Wie prägen gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen die Marginalisierung von Menschen mit Behinderung?

Nele Becker (WiSe 2024/25)

1. Einleitung

Die gesellschaftliche Marginalisierung von Menschen mit Behinderungen ist tief in hegemonialen Normvorstellungen verankert und mit Klassismus verbunden. Diese Vorstellungen bestimmen nicht nur den Zugang zu Ressourcen und sozialen Teilhabemöglichkeiten, sondern auch die Wahrnehmung und Behandlung von Behinderung im öffentlichen und privaten Raum. Die vorliegende Arbeit untersucht, wie der Begriff der Normalität strukturell, kulturell und psychologisch geformt wird und auch aus Intersektionalitätsperspektive Konsequenzen für Menschen mit Behinderungen hat.

2. Modelle von Behinderung

Innerhalb des letzten Jahrhunderts haben sich verschiedene Modelle entwickelt, welche erklären sollen, wie Behinderung zu definieren ist und wie dementsprechend damit umgegangen werden soll. Im Folgenden sollen drei Modelle herausgestellt werden, welche sowohl die wissenschaftliche Forschung als auch den gesellschaftlichen Umgang besonders geprägt haben.

2.1 Medizinisches Modell

Das medizinische Modell oder auch das individuelle Modell von Behinderung entwickelte sich im 20. Jahrhundert und gilt nach wie vor als das hegemoniale Modell in der gesellschaftlichen Betrachtungsweise von Behinderung, wodurch es zentral für das Verständnis der ableistischen Normalität ist (Hartwig, 2020). In diesem Modell wird Behinderung als eine individuelle Abweichung von einer gesellschaftlich konstruierten körperlichen, mentalen und kognitiven Norm gesehen, welche oft als ein „persönliches Unglück“ oder „tragisches Schicksal“ geframed wird. Dieses biophysische Verständnis von Behinderung führt hingegen zu einer Naturalisierung von körperlicher Differenz und deren Pathologisierung und hat eine Defizitorientierung zur Folge (Hirschberg, 2022). Denn Behinderung wird hier als ein individuelles Problem angesehen, welches durch rehabilitative und therapeutische Maßnahmen „gelöst“ werden soll. Hierbei ist die Dominanz und Orientierung an dem Wissen von medizinischen Expert*innen elementar, mit der gleichzeitigen Verlagerung der Verantwortung auf das Individuum mit Behinderung sich an gesellschaftliche Normen und Anforderungen anzupassen (Egen & Waldhoff, 2023). Das medizinische Modell konstruiert somit eine hierarchische Ordnung von Körpern, in welchem Menschen mit Behinderung und deren Lebensrealitäten als defizitär und „therapiebedürftig“ angesehen werden. Diese Sichtweise trägt zur Stigmatisierung bei und verstärkt die gesellschaftliche Tendenz, Menschen mit Behinderung als außerhalb der „Normalität“ zu betrachten.

2.2 Soziales Modell

Im Zuge der Behindertenorganisation Union of the Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) entstand in den 1970er Jahren in Großbritannien der Grundstein des heutigen sozialen Modells von Behinderung. Diese Gruppe machte in ihrem Grundsatzpapier erstmals den Unterschied zwischen individueller Beeinträchtigung (impairment) und der gesellschaftlich verursachten Behinderung (disability)(UPIAS, 1976).

Während also im medizinischen Modell Behinderung (disability) immer mit Beeinträchtigung (impairment) gleichgesetzt wurde, wird bereits zum Entstehungszeitpunkt des sozialen Modells und im Zuge des Wissenschaftsbereichs der Disability Studies deutlich, dass Behinderung nicht ein Ergebnis einer medizinisch zu definierenden Pathologie, sondern ein Produkt von sozialen Ausschluss- und Unterdrückungsverhältnissen ist (Waldschmidt, 2005). Demnach war dieses Modell bereichernd hinsichtlich des Verständnisses von Kontextfaktoren. Ein prägnantes Beispiel für diese Perspektive ist die Tatsache, dass Kurzsichtigkeit in einer Gesellschaft mit Zugang zu Sehhilfen keine Behinderung darstellt, während sie in einem Umfeld ohne diese Hilfsmittel sehr wohl eine bedeutende Einschränkung der Teilhabe darstellen würde insbesondere auch dadurch, dass Infrastruktur auf sehende Menschen ausgerichtet ist.

Das soziale Modell fordert demnach eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen (z.B. durch Leitsysteme, Rampen, Nachteilsausgleiche) die Menschen mit Behinderung ausschließen, anstatt den Fokus auf die „Heilung“ der körperlichen oder mentalen Beeinträchtigung zu legen.

2.3 Kulturelles Modell

In den 1980ern entwickelte sich in den USA aus den Kultur-, Sprach- und Literaturwissenschaften als Ergänzung zum sozialen Modell das kulturelle Modell, welches den Analysefokus auf das Zentrum der Gesellschaft und der oft nicht hinterfragten Normalität lenkt. Nach diesem Modell ist es fatal, Behinderung als ein „tragisches Schicksal“ zu verstehen wie nach dem medizinischen Modell, aber es reicht auch nicht, Behinderung lediglich als eine diskriminierte Randgruppenposition zu betrachten wie nach dem sozialen Modell. Nach dem kulturellen Modell ist Behinderung eine Form der Problematisierung von körperlicher Differenz (Waldschmidt, 2005). Ziel ist es, diese Prozesse, welche Behinderung als Differenzkategorie konstituieren zu re- und dekonstruieren (Behrisch, 2016). Hierfür ist die Betrachtung des Normalitätsbegriffs hinreichend.

