Seit einigen Jahren erblüht in der Soziolinguistik das Forschungsfeld der Linguistic Landscapes, also die Erforschung der Repräsentation von Sprache im öffentlichen Raum. Man leitet daraus – mal plausibel, mal weniger – Interpretationen über den sozialen Status und die Kräfteverhältnisse von Sprachgruppen in mehrsprachigen Gesellschaften ab. Spöttische Geister behaupten, diese Forschungsrichtung sei eine etwas lebhaftere Fortschreibung der seit Jahrzehnten bestehenden und etwas dröge gewordenen „Ortstafelforschung“. Der eine oder andere Disput um mehrsprachige Ortsschilder kommt schließlich immer wieder auf: Ob in Voeren/Fourons, in Kärtnen oder brandaktuell in Norschleswig/Sütjütland.
Es ist aber keinesfalls so, dass die Schilder in mehrsprachigen Regionen ohne akuten Streit deshalb langweilig wären. Beispiele: Brüssel und Bozen. (Einmal dahingestellt, dass die Konflikte dort nicht akut sind – vielleicht nennen wir sie stattdessen latent?)
Wieso gibt es hier um die Beschilderung im Augenblick weniger Ärger als in anderen Regionen? Zunächst weil man sie vermutlich einfach normal und angemessen findet – das wäre den anderen Regionen auch zu raten. Aber es gibt einen zweiten, kleineren Faktor. Die Grammatik löst ein paar Streitpunkte ganz von allein, nämlich die Frage: Welche Sprache kommt zuerst?
Brüssel und Bozen sind in der bequemen Lage, je eine germanische und eine romanische Sprache zu kombinieren. Die beiden Sprachfamilien folgen unterschiedlichen Prinzipien. Die romanischen wollen ihren Kopf (die Konstituente, welche die grammatische Kategorisierung bestimmt) links haben, die germanischen rechts. Man kann dadurch sehr praktische Kofferwörter bilden, bei denen der mittlere Teil für beide Sprachen benutzt wird, während links der romanische Kopf und rechts der deutsche Kopf steht. Siehe beispielsweise die/der Place Masui Plein in Brüssel oder die Via Vintler Straße in Bozen. Das Niederländische und das Deutsche stehen lieber an zweiter Stelle, als dass man ihnen den Kopf abhackt und links wieder annäht.
In beiden Fällen ist auffällig, wie man bei den germanischen Sprachen in Kauf nimmt, dass weder Trennungs- oder Bindestrich geschrieben werden, noch irgendwie sonst das Kompositum kenntlich gemacht wird. Sonst ist die vermaledeite Getrenntschreibung den Sprachschützern ein Dorn im Auge, hier wird sie zum praktischen Mittel der Sprachbalance. Auf Deutsch spricht man noch einigermaßen scherzhaft von Kompositadiskriminierung, auf Niederländisch ruft man quasi schon zur Denunziation des onjuist spatiegebruik auf. In Brüssel müsste man eher von politiek correct spatiegebruik sprechen.
Leider funktioniert die Kofferwortbildung nicht immer so reibungslos. Das mittlere Element kann logischerweise nur doppelt verwendet werden, wenn es in beiden Sprachen identisch ist. Meist ist das bei etablierten Übersetzungen nicht der Fall (etwa die berühmte Rue de la Loi / Wetstraat in Brüssel oder die Via dei Portici / Laubengasse in Bozen). Schwierigkeiten bereitet es auch, wenn das eigentlich gleichbedeutende und etymologisch identische Wort unterschiedliche Formen hat, siehe die Brüsseler Rue de la Madeleine / Magdalenastraat.
Am leichtesten hat man es mit Eigennamen: Die sehen normalerweise gleich aus, solange man ein identisches Schriftsystem besitzt und historische Figuren wie Heilige, Päpste oder Monarchen nicht traditionell auch sprachspezifische Formen haben.
Die Schildermacher von Brüssel können alle Hoffnungen in Thronfolgerin Elisabeth setzen. Wenn man im Französischen den Großbuchstaben ohne Akzent in Kauf nimmt, sind in Zukunft sogar Straßennamen mit Kofferwörtern aus dem Namen der Regentin möglich. Eine belgischere Lösung als die Rue Elisabeth Straat ist wohl kaum vorstellbar. Vorausgesetzt es gibt bis dahin nicht plötzlich eine Place de la Republique / Republieksplein.