Zur Genderperspektive in der politischen Bildung

Die Gleichstellung der Geschlechter ist laut Berliner Rahmenlehrplan ein Querschnittsthema für Schulen. Politische Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle. Aber wie geschlechtersensibel ist die Politikdidaktik tatsächlich? Darüber sprachen wir mit Dr. Luisa Girnus, frisch ernannte Juniorprofessorin für Politikdidaktik am Otto-Suhr-Institut.

Das Interview führte Jana Gerlach.

Hallo Luisa. Schön, dass wir Dich zu diesem wichtigen Thema befragen dürfen. Unsere erste Frage bezieht sich auf einen Vortrag, den Du kürzlich auf einer Tagung der Berliner Landeszentrale für politische Bildung gehalten hast. Er trug den Titel „Gender-Fragen als Leerstelle in der politischen Bildung“.  Welche Leerstelle meinst Du und wie ist diese zu erklären?

Luisa Girnus: Ich glaube, dass eine Leerstelle entstanden ist, liegt an der Geschichte der Disziplin. Politikdidaktik war von Anfang an normativ geprägt: Es ging zunächst um die Frage, was gute Staatsbürger*innen auszeichnet, auch im Zuge der Reeducation nach dem zweiten Weltkrieg. Ein Verständnis von Politikdidaktik als Wissenschaftsdisziplin etabliert sich erst im Laufe der 1990er. Und da spielen auch Genderfragen eine Rolle – damals insbesondere die Gleichstellung von Frau und Mann bzw. Schülerinnen und Schülern. Dokumentiert ist das zum Beispiel mit dem Sammelband Politische Bildung und Geschlechterverhältnis aus dem Jahr 2000. Danach folgen noch eine einzelne Dissertation und ein Sammelband im Jahr 2016. Der aufstrebende Diskurs scheint aber mit den PISA-Studien und der anschließenden Kompetenzdebatte, die auch in der Politikdidaktik heftig geführt worden ist, quasi zu versiegen. Im Vordergrund standen Fragen wie: Was machen Kompetenzen, welche Kompetenzen wünschen wir uns? Auch die Frage: Was heißt eigentlich Mündigkeit? Wieviel Emanzipation ist dabei mitgedacht? Kann man das überhaupt in Kompetenzen wiederfinden? Leider spielen Geschlechterfragen in der damals geführten Auseinandersetzung augenscheinlich keine Rolle. Das bezieht sich jetzt vor allem auf den Bereich Schule, in der informellen Bildung verhält es sich sicherlich ein wenig anders.  

Die Sensibilität für vergeschlechtliche Machtverhältnisse oder die Anerkennung von Meinungsvielfalt könnten ja durchaus als Kompetenzen bezeichnet werden. Um welche Kompetenzen geht es in der Politikdidaktik?

Luisa Girnus: Die klassischen politikdidaktischen Kompetenzen, über die es auch im Prinzip Einigkeit gibt, sind politische Urteilsbildung, politische Handlungsfähigkeit und sozialwissenschaftliche Analysefähigkeit. Dazu kommt dann noch konzeptionelles Deutungswissen. Die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) hat 2004 in Reaktion auf die Kompetenzdebatte entsprechende Bildungsstandards veröffentlicht. In dem politikdidaktischen Diskurs darum kommen dann viele Fragen ans Fach auf u. a. hinsichtlich der Messbarkeit dieser Kompetenzen oder auch, worin das spezifisch Politische dabei besteht. Macht- und Herrschaftskritik spielt generell und auch dabei eine wichtige Rolle, ist aber nicht als Kompetenz formuliert.

Eigentlich setzt sich die Politikwissenschaft als Referenzdisziplin ihrem Wesen nach ja grundsätzlich mit Machtverhältnissen und damit auch mit Geschlechterverhältnissen auseinander. Auch die Kernkompetenzen, die in der politischen Bildung vermittelt werden sollen – politische Urteils- und Handlungsfähigkeit – entstehen ja in einem gesellschaftlichen Kontext, der von Machtverhältnissen geprägt ist. Inwieweit geht die Politikdidaktik darauf ein?

Konzeptionell mitgedacht in Planung, Durchführung und Reflexion von Politikunterricht werden Ungleichheitsaspekte noch viel zu selten.