2.3.1 Der Normalitätsbegriff

Im modernen Zeitalter ist Normalität als eine Kategorie zu verstehen, welche sich durch statistische Durchschnittswerte und einen kontinuierlichen Vergleich einzelner Menschen zur Mitte der Gesellschaft konzipiert. Der Normalitätsbegriff ist nicht nur ein abstraktes Konzept, sondern ein Werkzeug, das aktiv verwendet wird, um Gesellschaften zu strukturieren. Nach Stechow et al. (2019) zwingt die Vorstellung von Normalität zwar alle Körper zur Anpassung, privilegiert und honoriert hierbei aber insbesondere Körper, die sich normieren lassen oder solche, die bereits als „normal“ in gesellschaftlichen Normalitätsgrenzen anerkannt sind. Gerade die „normalen“ Körper können in ableistischen Regimen anders handlungsfähig werden und sind anderen Spielarten von Zwang ausgesetzt als die als „anormal“ markierten.

Nach Foucault wird Normalität durch und in Diskursen konstruiert und durch Verfahren der Disziplinarmacht, wie Vergleich, Differenzierung, Hierarchisierung, Homogenisierung und Ausschließung manifestiert. Diese lassen sich auch auf das Konstrukt der Behinderung übertragen: um Menschen eine Behinderung attestieren zu können, müssen laufend Körper verglichen werden (z.B. Intelligenztests), anschließend werden sie differenziert in unterschiedliche Arten der Leistungs- und Erwerbsminderung, Förder-, Hilfs- und Pflegebedürftigkeit und daraufhin hierarchisiert (z.B. im sozialrechtlich festgelegtem Grad der Behinderung (GdB)) und in Gruppen homogenisiert (z.B. Behinderung hinsichtlich körperlicher, seelischer, kognitiver Art), um dann mit Ausschließungsmaßnahmen (z.B. Förderschulen, Werkstätten) zu reagieren. Mit Foucault wird demzufolge die Perspektive verdeutlicht, dass behinderte Körper disziplinierte und normierte Körper und Regimen der Überwachung und Normalisierung ausgesetzt sind, mit dem Ziel, diese Körper an eine nicht-behinderte Ordnung anzupassen (Waldschmidt, 2008). Diese Normalitätskonstruktionen sind jedoch nicht isoliert zu betrachten, sondern in gesellschaftlichen Machtverhältnissen eingebettet, die auch andere Differenzkategorien wie Klasse, Gender oder Herkunft strukturieren.

3. Intersektionalität

Durch gesellschaftliche Machtverhältnisse ist Behinderung auch mit anderen Diversitätsmerkmalen und den damit oft einhergehenden Diskriminierungserfahrungen verwoben. Eine Überschneidung, die bei Behinderung häufig zu Tage tritt, ist die mit Klassenzugehörigkeit und/oder Klassenherkunft, welche mit dem Begriff Klassismus betitelt werden kann. Doch warum gibt es insbesondere bei diesen Diversitätsmerkmalen Überschneidungen? Dies liegt insbesondere am Kapitalismus. Denn hier treten Menschen auf dem Arbeitsmarkt in einen Wettbewerb und konkurrieren um Stellen, bei welchen jeweils die „am besten passenden“ Personen bevorzugt werden. Nach dem Gedanken von Unternehmer*innen und dem kapitalismus- und neoliberalorientierten System sind es demnach „funktions- und arbeitsfähige Bürger*innen“ (Maskos, 2015, S.6), die als produktiv, leistungsstark und damit als „wertvoll“ angesehen werden. Behinderung wird demnach nicht nur durch die verschiedenen Modelle von Behinderung verhandelt, sondern auch durch die Struktur der Wirtschaftsweise. Der Mensch wird somit in ein System gezwungen, in dem sein Wert primär über seine ökonomische Nützlichkeit definiert wird.

3.1 Erwerbsarbeit

Der Arbeitsmarkt ist ein Faktor bei dem deutlich wird, dass Menschen mit Behinderung systematisch ausgeschlossen oder in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungen werden. 310.000 Menschen mit Behinderung werden derzeit in deutschen Werkstätten für Menschen mit Behinderung beschäftigt (BAG WfBM, 2024). Werkstätten dienen formal dazu, Menschen mit Behinderungen auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten, doch in der Praxis spiegeln sie häufig ein ausbeuterisches System wider. Die Beschäftigten in Werkstätten arbeiten oft unter Bedingungen, die sie stark benachteiligen: sie erhalten für ihre Arbeit meist keinen Mindestlohn, sondern lediglich ein sogenanntes monatliches Arbeitsentgelt von ca. 200€ bei einer 40-Stundenwoche (ca. 1,35€/h). Da dies weit unterhalb der existenzsichernden Löhne liegt, erhalten die Beschäftigten zusätzlich Sozialleistungen, wodurch sie dann auf ein monatliches Gehalt von maximal 920€ gelangen, aber auch in einer abhängigen Position bleiben (Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik & Institut für angewandte Sozialwissenschaft, 2023). Dafür, dass Werkstätten Menschen für den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten sollen, ist die Vermittlungsquote von ca. 0,35% als klare Zielverfehlung einzuschätzen (Engels et al., 2023). Zudem sind die Beschäftigten hierbei keine Arbeitnehmer*innen sondern Rehabilitand*innen, weswegen ihnen Arbeitnehmer*innenrechte wie z.B. Streikrecht fehlen oder das Recht auf Mindestlohn verwehrt werden (Die Neue Norm, 2024). Diese systematische Abwertung ihrer Arbeitskraft und ihres Beitrags zur Gesellschaft zeigt, wie der Kapitalismus Menschen mit Behinderungen nicht nur ökonomisch ausbeutet, sondern auch ihre Position als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft in Frage stellt. Es wird ein Narrativ geschaffen, das ihre vermeintlich geringere Produktivität ins Zentrum stellt, anstatt die Strukturen so zu ändern, dass sie als gleichwertige Akteur*innen in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Allerdings gestaltet sich die Einstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt auch als schwierig. Zwar müssen Unternehmen ab 20 Mitarbeitenden mindestes eine Person mit Behinderung einstellen, wenn diese keine Ausgleichszahlung leisten wollen, allerdings ist diese Zahlung meistens ökonomisch günstiger als inklusivere Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, weswegen zweidrittel aller Unternehmen in Deutschland diese Quote nicht erfüllen (Aktion Mensch e.V., 2024). Außerdem haben Unternehmen zudem die Möglichkeit die zu besetzenden Arbeitsstellen an die beschriebenen Werkstätten für Menschen mit Behinderung auszulagern. Der Staat fordert offiziell Inklusion gemäß der UN-BRK, fördert aber gleichzeitig ein System, das Menschen mit Behinderung in Werkstätten hält.

