen medizinischen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand zu erörtern.


Trigger und Content Warnung:

Im Folgenden werden Zwangsoperationen, Beschreibung von medizinischen Eingriffen, sowie Aufzählungen von Begriffen wie Inters*x beim Zitieren und zur Erklärung von sensibler Sprache verwendet. Ebenso werden Organe und Anatomie ohne Zensur benannt. Des Weiteren wird der “Zwitterparagraph” als historischer Begriff verwendet, der aus heutiger Sicht nicht mehr verwendet werden sollte.


2. Begriffserklärung – Was bedeutet Inter*?

Inter* sind Menschen, die nicht in das Konstrukt der Binarität passen. Sie haben körperliche Ausprägungen, durch die sie nicht eindeutig zur weiblichen oder männlichen Norm eingeordnet werden können. Es gibt mehrere Varianten der Geschlechtsentwicklung, sie können sowohl die Hormonproduktion oder die Geschlechtsorgane, als auch den Chromosomensatz betreffen (BMFSFJ,o. D.).

Der Gegenbegriff zu Inter* ist Endo*. Sie machen den Hauptteil der Gesellschaft aus und lassen sich in die Kategorien “weiblich” und “männlich” einordnen (FUMA, o.D.).

In der deutschen Sprache gibt es mehrere Bezeichnungen für Inter* Menschen, darunter jedoch auch viele Begriffe, die beleidigend sein können. “Zwitter” ist eine ältere medizinische Bezeichnung, die vermieden werden sollte, da sie als Beleidigung genutzt wird (OII Deutschland, 2015, S. 19). Zwei weitere veraltete Begriffe sind “Hermaphrodit” und “Pseudo-Hermaphrodit”, die früher in der Medizin gebraucht wurden, jedoch auch Pathologisierungen darstellen. (Ebd. S. 13) Auch der Begriff “Intersex”, der zurzeit noch am häufigsten verwendet wird, sollte vermieden werden. Denn hierbei handelt es sich um eine missverständliche Fehlübersetzung vom Englischen “intersex” (Ebd. S. 14). Die korrekte Übersetzung wäre “intergeschlecht”. Diese in der Community entstandene Bezeichnung ist einwandfrei und kann in einem sensiblen Sprachgebrauch verwendet werden. Inter* ist eine weitere Bezeichnung, die genutzt werden sollte. Sie steht für die Selbstbestimmung von Inter* Menschen, die sich trotz ständiger Pathologisierung für ihre Rechte einsetzen. Ebenso stellt das Asterisk die Vielfältigkeit an Möglichkeiten Inter* zu sein, sowie jegliche Selbstbezeichnungen dar (Ebd. S. 15).

Nur weil eine Person Inter* ist, heißt das jedoch nicht, dass deren Geschlechtsidentität auch Inter* ist. Es gibt auch Inter*, die sich trans* oder cis* identifizieren.

Das wichtigste Kriterium ist jedoch die Selbstbezeichnung der jeweiligen Personen. Da dies letztendlich eine persönliche Entscheidung ist.

3. Medizinische Behandlung von Inter*

Intergeschlechtlichkeit galt sehr lange als Krankheit, Syndrom oder Störung. Seit den 1960er Jahren wurden international immer mehr geschlechtsverändernde Operationen durchgeführt. Diese Geschlechtszuweisungen wurden meistens ohne die Zustimmung der Inter* Personen durchgeführt (FUMA, o.D.). 2012 erklärte der Deutsche Ethikrat die geschlechtsverändernden Operationen in Deutschland als Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Gesundheitsstadt Berlin, 2015).

Seit 2019 kann aufgrund einer Änderung im Personenstandsgesetz ein Kind auch als “divers” oder ohne Geschlechtsangabe in das Geburtenregister eingetragen werden (LSVD, o.D.). Trotz des vermeintlichen gesellschaftlichen und medizinischen Umschwungs hat sich die Anzahl der geschlechtsverändernden Operationen von 2005-2016 nicht bemerkbar verringert (Hoenes, Januschke, Klöppel 2019, S. 20).

