Jacqueline Franz (SoSe 2021)
Vergangenes Jahr wurde William Tonou-Mbobd im Universitätsklinikum Hamburg getötet. Der 34-Jährige, aus Kamerun stammende Ingenieurstudent, der an einer Schizophrenie erkrankt war, begab sich im April 2020 auf eigene Initiative und auf der Suche nach Hilfe in psychiatrische Behandlung. Der Vorfall ereignete sich, als Tonou-Mbobd offensichtlich eine Medikation, die ihm verabreicht werden sollte, ablehnte. Folglich stürzten sich mehrere Security-Kräfte auf den Mann, zwangen ihn vor Zeug*innen zu Boden, schlugen auf ihn ein. Sein Herz setzte noch an Ort und Stelle aus, doch der Reanimationsversuch glückte. Fünf Tage später starb Tonou-Mbobd auf der Intensivstation. Er könne nicht atmen, habe er laut Zeug*innen gesagt (Vgl. Ruddath, Effenberger 2019). Dieser Satz kommt uns heute, wenn auch über ein Jahr später und aus einem anderen Kontext, sehr bekannt vor: George Floyd und die Black Lives Matter Bewegung. Hier starb ein schwarz gelesener Mensch durch die Polizei, während er um sein Leben flehte, dort durch einen Sicherheitsdienst an einem vermeintlich sicheren Ort, dem Krankenhaus. Die Gemeinsamkeit beider Taten: Struktureller Rassismus. Und beide sind mit Sicherheit keine Einzelfälle. Struktureller Rassismus macht auch vor unserem Gesundheitssystem nicht Halt, denn postkoloniale Strukturen sind in der deutschen Medizin fest verankert. Sie treten in verschiedensten Ebenen auf, ihre Aufarbeitung und Reflexion im alltäglichen Klinik- und Praxisalltag, sowie in der medizinischen Lehre wurde weitestgehend versäumt.
Der Irrglaube über den Zusammenhang von Herkunft und Schmerzempfinden
Zum Schreiben dieses Essays versuche ich, mich an meine Ausbildung und die ersten Jahre meiner Tätigkeit auf einer Station für Innere Medizin und Onkologie zurückzuerinnern. Wo sind mir Rassismen begegnet, die ich, gerade 18 Jahre alt und zu diesem Zeitpunkt noch völlig unsensibel gegenüber der Thematik, vielleicht gar nicht als solche wahrgenommen habe. Meine erste Erinnerung führt mich ins zweite Lehrjahr meiner Ausbildung, in das Modul „Versorgung vonSchmerzpatient*innen“. Die Aussage der Dozentin sollte ich in meiner Pflegelaufbahn nicht zum letzten Mal gehört haben: „Wenn ihr südländisch Patient*innen pflegt, müsst ihr wissen, dass deren Schmerztoleranz deutlich geringer ist als die von Menschen aus dem Westen.
Da wird gerne mal geschrien oder laut geweint, das hat mit Kultur zu tun.“ Angespielt wird hier auf die unter medizinischem Personal weit verbreitete Annahme der Existenz des „Morbus Bosperus“ oder „Morbus Medditereneus“. Schmerzempfinden hänge von der Herkunft ab und dabei seien nicht weiß gelesene Personen besonders hart im
Nehmen und „der Rest“ nun mal eben nicht (Vgl. Wanger, Kilgenstein, Poppel 2020:2). Ich glaube nicht, dass die Dozentin mit ihrer Aussage bewusst und gezielt rassistische Stereotype vermitteln wollte. Vielmehr ging es ihr vermutlich darum, unsere Aufmerksamkeit für die Subjektivität in der Schmerzwahrnehmung zu schärfen. Doch welche Konsequenzen haben die unreflektierte Weitergabe und damit die Aufrechterhaltung solch rassistischer Stereotype im Stationsalltag?
