
„Zum Stand der Geschlechterforschung in Deutschland“ – unter diesem Titel lud das Margherita-von-Brentano-Zentrum am 4. Februar 2025 zu einem Neujahrsempfang ins Seminarzentrum der Freien Universität. Die Podiumsdiskussion widmete sich den aktuellen Herausforderungen des Faches, auch mit Blick auf zunehmende Anfeindungen von Rechts.
ein Bericht von Jana Gerlach
Trotz des kalten Winterwetters und der langen Anreise nach Dahlem ist der Andrang groß. Unter den knapp hundert Teilnehmenden finden sich Geschlechterforscher*innen verschiedener Fachdisziplinen, Studierende, Gleichstellungsbeauftragte sowie Vertreter*innen unterschiedlicher Institutionen aus dem Feld, beispielsweise der Bundesstiftung für Gleichstellung. Alle sind gekommen, um gemeinsam der Frage nach den aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen der Geschlechterforschung nachzugehen – und das zu einer Zeit, in der diese unter keinem guten Stern zu stehen scheint.
Es ist der 4.Februar 2025 – in den USA zeigen sich die drastischen Folgen der wissenschaftsfeindlichen Dekrete Donald Trumps gegen Gender- und Diversity-Programme und in Deutschland verkündet Alice Weidel Gender-Professor*innen unter ihrer Führung „rauszuschmeißen“. Es ist also kein Wunder, dass neben dem Blick auf die Errungenschaften der Geschlechterforschung im Allgemeinen und des Margherita-von-Brentano-Zentrums im Speziellen bereits während der Begrüßung aufrüttelnde Worte fallen. So mahnt Geschäftsführerin Dr. Heike Pantelmann angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl den Ernst der Lage zu erkennen und fordert Fachbereiche und Universitätspräsidien auf, sich mit der Geschlechterforschung zu solidarisieren und die Wissenschaftsfreiheit als breite Allianz zu verteidigen.
Das Panel, auf dem Stand und Zukunft des Faches diskutiert werden sollen, ist breit aufgestellt mit Geschlechterforscherinnen unterschiedlicher Generationen und Disziplinen. Es diskutieren:
Prof. Dr. Birgit Riegraf, scheidende Präsidentin der Universität Paderborn, seit 2009 Professorin für Allgemeine Soziologie und bekannt für ihre vielzähligen Arbeiten im Bereich der Arbeits- und Organisationssoziologie, der feministischen Gesellschafts-, Gerechtigkeits- und Staatstheorien sowie der Theorien und Methodologien der Geschlechterforschung
Prof. Dr. Jule Govrin, Professorin für Philosophie an der Universität Hildesheim mit Forschung an der Schnittstelle von Sozialphilosophie, Politischer Theorie, Feministischer Philosophie, Ethik und Ästhetik.
Dr. Johanna Leinius, wissenschaftliche Leiterin des Cornelia-Goethe-Centrums für Geschlechterforschung an der Goethe-Universität Frankfurt mit Expertise zu postkolonialen sozialen Bewegungen in Lateinamerika
Prof. Dr. Gökçe Yurdakul, Professorin für Diversität und soziale Konflikte an der Humboldt-Universität zu Berlin und ehemalige Direktorin des Berliner Instituts für Migrations- und Integrationsforschung
Durch die Diskussion führt die neue wissenschaftliche Leitung des Margherita-von-Brentano-Zentrums und Mit-Gastgeberin des Abends Prof. Dr. Gülay Çağlar, Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Gender and Diversity am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.
Prägung und Herausforderungen der Gender Studies als Forschungsfeld
Zur Einordnung der Debatte lohnt ein Blick zurück auf die Entstehungsgeschichte der Geschlechterforschung. Denn anders als andere Forschungsfelder hat sich diese nicht aus einer wissenschaftlichen Disziplin heraus entwickelt, sondern ist von Beginn an unmittelbar mit gesellschaftlichem Aktivismus verknüpft. So war es die Kritik der Frauenbewegung an den androzentrischen Strukturen in der Wissenschaft – der fehlenden Repräsentanz von Frauen in den Hörsälen und an den Lehrstühlen, der Ausblendung machtkritischer Fragestellungen und Forschungsprogramme – die ab den 1970er Jahren zu einer Auseinandersetzung in verschiedensten Fächern und Disziplinen führte. Die Geschlechterforschung ist damit ihrem Wesen nach als grundlegend interdisziplinäres Feld zu verstehen, das sich bis heute in ständiger Wechselwirkung mit den Forderungen gesellschaftlicher Bewegungen und Generationen von Aktivist*innen weiterentwickelt.