 Dies zeigt, dass durch die Subventionen der Werkstätten durch den Staat die ökonomische Ungleichheit perpetuiert wird und Menschen mit Behinderung wirtschaftlich benachteiligt werden, was ihre Zugehörigkeit zu den unteren sozialen Klassen verstärkt, Aufstiegschancen erschwert und ihre ökonomische Abhängigkeit zementiert. Dem Kapitalismus ist die Abwertung von Menschen mit Behinderung durch seine Verwertungslogik demnach systemimmanent (Solbrig, 2022).

3.2 Bildungswesen

Um auf den Arbeitsmarkt zu gelangen, müssen Qualifikationen wie z.B. ein Schulabschluss vorliegen. Doch auch wenn Deutschland sich 2009 im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet hat, Segregation auch im Schulwesen abzuschaffen, stellte das Deutsche Institut für Menschenrechte (2023) fest, dass keine Transformation zu einem inklusiven Schulsystem stattfindet. Tatsächlich ist jede zehnte allgemeinbildende Schule in Deutschland eine Förderschule. Und nach wie vor werden mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung dort unterrichtet und 72,7% von ihnen verlassen die Förderschule ohne Schulabschluss (Deutsches Institut für Menschenrechte, 2023). Die Exklusionskette von Menschen mit Behinderung beginnt demnach bereits in der Schule, was bereits hier zu unfairen Startvoraussetzungen führt und wird durch einen ableistischen und segregierten Arbeitsmarkt inklusive „Sondereinrichtungen“ fortgeführt, wodurch ein „Klassenaufstieg“ bei durchschnittlich verdienenden Eltern eher negativiert wird.

Zusätzlich konnte herausgestellt werden, dass 73% aller Lehrkräfte an inklusiveren Schulen überzeugt sind, dass Kinder mit Behinderungen oder mit sogenannten „sonderpädagogischem Förderbedarf“ bevorzugt an einer Förderschule unterreichtet werden sollten (Robert Bosch Stiftung, 2023). Hierbei spielen einerseits logistische Rahmenbedingungen eine Rolle wie z.B., dass nur jede zehnte Lehrkraft im Studium auf inklusiven Unterricht vorbereitet wurde. Aber auch implizite ableistische Annahmen, die intrapsychisch formuliert werden, können eine Rolle dabei spielen, warum Inklusion sowohl im Bildungswesen als auch auf dem Arbeitsmarkt bewusst nicht gewollt ist.

4. Psychoanalytische Überlegungen

Laut Statistischem Bundesamt (2024) sind lediglich 3% der Behinderungen in Deutschland angeboren und die restlichen 97% erworbene Behinderungen (91% aufgrund einer Erkrankung, 1% Unfälle, 5% Sonstige). Die Konfrontation mit Behinderung kann bei Menschen ohne Behinderung tiefsitzende Ängste hervorrufen, weswegen die Psyche daraufhin häufig mit Abwehrmechanismen reagiert (Richarz, 2003). Abwehrmechanismen sind meist unbewusste Vorgänge der Psyche, welche dazu dienen, innerseelische als auch zwischenmenschliche Konflikte zu regulieren, um das seelische Gleichgewicht zu bewahren und Entlastung zu schaffen. Dabei sind sie nicht per se als pathologisch zu werten. Ein beispielhafter Abwehrmechanismus in diesem Zusammenhang wäre die Spaltung, welcher eine Reaktionsweise darstellt, um mit widersprüchlichen Gefühlen als auch starken Befürchtungen zurecht zu kommen. Hierbei wird ein Merkmal in zwei klar voneinander getrennte diametral gegenüberstehende Pole (z.B. Behinderung oder nicht-Behinderung) aufgeteilt, bei welchem ein Pol als erstrebenswert gilt, während der andere entwertet werden muss. Der Vorteil, den sich die Psyche hierbei verspricht, ist, dass die Welt als ein sicherer Ort erscheint und es vor den Gefühlen der Überwältigung und Angst schützt (Richarz, 2003). Doch welche Bedrohung erlebt die Psyche als so stark, dass sie beim Thema Behinderung auf Spaltung zurückgreift? Um dies zu verstehen, lohnt sich ein genauerer Blick auf die dahinterliegenden Ängste.