Ich erinnere mich an einen jungen, schwarz gelesenen Mann, der an einem Sonntagabend mit starken Bauchschmerzen zur stationären Aufnahme auf unsere Station eingeliefert wurde. Sein schmerzhaftes Stöhnen störte uns insgeheim. Betätigte der Mann den Pflegeruf, verdrehten wir die Augen. Aussagen wie, „Naja, morgen ist ja auch Montag, keine Lust zu arbeiten“ wurden eher scherzhaft, aber doch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit ausgesprochen. Während des Schreibens und Zurückerinnerns erkenne ich das erste Mal die Intersektionalität, die die Unprofessionalität unseres Verhaltens noch zusätzlich beförderte. Der Patient wurde von uns nämlich nicht nur schwarz, sondern auch männlich gelesen und er befand sich irgendwo am Anfang seiner Zwanziger. Neben unserer Vorstellung, der Mann könne unter Morbus Bosperus leiden, könnten auch unbewusste Annahmen wie „junge männliche Personen sollten Schmerzen aushalten“ unserem Verhalten inne gelegen haben. Und auch wenn wir unsere innere Haltung dem Patient gegenüber nicht offen kommunizierten, bin ich mir heute sicher, dass er unsere gereizte, ungeduldige Stimmung wahrnehmen konnte.
Die Annahme, nicht weiß gelesene Personen würden bei Beschwerden gerne übertreiben und müssten deshalb weniger ernst genommen werden, führt nicht nur nachweislich zu Behandlungsfehlern und zum verspäteten Erkennen medizinischer Komplikationen (vgl. Wanger et al., 2020:2), sondern hat auch psychische Auswirkungen. Ich kann mir vorstellen, dass eine Person, deren Leiden bagatellisiert wird, Beschwerden länger aushält, ohne sie zu kommunizieren. Leid wird dann eher verschwiegen, vielleicht internalisiert der- oder diejenige sogar die externen Rassismen. „Ich bin es nicht wert, dass man mich versorgt, wie meine weißen Mitpatient*innen.“ Studien zeigen außerdem, dass diskriminierende Erfahrungen zur verzögerten Inanspruchnahme medizinischer Versorgung führen und die Zustimmung zu medizinischen Maßnahmen beeinträchtigen (vgl. Kluge/ Heinz/ Udeogu-Gözalan/ Abdel-Fatah 2020:1020).
Innerhalb von Krankenhäusern, die eigentlich einen Ort des Heilens und Genesens darstellen sollen, wird Macht häufig unreflektiert ausgeübt und reproduziert. Diese Machtausübungen stellen sich vielschichtig dar und durchdringen alle Bereiche. Im Kontext von Rassismus zeigen sie sich häufig darin, dass so dargestellte „kulturelle Eigenheiten“ nicht gerne gesehen oder toleriert werden. „Man ist hier in Deutschland im Krankenhaus, also sollte man sich auch wie ein deutscher Patient oder eine deutsche Patientin verhalten“, lautet häufig die Einstellung des medizinischen Personals. Das startet beispielsweise bei der Voraussetzung für Akzeptanz und Unterwerfung gegenüber eines dominanten westlichen Behandlungssystems, dass meist ausschließlich auf Biomedizin ausgerichtet ist und keinen Spielraum für medizinische Pluralität zulässt. Es zeigt sich auch im Umgang mit Trauer und Tod, der hier meiner Erfahrung nach bestenfalls still und diszipliniert und nicht laut klagend und emotional vor sich gehen sollte. Und auch wie häufig der oder die Kranke Besuch zu erhalten hat und wie Angehörige sich verhalten sollen, unterliegt westlichen Regeln und Vorstellungen. Wenn nicht weiß gelesene Patient*innen viel Besuch von Familienmitglieder über mehrere Stunden haben, stößt das beim Stationspersonal schnell auf Unmut. Die Reaktionen innerhalb meines Teams reichten dann regelmäßig von unverschämten Aussagen wie „jetzt kommt da wieder die ganze Großfamilie mit ihrem Essen, gleich stinkt wieder das ganze Zimmer nach Zwiebeln, als würde der/ die hier verhungern bei uns“, als auch zu Zimmerverweisen während der Durchführung von Behandlungen wie Blutdruckmessen und Infusionsgaben. Diese waren eigentlich nicht nötig, sondern sollten in meinen Augen nur demonstrieren, wer hier schlussendlich das Sagen hat.
Gern gesehen wurde nur, wenn Angehörige von BIPOC Pflegemaßnahmen wie Waschen und Anziehen übernahmen, die das Pflegepersonal entlasteten, doch eine Reflexion dieser Doppelmoral fand meiner Erfahrung nach leider nicht statt.
