27. August 2015 von Philipp Krämer
Ohne Zweifel war der diesjährige IVN-Congres in Leiden auf allen Ebenen lehrreich. Eine der Lehren konnte ich dem Vortrag eines namhaften Kollegen westflämischer Herkunft entnehmen, der eine bekannte Zeile von Jacques Brel interpretierte. Dieser sang einst, mit „Tränen auf den Zähnen“, im Ringen mit seiner belgischen Identität:
Ik ben van Luxembourg.
Kurze, knappe Worte auf der Suche nach einer Exitstrategie bei lästigen Fragen zur eigenen Position im belgischen Gefühlskomplex. Der genannte Kollege fügte dem eine – mild gesagt – überraschende Deutung hinzu. Die Wahl fiel nicht etwa auf Luxemburg, weil es zum Beispiel eine selbstsichere und dennoch weltgewandte, im Ausland positiv konnotierte Identität suggeriert. Luxemburg sei vielmehr ein Land das „rein virtuell“ und „ohne Geschichte“ sei, daher eine sichere Bank um vor Zuschreibungen zu fliehen. Zudem ein verschlossenes Land, wo man „in de laatste tientallen jaren“ (keineswegs schon seit Jahrhunderten – keine Geschichte!) das seltsame „Letzeburgs“ spräche, um andere auszuschließen. Dieses liege „ergens tussen Duits en Frans“.
Eine exklusiv belgische Spezialität sind derartige Ansichten über Luxemburg nicht. Auch bei Elsevier hält man das Lëtzebuergesche für „een mix van Duits, Frans en Nederlands“, der für alle Dialektsprecher von Limburg bis Bayern verständlich sein sollte. Und schon Cees Nooteboom schreibt in seinem Debutroman:
Als we weer verder rijden naar Luxemburg, bedenk ik, dat ik daar nu eigenlijk niet meer naar toe hoef.
Kurz gesagt: Luxemburg ist für sich genommen irrelevant und definiert sich über die dominanten Nachbarn. Dasselbe gilt für die Sprache, die eine Aggression gegen Fremde ist. Das Land ist praktisch insgesamt ohne Existenzberechtigung. Argumente, die man so locker ausgesprochen und doch so hart gemeint in der Regel eher in kolonialen Diskursen findet.
Belgisch-luxemburgische Grenze: Ausbaufähige Beziehungen? (Pimvantend, CC-BY-SA 3.0)
Woran liegt das? Belgien und Luxemburg haben eine lange gemeinsame Geschichte, sind schon immer enge Partnerländer gewesen. Aus Perspektive Luxemburgs war und ist Belgien immer die sichere Wahl, wenn Allianzen mit Deutschland oder Frankreich zu heikel waren: Schon früh in der Währungspolitik, seit Langem in der Verteidigungspolitik usw.
Diese Zusammenarbeit ist aus geographischen und kulturellen Gründen natürlich eine, die besonders Wallonien betrifft. In gewissem Sinne ist für Luxemburg der westliche Nachbar noch immer das Belgien des 19. Jahrhunderts: Frankophon und mit einer eng verwandten Monarchie als Zentrum. Für einen Westflamen ist, durchaus berechtigt, diese Sichtweise natürlich fern der Realität und Luxemburg insgesamt auch fern der Wahrnehmungszone. Für Einzelne kein Grund, vor einem gründlichen Urteil zurückzuschrecken. Vielleicht aber ein Grund, über zwei Dinge nachzudenken:
1. Was ist eigentlich das Bild von Luxemburg in Flandern? Was weiß man dort oder glaubt man zu wissen über das Nachbarland Belgiens? Welche Meinungen, Vorurteile oder Erfahrungen hat man? Diese Frage geht die verschiedensten Disziplinen etwas an, von Kulturwissenschaften über Geschichtswissenschaften bis zur Politologie.
2. Hätte nicht auch die Niederlandistik ein Interesse an Luxemburg? Wir betreiben in der Regel Niederlandistik mit einem Blick auf die Niederlande und Flandern, vielleicht auch auf Gesamtbelgien, auf das Niederländische außerhalb Europas und auf Afrikaans und Friesisch. Belgien und die Niederlande gruppieren wir als schönes Schlagwort oder Akronym gerne in den Begriff „Benelux“ ein.