Die Ängste von nichtbehinderten Menschen könnten z.B. darum kreisen, dass der Körper oder die Seele irgendwann nicht mehr Mittel zum Zweck sind, in einer Gesellschaft die v.a. auf neoliberalen Kapitalismus setzt, bei dem der „Wert“ eines (nicht-kapitalbesitzenden) Menschen von dessen Arbeitskraft und -fähigkeit abhängig gemacht wird. Was damit einhergeht ist auch die Angst, dass der eigene Körper oder die Seele einem selbst Grenzen setzt bzw. Schmerzen bereitet oder im Körper und der Seele Prozesse ablaufen, welche sich trotz aller Bemühungen nicht beherrschen lassen. Diese Angst über fehlende Handlungsfähigkeit geht wiederum mit Angst vor Abhängigkeit von Anderen einher (Langnickel & Link, 2019; Schönwiese, 2003). Dies kann zur Folge haben, dass auf individueller Ebene Gefühle des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und Hilflosigkeit entstehen aufgrund der Angst vor dem Unkontrollierbaren, vor der eigenen Begrenztheit im Handeln und der Konfrontation mit der als Bedrohung wahrgenommen eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit (Egen & Waldhoff, 2023). Um all diese Ängste nicht zulassen zu müssen, wird also auf Spaltung gesetzt, welche auf Dauer aber immer mehr Aufwand bedarf und die dahinterliegenden Ängste nicht verschwinden lässt.

Spaltung geht deswegen häufig mit Rationalisierungen einher. Dies ist ein Abwehrmechanismus, den die Psyche verwendet, um einem vordergründig „sinnvolle“ Erklärungen und Begründungen aufzutischen, warum in diesem Fall Menschen mit Behinderungen abgewertet oder ferngehalten werden müssen und Inklusion auf allen Ebenen verhindert werden muss. Da Inklusion die Grenzen verwischen würde und die Konfrontation mit Ängsten schafft, weswegen dann z.B. öffentliche Räume, Schulen oder Arbeitsplätze so geschaffen werden, dass die Wahrscheinlichkeit der Begegnung sinkt.

5. Fazit

Bei der Analyse der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Behinderung hat sich gezeigt, dass insbesondere das medizinische Modell ableistische hegemoniale Normalitätsvorstellungen geprägt hat. Umso bereichernder ist es daher, dass in Behindertenorganisationen und den Disability Studies nach neuen Wegen gesucht wurde, die Konstruktion von (Nicht-)Behinderung und die dahinterstehenden Machtstrukturen zu verstehen, welche Behinderung zu einem Produkt sozialer, kultureller und politischer Prozesse macht. Denn durch institutionelle, strukturelle und psychologische Prozesse werden Normalitätsgrenzen gezogen, die bestimmte Körper und Lebensrealitäten ausschließen und eine hegemoniale Ordnung der Norm stabilisieren.

Eine intersektionale Betrachtung macht zudem deutlich, dass Behinderung in kapitalistischen Gesellschaften häufig mit anderen Differenzkategorien wie Klasse verwoben ist. Die ökonomische Abwertung von Menschen mit Behinderung ist nicht zufällig, sondern systemimmanent. Die Analyse verdeutlicht daher, dass eine inklusive Gesellschaft nicht allein durch den Abbau physischer Barrieren erreicht werden kann, sondern eine tiefgreifende Kritik an den bestehenden Machtverhältnissen und den dahinterliegenden Normalitätsvorstellungen erfordert.

Literaturverzeichnis

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Quelle: Nele Becker, Wie prägen gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen die Marginalisierung von Menschen mit Behinderung? in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=505

Check your privilege – und dann?

Die Individualisierung des Klassismus-Begriffs und die neo-liberale Vereinnahmung von Diversity

Amelie Kloas (SoSe 2022)

Klassistische Diskriminierung oder kapitalistische Ausbeutung

Während der Begriff des Klassismus nicht nur im akademischen Gebrauch, sondern auch gesamtgesellschaftlich immer präsenter wird, scheint es, als würde der Begriff Klasse(nkampf) in linksradikalen Ecken versauern. Eine kulturalistische Analyse von Klasse und die Individualisierung klassistischer Diskriminierung charakterisieren einen bürgerlichen Diskurs, der die Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiter*innen nicht nur auf die Mikroebene herunterbricht und somit Handlungsmöglichkeiten unterbindet, sondern diese Mechanismen manifestiert. Auch wenn die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien elementar für die weiterführende Analyse mit gesamtgesellschaftlichen Strukturen ist, tut sich eine Falle auf, wenn das Problem white privilege und nicht white supremacy, klassistische Diskriminierung und nicht kapitalistische Ausbeutung, Sexismus und nicht Patriarchat, Homophobie und nicht Heteronormativität heißt. Intersektionale Perspektiven helfen uns, Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen besser zu verstehen, wenn wir analysieren, dass diese anhand verschiedener Kategorien verlaufen und miteinander verzahnt sind. Die Individualisierung dieser intersektionalen Mechanismen aber raubt politische Handlungsmöglichkeiten. Im Folgenden werden in Tradition marxistischer Theorie die Individualisierung des Klassismus-Begriffs und die neo-liberale Vereinnahmung von Diversity analysiert.

Dazu wird zunächst die Genese des Klassismus-Begriffs skizziert. In diesem Zuge soll ergänzend auch der Begriff Klasse besprochen werden und inwiefern sich diese Kategorie von anderen Identitätskonstruktionen unterscheidet. Daran anschließend soll die Individualisierung von Diskriminierungsformen, insbesondere des Klassismus diskutiert werden. Nach einer Skizzierung des Konzeptes der Intersektionalität und ihrer Relevanz für klassenpolitische Fragen wird umrissen, welche Bedeutung aus dem Umgang mit den eigenen Privilegien weiterhin aus dem Konzept der Diversity Trainings hervorgeht. Abschließend sollen Handlungswege und das emanzipatorische Potential ebendieser aufgezeigt werden. Dieses Essay will als schwesterliche Kritik einen Beitrag zu der Diskussion zum Verhältnis der eigenen politischen Praxis, des eigenen politischen Seins, der eigenen Situiertheit in unserer Gesellschaft und den strukturellen Problemen des Systems beitragen.

