Ziel von gendergerechter Sprache ist unter anderem die Vielfalt geschlechtlicher Identitäten jenseits der binären Norm abzubilden. Somit wird Sprache komplexer, werden Formulierungen länger und einige vorgeschlagene Formen stören bewusst den Lesefluss. Barrierefreie Sprache wiederum soll einfach verständlich sein, um Menschen mit Behinderungen den Zugang zu Informationen zu ermöglichen.
Autorin: Anna Osypova
Gendergerechtigkeit und Barrierefreiheit werden im Deutschen oft gegeneinander ausgespielt.
Die Diskussion um die Vereinbarkeit von Gendergerechtigkeit und Barrierefreiheit wird oft vor allem auf Sonder- und Satzzeichen wie Genderstern oder Doppelpunkt zugespitzt. Längere Zeit galt der Doppelpunkt als barriereärmer, mittlerweile halten viele dies für ein Missverständnis und nennen verschiedene Gründe, warum der Genderstern das beste Zeichen für die Abbildung von Geschlechtervielfalt ist. Grundsätzlich gilt, dass keines dieser Zeichen vollkommen barrierefrei ist. Diese Sichtweise vertritt auch der Blinden- und Sehbehindertenverband.
Aber handelt es sich bei Gendergerechtigkeit und Barrierefreiheit tatsächlich um unvereinbare Anforderungen an die deutsche Sprache? Beide Ansätze haben schließlich ein gemeinsames Ziel: Teilhabe. Sprache prägt unsere Wahrnehmung. Mit Sprache werden Gesetze verfasst, mit Sprache werden Menschen gebildet. Eine demokratische Gesellschaft wird durch Sprache konstituiert und aufrechterhalten. Eine gesellschaftliche Teilhabe ist ohne sprachliche Teilhabe unmöglich (Stefanowitsch 2014). Barrierefreie gendergerechte Sprache ist somit kein Oxymoron, sondern ein Ideal. Und es gibt bereits viele Ansätze, um diesem Ideal näherzukommen. In diesem Artikel stellen wir einige dieser Ansätze vor und diskutieren, wie mögliche Zielkonflikte bewältigt werden können.
Vielfalt von sprachlichen Formen
„Es gibt nicht eine bestimmte Form, die ‚alle‘ (im Sinne von alle Personen) meint und mit der ‚alle‘ angesprochen sind“, schreibt AG feministisch sprachhandeln in ihrem Leitfaden. Es gibt auch nicht die einzige richtige antidiskriminierende Sprachform.
Eine richtige Form hängt immer vom Kommunikationskontext ab. Gendergerechte Sprache bietet eine Auswahl von Formen. Manchmal lässt sich ein Partizip bilden wie Mitarbeitende, manchmal kann man den Satz ins Passiv umwandeln: Das Formular wird ausgefüllt statt Bewerber füllen das Formular aus. Oft gibt es eine genderneutrale Bezeichnung wie Team oder Personal. Oder man setzt den Satz in den Imperativ: Hängen Sie bitte Ihre Jacken an die Garderobe statt Nutzer der Bibliothek hängen ihre Jacken an die Garderobe. Erst dann, wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft werden, kommen Sonder- bzw. Satzzeichen infrage. Es gibt verschiedene Sonder- und Satzzeichen, die Mehrgeschlechtlichkeit helfen abzubilden: Genderstern (Mitarbeiter*innen), Doppelpunkt (Mitarbeiter:innen) oder Unterstrich (Mitarbeiter_innen). Zwar gilt keines dieser Zeichen als komplett barrierefrei, doch es lässt sich eine Tendenz zum Genderstern feststellen.
Die Freie Universität hat sich in der Regelung zur Verwendung von geschlechtergerechter und -inklusiver Sprache in der offiziellen Kommunikation der Freien Universität für den Genderstern entschieden. Auch die bukof (Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen e.V.) plädiert für das Sternchen. Der Genderstern wird auch in der Empfehlung zur Verwendung von gendergerechter Sprache im Kontext digitaler Barrierefreiheit der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit in der Informationstechnik (BFIT-Bund) als bevorzugte Form angegeben. Die Empfehlung ist auf einer Zielgruppenbefragung basiert. Der Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband in seiner Stellungnahme vom März 2021 rät generell von den Kurzformen ab, vermerkt aber, dass das Sternchen zu verwenden sei, „falls mit Kurzformen gegendert werden soll“.
Gendergerecht für blinde und sehbehinderte Menschen
Meistens werden Texte für blinde und sehbehinderte Menschen vorgelesen – über Software oder von einem anderen Menschen. Sonderzeichen im Wort werden dabei normalerweise mit vorgelesen: Mitarbeiter-Stern-innen, Mitarbeiter-Unterstrich-innen. Oder es gibt eine kurze Pause, wie dies bei der Schreibweise mit Doppelpunkt (Mitarbeiter:innen) der Fall ist. In diesem Video kann man sich anhören, wie die verschiedenen Kurzformen von der Vorlese-Software wiedergegeben werden.