Zur Veranschaulichung, dass viele dieser medizinischen Vorgänge menschenrechtsverletzend sind, werden nun ohne Zensur verschiedene medizinische Abläufe geschildert.

Die angewandten Verfahren mit Patient*innen, deren Geschlecht nicht eindeutig in die zwei Geschlechternormen hineinpasst, hatten zwei bestimmte Kriterien. Entweder wenn die Klitoris zu überdurchschnittlich groß war, um als Frau akzeptiert zu werden. Oder falls der Penis zu klein war, um als Mann akzeptiert zu werden. Weiterhin gab es eine Empfehlung, die Genitalien in solch einem Fall bestenfalls vor dem Abschluss des 18. Lebensmonats zu verdeutlichen. Außerdem wurde den Sorgeberechtigten zumeist empfohlen, den Patient*innen nichts über die Eingriffe und Operationen zu erzählen, um die Entwicklung der Psychosexualität nicht negativ zu beeinflussen. Die letztere Empfehlung ist jedoch seit mehreren Jahren, aufgrund von Inter* Protesten, nicht mehr aktuell (Voß, 2012, S.45-47).

Der Prozess sowie die Folgen der geschlechtsverändernden Operationen sind traumatisierend und schmerzhaft. Bei einer feminisierenden Operation wird die Klitoris beschnitten, was zu einem Verlust der Empfindsamkeit führen kann. Ebenso wird gegebenenfalls eine künstliche Vagina durch mehrfache Dehnung für die spätere Penetration durchgeführt. Solch eine Behandlung, die laut Erfahrungsberichten einer Misshandlung gleicht, ist meistens medizinisch völlig irrelevant (Ebd., S. 59-60).

Ein weiterer Vorgang ist die Entnahme der Keimdrüsen (Gonaden). Folgen sind Unfruchtbarkeit, ein schwerer Hormonmangel, welcher eine lebenslange Hormontherapie mit sich zieht, sowie psychische und physische Nebeneffekte (Ebd. S. 59-60). Bei dieser Operation wurde zumeist angegeben, dass die Keimdrüsen möglicherweise Krebs verursachen könnten. Wobei dies medizinisch umstritten ist, da das Vorkommen dieser Entwicklung viel zu unerforscht ist. Und selbst bei einem erhöhten Risiko, blieben die Folgen der Operation (Ebd. S. 47).

Wie irrelevant die Gesundheit der Patient*innen bei der Wahl der Operationen ist, wird deutlich gemacht. Denn technisch ist die feminisierende Operation deutlich leichter (Ebd. S. 47). So ergeben medizinische Schätzungen, dass sich in 90 Prozent der Fälle für eine feminisierende Operation entschieden wurde (Ebd. S. 45).

Der historische Ursprung der geschlechtsverändernden Operationen, der sich aus den 1950er Jahren ergibt, ist wie hier die psychische Entwicklung, die als bedroht angesehen wurde. Jedoch waren die Bedenken zu dieser Zeit noch die Befürchtung von homosexuellen Ausprägungen (Ebd. S. 13).

Hieraus wird deutlich, dass in den meisten Fällen von Eingriffen und Operationen an Inter* Personen, deren Angleichung zu einer der Geschlechternormen eine sehr hohe Priorität hatte und die medizinische Relevanz komplett in den Hintergrund rückte.

4. Vorstellung des “Zwitterparagraphens”

In der Frühen Neuzeit galten zwei verschiedene Ansichten zur Intergeschlechtlichkeit. Die hippokratisch-galenische Lehre, welche sich im “Zwitterparagraphen” widerspiegelt und die aristotelische Lehre, welche die Existenz von Intergeschlechtlichkeit nicht anerkannte. Der „Zwitterparagraph“ beweist jedoch keine vollkommene Akzeptanz der hippokratisch-galenischen Lehre in der Gesellschaft. Beide Ansichten standen zu dieser Zeit in Diskussion.

Die hippokratisch-galenische Lehre stellt den Mann als vollkommenen Menschen dar und die Frau unvollkommenen Mann. Intergeschlechtliche Menschen hingegen waren keines von beidem (Klöppel, 2010, S.143-144).