Luisa Girnus: In der Politikdidaktik fassen wir unsere Bezugsdisziplinen sogar noch weiter. Als Bezugsfach sind beispielsweise auch Soziologie oder Wirtschaftswissenschaft von Bedeutung. Im Kern geht es um die Wechselwirkungen von Subjekt und Kollektiv bzw. staatlich verfasster Gesellschaft. Das Ziel ist es, politische Mündigkeit als Grundlage demokratischer Gesellschaftsordnung zu fördern. Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu hinterfragen und gemeinsam darüber nachzudenken, wie eine gerechtere Gesellschaft entstehen kann bzw. was ihr entgegensteht, ist essenziell für politische Bildung. Die Kompetenzen lassen sich als Fähigkeiten lesen, derer es bedarf, Ungleichheitsverhältnisse zu erkennen, in Abhängigkeit zu der eignen Position und anderer Perspektiven zu bewerten und sich dazu zu äußern oder auch politisch aktiv zu werden. Genderfragen als Ungleichheitsthema sind folglich etwas, was in politischer Bildung vorkommt. Im Lehrplan sind zum Beispiel Sozialstrukturen explizit Thema. Damit kommen auch Fragen der Geschlechtergerechtigkeit vor, ebenso wie Rassismus oder Klassismus Thema sein können. All das aber eben als inhaltliches Thema– konzeptionell mitgedacht in Planung, Durchführung und Reflexion von Politikunterricht werden Ungleichheitsaspekte noch viel zu selten.

Warum ist es so wichtig, Geschlecht in der politischen Bildung grundsätzlich mitzudenken? Welche Herausforderungen oder Fragen würden sich an die Vermittlung der oben genannten Kompetenzen stellen?

Geschlecht ist da ja eine entscheidende Differenzkategorie und kann allein deswegen nicht einfach ausgeblendet werden

Luisa Girnus: Wenn das Ziel politischer Bildung ist, zu politischer Mündigkeit zu verhelfen, könnte man sagen, je nachdem welchen biografischen Kontext Menschen haben und welchen sozialen Zuschreibungen sie ausgesetzt sind, haben sie auch einen anderen Zugang zu dieser Mündigkeit und wie sie diese erreichen. Diese Unterschiede in didaktischen Konzepten nicht zu benennen und allen einen gleichen Zugang zu politischem Lernen zu unterstellen, der sich allein dadurch unterscheidet, dass Lernende mehr oder weniger politisch interessiert sind, ist ein unglückliches Konzept, insbesondere wenn man Lernenden-orientiert arbeiten möchte.

Geschlecht ist da ja eine entscheidende Differenzkategorie und kann allein deswegen nicht einfach ausgeblendet werden, wie alle anderen und deren intersektionale Verwobenheit natürlich auch nicht. Aus der Bildungswissenschaft wissen wir, dass es durchaus geschlechtsspezifische Unterschiede in den Lernstrategien gibt. In politischen Kontexten bedeutet das beispielsweise, dass männlich sozialisierte Jugendliche diskussionsfreudiger sind und Mädchen tendenziell geringer Selbstwirksamkeitszuschreibungen haben.[1] Und man dann anders adressieren muss, gerade wenn es um Urteilsfähigkeit geht. Letztlich setzt sich da auch ein Problem fort. Denn auch in der Politik finden wir ein Gender Gap. Wenn wir merken: Ok, wir schaffen es, vor allem männliche, höher gebildete Menschen anzusprechen und für Politik zu interessieren und dafür ggf. auch aktiv in die Politik zu gehen, alle anderen eher weniger, dann haben wir ein gesellschaftliches Repräsentationsproblem. Das ist natürlich auch eine Frage für die politische Bildung.

Dass Heterosexismus politisch zurzeit hochkocht, ist bis jetzt noch nicht einmal angesprochen. Hieraus ergibt sich noch eine ganz andere Dringlichkeit, stärker auf Genderfragen in der politischen Bildung zu schauen. Hier geht es dann auch insgesamt um den Umgang mit antidemokratischen Tendenzen und Positionen in politischen Bildungsprozessen.

Wie könnten sich Bildungsprozesse verändern, wenn Geschlecht als analytische Kategorie berücksichtigt wird?

Luisa Girnus: Ich denke, dass sich eine stärkere Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht fundamental – es ließe sich auch transformativ sagen – auf die Art und Weise wie politische Bildung gedacht wird, auswirkt. Es ist schlicht mehr als ein Thema oder ein weiterer Bildungsinhalt. Wenn wir jetzt zum Beispiel die Kompetenzen Analyse-, Handlungs- und Urteilsfähigkeit nehmen und in Schulkategorien denken, dann müssen wir auch hier davon ausgehen, dass bestimmte Positionen eine Hegemonie erreichen und dann reproduziert werden. Hier gilt es ständig zu hinterfragen: Mich als Lehrperson, die Bildungsmaterialien, das Lernklima und die Lerngruppe. Noch spannender wird es, wenn wir hinsichtlich der theoretischen Grundlagen des Faches feministische Perspektiven stärker einbeziehen. Da sehe ich gerade vor dem Hintergrund eines weiterhin ungerechten Bildungssystems und Veränderungsdruck aufgrund multipler Krisen wichtige Impulse, um politische Bildung weiterzudenken.