Genese des Klassismus-Begriffs

Der Klassismus-Begriff ist umstritten. Er bezeichnet je nach Definition die Diskriminierung einzelner Personen oder Personengruppen entweder aufgrund ihrer jeweiligen Klassenumstände oder ihrer sozialen Herkunft/Schicht/Position. Der Begriff reiht sich auch semantisch durch sein Suffix in andere Diskriminierungsformen ein, thematisiert innerhalb der meisten Definitionen eher die Auswirkungen, nicht eigentlichen Ursprünge von Klassismus (Dermitzaki, 2020).

Zurückführen lässt sich die Nutzung des Begriffs auf die Lesbengruppe Furies, welche sich in den USA in den 1970ern gegen das neoliberale Narrativ des sozialen Aufstiegs durch Anstrengung positioniert und aus einer gesellschaftlichen Positionierung als Arbeiter*innen_töchter die klassistische Diskriminierung skandalisiert. Durchsetzen konnte sich diese kapitalismuskritische Analyse aber nicht und einer der heute bekanntesten Klassismusforscher, Chuck Barone, verhandelt Klasse als sozial konstruierte Kategorie. Im deutschsprachigen Raum besteht die Schwäche des englischen Begriffs class, nämlich die mangelnde Unterscheidung zwischen Klasse und Schicht, zumindest semantisch nicht. Trotzdem setzt sich in Deutschland bis heute das Verständnis von Klassismus als „persönliche, intergruppale und kulturelle Unterdrückung“ aus den USA nicht nur in sozialwissenschaftlichen, sondern auch aktivistisch politischen Kontexten durch (Baron, 2014). Andreas Kemper definiert Klassismus als „Ausbeutung, Marginalisierung, Gewalt, Macht und Kulturimperialismus aufgrund der sozialen Herkunft oder Position“ (Kemper, 2016). Gegenstand von Diskussion sollte hier durchaus sein, warum in dieser Definition der Grund als soziale Herkunft oder Position, nicht die Klassenzugehörigkeit benannt wird. Anhand dessen stellt sich heraus, dass dieser Klassismusbegriff eben als alltagspolitischer Begriff Wirkung entfaltet- die ursächlichen Gründe, nämlich das kapitalistische Wirtschaftssystem, geraten hier mindestens in den Hintergrund und Klassismus wird zu einer Form von Diskriminierung, die durch „anti-klassistische Praxis“ wie das Besuchen von Workshops aufgehoben werden kann. Auffällig sind wohl auch Berührungsängste mit den Begriffen Klasse und Klassenkampf. Beispielhaft: Andreas Kemper stellt im Zuge der Konzeptualisierung einer Anti-Klassismus Matrix vier analytische Elemente von Klassismus auf. Eines davon der Klassenkampf. Kemper aber schreibt, dass dieser besser als „Klassenaufhebungspraxis“ bezeichnet werden könne (Kemper, 2016). Begriffe mit marxistischer Konnotation werden gemieden bzw. neue Begriffe für solche erfunden, die es seit Jahrhunderten gibt. Weiter noch, die ein und dasselbe meinen.

Differenzkategorien – warum Klasse anders ist

Einige Klassismus-Forscher*innen verhandeln die Kategorien class, race, gender, sexuality und body analytisch einheitlich. Somit entsteht teilweise die Annahme, auch Klasse wäre sozial konstruiert. Die analytische Kategorie Klasse aber beschreibt keine mehrheitsgesellschaftlich zugeschriebene Zugehörigkeit, sondern trifft Aussagen über die Widersprüche des kapitalistischen Systems und versucht die Ursachen struktureller Ungleichheit zu verorten (Baron, 2014). In anderen Worten: Differenzkategorien wie gender und race münden zwar in materieller Ungleichbehandlung, lassen sich aber nicht dadurch begründen. Sie sind sozial konstruiert, lassen sich historisch mit Kolonialismus, Patriarchat und Kapitalismus verknüpfen. Klasse hingegen ist eine Kategorie, die sich aus den systemimmanenten materiellen Ungleichheiten des Kapitalismus begründet. Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit und Ableismus stellen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse im Kapitalismus dar. Tupoka Ogette beschreibt, wie Rassismus schon im 15. Jahrhundert die „ideologische Untermauerung“ einer „weltweiten Plünderungsindustrie“ bildet. Auch wenn wir zu dieser Zeit noch nicht von Kapitalismus sprechen können, so wird deutlich, wie die Differenzkategorie race konstruiert wird, um Profitmaximierung durch Ausbeutung, hier durch die Maafa, zu generieren. Weiterhin, dass wir die Entstehung der Differenzkategorie race nicht von Kolonialismus und Imperialismus, später auch von Kapitalismus trennen können (Ogette, 2020).

Die Individualisierung von Klassismus

Die eben angeführte Argumentation verwirft nicht den Anspruch, klassistische Diskriminierung anzuerkennen und dagegen zu kämpfen. Die Reflektion der eigenen Sprache, die Auseinandersetzung mit Exklusionsmechanismen und Zugangsmöglichkeiten im eigenen Umfeld muss zwangsläufig erfolgen, darf aber nicht verkennen, dass nicht klassistische Diskriminierung ursächlich für Unterdrückung und Ausschluss ist, sondern die Ausbeutung im kapitalistischen System. Diese raubt Arbeiter*innen jegliche Ressourcen die nötig wären, um am gesellschaftspolitischen Leben teilzuhaben. Personen in Lohnarbeit erwirtschaften mit ihrer Arbeitskraft einen Mehrwert, welcher durch die Kapitalist*innenklasse angeeignet wird. Die Differenz von geschaffenem Mehrwert und vergüteter Arbeitskraft stellt den erwirtschafteten Profit (Lhotzky, 2016, 2021). Diese Logik bildet die ökonomische Grundlage des Kapitalismus und verzahnt sich mit patriarchaler und rassistischer Unterdrückung. Das Kapital – ökonomisches, kulturelles sowie soziales – sammelt sich monopolartig in den Händen weniger Menschen. Seeck und Theißl formulieren treffend: „Klassismus lediglich als Diskriminierungsform zu verstehen, ohne die (Um-)Vertei-lungsfrage zu stellen, greift zu kurz und steht einer emanzipatorischen antiklassistischen Politik entgegen“ (Seeck & Theißl, 2021).