In der aristotelischen Lehre existiert Intergeschlechtlichkeit als solches nicht. Es gibt lediglich missgebildete Männer und missgebildete Frauen, die durch ein “Übermaß an Materie” bestimmte Exzesse gebildet haben (Klöppel, 2010, S. 145).

Der sogenannte “Zwitterpragraph” war Teil des Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR, 1794). Er bestimmte das Vorgehen bei der Geburt einer Inter* Person, hier als Zw*tter bezeichnet. Es galt, dass wenn ein Neugeborenes ein uneindeutiges Geschlecht hat, die Eltern bestimmen sollten, wie das Kind aufgezogen wird. Nach Vollendung des 18. Lebensjahres stehe es der besagten Person frei, deren Geschlecht zu wählen (ALR, 1794, Personenrecht der Zwitter, §19-20). Ganz so frei schien die Entscheidung jedoch nicht zu sein, da jederzeit durch Untersuchung von Sachverständigen das Geschlecht als ein anderes beurteilt werden konnte (ALR, 1794, Personenrecht der Zwitter, §22-23). Die hier genannten Sachverständigen waren vermutlich medizinisches Personal.

Die Rechte von Inter* Menschen waren bei dem “Zwitterparagraphen” weniger von Relevanz. Die Nachfrage nach solch einem Gesetz kam vielmehr daher, dass der damalige Zweck der Ehe, welcher die Fortpflanzung war, bewahrt werden sollte. (Schwenger, 2009).

Im Jahre 1900 schwang die rechtliche Meinung mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch zur aristotelischen Lehre, die die Existenz von Inter* verleugnete (BGB, 1888, S.26). Dennoch wurden Inter* trotz der Gesetzesänderung immer öfter als Personen und weniger als Forschungsobjekte angesehen (Schwenger, 2009).

5. Vorstellung des neuen Gesetzes

Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts geraten Inter* Menschen und ihre Rechte immer mehr ins Interesse der Öffentlichkeit. Jahrelang wurden nun von Inter* Verbänden Veränderungen in den medizinischen Richtlinien gefordert, die die menschenrechtswidrigen Operationen an Inter* verbieten. Länger als 200 Jahre nach dem „Zwitterparagraph“ setzte 2021 das “Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ in Kraft.

Das neue Gesetz verbietet kosmetische Behandlungen an nicht einwilligungsfähigen Inter* Personen. Sowohl das Durchführen als auch die Einwilligung zu so einem Eingriff ist nicht erlaubt (§1631e, 2021, Artikel 1, Absatz 1). Die Eltern des Kindes sind ausschließlich dazu befähigt, für ihr Kind zu entscheiden, wenn der Eingriff nicht auf eine Selbstbestimmung des Kindes warten kann (Ebd., Artikel 1, Absatz 2).

Falls es zu solch einem Fall kommt, wird die Genehmigung des Familiengerichts benötigt. Zur Beantragung müssen die Eltern eine den Eingriff befürwortende Stellungnahme der interdisziplinären Kommission vorlegen. Diese Kommission entscheidet dann, ob ein Eingriff im Wohl des Kindes wäre (Ebd., Artikel 1, Absatz 3). Die Mitglieder der  interdisziplinären Kommission müssen alle Erfahrung im Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung haben.     Ebenso müssen folgende Personen angehört werden: Psycholog*in/Psychiater*in, Ethiker*in, Jugend- oder Kindermediziner*in, eine neutrale ärztliche Person und der*die zuständige Ärzt*in. Ebenso kann auf Wunsch der Eltern eine beratende Inter* Person hinzugezogen werden (Ebd., Artikel 1, Absatz 4).