Laut Kartentitel eher „Hobelux“ als „Benelux“. (ULamm, PD)
Doch wer forscht und lehrt eigentlich zum Luxemburgischen, wer kümmert sich um Sprache, Literatur und Kultur Luxemburgs? Wer betreibt wirklich „Benelux-Studien“? Aus Perspektive der Niederlandistik ist es eigentlich klar: Dafür sollte die Germanistik zuständig sein. Mit der Loslösung des Lëtzeburgeschen aus dem deutschen Dialektspektrum, seiner historisch bedingten Eigenständigkeit und dem zunehmenden Ausbau ist diese Verbindung aber immer weniger selbstverständlich. Ohnehin betreibt die Germanistik leider manchmal eher eine „Deutschistik“ und interessiert sich weniger für sprachvergleichende Themen innerhalb oder außerhalb der Sprachfamilie. Verstärkt wird die Luxemburg-Forschung durch die Romanistik, welche die Einbindung des Großherzogtums in die Frankophonie im Blick behält.
Aus Sicht der Niederlandistik könnte man sagen: Das geht uns nichts an. Luxemburg ist nun einmal in der Gegenwart nicht Teil des niederländischen Sprach- und Kulturraums. Der Benelux-Verbund als Zusammenschluss westeuropäischer Nationen ist in der europäischen Integration weitgehend aufgegangen. Die historischen Bezüge liegen deutlicher auf der Hand, von den Verbindungen mit Limburg über die Personalunion mit den Niederlanden bis zur Unabhängigkeit im späten 19. Jahrhundert.
So richtig fühlt sich im deutschsprachigen akademischen System mit seiner traditionellen Disziplinstruktur niemand für Luxemburg zuständig. Institutionell gesehen bringt das mit sich, dass es eine verbreitete Luxemburgistik praktisch nicht gibt. Ausnahmen sind die Universitäten Luxemburgs und der Großregion, etwa Trier und Saarbrücken, sowie Einzelprojekte und –personen an Universitäten vor allem in Nordrhein-Westfalen. Außerhalb der unmittelbaren geographischen Umgebung sticht nur das Zentrum an der Universität Sheffield heraus. Als Kernland der Europäischen Union, als Nachbarland Deutschlands und nicht zuletzt als mehrsprachige Gesellschaft mit wertvollen Erfahrungen als Einwanderungsland gibt es mehr als genug Gründe, sich mit Luxemburg zu beschäftigen. Die Niederlandistik könnte damit nur gewinnen:
Sprachvergleich Luxemburgisch – Niederländisch – Deutsch: Jo – ja – ja. Nee – nee – nein. (Bdx, CC-BY-SA-4.0)
Als kleines Fach bekäme sie Verstärkung und vielleicht zusätzliche Ressourcen, nicht zuletzt durch mögliche Unterstützung aus einem kleinen, aber finanzstarken Land. (Zynisch gesagt: Zum Teil wären es ohnehin unsere eigenen Steuergelder, die zurückfließen.) Der Sprachvergleich im germanischen Zweig ließe sich um ein weiteres spannendes Beispiel erweitern. Die territorial gegliederte Mehrsprachigkeit Belgiens bietet fruchtbare Kontraste zur integrierten Mehrsprachigkeit Luxemburgs. Die Forschung zum Friesischen als kleine Sprache mit wichtigen sprachpolitischen Entscheidungswegen bietet Vergleichsmöglichkeiten zum Luxemburgischen mit ähnlicher Sprecherzahl. Gleiches gilt für die Standardisierung des Afrikaans und seine historische Loslösung vom Niederländischen im Vergleich zum Verhältnis zwischen Luxemburgisch und Deutsch. Die Forschungsthemen zu Luxemburg liegen auf der Straße – nur weil Germanistik und Romanistik sie nicht enthusiastisch aufgreifen, muss die Niederlandistik sie nicht brachliegen lassen.
Dass die Niederlandistik zunehmend ihre Relevanz aus den weltweiten Verbindungen der niederländischsprachigen Gesellschaften bezieht, ist eine vollkommen richtige Entwicklung. Ein Grund, Potenziale innerhalb Europas zu übergehen, ist das aber nicht. Und der westflämischen Sicht auf Luxemburg würde etwas genauere Beschäftigung mit dem Großherzogtum sicher auch nicht schaden.