Gülay Çağlar sieht die Geschlechterforschung demnach in einem Spannungsfeld zwischen Grundlagenforschung und zunehmender Ausdifferenzierung und verweist auf neue Subfelder wie die Queer Studies, Transgender Studies, Sexuality Studies oder Postcolonial Gender Studies. Welche Chancen aber auch Risiken birgt die Interdisziplinarität für die Fortentwicklung des Felds? Und gibt es einen Punkt, an dem die zunehmende Fragmentierung die Anschlussfähigkeit des Feldes gefährdet? lauten ihre Fragen an das Panel.

Als Vertreterin der älteren Generation von Geschlechterforscher*innen erinnert Birgit Riegraf an die Anfänge der Institutionalisierung in den 1980ern und an die besondere Bedeutung der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung (Vorläufereinrichtung des MvBZ) an der Freien Universität als Ort der Vernetzung und gegenseitigen Unterstützung.
Dabei dürfe nicht in Vergessenheit geraten, dass damals insbesondere wissenschaftliche Mitarbeiterinnen auf prekären Stellen die ersten autonomen Seminare organisiert und somit die ersten Impulse für Veränderung gegeben hätten. Für Birgit Riegraf macht die Interdisziplinarität der Geschlechterforschung ihre Erfolgsgeschichte aus – auch wenn diese mit Blick auf die Integration von Genderfragen in den Naturwissenschaften noch lange nicht beendet sei. Somit sehe sie die Gefahr weniger in der Ausdifferenzierung als in der Normalisierung des Faches durch den Prozess der Institutionalisierung.

Johanna Leinius bestätigt die Diagnose Gülay Çağlars, dass das Subjekt der Gender Studies durch die zunehmende Ausdifferenzierung an Selbstverständlichkeit eingebüßt habe, sieht hierin aber vor allem eine Chance für die Selbstkritik und Weiterentwicklung des Felds. Schlüssel hierfür sei der produktive Dialog zwischen den Subdisziplinen und Generationen, den sie als Leiterin des Cornelia-Goethe-Centrums durch die Archivierung von Dokumenten und Quellen von den Anfängen bis heute fördern möchte.

Ähnlich wie Birgit Riegraf sieht auch Jule Govrin die Problematik, dass durch die zunehmende Institutionalisierung der Geschlechterforschung die eigenen aktivistischen Wurzeln Gefahr laufen, in Vergessenheit zu geraten. Sie betont die Bedeutung der intergenerationalen Weitergabe von feministischem Wissen und sieht es als zentrale Aufgabe, sich weiter in aktuelle gesellschaftspolitische Debatten einzubringen.
Neue Impulse und Erkenntnisse aus den Subdisziplinen der Gender Studies seien wertvoll, müssten aber in die Grundlagenforschung der Fachwissenschaften zurückzutragen werden, um diese weiter voranzubringen.
Umgang mit den eigenen Leerstellen
Es gehört zu den Eigenheiten der Geschlechterforschung nicht nur bislang ausgeblendete Fragen aufzuwerfen, sondern die (kulturellen, gesellschaftlichen, politischen) Mechanismen der Ausblendung selbst zum Forschungsgegenstand zu machen. Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb ist die Beschäftigung mit den eigenen biases und blinden Flecken unabdingbar. Denn Geschlechterforschung findet längst nicht nur in westlichen akademischen Kontexten statt, betont Gülay Çağlar und fragt nach den Impulsen aus anderen Regionen – etwa aus lateinamerikanischen, afrikanischen oder südostasiatischen feministischen Theorien – und nach den Leerstellen der deutschen Geschlechterforschung in Bezug auf diese globalen Perspektiven.