Falls sich die Kommission für eine Befürwortung des Eingriffes entscheidet, müssen gewisse Informationen dokumentiert werden: Die Namen und Befähigungen der Mitglieder, Kindesalter und Variante der Geschlechtsentwicklung, Name des Eingriffes sowie medizinische Begründung, Grund für Befürwortung des Eingriffes in Hinblick auf die Risiken der Durchführung und was die Risiken bei einer Verschiebung wären, sind von Relevanz. Ebenso ob und wer sich mit den Eltern unterhalten hat, ob die Eltern und das Kind über den Umgang mit der spezifischen Variante aufgeklärt wurden und durch welches Mitglied der Kommission dies geschah, ob die Beratung einer Inter* Person stattfand, inwiefern das Kind sich eine Meinung über den Eingriff bilden kann und falls ja, ob es diesen befürwortet und ob die beratende Inter* Person den Eingriff unterstützt (Ebd., Artikel 1, Absatz 5)

Wenn das Kind in einer lebensbedrohlichen Lage ist oder eine Gefahr für die Gesundheit besteht, kann die Kommission übergangen werden (Ebd., Artikel 1, Absatz 3).

Falls die Eltern den Eingriff in ihrer Stellungnahme nicht befürworten oder etwas anderes gegen die Genehmigung spricht, erörtert das Gericht den Grund mit den Beteiligten. Die Eltern werden auf Beratungsmöglichkeiten hingewiesen. Gegebenenfalls kann die Beratung über den Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung angeordnet werden (Ebd., Artikel 3, Absatz 2).

Die Patientenakte muss bei einem Eingriff bis zum 48. Lebensjahr der Inter* Person aufgehoben werden (Ebd., Artikel 1, Absatz 6). Dies gilt auch für Eingriffe, die vor der Verabschiedung des Gesetzes stattfanden (Ebd. Artikel 2).

Zur Überprüfung der Wirksamkeit sollen die Regelungen durch die Bundesregierung innerhalb von fünf Jahren überprüft werden (Ebd., Artikel 6).

Die Ausarbeitung dieses Gesetzes war ein langwieriger Prozess, der noch immer nicht ganz beendet ist. Schon nach dem ersten Gesetzesentwurf aus Februar 2020 kritisierten mehrere Inter* Verbände sowie das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz die Ausführungen. Nach einer Überarbeitung veröffentlichte die Bundesregierung im September 2020 einen neuen Gesetzesentwurf, welcher erneut kritisiert wurde. Sowohl die uneindeutige Verwendung von Begriffen, die Umgehungsmöglichkeiten, die fehlende Dokumentationspflicht, als auch ein fehlendes Zentralregister wurden bemängelt, von der Bundesregierung jedoch nicht ausreichend verbessert. Im März 2021 setzte das Gesetz ein, jedoch ohne genügend Verbesserungen vorgenommen zu haben (Lesben- und Schwulenverband, o.D.).

6. Fortschritt – vom “Zwitterparagraphen” zum neuen Gesetz

Werden diese beiden Gesetze in den Vergleich gesetzt, lassen sich erhebliche Fortschritte kenntlich machen. Unter der Betrachtung des Zeitalters und des damaligen gesellschaftlichen Fortschrittes kann von einem grundlegenden Unterschied im Ursprung der Gesetze ausgegangen werden.

Der “Zwitterparagraphen” stand aufgrund von Unsicherheiten in der Gesellschaft. Es wurde sich in der Medizin zwar sehr um Kriterien für eine klare Diagnose bemüht, doch mit dem Stand der derzeitigen Medizin war dies nicht möglich. Dennoch verlangten akademische Ärzte Überprüfungen über den Geschlechterstatus in Verbindung mit der Ehetauglichkeit. Denn falls eine Inter* Person mit einer Person gleichen Geschlechts verheiratet werden würde, brächte dies die sexuelle Norm durcheinander und die Fortpflanzung als Ehezweck wäre bedroht gewesen (Schwenger, 2009).

Das neue Gesetz hingegen wurde verfasst um Inter*-Rechte auszuarbeiten. Es soll kosmetische Operationen verhindern und Inter* schützen.

Trotz diesem grundlegenden Unterschied zeigt der „Zwitterparagraph“  erste Schritte zur Selbstbestimmung. Der “Zwitterparagraph” bemächtigt eine Inter* Person ihre Geschlechtsidentität nach dem 18. Lebensjahr selbst zu bestimmen. Die Durchsetzbarkeit war wahrscheinlich schwierig bis gar nicht möglich, der Paragraph hätte jedoch auch einfach weggelassen werden können.