Zum Beispiel geht es gerade im Schulkontext auch viel um Benotung und damit oft um eine Dualität zwischen „was ist richtig, was ist falsch“. Nun ist es meines Erachtens eh ein Problem für politische Bildung, innerhalb eines Bewertungssystems zu arbeiten, aber eigentlich reales und nicht nur leistungsorientiertes Interesse bei den Schüler*innen bewirken zu wollen. Überdies verleitet das Überprüfen und Benoten dazu, das alles, was nicht benotbar und leistungsorientiert verwertbar ist, Gefahr läuft, nicht stattzufinden. Positionen, die der hegemonialen Grundlage des Faches widersprechen, drohen quasi zu verpuffen. Innerhalb schulischer politischer Bildung reproduziert sich so eine Vorstellung von Politik bzw. dem Politischen, die im Zweifel wenig Schnittmengen mit der Lebenswirklichkeit junger Menschen hat. Feministische Theorien können eine Möglichkeit sein, grundlegend andere Fragen zu stellen und andere Perspektiven zu gewinnen.

Ich denke, dass sich eine stärkere Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht fundamental – es ließe sich auch transformativ sagen – auf die Art und Weise wie politische Bildung gedacht wird, auswirkt.

Kannst Du uns konkrete Beispiele aus der Lehre nennen, good practices für gendersensible politische Bildung – in der Schule oder Lehrkräftebildung?

Luisa Girnus: Wichtig ist es, anzuerkennen, dass Geschlechtlichkeit ohnehin ein Riesenthema der Sozialisation ist. Man hat es in der Grundschule, dass Kinder sich in (oft noch) binäre Geschlechterkategorien einordnen („Ich bin ein Junge, du bist ein Mädchen“) und diese interpretieren („Was bedeutet es ein Junge, ein Mädchen oder vielleicht keins von beiden zu sein“?). Dann in der Pubertät sicherlich nochmal ganz besonders. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtlichkeit und auch wie diese im sozialen Kontext wirkt, spielt einfach eine große Rolle im Leben: Dem gegenüber offen sein und als Lehrperson zu schauen „wie reproduziere ich was, und was passiert da über Gender-Fragen im Unterricht, was suggeriere ich da eigentlich z. B. über mein Material?“ halte ich für wichtig.

Wenn ich immer nur weiße Männer im Bundestag zeige und damit dieses klassische Politikerbild reproduziere: Macht das wirklich Sinn? Sicherlich kann ich so etwas nutzen, um gerade dieses Problem zu dekonstruieren. Aber passiert mir das vielleicht einfach aus Gewohnheit? Ebenso stellt sich die Frage, welche Autor*innen ich im Unterricht sprechen lasse. Viele klassische Text sind von Männern geschrieben, aber finde ich vielleicht auch eine weibliche Perspektive darauf oder eine Sekundärquelle, die aus einer anderen Perspektive schreibt?

Auf der Materialebene lässt sich gendersensibler Unterricht erst einmal relativ gut umsetzen. In Bezug auf Lernklima, Unterrichtsmethoden usw. bedarf es zunächst der Reflexion und Revision der eigenen Genderstereotype. Die größte Leerstelle ist wahrscheinlich zu ermitteln, was denn tatsächlich politikdidaktisch passiert. Das ist mehrfach herausfordernd. Unter anderem reproduzieren sich Binaritäten bei der Frage, ob Schüler*innen geschlechterspezifisch lernen. Wie ist damit umzugehen? Kann ich Geschlecht als Ungleichheitsdimension überhaupt isoliert betrachten? Letztlich lässt sich auch diskutieren, welche Berechtigung die Frage nach Geschlechterunterschieden vor diesem Hintergrund hat. Muss ich vielleicht politikdidaktische und allgemeinpädagogische Aspekte mit Blick auf Genderfragen im Lehr-Lernprozess stärker zusammendenken? Und was macht das dann mit der Fachdidaktik? Darüber ist einfach noch zu wenig nachgedacht und geforscht worden.


[1] Die Arbeiten aus den 90er Jahren fragen nach Geschlechterunterschieden zwischen Mädchen und Jungen. Damit machen sie eine Binarität auf, die vor dem Ziel eben solche aufzulösen, herausfordernd ist. Die Problematik, das Geschlecht in empirischen Studien vornehmlich binär erhoben bzw. ausgewertet wird, besteht auch aktuell weiterhin.

Portraitfoto von Luisa Girmus

Dr. Luisa Girnus ist Juniorprofessorin für Politikdidaktik, Bildung für nachhaltige Entwicklung und Transformative Bildung am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Sie ist eine der Initiator*innen der Arbeitsgruppe ‚Politische Bildung und Gender‘ innerhalb der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung.

Aktuelle Veröffentlichung zum Thema:

Theresa Bechtel, Luisa Girnus, Julia Grün-Neuhof, Felix Prehm, Jonathan Vogt (Hg.) (2024): Why focus on gender? Gender und intersektionale Perspektiven in der politischen Bildung. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag.

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