Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity) als Thema des Rahmenlehrplans Berliner Schulen

Werden queere Kinder immer noch unsichtbar gemacht und Identitäten abseits heteronormativer Rollenbilder marginalisiert?

Carolin Brede (SoSe 2021)

Als ein übergreifendes Unterrichtsthema für die Schule, wurde im neuen Rahmenlehrplan Berlin-Brandenburg von 2015 im Teil B: Fachübergreifende Kompetenzentwicklung „Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity)“ ausgewiesen. Dies ist eine Errungenschaft, denn dadurch wird Diversity Education landesweit als Thema des Unterrichts implementiert. Es macht die bildungspolitischen Bemühungen deutlich, das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in die schulische Bildung aufzunehmen (vgl. Riegel 2017, 69). Als Basis wird die Schule als Ort der „Wertschätzung sozialer, geschlechtlicher, sexueller, altersbezogener, körperlicher, geistiger, ethnischer, sprachlicher, religiöser und kultureller Vielfalt“ vorausgesetzt (SenBJF 2015a, 25).

Weiterführend heißt es:

Wenn alle am Bildungsprozess Beteiligten, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, als Individuen Achtung und Anerkennung erfahren, entfalten sie angstfrei ihr Bildungspotential und ihre Kreativität. So tragen sie zu einem von Respekt, Akzeptanz und Offenheit geprägten sozialen Miteinander bei. Eine Reflexion der eigenen Haltung und das Wahrnehmen von Vielfalt sind hierbei von Bedeutung.

SenBJF 2015a, 25

Überdies werden konkret zu erwerbende Kompetenzziele formuliert, die fächerübergreifend erarbeitet werden sollen. Ein Kompetenzziel ist, dass „[…] Kinder und Jugendliche[ ] eine Haltung [entwickeln], die es ihnen ermöglicht, Vielfalt als selbstverständlich und als Bereicherung wahrzunehmen. Sie erwerben die Fähigkeit, sich eigene, tatsächliche und zugeschriebene Merkmale bewusstzumachen, die eigene Lebenssituation und Lebensweise zu reflektieren und einen Perspektivwechsel im Hinblick auf die Lebenssituationen anderer vorzunehmen.“ (ebd.). Noch darüber hinaus sollen „[…] gesellschaftliche Vorstellungen von Normalität und Abweichungen sowie bestehende Hierarchien und Machtverhältnisse reflektiert [werden]“ (ebd.).

Ob in den vergangenen sechs Jahren seit Veröffentlichung des neuen Rahmenlehrplans eine Implementierung der im Curriculum für die gesamte Schulzeit formulierten Ziele im Bereich Diversity stattgefunden hat, soll im kommenden Essay erörtert werden. Hierbei wird sich auf die Repräsentation und Berücksichtigung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in der Schule beschränkt, wobei dies einen intersektionalen Blick nicht ablösen soll, jedoch die Analyse für den Umfang dieser Arbeit vereinfacht. Selbstverständlich sei hier betont, dass diese soziale Dimension nicht wichtiger ist als etwa die Behandlung des Themas Ability, rassismuskritische Darstellungen oder religiöse Vielfalt, um nur einige andere zu nennen.

Die Identitätsbildung ist Bestandteil kindlicher Entwicklungsaufgaben, begleitet ein Individuum über das gesamte Leben, ist nie gänzlich abgeschlossen und fluid. Die Auseinandersetzung mit individuellen sozialen Kategorien und Ausprägungen von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung spielt spätestens zu Beginn der Pubertät eine große Rolle, wobei auch bereits Kindergartenkinder klare Vorstellungen „adäquaten“ (oder vielmehr erwünschten) Geschlechterverhaltens haben. So erschien zuletzt eine Dokumentation des ZDF über Sexismus in Deutschland (1), im Kontext derer Kindergartenkinder im Interview klassische Rollenklischees den binären Geschlechtskategorien zuordneten. Hierbei wurde von den Interviewenden nur danach gefragt, was typisch für einen Mann und typisch für eine Frau sei. Zu kritisieren ist, dass selbst im Kontext einer vermeintlich der Aufklärung bestehender Sexismen gewidmeten Dokumentation, sexistische cisgeschlechtliche Bezugnahme auf Geschlecht stattfindet und trans* Identitäten durch Suggestivfragen unsichtbar gemacht werden und trans* Personen generell in der Dokumentation keinen Raum finden. Damit ist diese Reportage des öffentlich- rechtlichen Rundfunks ein Paradebeispiel für die Bearbeitung des Themas Geschlechtergerechtigkeit und Pluralität im öffentlichen, breit geführten Diskurs. Auch in der Institution Schule werden trans* und queere Identitäten immer noch unsichtbar gemacht, wie nachfolgend deutlich wird.

An einer Berliner Regelgrundschule habe ich kürzlich über sechs Monate als Vertretungslehrerin gewirkt, mit Kolleg*innen zusammengearbeitet und auch im Rahmen diverser Praktika im Unterricht verschiedener Lehrkräfte hospitiert. In keinem dieser Kontexte wurde konsequent gegendert oder Diversity sichtbar mitgedacht. Wenn überhaupt wurde es mitgemeint. Die mangelnde Sichtbarkeit von Vielfalt in Unterrichtsmaterialien, Unterrichtssprache und Themen stellt diese wohlwollend formulierte Vermutung jedoch in Frage.

„Andersartigkeit“, sich in seiner Identität abseits der Norm fühlen, wird im Grundschulkontext erstmals thematisch im vorfachlichen Unterricht aufgegriffen – meist bezogen auf heterogene äußere Eigenschaften. So behandeln diverse Bilderbücher und Erzählungen das Thema der „Andersartigkeit“ auf eine verniedlichende, dekontextualisierende Art. Hierbei wird sich in vielen Fällen der Abstraktion der Thematik der „Andersartigkeit“ in der kindlichen Realität bedient, indem menschliche Konflikte/ Emotionen auf vermenschlichte Tiere, welche als Protagonist*innen handeln, projiziert werden. Beispielhaft zu nennen sei an dieser Stelle das Buch Elmar – welches bei Amazon als „der Kinderbuchklassiker zum Thema ´anders sein´ und Toleranz“ – beworben wird. Der bunt karierte Elefant fühlt sich zunächst wegen seiner „Andersartigkeit“ ausgegrenzt, lernt sich dann jedoch im Laufe der Geschichte selbst wertschätzen. Nicht unproblematisch ist in der Geschichte, dass Elmar seine Wertschätzung erfährt, indem er anderen Tieren weiterhilft und ihnen gutmütig Ratschläge in kniffligen Lebenslagen gibt. Seine „Andersartigkeit“ wird also mit einem Mehrwert für die Gesellschaft „aufgewogen“.

Ein weiterer weihnachtlicher Klassiker ist die Geschichte von Rudolph dem kleinen Rentier. Auch Rudolph unterscheidet sich nicht im inneren Empfinden von den anderen, sondern in der äußeren Erscheinung. Hierbei löst sich die Ausgrenzung aus der Peergroup auf, als er am Weihnachtsabend durch sein besonderes Aussehen (die leuchtende Nase) der Gruppe helfen kann, den Schlitten durch den Schneesturm zu lenken. Plötzlich wird er gefeiert.

Beiden Geschichten gemein ist die Thematisierung von Ausgrenzung und Othering einzelner Akteur*innen, die nicht dem stereotypischen Bild einer Gruppe entsprechen. Andersartigkeit wird also in einem problematisierenden Kontext verortet, bei welchem sich als Moral der Geschichte die Konflikthaftigkeit in der speziellen Bedeutung/ einem Mehrwert der „Andersartigkeit“ für die ansonsten homogen scheinende Peergroup auflöst. Damit wird das Thema Diversität aus der eigenen Lebenswelt herausgehoben und vereinfacht bzw. in konstruierten Geschichten aufgelöst, wobei die Gleichwertigkeit der Individualität nicht deutlich wird, indem die „Andersartigkeit“ als eine Abweichung von einer einheitlichen Norm abgegrenzt wird.

Dies sind nur einige Beispiele für populäre Kindergeschichten zum Thema Vielfalt. Jedoch gibt es mittlerweile auch gelungenere Werke, in denen identitäre Vielfalt in einer Geschichte entweder als Normalität dargestellt wird und diverse Eigenschaften unkommentiert repräsentiert werden (z.B. „Julian feiert die Liebe“) oder Unterschiede und Gemeinsamkeiten gleichwertig dargestellt werden (z.B. „Ich bin anders als du – Ich bin wie du“, „Du gehörst dazu – Das große Buch der Familien“). Leider haben diversitäre Kinderbücher noch nicht in alle Klassenzimmer Einzug gefunden, da Lehrkräfte die Literaturauswahl in der Grundschule selbst treffen und es keinen verbindlichen Kanon gibt (SenBJF 2015c, 32).

Nicht nur im Deutschunterricht und dessen Literaturauswahl wird deutlich, dass identitäre Vielfalt im Schulalltag eine marginalisierte Rolle spielt. Auch in Lehrwerken werden Normen reproduziert und dadurch sexuelle Orientierung und geschlechtliche Zugehörigkeit abseits heteronormativer Vorstellungen vernachlässigt und als „besonderes Anderes“ inszeniert (vgl. Riegel 2017, 69).

Dabei sitzen in jeder Schulklasse basierend auf Befragungen zur Selbstbezeichnung von Jugendlichen durchschnittlich ein bis zwei Lernende, die nicht heterosexuell sind (vgl. Lehrerfreund 2010). Darüber hinaus bezeichnen sich 12% der Millenials als transgender oder gender nonconforming (GLAAD 2017).

Eine gleichstellungsorientierte Schulbuchanalyse von Melanie Bittner ergab 2011, dass Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität Schulbücher dominieren und andere Lebensweisen dadurch als „Abweichung“ bagatellisiert werden. Die Nutzung anderer Materialien neben den vom Fachbereich vorgeschriebenen Büchern liegt im Ermessen der einzelnen Lehrkräfte, setzt jedoch eine Sensibilität und Reflexion diesbezüglich voraus.

Betrachtet man die Repräsentation marginalisierter Geschlechtsidentitäten sowie sexueller Identitäten, so ist auffällig, dass diese im Schulleben vorrangig in Form von Abwertungen auftreten. 2012 gaben bei einer amerikanischen Befragung zu Schwierigkeiten in ihrem Leben 21% der befragten LGBT*Q Jugendlichen an, gravierende Schwierigkeiten im Bereich Schulprobleme und Mobbing zu haben. Unter heterosexuellen, cisgeschlechtlich identifizierten Jugendlichen wurde dieses Problem signifikant seltener genannt. Diese haben eher Probleme im Bereich Leistung und Karriere sowie Finanzen (vgl. HRC Youth Servey Report 2012, 2).

Deutsche Jugendliche beschrieben 2017 in der „Coming-out-Studie“, dass sexuelle Orientierung – wenn überhaupt – meist nur im Kontext von Ethik, Biologie oder Sexualaufklärung zur Sprache kam (vgl. Krell 2019, 180).

Dabei ist im oben zitierten Rahmenlehrplan zum Thema Diversity verankert, dass dieses als Querschnittsthema behandelt werden soll. So werden die Fächer Deutsch, Ethik, Biologie und Sachunterricht (Klasse 1-4) als Fächer mit persönlichen Zugängen zum Thema ausgewiesen. In der Grundschule soll die Behandlung in der 5./6. Klasse im Kontext von Kin- der- und Menschenrechten Gegenstand sein. Sogar für die Fächer Kunst, Musik und Sport werden Anknüpfungspunkte für den Unterricht vorgeschlagen (vgl. SenBJFa 2015, 25).

Im Kontext dessen ist es erschreckend, dass Jugendliche angeben, zum Teil gar nicht im Unterricht über das Thema sexuelle Orientierung zu sprechen. LSBTIQ* Jugendliche wünschen sich laut Befragung gerade die möglichst frühe Berücksichtigung und Repräsentation bereits im Grundschulalter. Etwa durch bildliche Darstellungen von queeren Lebensentwürfen (vgl. Krell 2019, 182). Dies bietet sich sowohl in Unterrichtsmaterialien aller Fächer an, insbesondere jedoch bei den Themen des Sachunterrichts der Klassen 1-4.

So heißt es im RLP: „Der Sachunterricht trägt zur Identitätsentwicklung bei, dazu gehört, sich und andere Menschen in großer Vielfalt und Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und zu respektieren.“ (SenBJFb, 3). Das Themenfeld „Kind“ bietet sich für die Reflexion vielfältiger Identitäten und Lebensweisen an. Da die oftmals unbewusste bzw. unreflektierte Selbstverortung im Rahmen sozialer Erwartungen schon vor der Pubertät anfängt, sollte auch nicht erst im Sexualunterricht und den Gesellschaftswissenschaften der Klassen 5 und 6 Vielfalt explizit thematisch werden.

Die Thematisierung geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung erfolgt oftmals mit einer Überbetonung, dass Homosexualität oder Transidentität nichts Schlimmes seien (vgl. Klocke 2016; zit. nach Krell 2019, 181). Dies ist insofern problematisch, als dass es durch Betonung der gewünschten Anerkennung der als „Anders“ inszenierten Lebensweisen zu einer ungewollten Sonderstellung kommen kann, wenn eigentlich nur eine Förderung der Akzeptanz intendiert ist. Riegel nennt diesen Prozess „Verbesonderung“ (2017, 70). Eine identitätsstiftende Darstellung queerer Lebensweisen erfolgt demgegenüber nicht häufig (vgl. Krell/ Oldemeier 2016).

Auch in der Unterrichtskommunikation werden binäre Geschlechtergedanken reproduziert. So hospitierte ich im Laufe meiner Ausbildung als Lehrkraft an sechs Berliner Regelgrundschulen. An ausnahmslos keiner der Schulen wurde konsequent gegendert. Es wurde nach wie vor von „Schüler*innen und Schülern“ gesprochen, wie bereits zu meiner eigenen Grundschulzeit. Dies ist zwar ein Fortschritt in Sachen Repräsentation gegenüber dem generischen Maskulin, jedoch ist es im Kontext der rechtlichen Anerkennung weiterer Geschlechtsidentitäten („divers“) in Deutschland verwunderlich, dass eine gerechte Sprache in der Universität Einkehr erhalten hat und das ehemalige „Studentenwerk“ nun „Studierendenwerk“ heißt, nach der vermeintlich geschlechtersensiblen Lehramtsausbildung in der Ausbildung und Lernbegleitung der Kinder unserer Gesellschaft diese Errungenschaften aber wieder unsichtbar gemacht werden. Auch in Unterrichtsmaterialien und Büchern hat diese Sensibilität gegenüber diversen Geschlechtsidentitäten oftmals noch keinen Einzug gefunden.

Besonders erschreckend sind die Auszüge aus der unterrichtlichen Realität an Berliner Grundschulen vor dem Hintergrund, dass es im Kerncurriculum heißt: „Die Lehr- und Lernmaterialien sowie der Sprachgebrauch spiegeln die vielfältigen Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler wider.“ (SenBJF 2015a, 25). Selbst in dieser Veröffentlichung der Senatsverwaltung wird abstruser Weise binär gegendert.

Über die Sprache und bildliche Repräsentation hinaus sind auch räumliche Schulbereiche binär ausgerichtet. So etwa die Toiletten oder Umkleidekabinen im Sportunterricht, wodurch gerade Kinder in der Grundschule, die in ihrer Genderidentität womöglich noch unsicher sind, dazu gezwungen werden, sich binären Ordnungen unterzuordnen und ihre Identitäten vermeintlich „unsichtbar“ gemacht werden (vgl. Krell 2019, 178).

Alles in allem bleibt es sicher eine Herausforderung, queere Lebensweisen und Realitäten in der Grundschule ausreichend sichtbar zu machen, wenn viele Schulbuchverlage konservative Klischees reproduzieren und man als Lehrkraft sich zur Nutzung eines Schulbuches verpflichtet, was die Schulleitung/ der Fachbereich aussucht und im Klassensatz anschafft.

Demgegenüber trägt jede Lehrkraft eine Verantwortung, sich im Kollegium für Themen der Diversität und Vielfalt einzusetzen und auf Missstände aufmerksam zu machen und den eigenen Unterricht entlang dem Prinzip der Gleichstellung aller Individuen zu gestalten. Die Nutzung eigener und zusammengesuchter Materialien ist fast immer möglich und die Reflexion vorgegebenen Unterrichtsmaterials ist eine Voraussetzung für die Vorbereitung eines zeitgemäßen Unterrichts.

Auch die im Unterricht verwendete geschlechtergerechte und sensible Sprache liegt in der Verantwortung der Leitung des Unterrichts.

Dies setzt eine Wissensbasis und eine klare Haltung der Lehrenden voraus, die wohl nur dadurch erzielt werden kann, dass die Lehrkräfte sich privat zu den Themen weiterbilden, oder verpflichtende Module in der Lehramtsausbildung eingeführt werden, die Gender und sexuelle Identität/ Feminismus/ Intersektionalität usw. als Thema unabhängig von der studierten Fächerkombination behandeln.

Institutionellen Schwierigkeiten wie der Trennung der Toiletten in „Jungstoiletten“ und „Mädchentoiletten“ sowie anderen binären Geschlechtertrennungen sollte in Schulversammlungen begegnet werden und alternative Lösungen in Erwägung gezogen werden.

Darüber hinaus sollten Lehrkräfte die Verantwortung für die Thematisierung queerer Lebensweisen in ihren Fächern übernehmen. Der Rahmenlehrplan weist Diversity als Querschnittsthema aus, weshalb alle Akteur*innen der Schule sich dem Thema annehmen sollten und zu jeder Zeit queeren Themen Raum einräumen sollten sowie auch bei der Behandlung anderer Themen und in ihrer Sprache queere Perspektiven mitdenken sollten. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Lehrkräfte sich in ihrer Haltung und Performanz von einer Kultur des „(heteronormativen) Othering“, welche eine Überlegenheit der Mehrheitsgesellschaft impliziert, hin zu einer tatsächlichen Normalisierung von Vielfalt bewegen sollte, damit die Sonderstellung marginalisierter Gruppen aufgehoben wird und jegliche Form des eigenen Lebensentwurfes als gleichwertig wahrgenommen wird. Vielfalt sollte somit nicht nur als Unterrichtsthema verstanden, sondern als Reflexionsfolie über jegliches schulische Handeln gelegt werden. Entgegen des hier der Einfachheit gerichteten Fokus auf sexuelle Identität und Genderidentität sollte in der Schule die Verschränkung (Intersektionalität) von verschiedenen Machtverhältnissen und die damit verbundenen Überlagerungen und Mehrfachzugehörigkeiten beim Thematisieren von Identität stärkere Berücksichtigung finden.

Nur so kann Schule einen Beitrag dazu leisten, dem Anspruch von Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen, der in der Menschenrechtskonvention, im Grundgesetz sowie im Schulgesetz formuliert ist, gerecht zu werden.