Die Individualisierung von Klassismus, wie auch bei allen anderen sozialen Kategorien, entlässt das System aus der Verantwortung und verschleiert und/oder manifestiert damit die bestehenden Verhältnisse. Erfolgt eine Reduktion von Klassismus auf Einstellungen und Verhalten einzelner Personen(gruppen), so gerät außer Acht, dass Klassismus keine Nebenwirkung des kapitalistischen Systems, sondern eine Notwendigkeit ist. Anti-Klassistische Arbeit ist durchaus notwendig, bleibt aber nur ein leeres Versprechen, wenn nicht auch die ökonomischen Verhältnisse in Analyse und Handlungsstrategien mit einbezogen werden. Weiterhin sind Differenzkategorien wie Klasse, Sexualität, Geschlecht und race keine Identitätsmarker, die ahistorisch und isoliert auftreten, sondern soziale Beziehungen, die sich erst in Einbettung bestehender Machtverhältnisse ausformulieren lassen.

Individuelle Erfolgsgeschichten werden exemplarisch gerne dafür genutzt, das neoliberale Narrativ von sozialem Aufstieg zu untermauern. Dass Klassen- oder Schichtmigration nur den wenigsten möglich ist und dem Großteil der Arbeiter*innenklasse verwehrt bleibt, wird dabei ausgelassen. Laut Daten der Hans-Böckler Stiftung ist ein sozialer Aufstieg in den Jahren 2009-2013 36% aller armen Menschen in die „untere Mitte“ gelungen. Das sind 11% weniger als noch 1991-1995. Der Aufstieg in die „obere Mitte“ gelang 2009-2013 nur 7% aller armen Menschen. Als arm gilt in diesen Berechnungen, wer weniger als 60% des mittleren Einkommens in Deutschland erhält (Spannagel, 2016). Weiterführend ist nicht nur das Erfolgsversprechen unrealistisch, auch wird nicht danach gefragt, warum sozialer Aufstieg überhaupt notwendig oder wünschenswert ist. Neben dem kapitalistischen Leistungsgedanken ist es wohl das Bewusstsein darüber, dass die Lebensqualität armer Menschen mit erheblichen Mängeln verknüpft ist. Das Versprechen des sozialen Aufstiegs versucht diese Widersprüche abzudämpfen. Weiterhin relevant ist hier, dass die Gründe für das Nicht-Gelingen von Klassenmigration wieder individuell bei Einzel-Personen selbst angesiedelt werden.

Hanappi-Egger und Kutscher kritisieren, dass die „oftmals rein sozialkategorische, auf der sozialen Identitätsebene angesiedelte Konzeptionierung von Gruppen und Subgruppen [.] persönliche Individualität, nicht aber Gemeinschaftlichkeit und Solidarität in den Blick [nimmt]“. Weiterhin Gegenstand von Kritik ist hier die „Reproduktion [..] essentialistischer Identitätskonzepte[.]“ (Hanappi-Egger & Kutscher, 2015, S. 22). Eine festzustellende Individualisierungstendenz des neo-liberalen Zeitalters verschiebt Fragen der sozialen Gerechtigkeit in den privaten Raum und verortet die Verantwortung eben dafür bei Einzelpersonen oder Gruppen, nicht aber im Kollektiv. Damit einher geht ein Verlust emanzipatorischen Potentials- ist es doch die eigene individuelle Verantwortung, wenn sich das Versprechen des sozialen Aufstiegs nicht erfüllt. Weiterhin relevant ist eine „Generalisierungstendenz“, wonach sich immer mehr Menschen der Mittelschicht zugehörig fühlen und eine Art klassenlose Gesellschaft postuliert wird, sowie die Zugehörigkeit der sozialen Schicht/Klasse als fluide verstanden wird. Damit einher geht auch hier die Verantwortungszuschreibung für die eigene sozioökonomische Position zu einzelnen Individuen. Eine Identifikation mit der Arbeiter*innenklasse findet nicht statt, was das Erkennen struktureller Ungleichheit unterbindet (Hanappi-Egger & Kutscher, 2015).

Insgesamt also resultiert aus der Generalisierungstendenz unserer neo-liberalen Gesellschaft zunächst eine erschwerte Identifikation als Teil der Arbeiter*innenklasse, also als Gegenstand eines Kollektivs. Weiterhin, selbst wenn eine solche Identifikation erfolgt, wird durch die Individualisierungstendenz die Kausalität für die eigene Armut nicht etwa im strukturellen Kontext verortet, sondern der individuellen Verantwortung zugeschrieben.