In den bisher aufgeführten Beispielen äußerte sich Rassismus überwiegend auf der persönlichen und zwischenmenschlichen Ebene. Doch innerhalb der Institutionen des Gesundheitswesens ist Rassismus vor allem strukturell verankert. Das fehlende Vorhandensein deutscher Studien zum Thema gibt erste Aufschlüsse auf das mangelhafte Bewusstsein sowie den geringen Willen zur Auseinandersetzung mit der Problematik hierzulande. Struktureller Rassismus ist auf den ersten Blick weniger sichtbar, das macht ihn schwerer zu identifizieren und zu bekämpfen. Im Gesundheitswesen äußert er sich vielseitig: Zum Beispiel in Zugangsbarrieren zu Versorgungsstrukturen (Vgl. Razuum/ Geiger/ Zeeb/ Ronellenfitsch 2004:101), in der Ausbildung und im Studium medizinischer Berufe, sowie in einer Wissenschaft, die in erster Linie auf die Versorgung weißer Menschen ausgerichtet ist (Vgl. Wanger et al., 2020:2,6). Ein aktuelles Beispiel zur Illustration von Ungleichheit aufgrund ethnischer Unterschiede im medizinischen Kontext ist die Coronapandemie. In vielen Ländern zeigen Studien, dass sowohl das Risiko der Aussetzung gegenüber dem Virus als auch die Mortalitätsrate unter Infizierten hohen ethnischen Unterschieden unterliegt (Vgl. Rogers/ Rogers/ VanSant-Webb/ Gu/ Yan/ Qeadan 2020; Platt/ Warwick 2020;
Laurencin/ McClinton 2020). Einen Erklärungsansatz liefert dabei die sogenannte „Wheatering Theory“, die davon ausgeht, dass gesundheitliche Konditionen, die aufgrund ethnischer Unterschiede bestehen, durch strukturelle und allgegenwärtige Benachteiligungen bedingt werden, denen nicht weiß gelesene Personen ausgesetzt sind. Diese Benachteiligungen führen zu einem schlechteren Gesundheitszustand und begünstigen die Chronifizierung von Krankheiten (Vgl. Rogers et al., 2020:312). Chronische Vorerkrankungen wiederrum erhöhen bekanntermaßen das Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf bei Covid-19.
Strukturelle Benachteiligungen können sich außerdem in ökonomische Faktoren äußern: Diese sind beispielsweise eine niedrigere Position auf dem Arbeitsmarkt, geringeres Einkommen und höhere finanzielle Betroffenheit durch Maßnahmen wie Lockdowns, sowie Benachteiligungen in der Wohnsituation durch beengten Wohnraum bewi ärmeren Communities und somit weniger Möglichkeiten zum Social-Distancing (Vgl. Bentley 2020:2).
In Deutschland liegen bedauerlicherweise nur wenige Studien zum Zusammenhang von ethnischen Unterschieden und dem Risiko einer Infektion und einem schweren bis tödlichen Verlauf bei Covid-19 vor, denn repräsentative Daten existieren kaum. Hier besteht also dringender Nachholbedarf: Zukünftige Studien müssen dabei intersektional ausgerichtet sein, um den Einfluss sich überschneidender, diskriminierender Faktoren genau herauszuarbeiten, so dass politische Maßnahmen zur Gegensteuerung zielorientiert entworfen und angewendet werden können.