(1) 1Wie sexistisch ist Deutschland? – Frauenbild, Klischees und #metoo, 18.08.2021; abrufbar über: https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/wie-sexistisch-ist-deutschland–frauenbild-klischees– und-metoo-1-100.html


Literaturverzeichnis

Bittner, Melanie (2011): Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern. Eine gesellschaftsorientierte Analyse einer Materialsammlung für die Unterrichtspraxis. Frankfurt a.M.: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

GLAAD (Gay and Lesbian Alliance against Defamation) (2017): Accelerating Acceptance. URL: https://www.glaad.org/files/aa/2017_GLAAD_Accelerating_Acceptance.pdf

HRC (Human Rights Campaign, Hrsg.) (2012): Growing up LGBT in America. HRC Youth Surves Report. New York

Krell, C. (2019): „Schule ist nochmal eine ganz andere Sache“. In: Ketelhut, K. & Lau, D. (Hrsg.): Gender – Wissen – Vermittlung. Geschlechterwissen im Kontext von Bildungsinstitutionen und sozialen Bewegungen. Wiesbaden: Springer VS, 169-192

Krell, C. & Oldemeier, K. (2017): Coming-out – und dann…? Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Opladen: Barbara Budrich

Lehrerfreund (2010): „Der ist doch schwul“ – Zum Umgang mit einem verbreiteten Schimpfwort. URL: https://www.lehrerfreund.de/schule/1s/schwul-schimpfwort-interview/3781 (zuletzt abgerufen: 20.08.2021)

Riegel, C.: Queere Familien in pädagogischen Kontexten – zwischen Ignoranz und Othering (2017). In: Hartmann, J.; Messerschmidt; A., Thon, C. (Hrsg.): Queertheoretische Perspektiven auf Bildung. Pädagogische Kritik der Heteronormativität. Opladen ; Berlin ; Toronto: Verlag Barbara Budrich, 69-94

SenBJF (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg) (Hg.) (2015a): Rahmenlehrplan. Teil B.

SenBJF (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg) (Hg.) (2015b): Rahmenlehrplan. Teil C. Sachunterricht. Jahrgangsstufen 1-4

SenBJF (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg) (Hg.) (2015c): Rahmenlehrplan. Teil C. Deutsch. Jahrgangsstufen 1-10

Wie sexistisch ist Deutschland? – Frauenbild, Klischees und #metoo, 18.08.2021; abrufbar über: https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/wie-sexistisch-ist-deutschland– frauenbild-klischees–und-metoo-1-100.html


Quelle: Carolin Brede, Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity) als Thema des Rahmenlehrplans Berliner Schulen, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 24.09.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=125

Gendern ist Weltsicht: Ein Plädoyer für gendergerechte Sprache

Paula Kleuters (SoSe 2021)

Ein Plädoyer fürs Gendern

Jedes Mal, wenn ich aus Berlin in die Heimat fahre, ist es dasselbe. Ich komme an, treffe meine Schulfreund*innengruppe, wir trinken ein paar Bier und unterhalten uns. Meistens über die Vergangenheit, viel über ehemalige Stufen­kamerad*innen, manchmal über Zukunftspläne und selten über wirklich interessante Dinge. Egal worum es geht, letztendlich gelangen wir immer an den Punkt, an dem die neue Reglung zum Semesterticket „behindert“ ist, oder die Musik auf der letzten Party – vor Corona selbstverständlich – „voll schwul“ war. Das Thema „politisch korrekte Sprache“ ist also, zumindest implizit, immer schnell auf dem Tisch. Spätestens, wenn dann einem oder einer meiner Freund*innen auffällt, dass ich versuche, mich mehr oder weniger konsequent gendergerecht auszudrücken, zu gendern also, ist ein Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt und eine große Debatte losgeht. Meist nur halb ernsthaft, weil alle schon zwei Bier getrunken haben, aber doch ernst genug, um zu merken, dass ich und die meisten meiner Freund*innen hier grundlegend unterschiedlicher Auffassungen sind. „Das ist doch nicht so gemeint!“, „Ach komm, jetzt entspann dich mal!“ oder „Ich hab aber nen Freund, der ist schwul und den stört das nicht, wenn ich das so sage…“ und ganz besonders „Das mit dem Gendern ist ja so albern, Paula!“. Immer sind es die gleichen Sprüche, denen ich versuche, entgegenzuhalten.

„Die Heimat“ ist übrigens eine kleine Großstadt tief im Westen. Immer wieder denke ich, so langsam müssten die sprachlichen Veränderungen, die hier in Berlin mittlerweile zu meinem Alltag gehören, doch auch dort angekommen sein. Und immer wieder stelle ich fest, dass dem nicht so ist und dass das, was ich hier in meiner ‚Bubble‘ als so alltäglich erlebe, dort noch längst nicht zum Standardrepertoire gehört. Ganz besonders das Gendern nicht. Und immer wieder merke ich komischerweise gerade in diesen Situationen der Uneinigkeit, wie sehr mir das Thema am Herzen liegt und wie wichtig und sinnvoll ich diskriminierungsfreie Sprache finde. Exemplarisch werde ich mich hier besonders auf gendergerechte Sprache als eine Form der diskriminierungsfreien Sprache konzentrieren. Für alle, die immer noch nicht verstanden haben, warum gendergerechte Sprache eine gute Idee ist, (oder auch für die, die sich in ihrer Meinung bestärkt fühlen wollen), ist das hier ein Plädoyer fürs Gendern.

Haben wir wichtigere Probleme oder formt Sprache unsere Welt?

Von vielen Kritiker*innen des Genderns wird häufig angeprangert, dass man sich in Nichtigkeiten verrenne; es gäbe doch viel größere Probleme und sprachliche Veränderungen seien nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Man solle sich doch lieber auf die „richtigen“ Probleme konzentrieren. Ich will überhaupt nicht abstreiten, dass es „größere“ Probleme gibt, als unseren Sprachgebrauch. Frauen werden überall auf der Welt systematisch diskriminiert, benachteiligt, belästigt, vergewaltigt, getötet; die Liste ist leider lang. Und diese Dinge sind schrecklich und müssen sich ohne Frage verändern. Nun scheiden sich aber genau hier, an der Frage der Herangehensweise, die Geister: Kritiker*innen des Genderns würden sagen, man muss die großen Probleme direkt angehen, alles andere würde diese verkennen und sei somit überflüssig, ja fast schon unverschämt; sie vertreten quasi einen „Top-down“-Ansatz: Wir schaffen die übergeordneten Probleme aus der Welt, vielleicht ändern sich deren Grundlagen ja dann von allein. Ich glaube nicht, dass das so funktioniert. Ich glaube, dass es mehr Sinn ergibt, an kleinen, leicht handhabbaren Stellschrauben, also beispielsweise unserem alltäglichen Sprachgebrauch, zu drehen. Diese vielen kleinen Veränderungen auf ganz grundlegender Ebene mögen banal scheinen, können aber in der Summe auch auf übergeordneter Ebene von unten nach oben Veränderungen herbeiführen, “Bottom-up“also.

Schon Wilhelm von Humboldt stellte im 19. Jahrhundert fest, „so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche [sic!] Weltansicht.“ (1836, S. 58). Damals von von Humboldt eher auf Nationalsprachen bezogen, lässt sich das Konzept auch auf die vorliegende Thematik anwenden: Eine Sprache, in der alle Geschlechter außer dem explizit männlichen, nicht vorkommen, beeinflusst natürlich, wie wir die Welt wahrnehmen und formen und untermauert so patriarchalische Strukturen.  Auch die Autorin und Rednerin Kübra Gümüşay untermalt fast 200 Jahre später in ihrem Buch Sprache und Sein (2020) mit eindrucksvollen Beispielen, wie sehr sprachliche Feinheiten unsere Wahrnehmung der Welt prägen. Gümüşay beschreibt, wie sie plötzlich ganz banale Dinge anders wahrnimmt oder diese ihr zum ersten Mal auffallen, weil sie die Phänomene plötzlich benennen kann:

„Weil ich das Wort kenne, nehme ich wahr, was es benennt […] So beschreibt das japanische Wort komorebi das Sonnenlicht, das durch die Blätter von Bäumen schimmert. Gurfa, ein arabisches Wort, steht für die Menge an Wasser, die sich in einer Hand schöpfen lässt. Das griechische Wort meraki beschreibt die hingebungsvolle Leidenschaft, Liebe und Energie, mit der sich jemand einer Tätigkeit widmet“

Gümüşay, 2020, S. 11f

Genauso sei unsere Vorstellung von Mengen, von Farben, von Zeit und Raum, unsere ganze Weltsicht also, davon beeinflusst, wie diese in unserer Sprache repräsentiert sind (Gümüşay, 2020). Besonders spannend im Kontext von genderfairer Sprache sind auch ihre Ausführungen zum grammatikalischen Geschlecht von  Dingen: „Im Deutschen werden Brücken eher als ‚schön, elegant, fragil, friedlich, hübsch und schlank‘ beschrieben, im Italienischen eher als ‚groß, gefährlich, lang, stark, stabil und gewaltig“ (Gümüşay, 2020, S. 16). Für die grammatikalisch feminine Brücke im Deutschen werden also stereotyp weibliche Attribute gefunden, während das Gegenteil für das italienische grammatikalisch maskuline il ponte der Fall ist. Wenn Sprache also sogar unsere Vorstellung von Dingen so massiv beeinflusst, kann man sich gut vorstellen, dass das beispielsweise bei Personenbezeichnungen oder Anreden erst recht der Fall ist.

Die Forderung nach gendergerechter Sprache ist also kein konstruiertes oder nichtiges Problem; ganz im Gegenteil: Sprache beeinflusst ganz entscheidend, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Und eine Sprache, die mehr als die Hälfte der Menschen systematisch unsichtbar macht, sorgt dafür, dass diese Menschen auch abseits der Sprache nicht mitgedacht, übersehen und unsichtbar gemacht werden.

Warum die deutsche Sprache nicht „gerettet“ werden muss

Als der Duden Anfang dieses Jahres ankündigte, alle eingetragenen Personenbeschreibungen geschlechtergerecht anpassen zu wollen, hagelte es Kritik, ja Empörung von allen Seiten. Wahlweise ist von „Gendergaga“, „Verhunzung der deutschen Sprache“, oder „Genderwahn“ die Rede (Bednarz, 2020). Der Verein Deutsche Sprache rief sogar eine Petition ins Leben, um die „deutsche Sprache vor dem Duden [zu retten]“ (Verein Deutsche Sprache e.V., 2021). Wie absurd, wenn man sich vor Augen führt, dass es Sprachwandel schon immer gab und immer geben wird. So erklärt auch der Duden diesen Schritt damit, dass Sprache dynamisch ist und sich ganz selbstverständlich verändert – gemeinsam mit unserer Lebensrealität (Deutsche Welle, 2021). So scheint es doch nur logisch, dass in einer Gesellschaft, in der geschlechtliche Vielfalt immer sichtbarer wird, diese Diversität auch in der Sprache repräsentiert ist – einfach, weil wir sprachlich so unsere Realität akkurater beschreiben können: Gendern sei „schlicht und ergreifend genauer, weil es alle aufzählt, die eigentlich gemeint sind“, schreibt Sophie Passmann (2021), Kolumnistin fürs ZEITmagazin.

Weiterhin pochen der Verein Deutsche Sprache und konservative Sprachwissenschaftler*innen in der oben genannten Petition auf die Verwendung des generischen Maskulinums; es wird sogar davor gewarnt, es nicht mehr standardmäßig zu verwenden. Die Erweiterung der Einträge im Duden führe zu einer „problematischen Zwangs-Sexualisierung“ (Verein Deutsche Sprache e.V., 2021). Wie genau eine geschlechtersensible Sprache diese sogenannte „Zwangs-Sexualisierung“ herbeiführen soll, wird nicht richtig klar. Warum, ganz im Gegenteil, geschlechtergerechte Personenbeschreibungen eine gute und vor allem notwendige Veränderung darstellen, zeigt sich, sobald man wissenschaftliche Studien zu dem Thema betrachtet.

So wurde beispielsweise in einer Studie der Freien Universität Berlin untersucht, inwieweit die sprachliche Präsentation von stereotyp männlichen Berufen deren Wahrnehmung bei Kindern beeinflusst (Vervecken & Hannover, 2015). Es wurden Berufsbeschreibungen von stereotyp männlichen Berufen, z.B. Erfinder*in, entweder in der generisch maskulinen Form, also „Erfinder“, präsentiert, oder in Paarform, also „Erfinder und Erfinderinnen“, genau wie der Duden es eingeführt hat. Weitere als typisch männlich gelistete Berufe waren z.B. Astronaut*in, Bürger-meister*in oder Geschäftsmann/-frau. Gemessen wurde dann, wie die jeweilige sprachliche Präsentation sich darauf auswirkte, wie Kindern im Alter von 7-12 Jahren die Zugänglichkeit der präsentierten Berufe sowie die eigene berufliche Selbstwirksamkeit einschätzten. „Zugänglichkeit“ wurde anhand des wahrge-nommenen Status sowie der wahrgenommenen Schwierigkeit der Betätigung operationalisiert. „Selbstwirksamkeit” ist ein Konstrukt, das von Albert Bandura (1995, S. 2) als „the belief in one’s capabilities to organize and execute the courses of action required to manage prospective situations” definiert wurde. Die individuelle berufliche Selbstwirksamkeit zeigt also an, wie zuversichtlich die Kinder waren, die Qualifikationen für die jeweiligen Berufe erreichen zu können. Wie erwartet, und wie in anderen wissenschaftlichen Studien bestätigt, ergab sich aus der sprachlichen Intervention, dass sowohl Jungen als auch Mädchen (dass es weitere Geschlechter gibt, wurde hier außer Acht gelassen) sich als selbstwirksamer bezüglich der Berufswahl erfuhren und die stereotyp männlichen Berufe als zugänglicher angesehen wurden, wenn die Bezeichnungen paarweise präsentiert wurden (Vervecken & Hannover, 2015). Solche Ergebnisse führen deutlich vor Augen, warum die Änderung im Duden sinnvoll und dringend nötig ist: Auch wenn das generische Maskulinum auf dem Papier alle Menschen gleichermaßen inkludieren soll, heißt das nicht, dass sich auch wirklich alle inkludiert fühlen. Geschlechtergerechte Sprache löst mitnichten eine „Zwangs-Sexualisierung“ aus; stattdessen sorgt geschlechterUNgerechte Sprache dafür, dass der patriarchale Status Quo untermauert wird, indem schon Grundschulkindern sprachlich suggeriert wird, welche Berufe für sie erreichbar sind und welche nicht. Auch hier zeigt sich, wie oben schon erläutert, wie mächtig Sprache ist und wie massiv sie unsere Realität beeinflussen kann.

Zu kompliziert, zu hässlich, oder einfach nur nervig

Wenn, wie oben beschrieben, von der Verschandelung der deutschen Sprache geredet wird, springen auch ganz schnell Phonetiker*innen (oder wahlweise auch Freund*innen aus der Heimat, denen Phonetik zum ersten Mal in ihrem Leben wichtig ist), auf den Zug auf und bemängeln, das Gendern störe ihren natürlichen Redefluss. Welch fadenscheiniges Argument: So schwer kann es nicht sein, zwischen Lehrer- und *innen diese minimal kurze Pause – unter Phonetiker*innen auch Glottisschlag genannt – zu machen. Das kriegen wir alle bei beliebigen anderen Wörtern auch hin. Außerdem: so schlecht ist es vielleicht auch nicht, wenn der kleine Moment Pause ein wenig unbequem ist. Jedes Mal, wenn jemand stutzt, sei es Sprecher*in oder Hörer*in, wird Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass in unserem status quo sowohl sprachlich als auch darüber hinaus nicht alle Menschen gleich sichtbar sind. Passmann (2021) vertritt hier eine ähnliche Meinung und meint, es sei „raffiniert […], dass […] ein im Grunde niedliches Satzzeichen daran erinnern soll, dass bis vor ein paar Jahrzehnten diese ganze Welt von Männern geleitet wurde.“

Geht es um geschriebenes Gendern wird kritisiert, so etwas sei „unlesbar“. Margarete Stokowski (2021) merkt hierzu an, dieser Einwand würde „gerne vorgebracht von Menschen, die diverse Fremdsprachen sprechen und auch sonst intellektuell eigentlich gut mitkommen.“. Noch eine sehr fadenscheinige Argumentation also, denn natürlich können diese Menschen gegenderte Texte lesen, sie wollen nur nicht. Alternativ wird mit Vorliebe das Ästhetik-Argument angeführt: Gegenderte Sprache sehe hässlich aus, höre sich hässlich an und sei ein einziges „Gendergaga“. Dabei ist es doch laut Stokowski (2021) so: „Wer ,Gendergaga‘ sagt, hat sich in sprachästhetischer Hinsicht doch eh völlig aufgegeben.“

Egal wie die Einwände lauten, in den meisten Fällen zeigt sich, so auch Stokowski (2021), dass die meisten – überwiegend tatsächlich männlichen – Verfechter*innen der ungegenderten Sprache krampfhaft Argumente suchen, um zu verdecken, worum es eigentlich geht: Nämlich, dass es sie nervt und dass sie keine Lust haben, den Aufwand zu betreiben, ihre Sprache umzustellen. Als immer explizit inkludierter Mann ist das natürlich leicht gesagt.

Gewaltvolles generisches Maskulinum

Letztendlich geht die Thematik in meinen Augen über ästhetische oder praktische Fragen, ja vielleicht sogar über Weltansicht hinaus. Ist es nicht irgendwie auch eine Form von Gewalt, mehr als der Hälfte aller Menschen eine explizite sprachliche Repräsentation zu verweigern? Von verschiedenen Theoretiker*innen wird im Kontext der Sprechakttheorie erläutert, inwieweit Sprache gewaltvoll sein kann. Hierzu beschreibt Sybille Krämer, Professorin im Ruhestand für theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin,

„dass Worte immer auch Taten sind: indem wir sprechen, handeln wir. John Searles Sprechakttheorie und Jürgen Habermas’ Kommunikationstheorie haben uns – im Anschluss an Austin – aufgeklärt darüber, dass das, was das Sprechen handelnd hervorbringt, ›soziale Fakten‹ sind, Gegebenheiten also, deren Sein auf ihrem Anerkanntsein beruht. Wir reden nicht nur über die Welt, sondern konstituieren unsere Welt als eine soziale Welt auch durch unser Reden: zu sprechen heißt, eine Beziehung zu den Angesprochenen aufzunehmen und einzugehen.“

Krämer, 2015, S. 32

In Bezug auf Gewalt müsse zwar nach wie vor zwischen verbaler und physischer Gewalt unterschieden werden, dennoch solle zugestanden werden, dass auch sprachliche Äußerungen gewaltvoll sein können (Krämer, 2015). Judith Butler (1997) geht noch weiter, indem sie alle Menschen als sprachliche Wesen beschreibt, die erst durch Sprache, genauer sprachliche Benennung und Ansprache, beginnen zu sein. Weiterhin schlussfolgert sie, dass gerade darin die gewaltvolle Macht der Sprache liegt, die Existenz Einzelner auch wieder zu zerstören: „If language can sustain the body, it can also threaten its existence.“ (Butler, 1997, S. 5).