Intersektionalität

Der Begriff der Intersektionalität erlaubt es, Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen zu analysieren, die anhand verschiedener Differenzkategorien verlaufen. Auch wenn sich zumindest Ambitionen feststellen lassen, Klassismus in Diversitäts-Diskurse zu integrieren, greifen diese die strukturelle Benachteiligung von Arbeiter*innen zumeist noch eher selten auf. Dabei ist die Klassenzugehörigkeit elementar für die Entstehung der Theoretisierung von Intersektionalität. Der Begriff wurde erstmalig von 1989 von der Juristin Kimberlé Crenshaw eingeführt und geht zurück auf eine arbeitsrechtliche Klage, die nach einer Entlassungswelle von Arbeiter*innen – dezidiert Schwarzer Frauen* – bei General Motors veranlasst wurde. Das Unternehmen konnte weder für Rassismus noch Sexismus belangt werden, denn weder weiße Frauen*, noch Schwarze Männer* wurden entlassen. Hier findet die Intersektionalität Anwendung: die Diskriminierung lässt sich bei diesem Beispiel nicht nur auf gender oder race beziehen, sondern auf die Intersektion dieser Kategorien. Auch heute noch können wir Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen nur treffsicher analysieren, wenn wir die Intersektionen von Differenzkategorien in den Blick nehmen.

Beispielhaft zeichnet sich hier die Korrelation der Intersektion Armut/Lebensverhältnisse und Rassismus durch eine Wechselwirkung aus. In Deutschland wird der Niedriglohn- bzw. der prekäre Sektor von Migrant*innen dominiert – insbesondere Frauen*. Diese Intersektion lässt sich in Deutschland historisieren, spätestens ab der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird diese mehr als deutlich: Im Zuge der Gastarbeiter*innenbewegung aus europäischen Südstaaten und der Türkei, ab den 70’ern Migrationsbewegungen in die DDR aus zum Beispiel Vietnam, 1988 dann Zuwanderungen aus Russland und später Fluchtbewegungen aus zum Beispiel Syrien oder Afghanistan. Gerade im Kontext organisierter Arbeitsmigration migrieren Personen aus eher ärmeren Ländern nach Deutschland, um dann Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, die gesellschaftlich wenig bis nicht anerkannt sind. Das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder steht auf den Schultern der Ausbeutung von Arbeitskraft besonders migrantischer Arbeiter*innen. Die Unterscheidung von weiß/nicht-weiß des deutschen Rassismusbegriffs reicht oft nicht aus, wie am Beispiel rumänischer Arbeiter*innen auf deutschen Spargelhöfen deutlich wird. Die Intersektion von Rassismus und Klassismus wird, wie bei vielen anderen Intersektionen, oft nicht erkannt. Im Weg steht das neoliberale Narrativ: jede*r ist seines Glückes Schmied. Der Zugang zu den benötigten Ressourcen aber ist stark abhängig von den finanziellen Mitteln des Elternhauses und Zugangsmöglichkeiten von struktureller Diskriminierung geprägt. Das beginnt bereits im Kindergarten und der Schule, äußert sich bei der Wohnungssuche oder am Arbeitsplatz (Dermitzaki, 2020). Was die Konzeptualisierung von Intersektionalität auch mit sich bringt, ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien. Besonders, die Bewusstmachung der eigenen Identitätsmarker und der gesamtgesellschaftliche Situiertheit.

Privilegiencheck und Diversity Trainings

Beliebte politische Praxis im Kontext der Diversity Sensibilisierung ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien. Auch in aktivistischen Kreisen ist immer wieder die Rede von „Check your privilege“. Ob Privilegiengalerie, kritische Männlichkeitsworkshops, critical whiteness oder allyship: all diese Ideen verbindet eine Gemeinsamkeit: der Glaube daran, es selbst besser und damit zumindest das eigene Umfeld zu einem diskriminierungsärmeren Raum zu machen. Aber: Welche fundamentalen Zugeständnisse macht das Patriarchat, wenn Cis-Männer einen Workshop zu kritischer Männlichkeit besuchen? Lackieren sich dann endlich alle die Nägel? Das ist nicht der Anspruch dieser Trainings – vielen ist das klar. Und trotzdem sind diese skizzierten Diskurse keine Seltenheit.

Privilegien sind Vorteile, Ansprüche und Dominanz, die bestimmten Gruppen innerhalb spezifischer Kontexte gesellschaftlich zugesprochen werden. Sie sind Sondervorteile – nicht universell, nicht für alle gültig. Privilegien werden zugestanden, nicht durch persönliche Anstrengung verdient und stehen in Korrelation zu einem präferierten Status. Die Ausübung von Privilegien erfolgt unter Profitierung derjenigen, die sie besitzen – auch wenn bei privilegierten Gruppen oft kein Bewusstsein über den Besitz dieser Privilegien besteht. Die Unterdrückung von Personen ohne spezifische Privilegien erhält den status quo aufrecht. Im Falle klassenspezifischer Privilegien wird das Bestehen der Klassengesellschaft abgesichert (Black & Stone, 2011).

Die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien kann ein erster Schritt sein, um greifbar zu machen, in welchem System wir leben. Allein die Bewusstmachung der eigenen Situiertheit in der Gesellschaft, kann Möglichkeiten zur Analyse struktureller Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen eröffnen.  Privilegienchecks sind wertvoll im Kontext des nahen sozialen Umfelds, die Identifikation der eigenen Perspektive notwendig, um ernsthaft und glaubwürdig politische Arbeit zu leisten und dem eigenen Anspruch der Schaffung diskriminierungsarmer Räume gerecht zu werden. Unterdrücker und Unterdrückte müssen sich ihrer relativen Rolle, also auch dem Besitz von Privilegien, bewusst sein, um gegen ein System der Ungerechtigkeit zu kämpfen (Black & Stone, 2011). Privilegien sind etwas Strukturelles, nicht individuell. Entscheidend ist die eigene Auseinandersetzung nicht damit, Privilegien zu besitzen, sondern, mit diesen umzugehen. Eine konstruktive Verhandlung der eigenen Privilegien erkennt an, dass diese aus einem System der Unterdrückung hervorgehen und nutzt die damit einhergehenden Ressourcen für einen Beitrag zur Befreiung der Unterdrückung Aller (Kashtan, 2019).