Die Wissenschaftlerinnen berichten diesbezüglich aus ihrer eigenen Forschungspraxis. Johanna Leinius weist auf die enge Verflechtung von Aktivismus und wissenschaftlicher Auseinandersetzung im Kontext des lateinamerikanischen Feminismus hin und fordert, mehr Zeit zu investieren in die konzeptionelle Übersetzungsarbeit und die Bereitschaft, unsere eigene Metaphysik stärker in Frage zu stellen. Birgit Riegraf nennt ein konkretes Beispiel aus einer global angelegten Forschungsarbeit zu Care. Während in westlichen Ländern das Konzept von „Care“ vornehmlich mit unbezahlter weiblicher Familienarbeit assoziiert werde, würde im afrikanischen Kontext vor allem AIDS-Prävention damit in Verbindung gebracht. Diese kulturell unterschiedlichen Verständnisse anzunehmen und sich in den eigenen unausgesprochenen Vorannahmen irritieren zu lassen sei bedeutend für die Weiterentwicklung globaler Perspektiven.

Mit Blick auf aktuellen Nahost-Konflikt lenkt Migrationsforscherin Gökçe Yurdakul schließlich den Fokus auf den Umgang mit Tabuthemen und warnt vor einer zunehmenden Spaltung innerhalb der Gender Studies im Umgang mit Anti-Semitismus. Hier sei ein hoher Bedarf an Dialog und analytischer Auseinandersetzung mit eigenen Mechanismen der Tabuisierung unerlässlich.
Eine robuste Geschlechterforschung für die Zukunft
Abschließend kommt das Podium auf die aktuelle Gefährdungslage des Forschungsfelds zurück. Was kann bzw. muss die Geschlechterforschung tun, um angesichts populistischer Angriffe und Ideologie-Vorwürfe resilient zu bleiben? Was passiert, wenn institutionalisierte Strukturen, wie gender- und diversity-orientierte Förderrichtlinien, wegbrechen? Und was wünschen sich die Forscherinnen auf dem Podium für die Zukunft?
Als ehemalige Universitätspräsidentin sieht Birgit Riegraf vor allem die Hochschulleitungen in der Pflicht, eine klare Haltung nach außen zu tragen und in den Institutionen zu verankern. Auch die drei anderen Forscherinnen teilen die Forderung, Kooperationen und Solidaritäten über die Disziplinen hinweg zu stärken, um gemeinsam die Grundfesten der Wissenschaftsfreiheit zu schützen. Denn neben der Geschlechterforschung seien auch weitere bedeutende Forschungsfelder wie die Migrationsforschung durch den Rechtsruck bedroht, betont Gökçe Yurdakul. Dabei ginge es nicht darum, „über jedes Stöckchen zu springen, das die Rechten uns hinhalten“, so Johanna Leinius, sondern darum, Ressourcen in proaktive Strategien zu stecken, beispielsweise einen Handlungsleitfaden für den Umgang mit Rechtsextremismus, wie ihn die Hochschule Cottbus-Senftenberg veröffentlicht habe.
Hinsichtlich ihrer Wünsche für die Zukunft stimmen die Forscherinnen überein. Sosehr die Geschlechterforschung angesichts aktueller Angriffe auf die Unterstützung anderer Disziplinen angewiesen sei, so unersetzlich bleibe sie wiederum für die Bearbeitung gesamtgesellschaftlicher Krisen und Umwälzungen. Denn nur mit der Einbeziehung einer Geschlechterperspektive, so das Fazit, sei eine umfassende Analyse der multiplen Krisen unserer Welt möglich. Dabei gehe es vor allem darum transformatives Wissen in der Geschlechterforschung zu stärken und systematisch einzubringen, betont Jule Govrin, sei es mit Blick auf Künstliche Intelligenz, die sozial-ökologische Wende oder die Demokratie als Lebensform vielfältiger Gesellschaften.
Weitere Links zum Thema:
- Angriffen auf die Freiheit von Forschung und Lehre entschlossen entgegentreten! Stellungnahme der Fachgesellschaft Geschlechterstudien
- Geschlechterforschung: BMBF widerspricht Alice Weidel Wissenschaftspolitischer Blog-Post von Jan-Martin Wiarda