Und nichts anderes passiert doch, wenn auf dem generischen Maskulinum bestanden wird: All denjenigen Menschen, die sich von diesem nicht repräsentiert fühlen, wird die von Butler beschriebene, essentielle Ansprache verwehrt. Und damit wird ihnen nicht bloß, wie zu Beginn des Abschnitts formuliert, sprachliche Repräsentation verweigert, sondern sogar ihre komplette Existenz. Und das, finde ich, kann durchaus als Akt der Gewalt bezeichnet werden.

Und nun?

Was erzähle ich also jetzt meinen Freund*innen, wenn der nächste feuchtfröhliche Abend ansteht und wir uns wieder auf kontroversem Terrain bewegen?

Nun, ich werde mit Gewissheit sagen können, dass Sprache ganz entscheidend unsere Weltsicht formt. Ganz besonders die Art und Weise, wie wir andere Menschen bezeichnen und anreden, hat reale Auswirkungen und die Macht, patriarchalische Strukturen entweder zu stützen oder sie im Kleinen zu dekonstruieren. Natürlich wird sich durch eine gerechtere Sprache das Patriarchat nicht einfach in Luft auflösen, da mache ich mir keine Illusion. Weder alltäglicher noch struktureller Sexismus lassen sich allein durch sprachliche Veränderungen beseitigen; und trotzdem glaube ich, dass eine fairere Sprache ein Anfang sein kann, bottom-up gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.

Weiterhin kann ich allen erklären, warum die deutsche Sprache nicht gerettet werden muss (zumindest nicht vor dem Duden, vor konservativen Sprach-wissenschaftler*innen vielleicht schon eher). Durch differenzierte Personen-bezeichnungen entsteht mitnichten die befürchtete Zwangssexualisierung; stattdessen könnten sie helfen, geschlechterspezifische Berufsstereotype aufzuweichen und Kindern mehr Selbstvertrauen in ihrer Berufswahl zu geben.

Für mindestens genauso wichtig halte ich den Ansatz der Sprachakttheorie, nach dem das Beharren auf dem generischen Maskulinum in dem Sinne gewaltvoll ist, dass es den nicht explizit Genannten ganz simpel ihre Existenz abspricht.            

Ich kann verstehen, dass es anstrengend oder aufwändig erscheint, die eigene Sprache so grundlegend umzustellen. Ich kann auch verstehen, dass es nervig ist. Aber erstens verlangt dabei niemand Perfektion, ich schaffe es häufig auch nicht, mich komplett konsequent „politisch korrekt“ auszudrücken; und zweitens fände ich es schön, wenn sich Gender-Kritiker*innen wenigstens auf die Thematik einlassen und sich ihr nicht von vorneherein verweigern würden. Vielleicht kann ich mit meinem Plädoyer ja das nächste Mal zumindest meine Freund*innen davon überzeugen, dass gendergerecht Sprache gar nicht so eine schlechte Idee ist.


Literaturverzeichnis

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Bednarz, L. (2020, June 5). Wer hat Angst vor dem “Genderwahn”? Spiegel Kultur. https://www.spiegel.de/kultur/wer-hat-angst-vor-dem-genderwahn-kommentar-von-liane-bednarz-a-948ed8f6-fa1f-465c-9b07-86cfcf34ccb0

Butler, J. (1997). Excitable Speech: A Politics of the Performative. Routledge.

Deutsche Welle. (2021, February 11). Online-Duden: Gendern ist keine “Sprachmanipulation.” https://www.dw.com/de/online-duden-gendern-ist-keine-sprachmanipulation/a-56539248

Gümüşay, K. (2020). Sprache und Sein (4th ed.). Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Company KG.

Krämer, S. (2015). Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte? In S. K. Herrmann, S. Krämer, & H. Kuch (Eds.), Verletzende Worte (pp. 31–48). transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839405659-001

Passmann, S. (2021, July 21). [Aus der Serie: Alles oder Nichts]. ZEITmagazin. https://www.zeit.de/zeit-magazin/2021/30/gendern-sprachwandel-moral-aesthethik-schoenheit

Stokowski, M. (2021, January 12). Auch durch Astronautinnen ändert sich nicht alles. SPIEGEL Kultur. https://www.spiegel.de/kultur/gendergerechte-sprache-auch-durch-astronautinnen-aendert-sich-nicht-alles-a-4d47d2de-32be-4166-8a71-d0e87729b78f

Verein Deutsche Sprache e.V. (2021). Rettet die deutsche Sprache vor dem Duden. https://vds-ev.de/allgemein/aufrufe/rettet-die-deutsche-sprache-vor-dem-duden/

Vervecken, D., & Hannover, B. (2015). Yes I Can! Effects of Gender Fair Job Descriptions on Children’s Perceptions of Job Status, Job Difficulty, and Vocational Self-Efficacy. Social Psychology, 46(2), 76–92. https://doi.org/10.1027/1864-9335/a000229

von Humboldt, W. (1836). Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts. Dümmler.


Quelle: Paula Kleuters, Gendern ist Weltsicht – Ein Plädoyer für gendergerechte Sprache, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 30.08.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=120

Was haben Picknick und Pinkeln mit Geographie zu tun?– Ein Essay über das gegenseitige Konstruieren von Gender und Raum

Marielene Wicke (SoSe 2021)

1. Einleitung

Ich erinnere mich noch gut an die Frage, die mir im ersten Semester meines Geographiestudiums dauernd gestellt wurde: Was machen Geograph:innen eigentlich? Was zeichnet Geograph:innen aus? Was ist überhaupt Geographie? Gestellt wurden mir diese Fragen von Dozierenden, Freund:innen oder Familienmitgliedern. Während ich meiner Familie erklären musste, dass Geographie viel mehr ist als Erdkundeunterricht und Flüsseaufsagen, zielten die Dozierenden auf den Kern der Sache. Geographie ist so gut wie alles, denn sie beschäftigt sich mit Raum. Raum nicht im Sinne eines Landes, welches sich durch gemalte Striche auf einer Karte von anderen Ländern abgrenzt. Sondern vielmehr Raum im Sinne von dem, was ich als Person alltäglich denke, handle und fühle. Raum im Sinne eines ‚alltäglichen Geographiemachens‘. Ich mache Raum. Wir alle machen Raum. Jeden Tag. Die Geographie untersucht, wie Räume geschaffen wurden und werden, sie untersucht die Beschaffenheit von Räumen, Zusammenhänge und Wechselwirkungen.

Nun bin ich mittlerweile im vierten Semester und es werden andere Fragen gestellt. Aber egal mit welcher Thematik ich mich beschäftige, die Sache mit dem Raum lässt sich immer wieder anwenden. Und genau deswegen schreibe ich dieses Essay.

Ich möchte mich hier mit dem Zusammenhang von Raum und ‚Gender‘ auseinandersetzen. Ich wähle bewusst den englischen Begriff gender, da dieser im Gegensatz zum deutschen Begriff ‚Geschlecht‘ auf die soziale Konstruiertheit abzielt. Wird der Begriff ‚Geschlecht‘ gewählt, dann soll dieser nicht synonym zur Zweigeschlechtlichkeit verstanden werden. Vielmehr verwende ich diesen Begriff, um auf die kon-struierte ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ hinzuweisen, die im öffentlichen Raum und auch in unserem Alltag eingeschrieben ist (Wastl-Walter 2010, S.15). ‚Geschlecht‘ wird hier im sozialen und diskursiven Sinne verwendet und soll auf die gesellschaftlichen Konzepte hinwiesen, welche in diesem Essay hinterfragt werden. Denn mir stellen sich die Fragen, wie Geschlecht durch räumliche Praxen hergestellt und wie Raum vergeschlechtlicht wird. Und ob Veränderungen in Geschlechternormen und -relationen auch zu anderen Geographien führen können. Den Antworten dieser Fragen möchte ich anhand einer Auseinandersetzung zum alltäglichen Beispiel ‚Pinkeln im öffentlichen Raum‘ näher kommen.

2. Die Begriffe und was sie meinen

Bevor ich mich mit dem Zusammenhang von Raum und Gender auseinandersetzen möchte, werde ich zuerst grundlegend die Begriffe Raum und Gender bzw. ‚Geschlecht‘ näher vorstellen.

Wie bereits angedeutet, wird Raum in der Geographie als sozial konstituiert und konstruiert verstanden. Raum ist damit keine Kategorie des Starren oder Materiellen, sondern des Sozialen (Günzel 2015, S.19). Raum wird durch Menschen ‚gemacht‘ und muss daher „in seinem Verhältnis von Personen, Dingen und Distanzen“ begriffen werden (Bauer 2015, S.24).

Der Sozialphilosoph Pierre Bourdieu unterscheidet in einen physischen und in einen sozialen Raum. Das Soziale, sprich das stetig durch Sprache, Handlungen und Gedanken Reproduzierte und Konstruierte, schlägt sich materiell im Physischen nieder. Raum ist damit nicht ‚von Natur aus gegeben‘ und muss im Kontext von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und (historischen) soziokulturellen Strukturen erfasst werden (Ruhne 2011, S.73f.). Im Raum sind dementsprechend Marker wie Geschlecht, Hautfarbe und Gesellschaftsschicht ablesbar und darüber hinaus verewigt (Endler 2021, S.42).

Gender muss ebenso als ein soziales Konstrukt verstanden werden, welches stetig kulturspezifischen Zuschreibungen und Erwartungen sowie gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterliegt. Gender und Raum sind als soziale Konstrukte offen, dynamisch und damit wandelbar (Ruhne 2011, S.115). Der Begriff des ‚Geschlechts‘ dient in der Geographie als eine soziale Analysekategorie, welche in den Körper eingeschrieben ist. Der Körper kann dabei als „Text, der von anderen gelesen wird“ (Strüver 2005, S.74) verstanden werden und verkörpert soziale und räumliche Normen. So unterliegt der eigene Körper einer permanenten Inszenierung, wodurch dieser in sozialer Interaktion einem bestimmten Geschlecht zugeordnet wird. Inszenierungen in Form von geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern oder wie Doris Wastl-Walter schreibt „in der Art, wie man geht, die Nase putzt oder isst“ (Wastl-Walter 2010, S.71) müssen vor dem soziokulturellen Hintergrund und „als Folge offener oder versteckter Hierarchien in jeweils spezifischen Räumen betrachtet [werden]“ (Ruhne 2011, S.121). Das in den westlichen Gesellschaften dominierende zweigeschlechtliche, heteronormative Ordnungssystem unterscheidet in den ‚Mann‘ und in die ‚Frau‘ und ist bis heute als soziale Realität Folge historischer-kolonialistischer vergeschlechtlichter Konstruktionen und hierarchischer Strukturen.

3. ‚Doing space by doing gender’ oder ‘Doing gender by doing space’

Mit unserem alltäglichen Denken und Handeln werden alltäglich Geographien erschaffen. So erzeugen wir ‚Geschlecht‘ bzw. Gender und Raum durch gesellschaftlich getragene soziokulturelle Vorstellungen über Personengruppen und Räume (Wastl-Walter 2010, S.12). Dabei sind wir über unsere Körper in Räumen und fühlen, handeln und repräsentieren uns über diese. Über unsere Körper werden wir gelesen, beispielsweise als ‚Frau‘ oder ‚Mann‘. Und „[d]a es nicht möglich ist, diesen Körper zu verlassen, sind wir an das, was über ihn gedacht wird, und an seine Möglichkeiten, sich in der natürlichen und gebauten Umwelt zu bewegen, gebunden“ (Wastl-Walter 2010, S.68). Das bedeutet schlichtweg, dass in unseren Körpern räumliche Strukturen sowie gesellschaftliche Machtverhältnisse verinnerlicht sind und dadurch Machtverhältnisse sowie Räume reproduziert werden (Strüver 2014, S.179f.). Geschlecht und Raum sind damit nicht nur abhängig voneinander, sie sind eng miteinander verwoben, bedingen einander und bestätigen sich gegenseitig. „Geschlecht erfährt im Alltag eine kontextuelle Verankerung und Verortung so wie Raum durch die handelnden Personen vergeschlechtlicht wird. Beides sind Voraussetzungen für das jeweils andere und gleichsam dessen Folge“ (Wastl-Walter 2010, S.13).

Der französische Philosoph Michel Foucault entwickelte das Konzept der Performativität, welches aussagt, dass der Körper Ausdruck sozialer Praktiken und Machtverhältnisse ist. Performieren als ‚Akt der Verkörperung‘ dient beispielsweise der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten. Beispiele dieses ‚doing gender‘ ist das wiederholte Ansprechen als ‚Mann‘ oder ‚Frau‘, aber auch die Körperhaltung und Kleidungswahl. Diese verinnerlichten Handlungsabläufe und Handlungserwartungen sind ebenso verräumlicht (Wastl-Walter 2010, S.32f.). Dieser Punkt wird bei der Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Beispiel ‚Pinkeln im öffentlichen Raum‘ nochmals eine Rolle spielen.

Da die Raumkonstruktion von Menschen erfolgt und daher von gesellschaftlichen Machtstrukturen abhängt, ist Raum ebenso Ausdruck sozialer Ungleichheit. Wie ich über Raum denke und wie ich mich im Raum bewegen kann, hängt von meinen Handlungsmöglichkeiten und materiellen Faktoren ab. Das bedeutet, dass nicht alle gleichermaßen Räume konstruieren können. Die gesellschaftlich verfestigte Heteronormativität organisiert, wer Raum wie konstituieren kann. Sie organisiert, wo ich mich sicher fühle, wo ich verletzbar bin, wo ich geschützt bin. Raum hat somit einen erheblichen Einfluss darauf, wie ich mich fühle und bewege (Hark 2015, S.156f.). „So ist weder Männlich- noch Weiblichkeit einfach ein Attribut, das zu einer Identität hinzugefügt wird, sondern eine alltägliche Erfahrung im sozialen Raum“ (Hark 2015, S.157). Bei Betrachtung alltäglicher Erfahrungen im sozialen Raum müssen neben der Kategorie ‚Geschlecht‘ ebenfalls Kategorien der Hautfarbe und sozialen Herkunft berücksichtigt werden. So lassen sich das Produzieren von Raum und das Wirken von Raum nicht auf die Kategorie Geschlecht reduzieren, da verschiedene Machtmechanismen und gesellschaftliche Wirklichkeiten überlappend Einfluss nehmen (Sexismus, Rassismus, Ableismus) und daher eine intersektionale Perspektive bei der Untersuchung von Raum herangezogen werden muss.

4. Was Pinkeln mit Machtverhältnissen zutun hat

Am Sonntag, dem 04.07.2021 war ich mit Freund:innen im Görlitzer Park verabredet. Wir haben gepick-nickt, wenn Wassermelone, Hummus und Schokobrötchen definitionstechnisch als Picknick gelten. Jedenfalls genossen wir die Sonne auf unserer Haut und tranken dabei Bier. Und nach einem Bier fing bereits meine Blase an zu drücken. Ich musste aufs Klo. Meinen Freund:innen ging es da nicht anders. Während meine Freunde Maxi und Tom, welche beide einen Penis haben, in den nächsten Busch zum Pinkeln gehen konnten, war das bei mir und meinen Freundinnen ohne Penis anders. Wir mussten um uns zu Entladen, fünf Minuten laufen und nett im nächsten Lokal fragen, ob wir denn die Toilette benutzen dürfen. Von insgesamt vier Pinkelgängen mussten wir zwei davon mit fünfzig Cent bezahlen. Kurz darauf, ich glaube, es war der Montag, drückte mir meine Mitbewohnerin ein Buch in die Hand, welches nicht besser hätte passen können. Es handelte sich um das Buch von Rebekka Endler namens ‚Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt‘. In diesem widmet sie mehrere Seiten der Frage, warum wer wo pinkeln darf. Und so oft ich diese Situation des ‚Ich-will-nicht-im-Freien- Pinkeln-kommt-jemand-mit-eine-Toilette-suchen“ erlebt habe, so oft habe ich es als selbstverständlich empfunden. Doch warum ist das so? Warum gehören ungerechte Pinkelmöglichkeiten im öffentlichen Raum zu meiner sozialen Wirklichkeit?

Meiner Recherche nach befinden sich in der Nähe des Görlitzer Parks in Berlin-Kreuzberg zwei City- Toiletten. Aufgrund der Größe des Parks sind diese Pinkelmöglichkeiten nicht für alle Personen gleichermaßen gut zu erreichen, weshalb meine Freundinnen und ich (allesamt mit Vulven ausgestattet) auf Toilettensuche gegangen sind. Natürlich könnte jetzt gefragt werden, warum wir nicht ebenfalls einen Busch als stilles Örtchen aufgesucht haben. Erstens war es nachmittags und damit noch hell, womit die Gefahr, sich zu entblößen, relativ groß ist. Zweitens ist Wildpinkeln im Park unbequem und lästig. Drittens empfinde ich bei dieser Variante die Gefahr, sich dabei Anzupinkeln, besonders hoch. Viertens ist Pinkeln im Freien nach deutschem Gesetz auch nicht erwünscht. So absurd diese ganze Pinkelthematik auch klingen mag, führt sie gerade durch ihre Alltäglichkeit wichtige Fragen an: Wem gehört eigentlich der öffentliche Raum? Warum muss für den Eintritt von Damentoiletten häufig bezahlt werden, für Nutzung von Pissoirs dagegen häufig nicht?

Historisch (aber leider auch gegenwärtig) gesehen lässt sich diese Alltäglichkeit durch die Dominanz der heteronormativen und zweigeschlechtlichen Gesellschaftsordnung erklären. So konnten sich seit vielen Jahrhunderten und Jahrtausenden die Geschlechterverhältnisse in den öffentlichen Raum einschreiben. Durch die Unterscheidung in zwei Geschlechter entstanden zwei Pinkelmöglichkeiten: Die Sitztoilette im Damenklo und die Pissoirs im Herrenklo. Patriarchale Strukturen haben dafür gesorgt, dass ‚Männer‘ eine Vormachtstellung gegenüber ‚Frauen‘ genießen und damit Privilegien besitzen. Zudem sei es für eine Frau nicht ‚geschickt‘, im öffentlichen Raum auf die Toilette zu gehen. Endler schreibt passend zu dieser Geschlechterrolle: „Diese Ansicht, so empörend sie vielen von uns heute erscheint, hat Tradition. Sie entspricht der ebenfalls lang gehegten Auffassung, dass wir Frauen, um den Anforderungen unseres Geschlechts zu entsprechen, die volle Kontrolle über unsere Körperfunktionen besitzen. Wenn‘s juckt, wird nicht gekratzt. Wenn’s langweilig ist, wird nicht gegähnt. Und wenn’s drückt, wird nicht gepupst und eben auch nicht gepinkelt. Die anständige Frau weiß sich zu beherrschen.“ (Endler 2021, S.49). Das bedeutet kurzum, dass gesellschaftlich getragene Vorstellungen von Verhaltensnormen ‚einer Frau‘ bzw. ‚eines Mannes‘ sich in den Raum materiell eingeschrieben haben. So gab es bis vor wenigen Jahren überwiegend Pissoirs im öffentlichen Raum. Dass bis heute bei der Nutzung eines Sitzklos in der Regel gezahlt werden muss, und bei der Nutzung eines Pissoirs häufig nicht, spiegelt patriarchale Strukturen wider. ‚Der Mann‘ dominiert bis heute den öffentlichen Raum.