Konzepte und Umsetzungen von Diversity Trainings unterscheiden sich mitunter stark. Während es solche gibt, die die eben skizzierten Chancen eröffnen, lässt sich gleichzeitig feststellen, dass oft auch eine Aneignung von Diversity für Profitmaximierung festzustellen ist (Hanappi-Egger & Kutscher, 2015). Diversity Trainings können zwar zu einem Abbau von persönlicher Voreingenommenheit und Vorurteilen führen, evidenzbasiert zeigt sich aber, dass damit nicht automatisch ein Rückgang von (struktureller) Diskriminierung zu verzeichnen ist. Diese nämlich ist Produkt von Einstellungen und Gewohnheiten aber auch institutionalisierten Mechanismen und lässt sich nicht allein durch un(ter)bewusste Voreingenommenheit erklären. Diversity Trainings müssen als Teil weiterer Diversity Maßnahmen verstanden werden, um strukturelle Diskriminierung abzubauen (Dobbin & Kalev, 2018).

Handlungswege und emanzipatorisches Potential

„Individualisierung macht Diskriminierung unsichtbar“ – fasst Dimitra Dermitzaki zusammen (2020). Der Umgang mit den eigenen Privilegien, wie auch das Konzept von Diversity Workshops ist fruchtbar in direkter sozialer Umgebung, für ein systemisches Problem aber braucht es kollektive Antworten. Dafür elementar ist zuallererst natürlich ein Problembewusstsein, welches durchaus auch durch eine individualisierte Perspektive geschaffen werden kann. Dabei darf es aber nicht bleiben – die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien muss weiterführen und sich mit Fragen struktureller Diskriminierung, mit systemimmanenten Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen auseinandersetzen. Durch die Individualisierung, egal welcher Differenzkategorien, werden Handlungswege verschlossen und emanzipatorisches Potential untergraben. Die Identifikation als Kollektiv und die Verortung von Barrieren auf struktureller, systemischer Ebene erst erlaubt es, auf Veränderung zu hoffen. Der Klassismus-Begriff unterscheidet sich je nach Denkschule – deutlich ist aber, dass die dominante Auslegung auf die soziale Schicht verweist und sich zumeist mit den Auswirkungen klassistischer Diskriminierung befasst. Nicht die Dekonstruktion sprachlicher Vertikalismen, wie einige poststrukturalistische Ansätze innerhalb der Diskussion um die Konzeptualisierung des Klassismus-Begriffs versieren, sondern die Identifikation der lohnabhängigen Klasse als potentiell handlungsfähiges Kollektiv, sowie eine explizite Integration einer Analyse der ökonomischen Verhältnisse entfaltet emanzipatorisches Potential und eröffnet Handlungsmöglichkeiten hin zu einer gerechteren Gesellschaft (Baron, 2014). Diversity Trainings können, wenn eingebettet in breitere antikapitalistische, diskriminierungskritische Zusammenhänge, einen Teil dazu beitragen. Auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien, der eigenen Situiertheit in der Gesellschaft kann ein erster Schritt zu einer weiterführenden Kritik an den unterdrückerischen Strukturen des Systems sein, sowie ein essenzieller Bestandteil der eigenen politischen Befreiungskämpfe.

Literaturverzeichnis

Baron, C. (2014). Klasse und Klassismus. Eine kritische Bestandsaufnahme. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft(175), S. 225-235. doi:10.32387/prokla.v44i175.172

Black, L. L., & Stone, D. (2011). Expanding the Definition of Privilege: The Concept of Social Privilege. Journal of Multicultural Counseling and Development(4), S. 243-255. doi:10.1002/j.2161-1912.2005.tb00020.x

Dermitzaki, D. (2020). Zur Überschneidung von Rassismus und Klassismus. „Individualisierung macht Diskriminerung unsichtbar“. (A. Vangelista, Interviewer) Von https://rdl.de/beitrag/individualisierter-gesellschaft-ist-diskriminerung-unsichtbar abgerufen

Dobbin, F., & Kalev, A. (2018). Why Doesn’t Diversity Training Work? The Challenge for Industry and Academia. Anthropology Now(2), S. 48-55. doi:10.1080/19428200.2018.1493182

Hanappi-Egger, E., & Kutscher, G. (2015). Entgegen Individualisierung und Entsolidarisierung: Die Rolle der sozialen Klasse als suprakategorialer Zugang in der Diversitätsforschung. In E. Hanappi-Egger, & R. Bendl, Diversität, Diversifizierung und (Ent)Solidarisierung. Wiesbaden: Springer VS.

Kashtan, M. (2019). Why and How Facing Your Privilege Can Be Liberating. Understanding & Dismantling Privilege(1), S. 22-30.

Kemper, A. (2016). Klassismus. Eine Bestandsaufnahme. Thüringen: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Lhotzky, K. (Hrsg.). (2016, 2021). Karl Marx und Friedrich Engels. Gesammelte Werke. München: Anaconda Verlag.

Ogette, T. (2020). exit RACISM. rassismuskritisch denken lernen. Münster: UNRAST-Verlag.

Seeck, F., & Theißl, B. (2021). Solidarisch gegen Klassismus organisieren, intervenieren, umverteilen. UNRAST.

Spannagel, D. (2016). Soziale Mobilität nimmt weiter ab. WSI-Verteilungsbericht 2016. Düsseldorf: Sertzkasten GmbH.


Quelle: Amelie Kloas, Check your privilege – und dann? Die Individualisierung des Klassismus-Begriffs und die neo-liberale Vereinnahmung von Diversity, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 07.11.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=309