Ebenso beruhen beide Gesetze auf der gleichen Problematik: Eine Gesellschaft, die nur weiß wie sie innerhalb der konstruierten Geschlechternormen denken und handeln soll.

Dennoch ist sowohl der gesetzliche als auch der soziale Fortschritt in Deutschlands Gesellschaft deutlich zu erkennen: Die Änderung im Personenstandsgesetz, sowie das neue Inter* Gesetz sind trotz der kritisierbaren Punkte ein großer Erfolg in Bezug auf Inter*-Rechte. Ebenso ist das Ansehen von Inter* in der Gesellschaft deutlich gestiegen, welches die Grundsteine für die medizinischen und rechtlichen Erfolge überhaupt erst gelegt hat.

7. Forderungen der Inter* Community

Das neue Inter* Gesetz weist eine Reihe von Lücken und Verbesserungsmöglichkeiten auf. Kritisiert wird unter anderem die Bezeichnung “Varianten der Geschlechtsentwicklung”, die aus der Medizin kommt. Definitionen von medizinischen Begriffen lassen sich auch neu definieren, sodass die enge Anlehnung die Gültigkeit des Gesetzes gefährdet (im.e.v., o.D.). Ebenso werden Maßnahmen zur Verhinderung einer Umgehung des Gesetzes verlangt, da dies eine effektive Strafverfolgung sonst erschwert. Eine weitere Ergänzung wäre die verpflichtende Beratung durch qualifizierte Peer-Berater*innen. Des Weiteren wird die Einrichtung eines zentralen Melderegisters, sowie eine ausgiebige Melde- und Dokumentationspflicht gefordert, für einen verständlichen Behandlungsverlauf und eine effektive Strafverfolgung (lsvd, o.D.), ein Verbot für eine Umgehung im Ausland. Sowie eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Körperverletzung, die momentan 5, bzw. 10 Jahre bei schwerer Körperverletzung beträgt. Die Kosten für die medizinische Versorgung sollen von Krankenkassen übernommen werden. Außerdem wird eine medizinische Versorgung von allen Opfern von Eingriffen der letzten 50 Jahre gefordert, sowie Möglichkeiten zur gesundheitlichen Rehabilitation. Ebenso wird mehr Aus- und Weiterbildung medizinischen Personals verlangt (lsvd, o.D.).

Änderungen der Bundesregierung sind wahrscheinlich bis 2026 zu erwarten, da die in §1631e Artikel 6 genannte Überprüfung des Gesetzes innerhalb von fünf Jahren des Inkrafttretens stattfinden soll.

8. Schluss / Fazit

Das heutige Inter* Gesetz bildet einen deutlichen Unterschied zum damaligen “Zwitterparagraphen”. Inter* habe in der Gesellschaft und in der Medizin Anerkennung erlangt. Die gesetzliche Anfertigung von Inter*-Rechten ist, obwohl das Gesetz noch nicht zufriedenstellend ist, ein wichtiger Meilenstein.

Durch den Vergleich wird jedoch auch deutlich, dass unsere Gesellschaft sich nicht in allen Punkten weiterentwickelt hat. Probleme, die damals herrschten, sind auch heute noch nicht vollends gelöst. Das Aufwachsen von Kindern außerhalb der Geschlechternormen ist gesellschaftlich immer noch nicht normalisiert. Der Umschwung fing jedoch auch erst vor ungefähr 30 Jahren an.

Der Weg zu einer gesellschaftlichen Besserung kann jedoch mit weiteren Forschungen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, sowie Aktivismus und eine Weiterentwicklung der Inter* Gesetze erreicht werden. So wird die Gesellschaft sicherlich in ein paar Jahren schon weitere Fortschritte zeigen.

Literaturverzeichnis

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Quelle: Mia Taheri, Entwicklung von Inter*-Rechten in der medizinischen Gesetzgebung, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin,29.02.2024, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=440