Pinkeln im öffentlichen Raum ist meines Erachtens vergeschlechtlicht und verräumlicht. Als Person, welche eine Vulva besitzt und Pinkeln im Stehen äußerst schwierig findet, finde ich mich in Situationen wie am Sonntag entweder mit der unbequemen Pinkelmethode im Freien ab oder muss einen Aufwand betreiben, um eine Toilette in der Nähe zu finden. Dadurch werde ich immer daran erinnert, dass ich es eben nicht so leicht habe wie Personen mit Penis. Als weiblich gelesene Person wird außerdem von mir erwartet, dass ich möglichst vermeide, im Freien zu pinkeln. Wenn ich also aufgrund von Harndrang eine Toilette in der Umgebung suche, anstatt mich in den nächsten Busch zu hocken, reproduziere ich soziale und räumliche Normen. Damit performiere ich und konstruiere den Raum so, wie er vorher war. Und wenn wir schon bei dem Thema sind, muss auch darüber geredet werden, dass es auch Personen gibt, die sich weder auf dem Damen- oder Herrenklo zuhause fühlen oder bei deren Nutzung behindert werden und die auch mal pinkeln müssen (Endler 2021, S.57). „Erst wenn jeder Mensch, ungeachtet seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner Religion, seiner körperlichen Beschaffenheit, einen sicheren Platz zum Pinkeln gefunden hat“, dann kann dieses Thema abgehakt werden (Endler 2021, S.57). Doch bis dahin muss der öffentliche Raum inklusiver und feministischer gestaltet werden, so dass mehr unterschiedliche Menschen den öffentlichen Raum gleichberechtigt nutzen können. An dieser Stelle sollte noch gesagt werden, dass es seit mehreren Jahren geschlechtsneutrale Pinkelmöglichkeiten gibt, diese bisher jedoch nicht von der Politik umgesetzt worden sind (Endler 2021, S.54ff.).

5. Fazit

Abschließend lässt sich sagen, dass Gender und Raum so ineinander verwoben sind, dass bis heute Wild- pinkeln für Personen mit Vulva (in der Regel) anstrengender ist als für Personen mit Penis. Pinkeln ist ein menschliches Grundbedürfnis und dennoch ist es nicht für alle gleichermaßen befriedigend auszuführen. Zurückführen lässt sich diese Tatsache auf historisch und soziokulturell verankerte Vorstellungen von Geschlecht und geschlechtstypischen Verhalten, welche sich bis heute im öffentlichem Raum niederschlagen. So haben Personen mit Vulven schlechtere Möglichkeiten, sich beispielsweise im Görlitzer Park zu entladen und weichen wie ich und meine Freundinnen auf andere Möglichkeiten aus. Der Raum bleibt dadurch der gleiche.

Wenn sich also die Frage stellt, wie Gender durch räumliche Praxen hergestellt wird, dann ist es der Raum selber, welcher Handlungsmöglichkeiten vorweist. Es sind ebenso die gesellschaftlichen Strukturen, welche Handlungserwartungen vorgeben. Wir selber vergeschlechtlichen Raum. Würde die Raumkonstruktion von der Kategorie ‚Geschlecht‘ losgelöst sein, dann würden andere, neue Räume entstehen. Und damit auch eine neue Geographie.

Ich glaube, wenn mich das nächste Mal jemand fragt, was Geograph:innen so machen, dann werde ich antworten, dass wir uns mit allem beschäftigen können, weil wir von allem ein wenig Ahnung haben. Zum Beispiel vom Pinkeln im öffentlichen Raum. Mal schauen, ob daraus interessante Gespräche zustande kommen.


Literaturverzeichnis

Bauer, J. (2015): Differentielles Denken, heterogene Räume und Konzepte von Alltäglichkeit. Anknüpfungen an Henri Lefebvres Raumkonzept aus feministischer Perspektive. In: Lehmann, S. (Hrsg.): Neue Muster, alte Maschen? Interdisziplinäre Perspektiven auf die Verschränkungen von Geschlecht und Raum. 1. Auflage. Bielefeld. S.23-41.

Endler, R. (2021): Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt. Köln. 334 S.

Günzel, S. (2015): Dimensionen des Theoretischen. In: Lehmann, S. (Hrsg.): Neue Muster, alte Maschen? Interdisziplinäre Perspektiven auf die Verschränkungen von Geschlecht und Raum. 1. Auflage. Bielefeld. S.19-22.

Hark, S. (2015): Dimensionen der Verortung. In: Lehmann, S. (Hrsg.): Neue Muster, alte Maschen? Interdisziplinäre Perspektiven auf die Verschränkungen von Geschlecht und Raum. 1. Auflage. Bielefeld. S.155-158.

Ruhne, R. (2011): Raum Macht Geschlecht. Zur Soziologie eines Wirkungsgefüges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffentlichen Raum. 2. Auflage. Wiesbaden. 232 S.

Strüver, A. (2005): Macht Körper Wissen Raum? Ansätze für eine Geographie der Differenzen. 1. Auflage. Wien. 126 S.

Strüver, A. (2014): Körper. In: Belina, B., Naumann, M. & Strüver, A. (Hrsg.): Handbuch Kritische Stadtgeographie. S.179-184.

Wastl-Walter, D. (2010): Gender Geographien. Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen. Band 2. Stuttgart. 245 S.


Quelle: Marielene Wicke, Was haben Picknick und Pinkeln mit Geographie zu tun? Ein Essay über das gegenseitige Konstruieren von Gender und Raum, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 30.08.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=113

Black Beauty, White Standards – An Essay on the Appropriation of Black Cultures

Kesho-Tabitha Imadonmwinyi (SoSe 2020)

Primitiv, tribal, spirituell und doch majestätisch – eine Reise zum Anfang der Zeit und der Essenz primitiver Wesensart. So beschrieb das Modelabel Valentino im Jahre 2015 seine Afrika-inspirierte Frühling/Sommer 2016 Kollektion. Als Modenshow umgesetzt sah dies so stereotypisierend aus, wie es klingt: überwiegend weiße Models in Kikuyustoffen, Bast, Knochenketten, Federn und Fransen sowie Gürteln aus afrikanischen Perlen. Die Haare der Models wurden zu Cornrows und Dreadlocks frisiert. Um diese modische Afrika-Darbietung noch ein wenig zu untermalen, durfte die passende Musik natürlich nicht fehlen. Was eignete sich dafür besser als der Sound afrikanischer Bongo-Trommeln (vgl. Stansfield 2015)? Et voilà, fertig war die Kreation eines authentischen Afrika-Erlebnisses für die Sinne, eine Hommage an einen ganzen Kontinent.

Nachahmung ist für bekanntlich die höchste Form von Anerkennung. Wieso also sollte es problematisch sein, dass fünf Jahre nach der Valentino-Modenshow, im Jahre 2020, immer noch weiße Models großer Modelabels wie Marc Jacobs und Comme des Garcons mit traditionell Schwarzen Frisuren über die Laufstege schreiten? Wieso sollte es problematisch sein, dass nicht-Schwarze Personen, allem voran Celebrities und Influencer*innen, diese Frisuren tragen und mit plastisch vergrößerten Lippen, Gesäßen und Oberweiten auf Instagram posieren? Oder Hautbräunungsmittel und Make-Up verwenden, welches so viele Nuancen dunkler ist als ihr natürlicher Teint, dass nur schwer zu erkennen ist, ob es sich um eine weiße, eine Schwarze oder eine Person of Color handelt? Wieso sollte es problematisch sein, wenn weiße Menschen traditionell-afrikanische Kleidungsstücke tragen und sich wohlmöglich noch eines Blackccents bedienen – der Authentizität halber.

In den vergangenen Jahren wurden die oben beschriebenen Praktiken immer wieder hitzig diskutiert – unter dem Schlagwort der kulturellen Aneignung. Auch gegenwärtig tritt die gesellschaftliche Debatte um kulturelle Aneignung immer wieder in den Vordergrund, vor allem in den sozialen Medien. Könnte es also sein, dass Nachahmung doch nicht die höchste Form von Anerkennung ist? Wo verläuft die Grenze zwischen kulturellem Austausch begründet auf kultureller Würdigung und kultureller Aneignung? Ziel meines Essays ist es, die Problematik kultureller Aneignung und die hegemonialen Machtverhältnisse, die mit dieser Praxis einhergehen, genauer darzulegen. Dies werde ich anhand der gängigsten Argumente und Fehlannahmen in der Debatte rund um kulturelle Aneignung aufzeigen. Aufgrund meiner eigenen Positionierung als Schwarze, afro-deutsche Frau möchte ich meinen Essay spezifisch im Kontext der Aneignung Schwarzer beziehungsweise afro-diasporischer Kulturartefakte situieren, mit einem besonderen Augenmerk auf historisch Schwarze Haarfrisuren. Doch zunächst einmal: Was genau ist unter kultureller Aneignung überhaupt zu verstehen?

Im Zuge kultureller Aneignung werden Artefakte marginalisierter Kulturen durch Mitglieder der dominanten, meist weiß-privilegierten Mehrheitsgesellschaft übernommen. Dabei werden die Herkunftskulturen dieser Artefakte nicht, wie es im Sinne wertschätzenden kulturellen Austauschs geschehen würde, gewürdigt. Stattdessen werden ohnehin marginalisierte gesellschaftliche Minderheitsgruppen und ihre Kulturgüter exotisiert, zu trendigen Fashionstatements reduziert und das Angeeignete oft sogar als das Eigene dargestellt. Der Geschichte und kulturellen Bedeutung dieser Kulturgüter wird von der dominanten Gruppe meist wenig bis gar keine Beachtung beigemessen. Vielmehr werden kulturelle Artefakte, nicht selten aus wirtschaftlich-kapitalistischen Interessen, willkürlich dekontextualisiert. Was für Minderheitsgruppen tief verwurzelte kulturelle Bedeutung hat, dient der dominanten Gruppe zur Unterhaltung oder als modisches Accessoire (vgl. Volkening 2020).

Besonders offensichtlich wird dies in Bezug auf die Valentino Modenshow. Ein häufiges Argument in der Debatte um kulturelle Aneignung ist, dass Film, Musik, Mode und andere Bereiche immer Inspiration aus anderen Kulturen schöpfen. Kultureller Austausch ist nichts Neues, es ist etwas, das seit Jahrhunderten stattfindet. Doch dieser muss immer auf Augenhöhe und respektvolle Art und Weise vollzogen werden. Im Falle der Valentino-Show ist kulturelle Aneignung äquivalent mit der Stereotypisierung Schwarzer Menschen und Menschen afrikanischer Herkunft. Die Herrichtung der Models und die Auswahl der Laufstegmusik spielt offensichtlich mit Stereotypen um etwas zu kreieren, das von der weißen Mehrheitsgesellschaft als afrikanische Ästhetik wahrgenommen wird. Wie so häufig in westlich-weißen Diskursen wird ein ganzer, kulturell höchst diverser Kontinent als ein großes Ganzes porträtiert und mit rassistischer Wortwahl als primitiv umschrieben. Es fällt also schwer, hier von wertschätzendem kulturellen Austausch zu sprechen, wenn Schwarze Kulturen stereotypisiert und rassistisch dargestellt und gleichzeitig zu „warenförmigen Fetisch-Objekten“ (Volkening 2020) weißen Kapitalismus reduziert werden. Wie auch bei der evident rassistischen Praxis des Blackfacings und dem Tragen von Afroperücken an Karneval entsteht durch die Valentino-Modenshow der Eindruck, es sei in Ordnung, Kulturen marginalisierter Communities als Kostüm zu tragen und daraus zusätzlich noch Profit zu schlagen. Bezeichnend dafür, dass hier wenig Würdigung der Kulturen, derer man sich bedient, stattfindet, ist ebenfalls in der Wahl der Models zu sehen: nur acht der 87 Looks der Valentino Modenshow wurden von Schwarzen Models präsentiert (vgl. Stansfield 2015).

Ein weiteres Argument derer, die der kulturellen Aneignung beschuldigt werden, ist, dass sie bestimmte Kulturelemente übernehmen, weil sie diese schön finden und so ihre Wertschätzung für andere Kulturen ausdrücken möchten. Zu ihrer Verteidigung beteuern sie zudem häufig, dass sie von einer Person der jeweiligen Kultur darin bestärkt worden seien, ein Kulturartefakt als Fashionstatement zu tragen. Hier gilt zu sagen: eine einzige Person kann nicht für alle Mitglieder einer Community sprechen. Und um etwas wahrhaftig wertzuschätzen, muss man Respekt und Verständnis haben. Valentino beispielsweise hat in seiner Show Perlen verwendet, die in afrikanischen und afro-diasporischen Kontexten tiefe spirituelle Bedeutung haben. Valentino hat diese Perlen benutzt, um ein Produkt zu verkaufen und dabei die ursprüngliche kulturelle Bedeutung missachtet. Kulturartefakte nach Belieben völlig willkürlich zu benutzen, wie es einem gerade gefällt, hat wenig mit Respekt zu tun.

Einer meiner persönlichen Favoriten in der Debatte um kulturelle Aneignung ist definitiv der Vorwurf der umgekehrten kulturellen Aneignung. Ein prominentes Beispiel bietet Designer Marc Jacobs, welcher 2020 ebenfalls überwiegend nicht-Schwarze Models mit Cornrow-Perücken für seine Modenshow nutzte. Auf den Vorwurf der kulturellen Aneignung reagierte dieser wie folgt:

“All who cry “cultural appropriation” or whatever nonsense about any race or skin color wearing their hair in any manner- funny how you don’t criticize women of color for straightening their hair. I respect and am inspired by people and how they look. I don’t see color or race- I see people. I’m sorry to read that so many people are so narrow minded… Love is the answer. Appreciation of all and inspiration from anywhere is a beautiful thing. Think about it.”

Marc Jacobs zitiert in Alese, 2018

Die Tatsache, dass es, anders als Jacobs glaubt, auch Schwarze Menschen gibt, die von Natur aus glattes Haar haben, soll hier einmal außen vorgelassen werden. Bei dem Argument der vermeintlich umgekehrten kulturellen Aneignung ist die Annahme zentral, dass Schwarze Menschen ebenfalls kulturelle Aneignung betreiben, wenn sie Erzeugnisse westlicher Kulturen übernehmen. Um kulturelle Aneignung zu verstehen, ist ein Verständnis von alltäglichem, strukturellem und institutionellem Rassismus in weißen Mehrheitsgesellschaften Voraussetzung. Denn so würde bewusst werden, dass umgekehrte kulturelle Aneignung genau so wenig existiert, wie umgekehrter Rassismus. Von kultureller Aneignung kann nur gesprochen werden, wenn ungleiche Machtverhältnisse zwischen Kulturen bestehen. Kulturelle Aneignung impliziert, dass eine privilegierte Gruppe sich an Artefakten marginalisierter Gruppen bedient. Wir leben in einer Welt, in der weiße Menschen und weiße Institutionen mehr Privilegien und Macht innehaben als Schwarze Menschen und Menschen of Color. Das kulturelle Erbe von ethnischen Minderheiten erfährt in weißen Mehrheitsgesellschaften oft eine Abwertung, was dazu führt, dass diese Minderheiten ihr Erbe verstecken oder sich so verändern, dass sie von der dominanten Gruppe akzeptiert werden. Wenn marginalisierte Menschen sich an einen Standard anpassen, der von der dominanten, westlichen Kultur gesetzt wird, ist dies häufig eine Überlebensstrategie. Man spricht hierbei also nicht von Aneignung, sondern Assimilation.

In der Auseinandersetzung mit kultureller Aneignung ist das Betrachten, Verstehen und Hinterfragen von Machtdynamiken also unabdingbar. Wenn man dies tut, dann werden die wohl beliebtesten Argumente, mit welchen kultureller Aneignung begegnet wird, sehr schnell entkräftet: Das sind doch nur Klamotten. Das ist doch nur Make-Up. Das sind doch nur Haare. Es ist eben nicht nur xyz, wenn Minderheitsgruppen für das Ausleben ihrer eigenen Kultur Opfer rassistischer Diskriminierung werden. Wenn dieselbe Gruppe, die Minderheitsgruppen abwertet, stigmatisiert, unterdrückt und marginalisiert nun deren kulturelle Praktiken übernimmt und dafür gefeiert wird.

Schwarze Menschen und People of Color sind seit Jahrhunderten einem eurozentrischen Schönheitsstandard ausgesetzt, der für sie nur schwer oder gar unmöglich zu erreichen ist. Denn innerhalb dieses Standards ist Schönheit in Übereinstimmung mit Weißsein konstruiert: helle Haut, dünne Lippen, schmale Nase und glattes Haar gelten als Ideal. Dieses Bild von Schönheit, errichtet auf dem Fundament der Versklavung, Kolonialisierung und Unterdrückung Schwarzer Menschen, ist eines, das bis heute vorherrscht. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich auf die koloniale Geschichte von Afrohaar Bezug nehmen. Haare und das Frisieren dieser hat in vielen afrikanischen sowie afrodiasporischen Kontexten seit Jahrhunderten eine besondere kulturelle und soziale Bedeutung. Während des transatlantischen Sklavenhandels war es üblich für Sklavenhalter, Schwarzen Männern und Frauen die Haare abzurasieren und sie so zu objektifizieren. Gesetze verboten es Schwarzen Menschen, ihr Haar öffentlich zu zeigen (vgl. Neil und Mbilishaka 2019: 160). Weltweit verbieten die Kodexe verschiedener Unternehmen und Institutionen auch heute noch Schwarzen Menschen, ihr Haar im natürlichen Zustand, als Afro, in Braids, Cornrows oder Dreadlocks zu tragen.

Viele nicht-Schwarze Menschen verharren bezüglich verschiedener Schwarzer Haarstyles in Stereotypen und Vorurteilen, die Schwarze Menschen navigieren müssen. Dazu zählt die Stigmatisierung von Afros als wild, rau und ungepflegt oder die Assoziation von Cornrows und Dreadlocks mit Drogenkonsum und Kriminalität oder Braids und anderen natürlichen Haarstyles als unprofessionell. Viele Schwarze Menschen sind sich nicht nur dieser Vorurteile, sondern auch des weißen Blickes bewusst, dem sie tagtäglich ausgesetzt sind und welcher sie in einem Prozess des Otherings als fremd und nicht zugehörig markiert. Das Navigieren des weißen Blickes greift W.E.B. Du Bois in seiner Theorie des „double- consciousness“ (Du Bois 2007: 8) auf. Diese beschreibt den inneren Konflikt marginalisierter Minderheitsgruppen in einer repressiven Gesellschaft und die psychologische Herausforderung Schwarzer Menschen und People of Color, sich selbst immer durch die Augen einer rassistischen, weißen Gesellschaft wahrzunehmen (vgl. ebd.: 8). Dies beeinflusst auch, wie Schwarze Menschen ihre Haare in bestimmten Räumen tragen, vor allem, wenn sie vermeiden möchten, negative Stereotype in ihrem weißen Gegenüber hervorzurufen. Die Assimilation marginalisierter Gruppen an westliche Ideale ist in vielen Fällen ein gewaltvolles Anpassen an den weißen, eurozentrischen Standard. So greifen zum Beispiel viele Schwarze Personen auf den sogenannten Relaxer zurück, eine chemische Haarglättungscreme. Die toxischen Inhaltsstoffe in Relaxern stehen mit einer Vielzahl schwerwiegender Gesundheitsprobleme in Verbindung, darunter Reproduktionsstörungen, Geburtsdefekte, Asthma und Krebs (vgl. Murray 2015: 66).  Dennoch setzen sich viele Personen diesem Risiko bewusst aus, um Stereotypisierungen, Vorurteilen und dem Policing (Stichwort racial profiling) ihrer Körper zu entgehen und Zugang zu überwiegend weißen Räumen zu haben.