Bei vielen Programmen lässt sich jedoch konfigurieren, welche Zeichen vorgelesen werden. So wäre zum Beispiel auch der Genderstern nicht problematisch, wenn in den Einstellungen stünde, dass bei Wörtern mit *innen beziehungsweise Kombination der*die und ihrer Varianten der Stern nicht mit vorgelesen werden soll. Allerdings muss man dafür programmieren können und – was noch wichtiger ist – nicht alle Programme sind leicht steuerbar. Die Vorlesefunktion bei Sprachassistenten wie Alexa oder in E-Book-Readern lässt sich beispielsweise nicht so einfach einstellen. So verbleibt die Aufgabe, Texte barrierefrei zu gestalten, bei den Menschen, die selbst vor diesen Barrieren betroffen sind, und bereits einen hohen Aufwand betreiben müssen, um Zugang zu Informationen zu bekommen. Um dieses Problem zu lösen, ist ein Dialog mit der Tech-Industrie notwendig und eine einheitliche Form erforderlich.
Domingos de Oliveira, Autor des Buches „Barrierefreies Internet“ und selbst sehbehindert fordert eine ganze neue, einheitliche Variante jenseits von Stern und Doppelpunkt. Um barrierefrei zu sein, müsse dieses neue Zeichen auf allen Tastaturen vorhanden und nicht mit anderen Zeichen verwechselbar sein, es dürfe keinen großen Abstand in Worten erzeugen und solle sich auf der Mittellinie einer Textzeile befinden.
Leichte und Einfache Sprache
Wenn wir von ‚barrierefreier Sprache‘ reden, meinen wir eine Sprache, die für Menschen mit Sehbehinderungen, kognitiven Einschränkungen und Leseschwierigkeiten unterschiedlicher Art zugänglich ist. Eine Form der barrierefreien Sprache, ‚Einfache Sprache‘, richtet sich sogar an alle beziehungsweise möglichst viele Menschen, unabhängig von Alter, Bildungsstand und Sprachkompetenzen.
Leichte Sprache folgt strengen Regeln. Die Sätze müssen kurz sein, längere beziehungsweise fremde Wörter sollen vermieden werden. Genitiv-, Passiv- oder Konjunktivformulierungen ebenso. Texte in Leichter Sprache sehen auch optisch anders aus. Jeder Satz beginnt mit einem Absatz. Längere Wörter werden mit einem Zeichen getrennt: Bundes-Gleichstellungs-Gesetz. Sonderzeichen sind nicht erlaubt. Zielgruppe der Leichten Sprache sind Menschen mit Lernbehinderungen und anderen kognitiven Einschränkungen, Menschen mit Entwicklungsstörungen und Menschen mit verschiedenen Leseschwierigkeiten.
Einfache Sprache, manchmal auch bürgernahe Sprache genannt, ist nicht so streng, folgt aber ähnlichen Regeln. Man kann sie als Mittelweg zwischen Alltagssprache und Leichter Sprache verstehen. Sätze sollen nicht zu lang sein und maximal ein Komma beinhalten. Fremdwörter sollen vermieden und Abkürzungen ausgeschrieben werden. Zielgruppe von Einfacher Sprache sind vor allem Menschen mit einem niedrigen Lese- und Schreibniveau. Aber auch andere Gruppen profitieren von Einfacher Sprache: Menschen, für die Deutsch nicht Erstsprache ist, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen können Texte in Einfacher Sprache besser verstehen. Die absolute Mehrheit der deutschen Bevölkerung wird einen Text in Einfacher Sprache verstehen.
Beide Varianten, sowohl Leichte als auch Einfache Sprache, folgen dem gleichen Ziel: Texte so präzise wie möglich zu formulieren. Dieses Prinzip gilt auch für gendergerechte Sprache. Dennoch stellt deren Umsetzung in Leichter und Einfacher Sprache eine Herausforderung dar.
In Leichter und Einfacher Sprache gibt es beispielsweise weniger Möglichkeiten zum Gendern. Am besten eignen sich neutrale Wörter, die gut bekannt sind wie Team oder Leitung. Wenn es passt, ist direkte Anrede (Füllen Sie das Formular aus) eine perfekte Lösung, da sie sowohl gendergerecht als auch barrierefrei ist. Andere Ersatzformen der gendergerechten Sprache wie substantivierte Partizipien (Studierende) oder Nebensätze (Alle, die einen Antrag stellen) sind für Leichte Sprache schwer verständlich, könnten aber in Einfacher Sprache verwendet werden.