Und was hat all das mit kultureller Aneignung zu tun? 2019 erscheint die Novemberausgabe des Magazins ELLE unter dem Titel Back to Black. Damit ist aber nicht nur Mode gemeint. Auf einer Doppelseite mit der Überschrift Black is Back sind sechs Schwarze Models (davon eines mit falschem Namen, dem ihrer Kollegin), abgebildet (vgl. Hein 2019). Dies spiegelt das wieder, womit sich viele Schwarze Menschen und Menschen of Color momentan konfrontiert sehen: dass Diversity gerade in ist und Schwarzsein beziehungsweise Schwarze Kulturen als Trend behandelt werden. Celebrities und Influencer*innen wie die Kardashians und Jenners betreiben immer wieder massiv kulturelle Aneignung. Sie verwenden Hautbräunungsmittel, lassen sich Lippen und Gesäß vergrößern und ahmen so Schwarze Körperformen nach. Sie tragen regelmäßig kulturell Schwarze Frisuren wie Cornrows oder Braids, die medial als Kardashian-Zöpfe vermarktet werden. Anstelle schädlicher Vorurteile treten Beschreibungen wie egdy, cool und stylisch. Während Schwarze Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Haare, großer, voller Lippen und vor allem Schwarze Frauen mit kurvigen Körpern in der Historie immer Diskriminierung erfahren haben und es auch gegenwärtig tun, werden weiße, privilegierte Personen für dieselben Styles gefeiert. Wenn diese Körpermerkmale also von weißen Frauen in einem kolonialistischen Stil enteignet werden, ist es wieder ein Trend und gilt als zu erreichendes Schönheitsideal.

Dies bringt uns zurück zur Realität ungleicher Machtverhältnisse. Eine weiße Person, die sich Teile Schwarzer Kulturen aneignet, wird aufgrund ihrer Privilegien nicht mit denselben Stereotypen behaftet wie eine Schwarze Person. Es ist weißen Personen somit möglich, zu imitieren, kopieren und Schwarze Kultur zum Teil ihrer Marktstrategie zu machen, ohne die Bürde rassistischer Diskriminierung tragen zu müssen. Nicht-Schwarze Menschen haben die Möglichkeit, das Nachgeahmte wie ein Kostüm an- und abzulegen, wann immer es ihnen recht ist. Diese Freiheit haben Schwarze Menschen nicht. Viele Menschen verstehen sich auch als Allies, wenn sie Schwarze Kultur promoten. Die Tatsache, dass diese promotet werden muss, ist in sich wieder ein Beweis dafür, dass diese in einem kolonialrassistischen, neokapitalistischen System als weniger wert eingestuft worden ist. Auch, dass weiße Menschen erst etwas imitieren müssen, damit es normalisiert wird, verdeutlicht die gesellschaftliche Schieflage. Schwarze Menschen und People of Color haben nicht weiße Validierung zum Ziel, sondern Gleichberechtigung. Die Intention, die weiße Menschen bei der Übernahme kultureller Elemente im Sinn haben, ist meist hinreichend. Denn Allyship im Sinne eines ich bin mit euch, ich gehöre zu euch macht die Privilegien, die eine weiße Person innehat, nicht wett. Vielmehr werden so die Erfahrungen, die Schwarze Personen bezüglich dieser Elemente machen, außer Acht gelassen.

Bei der Frage kultureller Aneignung geht es nicht darum, nicht-Schwarzen Menschen zu verbieten, einen historisch und kulturell Schwarzen Haarstyle zu tragen. Vielmehr geht es darum, diesen auch als solchen zu würdigen. Auch eine weiße Person kann Kleidung afrikanischen Ursprungs tragen, wenn Anlass und Setting angemessen sind. Nimmt sie beispielsweise an der Hochzeit einer Schwarzen Person teil und wird eingeladen, an dieser Kultur teilzuhaben, kann das Tragen traditioneller Kleidung von Respekt und Wertschätzung zeugen. Es geht also nicht darum, Menschen vorzuschreiben, nicht weiter an den Erzeugnissen anderer Kulturen teilzuhaben. Kulturelle Teilhabe kann vielseitig aussehen: das Lesen von Büchern, Besuchen von Museen, Hören von Musik, Belegen von Kochkursen oder Reisen. Kultur kann auf verschiedenste, respektvolle Weisen kennengelernt und genossen werden, ganz ohne davon willkürlich Teile zu übernehmen. Im Falle der Modenshows von Valentino und Marc Jacobs hätte Wertschätzung bedeuten können, die für die Mode verwendeten Stoffe direkt von Menschen der Kultur zu kaufen, von der sie inspiriert waren. Wertschätzung hätte auch bedeuten können, Schwarzen Models Sichtbarkeit zu verschaffen, indem sie in die Show integriert werden. Und vor allem bedeutet dies für die Mode- sowie viele weitere Branchen, künftig die vergütete Expertise von Diversity-Berater*innen in Anspruch zu nehmen, wenn es ihnen nicht möglich ist, Schwarze Menschen und Kulturen angemessen und ohne Stereotypisierungen zu adressieren.

Die Tatsache, dass es, anders als Jacobs glaubt, auch Schwarze Menschen gibt, die von Natur aus glattes Haar haben, soll hier einmal außen vorgelassen werden. Bei dem Argument der vermeintlich umgekehrten kulturellen Aneignung ist die Annahme zentral, dass Schwarze Menschen ebenfalls kulturelle Aneignung betreiben, wenn sie Erzeugnisse westlicher Kulturen übernehmen. Um kulturelle Aneignung zu verstehen, ist ein Verständnis von alltäglichem, strukturellem und institutionellem Rassismus in weißen Mehrheitsgesellschaften Voraussetzung. Denn so würde bewusst werden, dass umgekehrte kulturelle Aneignung genau so wenig existiert, wie umgekehrter Rassismus. Von kultureller Aneignung kann nur gesprochen werden, wenn ungleiche Machtverhältnisse zwischen Kulturen bestehen. Kulturelle Aneignung impliziert, dass eine privilegierte Gruppe sich an Artefakten marginalisierter Gruppen bedient. Wir leben in einer Welt, in der weiße Menschen und weiße Institutionen mehr Privilegien und Macht innehaben als Schwarze Menschen und Menschen of Color. Das kulturelle Erbe von ethnischen Minderheiten erfährt in weißen Mehrheitsgesellschaften oft eine Abwertung, was dazu führt, dass diese Minderheiten ihr Erbe verstecken oder sich so verändern, dass sie von der dominanten Gruppe akzeptiert werden. Wenn marginalisierte Menschen sich an einen Standard anpassen, der von der dominanten, westlichen Kultur gesetzt wird, ist dies häufig eine Überlebensstrategie. Man spricht hierbei also nicht von Aneignung, sondern Assimilation.

Es braucht ein sich Bewusstwerden und -sein über die eigenen Privilegien sowie das Hinterfragen dieser, bevor vom Zelebrieren kulturellen Austausches gesprochen werden kann. Ohne diese kritische Reflektion besteht die Gefahr der Fortführung des kolonialrassistischen Ausbeutungssystems, in denen weiße Menschen von Schwarzen Kulturen profitieren, während Schwarze Menschen gesellschaftliche Benachteiligung für das Ausleben ihrer eigenen Kulturen erfahren. Schwarzsein ist kein Trend im Sinne von Black is Back. Schwarze Menschen waren und sind immer da. Schwarzsein ist kein Kostüm, das man trägt, wenn es gerade angesagt ist. Es ist die Lebensrealität Schwarzer Menschen. Es ist an der Zeit, zu verstehen, dass Kulturartefakte marginalisierter Gruppen nie bloß ein Style, sondern oft mit realen gesellschaftlichen Kämpfen und Leiden verbunden sind. Durch die willkürliche Übernahme und dem Dekontextualisieren von Kulturgütern werden diese Kämpfe trivialisiert. Wem als nicht-Schwarzer Person daran gelegen ist, die systematische Diskriminierung Schwarzer Menschen zu beenden, muss kulturelle Aneignung als Teil dieses unterdrückerischen Systems anerkennen. Wer Schwierigkeiten hat, die Grenze zwischen Aneignung und respektvollem Austausch auszumachen, kann sich für den Anfang folgende Fragen stellen: würdige ich die ursprüngliche Herkunft der Elemente, derer ich mich bediene? Billige ich den Kampf Schwarzer Communities, wenn ich Teile Schwarzer Kulturen übernehme? Reduziere ich Kulturgüter zu einem bloßen Fashionstatement? Inwiefern profitieren die Menschen, deren Kultur ich mit aneigne? Ist das Setting, in dem ich mich bewege, ein angemessenes, um dieses Kulturartefakt für mich zu nutzen? Kämpfe ich gegen (Anti-Schwarzen) Rassismus oder ruhe ich mich auf meinen weißen Privilegien aus? Schätze ich Schwarze Leben oder nur Schwarze Kulturen?


Literaturverzeichnis:

Alese, Whitney 2018: What Marc Jacobs’ constant cultural appropriation really means, online: https://medium.com/@TheReclaimed/what-marc-jacobs-constant-cultural-appropriation-really-means-ed9cbf766ffb (17.09.2020).

Du Bois, W.E.B.; Edwards, B. 2007: The Souls of Black  Folk. Oxford England; New York:  Oxford University Press.

Hein, Theresa 2019: Kritik an „Elle“-Novemberausgabe „Wir sind kein Trend“ – Empörung über „Back to Black“-Ausgabe von „Elle“. Süddeutschte Zeitung, online: https://www.sueddeutsche.de/medien/elle-germany-back-to-black-diskriminierung-1.4662483 (19.09.2020).

Mbilishaka, A.; Neil, L. 2019: “Hey Curlfriends!”: Hair Care and Self-Care Messaging on YouTube by Black Women Natural Hair Vloggers. Journal of Black Studies 50(2): 156-177.

Murray, C. 2015: Altered Beauty – African-Caribbean women decolonizing       racialized aesthetics in Toronto, Canada. Your Review, online: https://yourreview.journals.yorku.ca/index.php/yourreview/article/view/40352/36553 (19.09.2020).

Stansfield, Ted 2015: Valentino Show inspired by ‘wild Africa’ sparks controversy, online: https://www.dazeddigital.com/fashion/article/26895/1/valentino-show-inspired-by-wild-africa-sparks-controversy (17.09.2020).

Volkening, Heide 2020: Kulturelle Aneignung – Das Begehren des Anderen, online: https://www.zeit.de/kultur/2020-05/kulturelle-aneignung-popkultur-stereotyp-imitation-postkolonialismus (19.09.2020).


Quelle: Kesho-Tabitha Imadonmwinyi, Black Beauty, White Standards – An Essay on the Appropriation of Black Cultures, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 06.07.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/07/06/black-beauty-white-standards-an-essay-on-the-appropriation-of-black-cultures/

Das moderne Yoga: Ein Ergebnis patriarchaler und kolonialisierter Strukturen

Susanne Peter (SoSe 2020)

„To repair the harm done to yoga, the harms of cultural appropriation we need to address it at the root causes of separation and disconnection.“

Susanna Barkataki (2021)

Yoga begleitet mich seit meinem Umzug 2011 nach Berlin. Eine aufwühlende Zeit. Auf Empfehlung probiere ich Yoga aus, um wieder Ruhe und Stille zu finden. In einem Tanzstudio in Berlin Schöneberg habe ich meine erste Yogastunde besucht und schnell wurde es zu einer wöchentlichen Praxis. Mit meinem Umzug nach Dublin 2014 spielt Yoga eine zentrale Rolle in meinem Leben und Anfang 2015 entscheide ich mich dafür, eine Ausbildung zu machen. Bis zu dem Zeitpunkt war ich mir nicht bewusst, dass Yoga noch viel mehr beinhaltet als körperliche Praxis. Ich komme zum ersten Mal mit der jahrtausendealten Philosophie in Berührung. Zurück in Berlin unterrichte ich meine ersten Klassen. Ich finde mich nur schwer in der Berliner Yogaszene zurecht. Der Markt an Lehrer*innen ist überlaufen, es gibt unzählige Studios und alles erscheint mir entweder zu hip oder zu esoterisch. Dabei ist es für mich ein Markt, in dem ich leicht einen Platz finden kann. Ich bin eine weiße Frau, schlank und flexibel. Also genau so, wie uns Yoga in den Medien präsentiert wird. Vier Jahre später bin ich Teil dieser Maschinerie und finanziere mir so mein Studium. Genießen kann ich das Lehrerinnen-Dasein nur kurz. Vor jeder Stunde bange ich, dass genug Schüler*innen in meine Klasse kommen. Wir werden gestaffelt bezahlt. Bist du nicht so beliebt oder unterrichtest zu Zeiten, die nicht gefragt sind, verdienst du auch weniger. Ich denke über Content für meinen Instagram Kanal nach, um auf mich aufmerksam zu machen und welcher Workshop sich am besten verkaufen würde. Mit Beginn der Corona-Pandemie bin ich von einem auf den anderen Tag gezwungen, nicht mehr zu arbeiten. Die Studios reagieren zwar schnell und der Unterricht wird online weitergeführt. Die wöchentlichen Stunden reduzieren sich, genauso wie das Stundenhonorar. Die finanzielle Angst ist groß, das Online-Unterrichten raubt mir die letzte Energie. Ich erhalte zum Glück die Sofort-Hilfe. Eine eigene Yoga-Praxis besitze ich nicht mehr, meine Philosophie-Bücher habe ich schon seit Monaten nicht mehr in die Hand genommen. Ich ziehe mich zurück und stelle mir viele Fragen. Es ist für mich der Beginn einer persönlichen und sehr kritischen Auseinandersetzung mit der Yogawelt und meinem Erlebten.

In dieser Zeit stolpere ich auf Instagram über den Podcast Yoga is Dead. Ein reißerischer Titel und die erste Folge White Women Killed Yoga polarisiert nicht weniger. Ich spüre einen Widerstand in mir. Allein durch den Titel fühle ich mich angegriffen. Durch die Rassismus-Debatte in den deutschen Medien, höre ich mir die Folge aber an.Die Yogalehrerinnen Tejal Patel und Jesal Parikh, beide indischer Abstammung, erzählen von ihren diskriminierenden Erfahrungen als Women of Color in einer von weißen Frauen dominierten Yogawelt. Die weiteren fünf Folgen ihrer Podcasts höre ich mir in den folgenden Tagen an. Sie widmen sich den Themen Veganismus, Gurus, 200h Teacher Trainings, Vinyasa und Karma Yoga und deren Auswirkungen auf Yoga. Ich lerne unglaublich viel, nicht nur sind die Folgen gut recherchiert, sie stellen alle ihre Quellen bereit, was ein tieferes Eintauchen in die Thematik leichtmacht.

Das Seminar Decolonize! Intersektionale Perspektiven auf lokale und globale Machtverhältnisse verändert meinen Blick zusätzlich. Auch wenn Tejal Patel und Jesal Parikh sich in ihrem Podcast auch dem Thema der kulturellen Aneignung widmen, bin ich mir nicht bewusst, was das genau eigentlich bedeutet. Das Seminar verändert das. Kulturelle Aneignung ist eine „…kolonialrassistische Praxis, in der sich die Mehrheitsgesellschaft die Kultur von Subalternen (…), vor allem Kolonialisierten, abschaut, aus dem Kontext reißt und aneignet.“ (Altes, 2017). Während der indischen Inquisition ist es Inder*innen nicht erlaubt, Yoga und Ayurveda zu praktizieren (Parikh & Patel, 2019; Stenzel 2019).  Die Yogakultur wurde geklaut, den westlichen Bedürfnissen angepasst und hat sich zu einem Milliarden-Dollar.Markt entwickelt. Damit ist Yoga nahezu ein Paradebeispiel kultureller Aneignung. Im englischsprachigen Raum ist diese Diskussion lebendig. In mehreren Folgen gemeinsam mit Susanna Barkataki widmet sich Rachel Brathen, bekannt als Yoga Girl, diesem Thema. Susanna Barkataki ist eine der lautesten Stimmen, wenn es darum geht, Yoga diverser zu gestalten und sich der Verfälschung der Praxis bewusst zu werden. Ich stelle mir die Frage, ob diese Gespräche auch in der deutschen Yogaszene stattfinden. Ich beginne, mir die Berliner, aber auch deutsche Yogalandschaft genauer anzusehen.

Es gibt sie, die öffentliche Diskussion, ob wir uns in der westlichen Welt Yoga angeeignet haben. Was mir bei meiner Suche nach einem öffentlichen Diskurs auffällt – Stimmen finden sich innerhalb des deutschsprachigen Raumes fast hauptsächlich außerhalb der Yogaszene. In der Zeit wird Yoga als „kolonialisierte Praxis“ benannt (Rödder, 2019). In dem Artikel wird etwas deutlich, was gerne vergessen wird. In der Hatha Yoga Pradipika, die als Ursprungstext unserer heutigen Yogapraxis angesehen wird, gibt es nur wenige Asanas (Rödder, 2019), die der Vorbereitung der Meditation dienen. In der westlichen Welt ist die Yogapraxis sehr auf das körperliche zentriert, dabei machen diese in der Tradition des Yoga nur einen kleinen Teil aus. In dem Yoga Sutra des Patanjali, einem weiteren Grundlagentext der Yogaphilosophie, wird der achtgliedrige Pfad eines Yogis bzw. einer Yogini benannt. An dritter Stelle befindet sich Asana, die Praxis von Körperübungen. Sie sollen helfen, den Körper besser zu verstehen und bereiten uns auf die kommenden Stufen des achtgliedrigen Pfades vor.

Auch auf bento.de stellt sich Tasnim Rödder die Frage der kulturellen Aneignung und beantwortet sie klar mit einem ja. Yoga, wie wir es heute praktizieren, ist ein Produkt der Kolonialzeit. (Rödder, 2019). Ich schaue mir die größten Yogamagazine aus Deutschland genauer an. Während Yoga Journal der kulturellen Aneignung in einem Artikel zustimmt, finde ich bei Yoga aktuell einen Beitrag von dem Indologen Wilfried Huchzermeyer, der sich auf den Text von Tasnim Rödder bezieht. Auch er stellt sich die Frage, ob Yoga eine kolonialisierte Praxis ist und seine Worte erschrecken mich. Er betrachtet das heutige Yoga als einen „kontinuierlichen, lebendigen Ost-West-Austausch“ (Huchzermeyer, 2020). Er begründet diese Aussage unter anderem damit, dass Lehrer wie B.K.S. Iyengar, der Begründer der Iyengar-Tradition, Jahrzehnte im Westen gewirkt und damit Yoga geprägt hätten. Einen wichtigen Punkt übersieht er hier. Iyengar war Schüler von Sri Tirumalai Krishnamacharya, der auch der Vater des modernen Yogas genannt wird. Beide wachsen in einem Indien auf, dass von der Britischen Kolonialherrschaft geprägt ist. Hinduistische Traditionen sollen aus dem indischen Alltag verschwinden und durch die westlich-europäische Weltanschauung ersetzt werden (Stenzel, 2019). Yoga verschwand.

Viele Yogaposen, wie Adho mukha svanasana (herabschauender Hund) oder Virabhadrasana II (Krieger II), die heute in kaum einer Stunde fehlen, stammen aus dem späten 19. und 20. Jahrhundert. (Singelton, 2011) Der Versuch, die genauen Ursprünge zu finden, ist schwierig. Mehrere Quellen besagen, dass Britische Soldaten Yogaposen zu eigenen Zwecken wiederbelebten und ihre Fitnessübungen damit kombinierten. (Singelton, 2011; Rödder 2019). Durch den Kolonialismus greift die westliche Körperkultur. Es ist außerdem der einzige Weg, sich der eigenen Kultur wieder ein bisschen mehr annähern zu können. Dieser Mix ist es, was wir heute als modernes Yoga kennen.

Ich habe zwei Yoga-Ausbildungen absolviert. Meine erste 2015 in Dublin in der Tradition von Krishnamacharya und die zweite 2019/2020 in Berlin in der Hatha Yoga Tradition. Ich gehe beide gedanklich nochmal durch. Während der Ausbildung in Dublin widmen wir uns regelmäßig und detailliert der Philosophie, wir lernen Sanskrit, müssen die Posen und wichtigsten Begriffe der Philosophie und Tradition in der Originalsprache beherrschen. Wir bauen eine intensive Asana Praxis, aber auch Pranayama (Atemübungen) und Meditationspraxis auf. Wir sprechen über die Geschichte des Yoga. Dass das moderne Yoga aber ein Produkt der Kolonialzeit ist, wird uns in der Ausbildung nicht vermittelt. Die Berliner Ausbildung sehe ich schon währenddessen sehr kritisch. Wir gehen wenig in die Tiefe, wir erfahren sehr wenig über die Ursprünge und die Philosophie. Dafür wird sich ein Nachmittag der Vorstellung und dem Verkauf von doTerra Ölen gewidmet.

Generell fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit der westlichen Yogawelt. Einfachheit, Minimalismus und Vielfältigkeit wird nahezu gepredigt. Yoga sei eine Praxis, die für alle zugänglich ist. Dem kann ich nur widersprechen. Allein in Berlin gibt es über 300 Yogastudios (Stand 2016). Nicht jeder kann sich die Teilnahme im Studio leisten. Denke ich über die Klassen nach, die ich selber unterrichtet habe, ist der Anteil von People of Color verschwindend gering. In meinen Ausbildungen sind wir ausschließlich weiße Frauen. Das ist auch das Bild, was in den sozialen Medien vermittelt wird. Yogalehrende und Praktizierende sind fast ausnahmslos schlank, hyperflexibel – und weiß. Ich sehe mir die Magazincovernder letzten acht Jahre der Yoga aktuell an. Von 50 Covern sind auf 49 Frauen zu sehen. Nur zwei davon sind Women of Color. Alle Menschen auf den Covern sind schlank und größtenteils in sehr anspruchsvollen Asanas zu sehen, die eine hohe Flexibilität erfordern.

Yoga ist schon lange im Kapitalismus angekommen mit einem weltweit geschätzten Jahresumsatz von ca. 80 Mrd. Dollar (Hüchtker, 2019). Es gibt einen ganzen Yogamarkt für Kleidung, Matten und anderes Zubehör. Auch hier lerne ich, dass ich viel mehr hinterfragen muss. Ein weiterer Teil des Ashtanga Weges, des achtgliedrigen Pfades, sind die yamas (unsere Haltung gegenüber unserer Umwelt). Dazu gehört ahimsa – Gewaltlosigkeit. Kaufe ich Produkte von Yogalabels, stelle ich mir die Frage der ethischen Verwertbarkeit und Nachhaltigkeit nicht mehr. Ich gebe diese Verantwortung an dieser Stelle gerne ab. So weit, so naiv. Lululemon ist eines der bekanntesten und erfolgreichsten Labels der Szene. Und das, obwohl bekannt ist, dass CEO Chip Wilson den Namen gewählt hat, weil er den Gedanken lustig fand, dass Japaner*innen Probleme haben werden, den Markennamen auszusprechen. (Lawrence 2011). Diese rassistische Haltung allein verletzt das Prinzip von ahimsa bereits. Während einer Konferenz zu nachhaltiger, lokaler Ökonomien in Vancouver in 2004 spricht Wilson darüber, die Produktion von lululemon in die Republik China verlegt zu haben, um Kosten zu sparen. Das alleine ist schon paradox, sieht man sich das eigentliche Thema der Konferenz an. Dazu stellt er sich als großer Unterstützer der „Dritten Welt“ dar und feiert sich als Held, weil er Kindern Arbeit gibt und sie so ihre Familien unterstützen können (Deveau 2005). Immer deutlicher wird für mich, wie patriarchal geprägt die Yogaindustrie ist. Das wird nicht nur durch die kapitalistischen Strukturen deutlich.

Die Liste der Machtmissbräuche ist endlos. Iyengar schlägt und tritt seine Schüler*innen öffentlich in Klassen. Er wird verteidigt. Er hätte das tun müssen, weil die Pose falsch ausgeführt wurde (Parikh & Patel 2019; Grisworld 2019). John Friend, der Begründer der Anusara Tradition, schläft mit seinen Schülerinnen und bringt seine Mitarbeiter*innen in rechtliche Schwierigkeiten, da sie Drogen für ihn annehmen müssen (Parikh & Patel 2019; Grisworld 2019). Einen langfristigen Schaden trägt sein Image nicht davon. Er ist zurück mit einer neuer Yogaform namens Sridaira (Griswold 2019). Die Netflix-Dokumentation Bikram: Yogi, Guru, Predator zeigt Bikram Choudhurys ausschweifenden Lebensstil, sowie sein rassistisches und homophones Verhalten. Zwei Frauen schildern den sexuellen Missbrauch, den sie durch ihn erfahren mussten. In 2016 wird er wegen Belästigung und Diskriminierung zu 7 Millionen US-Dollar Schadensersatz verurteilt. Er verlässt das Land und lehrt weiterhin (Order 2019; Godwin 2017). Pattjabi Jois, Begründer des Ashtanga-Yogas, korrigiert die Yogaposen seiner Schüler*innen so rigoros, dass sie sich dabei verletzen. Fotos und Videos zeigen, wie er Schüler*innen an die Brüste greift, in den Schritt greift und sich auf Schüler*innen legt und sich dabei penetriert. Nur zwei Fälle sind bekannt, in denen er für sein Verhalten zur Rede gestellt wird. Erst nach Jois Tod sprechen die Betroffenen über ihre Missbrauchserfahrungen. (Remski, 2020; Parikh & Patel 2019) Das Ashtanga Institut in Mysuru, Indien zeigt sich versöhnlich und gibt in einem Statement bekannt, dass sie eine Umgebung schaffen wollen, die frei von jeglichem sexuellen Missbrauch ist. Richtlinien zur Umsetzung dessen oder Konsequenzen, wenn diese missachtet werden, gibt es jedoch nicht (Remski 2020). Auch die Kundalini Yogaszene wird Anfang des letzten Jahres von einem Skandal erschüttert. Pamela Saharah Dyson veröffentlicht das Buch Premka: White Bird in a Golden Cage, in dem sie über ihre Jahre an der Seite von Yogi Bhajan berichtet. Yogi Bhajan ist in der westlichen Yogawelt eng mit dem Kundalini Yoga verbunden und wird von vielen Praktizierenden verehrt. Das Buch ist zutiefst erschütternd. Dyson beschreibt eine Sektendynamik geprägt von Manipulation und psychischer und körperlicher Gewalt (Dyson 2019). Nach der Veröffentlichung schließen sich mehrere Schüler*innen Yogi Bhajans den Missbrauchsvorwürfen an. Die von ihm gegründete Organisation 3HO reagiert und lässt durch die Organisation An Olive Branch die Vorwürfe prüfen. Der Bericht ist in mehreren Sprachen frei zugänglich. Als Erstes kommen Anhänger*innen Yogi Bhajans zu Wort, die die Missbrauchsvorwürfe vehement abstreiten. Da er nicht mehr lebt, könne er sich selbst nicht mehr rechtfertigen, so die Begründung. Mir stößt das bitter auf. Die guten Erinnerungen einer Gruppe von Menschen relativiert nicht die traumatischen Erfahrungen einer anderen Gruppe. Detailliert wird auf die Vorwürfe eingegangen, die sexuellen Missbrauch, psychische Gewalt, Zwangsverheiratung, Manipulation, die Trennung von Eltern und Kindern, sowie Todesdrohungen umfassen (An Olive Branch Report, 2020). Die 3HO Organisation verbannt seine Bilder, schreibt Bücher um und vieles mehr. In meinem privaten Umfeld kenne ich eine Lehrerin, die Kundalini Yoga nicht mehr unterrichtet. Dabei wird immer wieder gesagt: Man muss die Praxis vom Lehrenden trennen. Aber was ist, wenn wir das nicht machen und uns viel mehr die Frage stellen, wie die Praxis Teil und Hilfsmittel des Missbrauches war?

Mit dem Wort guru verbinden wir schon lange Lehrende, die den spirituellen Weg führen. Ohne kann der Weg nicht gegangen werden. Es ist Teil der Praxis einen Guru zu finden, sich hinzugeben und keine Fragen zu stellen. Übersetzt man aber das Wort guru aus dem Sanskrit, bedeutet es das Erleuchtungsprinzip. Es ist nicht an eine Person gebunden. Es kann alles sein – ein Ort, Musik und vieles mehr. In den beschriebenen Fällen wird deutlich, wie der Lehrende, weil er der Guru ist und zur Erleuchtung führen kann, nicht mehr hinterfragt wird. Der Glaube, dass der Guru weiß, was am besten ist, ist größer als das Vertrauen in den eigenen Instinkt. Der Guru sei kein sexuelles Wesen, daher diene Sex nur als Energie zum spirituellen Wachstum, verbaler Missbrauch sei ein Test, ob dem Guru vertraut wird (Dyson 2010, Parikh & Patel 2019). Auch hier sehe ich mir an, wie das Yogamagazin Yoga aktuell in Deutschland mit den Vorwürfen umgeht. Ich kann nur einen Artikel finden, in dem vage über sexuellen Missbrauch im Yoga geschrieben wird. Es wird aber nicht benannt, was die Vorwürfe enthalten, welche Traditionen es betrifft, den Opfern wird keinen Raum gegeben, ihre Geschichte zu erzählen. Wie bei fast allen kritischen Themen, werden diese nur oberflächlich betrachtet. Dabei sollten sie ins Zentrum rücken. Ein kritischer Diskurs ist es, was vor allem der deutschen Yogaszene fehlt. Ich muss an Tupoka Ogettes Begriff Happyland denken. Auch die Yogawelt empfinde ich häufig als eine Art Happyland. Auseinandersetzungen werden vermieden. Hinterfragt wird wenig. Kritik geäußert noch weniger. Zu oft wird davon ausgegangen, dass alle und alles, was Teil der Szene ist, gut ist. Es ist Yoga – es kann nicht schlecht sein.

Ich lasse all das neue Wissen sinken. Ich weiß, dass ich in Zukunft Yoga und wie wir es in der westlichen Welt leben, viel kritischer betrachten werde. Ich denke über Konsequenzen nach. Ich werde kein Yoga mehr unterrichten. Ich werde der Tradition nicht gerecht. Ich möchte Yoga wieder in seiner Fülle entdecken. Ich möchte wieder nur Schülerin sein. Mich der Philosophie widmen und sie leben. Noch mehr über die Ursprünge lernen und vor allem – zuhören. Den Lehrer*innen zuhören, die sich für Diversität einsetzen, die aufklären, Yoga wieder näher an den eigentlichen Ursprung bringen wollen und nicht müde werden, ihre Stimmen zu nutzen.


Bibliographie

Dyson, Pamela Sahara. Premka: White Bird in a Golden Cage: My Life with Yogi Bhajan (United States: Eyes Wide Publishing, 2019)

Orner, Eva (Regie). (2019). Bikram: Yogi, Guru, Predator [Film]. Pulse Films.

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Quelle: Susanne Peter, Das moderne Yoga: Ein Ergebnis patriarchaler und kolonialisierter Strukturen, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 21.05.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/05/21/das-moderne-yoga-ein-ergebnis-patriarchaler-und-kolonialisierter-strukturen/

Die Grenze. Ein Versuch der Reflektion

Zuzanna Krysta (SoSe 2020)


1.     Einleitung

Wir sitzen in der Küche, es wird durcheinander diskutiert und Reis mit Maffé gegessen. Männer* aus Kamerun, Nigeria, Gambia, Senegal, Angola und ich, als weiße, deutsch-polnische Cis-Frau verbringen diesen Moment gemeinsam. Die Menschen um mich herum fangen an sich darüber auszutauschen, wieviel die jeweiligen Reisepässe `wert´ sind und in welchen Nationalstaaten des globalen Nordens sie ein Visum beantragen können. Ich bin mir meiner privilegierten Situation, eine deutsche Staatsbürgerschaft zu haben, bewusst und bin mir unsicher wie ich mich in diesem Gespräch klar positionieren soll. Meine Gesprächspartner machen mich bald darauf aufmerksam, dass der deutsche Reisepass einer der `besten´ der Welt ist. Ich bemerke, dass ich Argumente verwende, wie der Zufälligkeit in welchem Land man geboren ist oder der kolonialen Kontinuität der Reisepässe, jedoch kann ich zweiteres nicht konkret erläutern, um meinen Gesprächspartnern meine Haltung näher zu bringen.

Aufgrund dessen möchte ich in dem vorliegenden Essay, mit stetigen Einschüben meiner Gedanken bezüglich des Gelesenen, die Konstruktion der Grenzen und der damit einhergehenden Staatsbürgerschaften historisch, sowie theoretisch tiefer ergründen, um in zukünftigen Gesprächen bei dieser Thematik mich klarer positionieren zu können.  Ich werde betrachten, wie Grenzen in Europa entstanden sind (vgl. Tilly 1985)  und diese im kolonialen Kontext im globalen Süden aufgezwungen wurden und bis heute in neokolonialer Form andauern, dabei lege ich den Fokus auf den afrikanischen Kontext (vgl. Marx 2010). Anschließend betrachte ich die symbolische Konstruktion der Grenzen und wie diese auf unsere Gesellschaft wirken und sie in Privilegierte und Nicht-Privilegierte aufspaltet (vgl. Castro Varela 2018; Charim 2018), um abschließend einen Ausblick auf Möglichkeiten der Dekonstruktion von Grenzen zu geben. Im zweiten Teil des Essays werde ich meine persönlichen Erfahrungen mit Grenzen und Staatsangehörigkeit darstellen, dabei mein Privileg als deutsche Staatsbürgerin reflektieren und Handlungsmöglichkeiten erläutern, wie man als weiße Person damit umgehen kann (vgl. Ogette 2018; McIntosh 1992).

2.     Die Grenzen und ihre Konstruktion

Die Idee der Grenzen ist in unserer (westlichen[1]) Gesellschaft fest verankert und wirkt oft unumstößlich. Im öffentlich dominanten Diskurs wird weniger ihre Konstruiertheit diskutiert, sondern es wird, meiner Wahrnehmung nach, als `natürlich gegeben´ angesehen. Man hört oft das Argument, dass Nationalstaaten und Grenzen notwendig sind, um die politische Organisierung an eine angebbare Gruppe innerhalb eines Territoriums zu definieren und sie somit zu kontrollieren (vgl. Weber 2006).  Wenn man jedoch die Geschichte anschaut, bemerkt man, dass Grenzen keine Voraussetzungen sind und die Welt lange ohne nationalstaatliche Grenzen ausgekommen ist.

2.1 Die historische Konstruktion der Grenzen

Tilly (1985) beschreibt in seinem Artikel, wie am Ende des 18. Jahrhunderts die Anfänge der Bildung der Nationalstaaten in Europa, wie wir sie heute kennen, vonstattenging. „War makes state“ (ibid.: 170) ist der vielzitierte Satz, der die Nationalstaatenbildung in Europa zusammenfasst. Die Herausbildung der Staaten basiert auf Kriegen, in dem eine zentralisierte Macht ihre Herrschaftsansprüche in den lokalen Regionen ausgeweitet hat, sie eine staatliche Streitmacht aufgebaut haben, staatliche Institution gegründet haben, für die politische Organisierung und die Organisierung der Steuereinnahmen und bestimmte Elemente der Kultur symbolisch aufgeladen haben, damit die Bevölkerung sich zugehörig fühlt und sich gewissermaßen mit der `Nationalkultur´ identifizieren kann. In diesem Prozess ist ein wichtiger Aspekt die Entstehung der konkret gesetzten Grenzen, die in den Kriegen, ausgehandelt wurden (ibid.).

Anderen Teilen der Welt wurde dieses europäische Konzept im Zuge der Kolonialisierung aufgezwungen (vgl. Kolonialismus und heutige Staatenwelt 2012), in dem die europäischen Staaten die Welt unter sich aufteilten und diese mit Grenzen markierten. Vor der europäischen Kolonialisierung wurde die politische Organisation im afrikanischen Kontext weitgehend durch Personenverbände definiert und nicht aufgrund des Territoriums, somit gab es zum Beispiel Nomad*innengemeinschaften die sich auf ihre Gruppe bezogen und dabei ihren Lebensumfeld immer wieder wechselten. Die meisten Grenzen existieren nach der Entkolonialisierung weiter und bestehen bis heute fort. Im afrikanischen Kontext wurde 1963 in der Charta der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) entschieden, dass diese Grenzen unverrückbar sind. Das Weiterbestehen der kolonialen Grenzen beinhaltet einige Schwierigkeiten. Die `künstliche´ Grenzziehung durchtrennt Gemeinschaften und drängte afrikanische Länder nach der Entkolonialisierung dazu, Nationalstaaten im `europäischen Sinne´ zu errichten, was manche Nationalstaaten zu failed states werden ließ (Marx 2010). Außerdem wurden die staatlichen Institutionen im globalen Norden, welche Reisepässe und -beschränkungen etablierten, kurz nach der Beendigung des Sklav*innenhandels gegründet, um neue Formen der „legacy of slavery, apartheid, and diverse forms of  unfree labour“ (Anderson, Sharma, and Wright 2009, 6) zu bilden.