Manche Empfehlungen geben vor, Doppelnennung wie Studenten und Studentinnen zu verwenden. Das Wort im Maskulinum soll dabei vorne stehen, da es öfter benutzt wird und daher bekannter ist. Die Doppelnennung schließt aber andere Geschlechter aus und ist somit nicht wirklich inklusiv. Manchmal wird auch von Beidnennung abgeraten, und generisches Maskulinum als einzige Möglichkeit empfohlen. Psycholinguistische Studien haben jedoch belegt, dass das generische Maskulinum erst verzögert weibliche Bilder hervorruft; weitere Geschlechter bleiben völlig unsichtbar. Beide Lösungen widersprechen somit dem Ziel, Sätze eindeutig zu formulieren.
Ein möglicher Umgang mit diesem Dilemma sind die sogenannte Genderklausel oder der Gender-Disclaimer. Die Genderklausel ist eine Erklärung am Anfang des Textes zur Bedeutung des Gendersterns. In der Einfachen Sprache ist sie gut verwendbar, auch wenn das das Problem der schweren Lesbarkeit damit nicht behoben ist.
Beispiel einer Genderklausel in der Leichten Sprache
Was bedeutet das * Sternchen? Sie haben gerade gelesen: Es gibt viel mehr als Frau und Mann. Das wollen wir auch zeigen. Deshalb schreiben wir zum Beispiel: Schüler*innen. Das Sternchen steht für alle Menschen, die sich nicht als Frau oder Mann verstehen. Im Wort Schüler*innen stecken also alle Menschen drinnen, egal wie sie sich bezeichnen oder fühlen.
„Frau. Man. Und noch viel mehr“ . Eine Broschüre in Leichter Sprache vom Verein Leicht Lesen
Fazit
Sprache spiegelt den Stand in der Gesellschaft wider und prägt zugleich unser Denken. Mit einer diversitätsbewussten Sprache kommen wir dem Ziel näher, möglichst viele Menschen in gesellschaftliche Prozesse einzubeziehen.
Die deutsche Sprache lässt sich nicht immer gleichermaßen gendergerecht und barrierefrei gestalten.
Trotzdem gibt viele Möglichkeiten, Texte entsprechend zu formulieren. Einige, wie neutrale Wörter und Imperativsätze, sind gendergerecht und barrierefrei für alle Zielgruppen. Andere, wie Nebensätze, Passivsätze und Partizipien, sind gendergerecht und für die Mehrheit der Bevölkerung gut zugänglich, aber nicht geeignet für Leichte Sprache. Im Bereich der Sonderzeichen hält die Diskussion an, doch es entstehen bereits viele Empfehlungen und Stellungnahmen, auch unter Beteiligung von verschiedenen betroffenen Gruppen. Die lebhafte Diskussion zeigt, dass Zielkonflikte nicht festgeschrieben sind und dass das gemeinsame Anliegen von Teilhabe stärker wiegt. Sie zeigt auch, dass die Zuspitzung „entweder barrierefrei oder geschlechtergerecht“ eher der antifeministischen Ideologie dient als der Herstellung von Chancengerechtigkeit.
Sprache wird durch Nutzung geändert. Je häufiger eine Form geschrieben oder gesprochen wird, desto mehr Chancen hat sie, ins Wörterbuch aufgenommen zu werden. Momentan gibt es noch keine einheitliche Lösung für gendergerechte barrierefreie Sprache, aber sie kann kommen. Möglicherweise etabliert sich der Genderstern als Selbstverständlichkeit oder ein anderes, neues Zeichen setzt sich durch. Oder es passiert nichts. Hierzu lässt sich keine Prognose abgeben, denn Sprachwandel ist unvorhersehbar.
Empfehlungen und Stellungnahmen
Empfehlung zur Verwendung von gendergerechter Sprache im Kontext digitaler Barrierefreiheit
Stellungnahme vom März 2021 des Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverbands
Quellen
Bedijs, Kristina. Schlägt Verständlichkeit Diversität – oder schafft Diversität Verständlichkeit? Zu Möglichkeiten und Grenzen gendersensibler Sprache in der Leichten Sprache. trans-kom 14 [1] (2021): 145–170
Bock, Bettina M. (i. E.): Barrierefreie Kommunikation als Voraussetzung und Mittel für die Partizipation benachteiligter Gruppen. Ein (polito-)linguistischer Blick auf Probleme und Potenziale von „Leichter“ und „einfacher Sprache“. Linguistik Online 73, 4/15 (2015): 117, 133
Kellermann, Gudrun. Leichte und Einfache Sprache – Versuch einer Definition. Aus Politik und Zeitgeschichte : Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (2014) Jg. 64, H. 9-11
Frau. Mann. Und noch viel Mehr. Eine Broschüre in Leichter Sprache vom Verein Leicht Lesen. In Zusammenarbeit mit der HOSI Salzburg. Und Expert*innen. (2018)
Stefanowitsch, Anatol. Leichte Sprache, komplexe Wirklichkeit. Aus Politik und Zeitgeschichte, 64 (2014) 9-11: 11-18
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Genderdoppelpunkt und ein Missverständnis
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Gendern – warum Unterstrich und Stern nicht barrierefrei sind
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