Meiner Ansicht nach belegt die europäische Kolonialgeschichte die Absurdität und Konstruiertheit der Grenzthematik, ohne sich auf kritische Weise damit auseinanderzusetzen; in der kollektiven Erinnerung unserer Gesellschaft wird das Thema nicht reflektiert. Ein Beispiel dafür ist die mangelnde Thematisierung von Kolonialgeschichte in deutschen Schulen – hier wird Schüler*innen die Chance genommen, Grenzen als Konstrukt in Frage zu stellen. Die Entscheidung, keine kritische Auseinandersetzung zu fördern, ist eine politische und dient dem Zweck, die Basis unseres politischen Systems zu stabilisieren. Jedoch wird die Gesellschaft somit daran gehindert, eigene Vorstellungen von Organisation zu entwickeln, die nicht auf Ein- und Ausgrenzung basieren. Auch stellt sich mir die Frage, inwieweit die Errichtung von staatlichen Institutionen in einem Kriegskontext dazu führt, dass Mechanismen und Strukturen auf Krieg ausgerichtet sind. Die Regierung `verkauft´ an uns als Gesellschaft die Idee von Sicherheit und treibt somit die Identifikation mit dem eigenen Nationalstaat voran, was zu nationalistischen Strömungen innerhalb der Gesellschaft führt.

Auf der anderen Seite sieht man im afrikanischen Kontext, dass das Fortbestehen der kolonialen Grenzen nach der Entkolonialisierung eine eindeutige Kontinuität des Kolonialismus beinhaltet und somit den Neokolonialismus des globalen Nordens stabilisiert. Durch die jahrelange und bis heute andauernde gewaltvolle Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden und das Nicht-Benennen dieser Geschichte und heutigen Situation, fällt es uns als Gesellschaft schwer, uns Utopien vorzustellen, in denen Menschen ihr Dasein in Würde leben und sich frei bewegen können, basierend auf ihren eigenen Entscheidungen.

2.2 Die symbolische Konstruktion der Grenzen

Grenzen sind keine objektiven Tatsachen, sondern sie „bestimmen die Wahrnehmung unserer Welt. Grenzen symbolisieren, begründen und stabilisieren Macht und sind daher Herrschaftsinstrumente. Es ist eine begrenzte Welt, die wir bewohnen“ (Castro Varela 2018, 23). Sie produzieren zwei unterschiedliche Subjektivitäten, in welchen jede*r sich auf verschiedene konstruierte Räume bezieht. Charim (2018) verwendet dafür die Begriffe des paradoxen Raumes und der Festung. Den paradoxen Raum bewohnen die Menschen, die das Privileg haben, einen Reisepass zu besitzen, der viel `wert´ ist, wie der deutsche Reisepass (vgl. Kaelin and Kochenov 2018). „Diese [sogenannten] Vernetzten leben nur mit symbolischen Grenzen, also gewissermaßen ohne Grenze. Für sie bedeutet das Überschreiten einer Grenze nur eine Anerkennung ihres Status“ (Charim 2018, 18–19). Hingegen bewohnen die Menschen, deren Reisepass weniger `wert´ ist, wie Migrant*innen des globalen Südens, die Festung. Sie haben nicht die Möglichkeit sich zwischen Ländergrenzen frei zu bewegen, sondern müssen sich entweder in einem komplizierten, oft auch erfolglosen Verfahren auf ein Visum bewerben oder illegalisiert reisen. Auch innerhalb der Grenzen, zum Beispiel im Schengen-Raum, sind für diesen Bevölkerungsteil Grenzen allgegenwärtig, in Form von Asylgesetzen, Verwehrung des Zugangs zum Arbeits- oder Wohnungsmarkt und vielen anderen neokolonialen Exklusionsmechanismen (ibd.). Dieser theoretische Ansatz verdeutlicht die stetige (Re-) Produktion der Konstruktion der Grenzen, die die Menschheit in zwei Gruppierungen teilt: Der eine Bevölkerungsteil, der bis zu einem sehr hohen Grade das Privileg der Bewegungsfreiheit genießen darf und der andere -teil nicht.

Diese Problematik lässt mich an Bruno Latour (vgl. 1993) denken, der in seiner Modernitätskritik aufzeigt, wie die sogenannte `Moderne´ die Welt immer stärker dichotomisiert und alles in Gegensätzen ordnet. Somit ist die politische und rechtliche Praktik der dichotomisierenden Grenzen existent, um die Vorherrschaft des globalen Nordens zu stabilisieren. Dieser Prozess, den Latour Work of Purification nennt, wird stetig vom globalen Norden aus versucht, aufrecht zu erhalten. Ich denke, dass es wichtig ist, die agency der jeweiligen Menschen in Betracht zu ziehen, die trotz der Schwierigkeiten und Beschränkungen ihr Recht auf Bewegungsfreiheit als Menschenrecht in Realität umsetzen, auch wenn ich mir bewusst bin, dass die Gründe unterschiedlich sind und manche Migrant*innen aufgrund von prekären Lebensverhältnissen fliehen.

In diesem Abschnitt möchte ich abschließend Bewegungen und Gedanken aufzeigen, die gegen Grenzen arbeiten und aufzeigen, dass eine andere Welt möglich ist. Die No-Border-Bewegung ist eine lose und heterogene Zusammensetzung von verschiedenen Organisationen und Einzelpersonen auf der ganzen Welt, die durch unterschiedliches und selbstorganisiertes Engagement versuchen, eine Welt ohne Grenzen für alle zu gestalten, sei es durch politische Arbeit und Widerstand gegen Abschiebungen, ärztliche Versorgung für illegalisierte Personen oder offene Küchen für alle (vgl. Anderson, Sharma, and Wright 2009). Die Ebene der konkreten Handlungen ist äußerst wichtig, doch erscheint es mir genauso notwendig, uns im Verstehen und Träumen zu üben, denn man muss die jetzige Situation erst verstehen, um sich Utopien vorzustellen. Vor ein paar Tagen las ich das Essay Nadie la tiene von Morales (1998, 97–109), in welchem sie das Konstrukt des privaten Eigentums von Land kritisiert. Privates Eigentum ist zwar eine andere Thematik, jedoch beinhaltet sie genauso Grenzen, inkludierende und exkludierende Mechanismen, sowie Menschen, die die Macht über ein Gebiet für sich beanspruchen. Morales beschreibt wie Land außerhalb dieser Grenzen lebt, sich darüber hinwegbewegt und seinen eigenen Regeln befolgt, zwar immer in Reziprozität mit den Bewohner*innen dieses Gebietes, jedoch ohne auf menschlich gemachte Grenzen achtend. Dies lies mich daran denken, dass Menschen immer migrieren werden, so wie sie es schon immer gemacht haben, egal ob bedingt durch Prekarität im Herkunftsland oder weil sie einfach in einem anderen Land leben möchten und Grenzen sind in der Realität nicht fähig, Migration zu verhindern und werden dies auch nicht mit den bestausgerüsteten Sicherheitstechnologien von Grenzstreitkräften tun. Aufgrund dessen sehe ich keine andere Möglichkeit, als Grenzen abzuschaffen, wenn wir in einer besseren Welt leben möchten.

3.      Meine persönliche Grenzerfahrungen

Mein Vater migrierte kurz vor dem Ende des Kalten Krieges aus Polen nach Deutschland. Die Geschichten, die er mir darüber erzählte, klingen für mich nach einer sehr schwierigen Realität, jedoch nahm ich sie als Kind wie Abenteuergeschichten aus einer fernen Zeit wahr, welche entkoppelt waren aus der Realität, in die ich hineingeboren wurde. Er erzählte von prekären Verhältnissen aus seiner Herkunftsstadt. Laut ihm war die Migration in das damalige Westdeutschland die einzige Möglichkeit Perspektiven für die Zukunft zu erlangen. Er reiste gegen Bezahlung illegalisiert nach Deutschland ein und bekam aufgrund der damaligen politischen Situation sehr bald den deutschen Aufenthaltsstatus. Einige Jahre später kam meine Mutter aufgrund der Heirat mit meinem Vater problemlos nach Deutschland. Beide lebten damals in prekären Verhältnissen in Köln. Als meine Schwester und ich geboren wurden, hatte sich die Situation jedoch verändert und wir konnten in einer gewissen Stabilität aufwachsen. Somit hat dieser Teil der Migration nie zu meiner Gegenwart dazugehört, sondern war stets ein Teil der Vergangenheit, dort wo ich herkam.

Als ich klein war, sind wir jeden Sommer nach Polen gefahren, um die dortigen Familienmitglieder zu besuchen. Ich erinnere mich an die stundenlangen Wartezeiten im Stau an der deutsch-polnischen Grenze, die prüfenden und unangenehmen Blicke der Grenzpolizist*innen, als wir am Grenzposten ankamen. Als im Jahr 2007 die Grenze zwischen Deutschland und Polen aufgrund des Schengen-Abkommens aufgelöst wurde, war es eine Erleichterung auf der langen Fahrt, nicht eine bewachte Grenze zu passieren. Als ich immer älter wurde, genoss ich die Reisefreiheit innerhalb Europas, die ich ausgiebig auskostete. Ich machte mir damals nicht viel Gedanken darüber, da es mir in meiner europäischen Welt normal erschien, mich frei bewegen zu können.

Das Privileg wurde mit erst bewusst, als ich nach Mexiko ging. Mein problemloses Einreisen in dieses Land und der späteren Möglichkeit des Erkaufens eines Touristenvisums, um mich dort `legalisiert´ zwei Jahre aufhalten zu können, standen im Kontrast zu dem sehr präsenten Thematik der Migrant*innen aus Lateinamerika, welche Mexiko durchreisten, um in die Vereinigten Staaten von Amerika einzureisen und dabei oft ihr Leben riskierten. Zur gleichen Zeit drangen die Nachrichten der sogenannten europäischen `Flüchtlingskrise´ zu mir durch, welche gezeichnet waren von inhumanen Reisekonditionen von Menschen, die den Wunsch hatten, nach Europa zu gelangen.

Auch wenn es viele BIPoC gibt, die zum Beispiel eine deutsche Staatsbürgerschaft haben oder weiße Menschen, die dieses Privileg nicht innehaben, denke ich, dass der `Wert´ eines Reisepasses stark mit rassistischen Strukturen verschränkt ist, und wie oben aufgezeigt, koloniale Kontinuität beinhaltet. Es wird oft angenommen, dass BIPoC aufgrund von Rassismus in vielen Bereichen benachteiligt werden, jedoch wird seltener darüber reflektiert, welche Vorteile eine weiße Person[2] aufgrund der Konstruktion und Ideologie rund um ihre Hautfarbe hat und dies wird dem weißen Bevölkerungsteil in seiner Sozialisation beigebracht (vgl. McIntosh 1992). Bis zu meiner Reise nach Mexiko war mir dies auch nicht bewusst. Erst durch die direkte Konfrontation bemerkte ich, was es bedeutet, einen deutschen Reisepass zu besitzen. Dies zeigt auf, dass eine weiße Person sich frei entscheiden kann, ob sie sich mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen will oder nicht (Ogette 2018, 60). Ich denke, es ist wichtig, in Gesprächen mit weißen Personen darauf hinzuweisen, was es bedeutet, in den Karibikurlaub für zwei Wochen zu fliegen oder entscheiden zu können, nach Madagaskar zu ziehen[3].

Die persönlichen Erfahrungen zu teilen und dem Gegenüber diese Thematik zur Reflektion zu überlassen. Auch denke ich, dass wir uns als weißer, im globalen Norden geborener Bevölkerungsteil im größeren Umfang mit unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen müssen. Ich bin mir sicher, dass man in fast jeder Familie eine Migrationsgeschichte entdecken würde. Was bedeutet es, seinen Wohnort zu wechseln? Was für Gründe sind die Motivation dafür und wie waren die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu der Zeit? Wenn wir diese Fragen in unserer eigenen Geschichte ergründen würden, würde es uns als Gesellschaft vielleicht leichter fallen, dieses Privileg anzuerkennen und dies für alle zu fordern.

Jedoch ist es in diesem beschriebenen Fall kein individueller Rassismus, den man einfach reflektieren kann, um seine Handlungsweise zu verändern, sondern ein institutioneller Rassismus, welchen man als Person aktiv kritisieren muss. Gleichermaßen ist es ein Privileg, seine politische Meinung frei äußern zu können, ohne dafür aufgrund seiner Hautfarbe verurteilt oder nicht ernstgenommen zu werden (McIntosh 1992, 32). Bewegungen wie die Black-Lives-Matter-Bewegung oder No-Border-Bewegungen können für weiße Personen eine Möglichkeit bieten, sich dem Widerstand gegen den institutionellen Rassismus anzuschließen, jedoch denke ich, dass es als weiße Person wichtig ist, keine öffentliche Rolle einzunehmen oder den Diskurs innerhalb der Gruppe zu leiten, sondern auf die Bedürfnisse der Gruppierung einzugehen und sie in den `hinteren Reihen´ zu unterstützen. Die Motivation des Engagements sollte nicht aus Altruismus resultieren, sondern

„[s]olidarity comes from the inability to tolerate the affront to our own integrity of passive or active collaboration in the oppresion of others (…). From the recognition that, like it or not, our liberation is bound up with that of every other beings on the planet, and that politically (…) we know anything else is unaffordable“

Levins Morales 1998, 125

Denn letztendlich sind alle unsere Leben miteinander verflochten und bedingen sich gegenseitig und für ein würdevolles Leben für alle sollten wir uns verbünden.


[1] Im darauffolgenden Text kann ich mich nur auf meine Wahrnehmungen der Gesellschaft beziehen, in der ich aufgewachsen bin, auch wenn es innerhalb dieser Gesellschaft auch subjektive Unterschiede gibt, die ich nicht alle wiedergeben kann. Bei diesem Beispiel bin ich mir sicher, dass es Gemeinschaften gibt, die in ihrem Lebensumfeld Grenzen weniger präsent haben wie wir, auch wenn heutzutage, global gesehen, alle Menschen in einem Nationalstaatensystem eingebunden sind.

[2] Mit einer Staatsbürgerschaft aus dem globalen Norden.

[3] Auch wenn dieses Thema mit der Diskriminierungsform des Klassismus verschränkt ist, auf welches ich in diesem Text nicht eingehen werde.


Quelle: Zuzanna Krysta, Die Grenze. Ein Versuch der Reflektion, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.04.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/04/22/die-grenze-ein-versuch-der-reflektion/

„Was hat das alles mit mir zu tun?“- Plädoyer für einen diversen Geschichtsunterricht

Marcus Schäfer (SoSe 2020)


Als ich neulich in einem Seminar für lateinamerikanische Geschichte saß, in dem viele Aspekte dieses spannenden Kulturkreises behandelt wurden, teilweise auch unter feministischen Vorzeichen, da versuchte ich mich zu erinnern, ob ich während meiner Schulzeit jemals etwas anderes gelernt hatte als europäische und vor allem deutsche Geschichte. In diesen Erzählungen behandelten wir meist weiße Männer, die vermeintlich große politische Dinge taten. Das war zweifellos bedeutsam, aber sollte es da nicht noch mehr geben? Das folgende Essay wird sich mit diesem Gegenstand fehlender Diversität im Geschichtsunterricht tiefergehend befassen und danach fragen, wie eine Darstellung und Perspektivierung von Geschichte mit Bezug zu Gender und Diversity im Unterricht aussehen könnte. Und was genau könnte mit solch einer Neujustierung eigentlich erreicht werden? Welche Umstände stehen dieser Neujustierung oder De- und Rekonstruktion des Bildungssystems möglicherweise im Weg? Fest steht, dass in diesem so elementaren Sektor trotz einer sichtbaren und kaum bestreitbaren Werte- sowie Normenverschiebung innerhalb der Gesellschaft definitiv Nachholbedarf besteht. Und nicht nur dort, auch bzgl. anderer Thematiken, wie ich sie dieses Semester kennenlernen durfte, seien es Self-Awareness, Vielfalt, Heteronormativität, Rassismus, Intersektionalität, Mechanismen der Diskriminierung im Allgemeinen, Feminismus und andere Gender & Diversity-Faktoren sieht es trotz sicherlich vorhandener Fortschritte in den letzten Jahrzehnten noch einigermaßen düster aus und bedarf es vielschichtiger Reformbestrebungen. Und dies ist keine einfache Aufgabe, wie die Professorin für Sozialpädagogik Christine Riegel feststellt:

„ Der Umgang mit sozialen Differenzen und sozialer Ungleichheit stellt eine gesellschaftliche und auch pädagogische Aufgabe und Herausforderung dar.“[1]

Eine intersektionale Perspektive wäre für ein solches Bildungsangebot, wie es auch für das deutsche Bildungswesen insgesamt notwendig ist, unabdingbar: „Intersektionalität stellt eine Analyseperspektive dar, um hegemoniale und selbstverständliche Grenzziehungen und Kategorisierungen, Normierungen und Normalisierungen zu hinterfragen.“[2] Eine Neuperspektivierung muss als Kernelement moderner, zeitgemäßer Bildung gelten. Das Hinterfragen der eigenen Position und Denkmuster muss hier unbedingt miteinbezogen und als Kernkompetenz gelehrt werden. Die Historikerin Christiane Kohser-Spohn betont im Zuge didaktischer Überlegungen, dass bspw. Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte im Geschichtsunterricht unbedingt gelehrt werden sollte. Sie stellt aber auch fest, dass, obwohl diesbezüglich bereits eine breitgefächerte Einsicht vorhanden ist, kaum vernünftige Konzepte vorliegen, diese Einsicht in eine gute Praxis umzusetzen, welche dem Themenkomplex würdig wäre. So beschränken sich derartige Versuche oftmals damit, in Schulbüchern hier und dort ein zusätzliches Kapitel anzuhängen, welches „Aspekte im Leben der Frau“ erwähnt.[3] Der Historiker und Geschichtsdidaktiker Vadim Oswalt nennt diesen frühen Ansatz „additiv-kompensatorisch“ – das Hinzufügen eines „ergänzenden“ aber schlussendlich auch isoliert dastehenden „Frauenthemas“. Die eingangs genannte Einsicht, Geschlechtergeschichte in den Geschichtsunterricht miteinzubeziehen, ist natürlich vernünftig, dennoch erscheint ein Ansatz wie der gerade genannte doch recht plump und kontraproduktiv. Bärbel Kuhn, Professorin für Didaktik der Geschichte an der Universität Siegen, spricht sich für eine Vertiefung bzgl. eines geschlechtergerechten Geschichtsunterrichts durch die Nutzung oder „Integration autobiografischer Quellen“ aus, da durch deren Nutzung Individuen betrachtet werden und keineswegs lediglich anonyme Beispielpersonen und „statische Lebenswelten“. Stattdessen würden Schüler*innen Menschen kennenlernen, welche „[…] mit ihren Erfahrungen, ihren Leiden, ihren Gegensätzen, ihren Normen und Wertevorstellungen, ihrer Weltauffassung und ihrer subjektiven Darlegung von Ereignissen […]“ einen tiefen Eindruck hinterlassen könnten und gerade so zum Nach- und/oder Umdenken bewegen könnten. Sie sollen nicht nur ein Alltagsleben zeigen, sondern eben die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Einzelperson aufzeigen, und auch, wie ein solches Individuum möglicherweise geschichtliche Prozesse empfunden hat. Des Weiteren sei die Behandlung des Entstehens und Fortbestehens von „Klischees und Stereotypen“ hier möglich, betont Kuhn.[4] Solch ein „persönlicher“ und diverser Unterricht würde der Schülerin oder dem Schüler eben auch mehr Identifikationspotenzial bieten und ein erweitertes Spektrum an Lebensformen aufzeigen (und somit auch der so lebenswichtigen Orientierung von Jugendlichen dienen, die ja oftmals nicht wirklich gegeben ist), als das schlichte Abhandeln von Politik- und Zeitgeschichte und dem eindimensionalen Auswendiglernen von Daten und Namen: „Ein Unterricht, der dem Menschsein und den menschlichen Erfahrungen eine zentrale Rolle zuspricht, antwortet mit Leichtigkeit auf die Frage: „Was hat das alles mit mir zu tun?“[5] Die hier zitierten Ausführungen beziehen sich zwar „nur“ auf die Beziehung von Mann und Frau, dennoch können sie auf alle möglichen Personenkreise bezogen werden und somit Homosexuelle, Transgender-Personen, andere Nationalitäten, u.a. miteinbeziehen. Ich habe in meinem 3. Semester an der Freien Universität ein Seminar zu Migration im 19. und 20. Jahrhundert belegt, in welchem multiperspektivisch nach diversen Migrationserfahrungen in verschiedensten Nationen und Kulturen gefragt wurde, welche sich nicht nur auf Deutschland bezog. Solch ein Geschichtsunterricht sollte Standard an wirklich jeder Schule sein, um Verständnis für andere Lebenslagen zu entwickeln. Dann würden vielleicht auch in Deutschland einmal weniger Flüchtlingsheime brennen. Gerade das Fach der Geschichtswissenschaft kann ein „Vermittler der Heterogenität“ sein, wie es Oswalt ausdrückt: „Nur wer die Verschiedenheit sozialer und kultureller Lebensbedingungen und Wertvorstellungen als einen Normalfall menschlicher Gesellschaften begreift, kann ein reflektiertes historisches Denken entwickeln.“[6] Somit sind es wohl gerade die Geschichtswissenschaften, die sich perfekt dazu eignen (könnten), Schüler*innen u. a. ein tiefergehendes Verständnis von Gender und Diversity zu vermitteln.

Der Problematik eines allzu homogenen Geschichtsunterrichts könnte auch mithilfe von Projektwochen begegnet werden: Ich plädiere für eine ein- oder mehrwöchige Projektwoche pro Schuljahr, in welcher Informationsangebote zu verschiedenen Kontinenten, Ländern und Bevölkerungsteilen angeboten werden, die sonst eher seltener im Fokus stehen, so eben Asien, Afrika oder auch Südamerika und hier eben nicht in der uns allen bekannten einseitigen Darstellung. Hier sollte sich umfassend mit möglicherweise dem Individuum noch „fremden“ oder vielmehr unbekannten Kulturen beschäftigt werden, vor allem natürlich mit ihren Geschichten und auch Leidenswegen, so beispielsweise mit Rassismus, Kolonialismus und Postkolonialismus. Aber nicht ausschließlich. Denn ein Kontinent oder Land definiert sich nicht ausschließlich durch ihre Unterdrücker oder Kolonialismus. Was definiert das Selbstbild einer Kultur? Ihre Traditionen, Strukturen, Religion, Musik, Film, Literatur und so vieles mehr. Es könnte also auch abseits von Klischees eine reichhaltige Geschichte erzählt werden. Und diese Betrachtung muss differenziert geschehen. Warum nicht einmal einen kubanischen Film zur sozialistischen Revolution schauen und den historischen Hintergrund analysieren? Oder wie wäre es mit Straßentouren, in denen geschichtsträchtige Orte besucht werden, deren Besuch äußerst pädagogisch sind? Die „Berliner Spurensuche“ bietet Straßenführungen im Wedding an („Kolonialer Wedding“), in denen diverse Straßen abgeklappert werden und die historischen Hintergründe einiger Straßennamen mit kolonialem Hintergrund erklärt werden. Dort erfahren wir, was der Kolonialismus eigentlich war und was Deutschland hiermit zu tun hatte (und hat!). Der regelmäßige Besuch solcher Veranstaltungen sollte ein Pflichtprogramm werden. Und auch der Austausch mit Korrespondenten oder Besuchern aus dem jeweiligen Land könnte sinnvoll sein. Von Menschen, die von ihrer Welt und ihrem Leben erzählen. Gerade durch eine multiperspektivische und diverse Betrachtung von Geschichte, Kulturen, Gesellschaften, Geschlechtern, Lebenswegen, Lebensmodellen, etc. kann auch eine Inklusion geschaffen werden, die einer Ausgrenzung vorbeugen kann. Deutschland ist ein Einwanderungsland und dies nicht erst seit gestern. Warum sollte beispielsweise nicht auch türkische oder griechische Geschichte behandelt werden? Und wenn schon über weltbewegende Individuen gesprochen werden muss, warum nur über Winston Churchill, Richard Löwenherz und Napoleon Bonaparte reden, wenn es auch weltbewegende Frauen, wie Indira Ghandi, Isabella I. oder Ulrike Meinhof gab und gibt? Diese aber nur als Beispiel.

Auf der Gegenseite steht natürlich die Frage nach dem Zeit- und Kostenfaktor. Hier müsste verstärkt in ein veraltetes und gegenwärtig sowieso relativ marodes Bildungssystem investiert werden, welches dringend einer Generalüberholung bedarf. Hierbei wünscht man sich die Offenheit und das Verantwortungsbewusstsein der verantwortlichen staatlichen Institutionen, eben solche neuen Projekte in Angriff zu nehmen. Des Weiteren lassen sich bei genauerer Betrachtung immer wieder auch Ungleichgewichte in unserem klassifizierten Bildungssystem finden; zwar gibt es bereits in einigen Bundesländern zahlreiche Gesamtschulen, welche das veraltete dreigliedrige Schulsystem – Hauptschule, Realschule & Gymnasium – obsolet gemacht haben, sodass alle den gleichen Stoff lernen, dennoch ist diese Dreigliederung weiterhin fester Bestandteil des reformbedürftigen deutschen Bildungssystems. Zwar sterben Hauptschulen laut einem Artikel der Süddeutsche Zeitung teilweise aus bzw. gehen in Gesamtschulen oder im Verbund mit Realschulen in sog. Regional- oder Sekundarschulen auf, die aber – genau wie Realschulen – eher praxisorientiert sind, wodurch gerade dort solche Konzepte eher hinten anstehen.[7] Als ich nun in meinem Lateinamerika-Seminar saß, wurde mir als ehemaligem Realschüler bewusst, dass eine Bildung, wie sie hier besprochen wird, immer noch eher für bildungsbürgerliche Schichten erreichbar ist, dem entgegengesetzt stehen Personen aus dem „unteren“ Bildungssektor, welche mit Gender & Diversity keinerlei Kontakt und möglicherweise auch privat keine Motivation oder Gelegenheit haben, dieser Thematik nachzugehen. Also ist es wohl nur richtig, zu beanstanden, dass bei einer Reform des Schul- und Bildungssystems alle Schulformen gleichmäßig behandelt werden müssen. Haupt- und Realschüler beispielsweise sollten diese essentiellen Theorien ebenfalls nähergebracht werden und nicht nur, wie man Vogelhäuschen zimmert oder Schrauben sortiert. Die Fragmentierung des deutschen Bildungssystems muss also generell neu bewertet und überdacht werden, damit die Vorteile modernisierter Bildungsinhalte auch jeden Menschen erreichen, und eben nicht nur bildungsbürgerliche Schichten hiervon profitieren. Des Weiteren darf auch ein ideologischer Faktor nicht ausgeblendet werden: In einer Zeit, in der eine Partei wie AFD versucht, Minderheiten und marginalisierte Gruppen zu diskreditieren und rückständige Meinungen, Werte und Normen in der Mitte der Gesellschaft zu integrieren, ist es einerseits natürlich ein Indiz dafür, dass in einer angeblich sehr aufgeklärten bundesdeutschen Gesellschaft noch einiges an Nachholbedarf besteht. Andererseits wird klar, dass es bei angestrebten Reformen, wie sie dieses Bildungssystem nötig hätte, auch darum gehen muss, hearts and minds der Menschen für einen modernisierten und somit zeitgemäßen Unterricht zu gewinnen. Und hier besteht eine grundlegende Schwierigkeit, da derzeit eben auch ein stark reaktionärer und rückwärtsgewandter Wind weht, der in die entgegengesetzte Richtung bläst. Auch Riegel sieht hier ein Problem:

„Auch wenn es inzwischen ein gewisses Bewusstsein für eine Vielfalt an Lebensformen, für heterogene Lebenslagen sowie für gesellschaftliche Diskriminierungs- und Ungleichheitsverhältnisse gibt, erweist sich der Umgang damit als höchst ambivalent und umstritten – und bleibt allzu oft in vorherrschenden Macht- und Normalitätsverhältnissen gefangen.“[8]

Solch eine Ablehnung oder doch zumindest Reserviertheit sei in den Geschichtswissenschaften keine Seltenheit. Erst vor wenigen Tagen wurde ich von einem Historiker am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität darauf hingewiesen, dass es gerade in den Geschichtswissenschaften wohl eine bisher eher ablehnende Haltung gegenüber der Anwendung einer geschlechtergerechten Sprache gäbe – Gründe hierfür konnte er mir leider keine geben. Als er die Frage ins Plenum warf, wer denn bereits in seiner Schulzeit mit dem Gendern in Berührung gekommen sei, war die Antwort negativ, sprich: Es war einfach kein Thema, welches auf den meisten Gymnasien aktiv behandelt wurde, was im Jahr 2020 schon einigermaßen schockierend ist. Da passt es wohl, wenn Kohser-Spohn meint, dass Geschlechtergeschichte als solche (auch im Bildungssektor) mit Argwohn betrachtet werden würde: „Nevertheless, innovations brought by gender history are considered with reserve.“[9]

Die Vorteile einer Vertiefung des Gender & Diversity – Komplexes liegt ganz klar auf der Hand: Durch entsprechende Bildungsangebote könnte bereits frühzeitig Verständnis für andere Flecken dieser Erde und Situationen diverser Charaktere mit intersektionalen Erlebnissen und Erfahrungen geschaffen werden. Bzgl. des geschichtswissenschaftlichen Studiums an der Freien Universität Berlin wird bereits versucht, den in vorigen Generationen noch sehr populären Eurozentrismus abzulegen, neue Perspektiven einzunehmen und andere Fragen zu stellen. In vielen Schulen sieht es meist noch nicht ganz so positiv aus. Und dieser Eurozentrismus kommt somit einer Degradierung anderer Kontinente und Länder gleich, als ob diese einer näheren Untersuchung die Zeit nicht wert wären. Was natürlich falsch ist. Durch die Beschäftigung mit möglicherweise „fremden“ oder noch unbekannten Kulturen werden Distanzen abgebaut, eine Nähe zur jeweiligen Thematik hergestellt. Kinder und Jugendliche würden so besser verstehen, Verständnis entwickeln, Ängste und Vorurteile abbauen, die eh völlig unsinnig sind, und somit bereits früh zu weltoffeneren Menschen werden. So zumindest meine Hoffnung. Weiterhin würden die Projektideen Kinder und Jugendliche zur Selbstständigkeit erziehen und ihr Selbstbewusstsein stärken. Sie müssen ihre Interessen selbstständig kommunizieren und sich mit einer Kultur beschäftigen, welche ihnen in diesem oder jenem Moment interessant erscheint. Wenn sich die Person mit dieser anderen Kultur auseinandersetzt, und diese besser versteht, wird sie gleichzeitig auch offener dafür, andere Interessen und Befindlichkeiten zu verstehen und zu respektieren.

Der Vermittlung bspw. der Erkenntnisse der Geschlechterforschung auch im Geschichtsunterricht muss generell größerer Raum zugestanden werden. Dies befürwortet auch der Geschichtsdidaktiker und Historiker Martin Lücke, der die „Genderkompetenz als Teilkompetenz des historischen Lernens“ im gleichnamigen Kapitel behandelt:

„Das von der Geschlechterforschung produzierte Wissen über die sozialen und kulturellen Ungleichheiten der Geschlechter und die damit verbundene Erkenntnis einer Geschlechter-Ungerechtigkeit dient der Forschung jedoch nicht als bloßer Selbstzweck, sondern soll für die Behebung dieser Missstände in der Gegenwart nutzbar gemacht werden.“[10]

Dieses Zitat bringt es ziemlich akkurat auf den Punkt. Somit ist es im Sinne einer aufgeklärten Gesellschaft und im Zuge des Gender Mainstreaming auch alles andere als falsch, Genderkompetenz im geschichtswissenschaftlichen Kontext tiefergehend zu behandeln. Beispiel: In Tagen, in denen wir über die Ungleichbehandlung der Geschlechter und toxische Männlichkeit sprechen, in denen diese Probleme immer noch gegenwärtig sind, ist es mehr als angebracht, diese Problemfelder historisch zu dekonstruieren, ihr Zustandekommen und die Hintergründe zu untersuchen, und eben auch, wohin dies alles führen kann. Nur wer die Vergangenheit erforscht, kann die Gegenwart verstehen und eine bessere Zukunft designen. Zwar gibt es bereits vernünftige Ansätze, wie sie bereits in der schönen Toolbox[11]der Freien Universität zu finden sind, doch wird der Forschungsgegenstand vor allem im außeruniversitären Bildungsbereich noch verhältnismäßig stiefmütterlich behandelt, so zumindest mein bisheriger Eindruck. Dennoch ist davon auszugehen, dass die heterogenen Betrachtungsweisen von Gender & Diversity einen zunehmend breiteren Raum im Bildungssektor zugeschrieben bekommen werden, wie es auch Oswalt für möglich hält, denn die gesellschaftlichen Einflüsse auf die Betrachtung und Bewertung der Geschichte sind erheblich:

„Aus dem starken Einfluss der Gegenwart auf die Wahrnehmung der Vergangenheit wird deutlich, dass jeder wie auch immer geartete gesellschaftliche Veränderungsprozess auch einen profunden Einfluss auf alle Formen geschichtlichen Denkens haben muss. Die Zunahme gesellschaftlicher Heterogenität muss insofern profunde Auswirkungen auf alle Aspekte historischer Deutung haben.“[12]

Diesem Zitat ist eigentlich nichts weiter hinzuzufügen, außer, dass zu hoffen bleibt, dass die zunehmend heterogene und diverse Betrachtung von Geschichte sich auch tatsächlich bald im Geschichtsunterricht und der Pädagogik im Allgemeinen niederschlagen wird.

Folgende Arbeiten bzgl. der Thematik könnten sich perspektivisch auf eine grundständigere Ebene der Pädagogik zubewegen und hierbei nicht unbedingt die Lerninhalte behandeln, sondern den Zugang zu diesen, welcher nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht. Wie Bernd Wagner feststellt, besteht beispielsweise noch ein starker Handlungsbedarf bzgl. einer „individuellen Lernberatung für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern“.[13]

Literaturverzeichnis

Ebitsch, Sabrina, Wo ihr Kind am besten lernt, 2017, https://www.sueddeutsche.de/bildung/schulformen-in-deutschland-wo-ihr-kind-am-besten-lernt-1.1482236-2 (abgerufen am 6. Juli 2020).

Kohser-Spohn, Christiane, Die Kategorie Geschlecht in der Geschichtswissenschaft und in der Geschichtsdidaktik in Deutschland. Rückblick und Ausblick, in: ebd., Farkas-Baumann, Dorothea, Internationale Schulbuchforschung. Frauen- und Geschlechtergeschichte im Unterricht aus europäischer Perspektive / Teaching the history of women and gender in Europe, 2005, Vol. 27, No. 2, S. 157-166.

Lücke, Martin, Walk on the wild side. Genderkompetenz, Zeitgeschichte und Historisches Lernen, in: Barricelli, Michele, Hornig, Julia, Aufklärung, Bildung, „Histotainment“. Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt / Main u. a. 2007, S. 223-236.

Oswald, Vadim, Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung, in: Beckmann, Christof (Hrsg.), Qualitätsmanagement und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2009, S. 167-192.

Riegel, Christine, Diversity-Kompetenz? – Intersektionale Perspektiven der Reflexion, Kritik und Ver-änderung, in: Faas, Stefan, Bauer, Petra, Treptow, Rainer (Hrsg.), Kompetenz, Performanz, soziale Teilhabe. Sozialpädagogische Perspektiven auf ein bildungstheoretisches Konstrukt, Wiesbaden 2014, S. 183-198.

Toolbox. Gender und Diversity in der Lehre. https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/index.html (abgerufen am 07. Juli 2020).

Wagner, Bernd, Intersektionalität und Inklusion im Sachunterricht, in Backhaus, Joanna, Blmer, Daniel, u. a. (Hrsg.), Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen, Wiesbaden 2015, S. 65-70, hier: S. S.65.


[1] Vgl. Riegel, Christine, Diversity-Kompetenz? – Intersektionale Perspektiven der Reflexion, Kritik und Ver-änderung, in: Faas, Stefan, Bauer, Petra, Treptow, Rainer (Hrsg.), Kompetenz, Performanz, soziale Teilhabe. Sozialpädagogische Perspektiven auf ein bildungstheoretisches Konstrukt, Wiesbaden 2014, S. 183-198, hier: S. 183.

[2] Vgl. ebd., S. 189.

[3] Vgl. Kohser-Spohn, Christiane, Die Kategorie Geschlecht in der Geschichtswissenschaft und in der Geschichtsdidaktik in Deutschland. Rückblick und Ausblick, in: ebd., Farkas-Baumann, Dorothea, Internationale Schulbuchforschung. Frauen- und Geschlechtergeschichte im Unterricht aus europäischer Perspektive / Teaching the history of women and gender in Europe, 2005, Vol. 27, No. 2, S. 157-166, hier: S. 161.

[4] Vgl. ebd., S. 163.

[5] Vgl. ebd., S. 164.

[6] Vgl. Oswalt, Vadim, Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung, in: Beckmann, Christof (Hrsg.), Qualitätsmanagement und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2009, S. 167-192, hier: S. 175.

[7] Vgl. Ebitsch, Sabrina, Wo ihr Kind am besten lernt, 2017, https://www.sueddeutsche.de/bildung/schulformen-in-deutschland-wo-ihr-kind-am-besten-lernt-1.1482236-2 (abgerufen am 6. Juli 2020).

[8] Vgl. Riegel 2014, S. 183.

[9] Vgl. Kohser-Spohn 2005, S. 157.

[10] Vgl. Lücke, Martin, Walk on the wild side. Genderkompetenz, Zeitgeschichte und Historisches Lernen, in: Barricelli, Michele, Hornig, Julia, Aufklärung, Bildung, „Histotainment“. Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt / Main u. a. 2007, S. 223-236, hier: S. 226.

[11] Vgl. https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/index.html (abgerufen am 02. Juli 2020).

[12] Vgl. Oswalt 2009, S.  171.

[13] Vgl. Wagner, Bernd, Intersektionalität und Inklusion im Sachunterricht, in Backhaus, Joanna, Blmer, Daniel, u. a. (Hrsg.), Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen, Wiesbaden 2015, S. 65-70, hier: S. S.65.


Quelle: Marcus Schäfer: „Was hat das alles mit mir zu tun?“- Plädoyer für einen diversen Geschichtsunterricht, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.04.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/04/22/was-hat-das-alles-mit-mir-zu-tun-plaedoyer-fuer-einen-diversen-geschichtsunterricht/