Während des Verfassens dieses Essays habe ich den Lesenden einen Einblick in Situationen gegeben, die von meinem jüngeren Ich erlebt wurden. Heute, einige Jahre, nachdem ich die Klinik und den Beruf der Gesundheits- und Krankenpflegerin hinter mir gelassen habe, erinnere ich mich häufig beschämt und nachdenklich an die Menschen zurück, die auch unter meiner Mitwirkung, Aufrechterhaltung und Förderung Rassismus im klinischen Alltag erleben mussten. Auch ich habe Auszubildende angeleitet. Obwohl ich mich zumindest nicht erinnern kann, Rassismen direkt an sie weitergegeben zu haben, habe ich ihre Aufmerksamkeit mit Sicherheit nicht dafür geschult, die Strukturen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Heute würde ich anders wahrnehmen, beurteilen und handeln. Ein Bewusstsein für die Problematik setzte bei mir erst gegen Ende meiner Pflegelaufbahn ein. Aufgewachsen in einem unpolitischen, konservativen und bildungsschwachen Kontext, hatte ich das Glück, mit meinem Umzug nach Berlin mit Menschen in Berührung zu kommen, die mir Denkanstöße gaben, meinen Horizont erweiterten und mich zum kritischen Denken anregten. Auch im Abitur, dass ich erst nach meiner Ausbildung auf dem zweiten Bildungsweg nachholte, lernte ich wichtige theoretische Fakten, die mir halfen, Kontexte zu verstehen, Verbindungen zu schlagen und analytisch denken zu lernen. Bis heute befinde ich mich in einem ständigen Prozess des bewussten Verlernens von Gelerntem. Aufgrund meiner Erfahrungen empfinde ich die Annahme, das Anstoßen solcher wichtigen Reflexionsprozesse sei privat und müsse aus eigenem innerem Antrieb erfolgen, schwierig. Meiner Meinung nach sollte die Anerkennung und folglich der Abbau rassistischer Strukturen eine gesellschaftliche Aufgabe darstellen. Die Sensibilisierung für die Thematik sollte schon früh fest in die allgemeine Schulbildung integriert werden. Notwendig dafür ist die bewusste Auseinandersetzung mit postkolonialen Strukturen innerhalb aller Bildungseinrichtungen. Im speziellen Kontext der gesundheitlichen Versorgung halte ich aber regelmäßige, von nicht weiß gelesenen Personen durchgeführte und verpflichtende Fortbildungen und Sensibilisierungstrainings für unerlässlich, genauso wie die Implementierung von Anlaufstellen für BIPoC, die Diskriminierung und Rassismus erfahren haben. Dies könnten erste, wichtige Schritte zu einem fairen Gesundheitssystem sein, dass den Anspruch der Gleichbehandlung aller Menschen unabhängig von Ihrer Hautfarbe und Herkunft nicht nur theoretisch vertritt, sondern in allen Bereichen realisiert.
Literaturverzeichnis
Ruddath, Marthe/ Effenberger, Phillip (2019): Psychiatriepatient William TonouMbobda: Tödlicher Zwang, in: TAZ, 22.07.2019, online unter URL: https://taz.de/Psychiatriepatient–William–Tonou–Mbobda/!5607926/ Abruf: 1.10.2021
Wanger, Lorena/ Kilgenstein, Hannah/ Poppel, Julius (2020): Über Rassismus in der Medizin. Ein Essay der kritischen Medizin München, in: Kritische Medizin München, 14.08.2020, online unter URL: https://kritischemedizinmuenchen.de/wp-content/uploads/2020/08/%C3%9Cber-Rassismus-in-der-Medizin_14.08.2020_KritMedMuc.pdf Abruf: 29.09.2021, Seite 2,6
Qay11111 U. Kluge/ M. C. Aichberger/ E.Heinz/ C. Udeogu-Gözalan/ D.Abdel-Fatah (2020): Rassismus und psychische Gesundheit, in: Nervenarzt, 15.09.2020, online unter URL: https://link.springer.com/article/10.1007/s00115–020–00990–1 Abruf: 30.09.2021, Seite 1020
Razuum, Oliver/ Geiger, Ingrid/ Zeeb, Hajo/ Ronellenfitsch, Ulrich (2004): Gesundheitsversorgung von Migranten, in: Dtsch Arztebl [Heft 43], 26.04.2004, online unter URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/43977/Gesundheitsversorgung-vonMigranten Abruf: 30.09.2021, Seite 101: A 2882–2887
Platt, Lucinda/ Warwick, Ross (2020): Covid 19 and Ethnic Inequalities in England and Wales, in: Fiscal Studies. The Journal of Applied Public Economics, 03.06.2020, online unter URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1475–5890.12228 Abruf: 03.10.2021
Rogers, Tiana,N/ Rogers, Charles R./ , VanSant-Webb, Elizabeth/ Gu, Lily Y./ Yan, Bin/ Qeadan, Fares (2020): Racial Disparities in COVID-19 Mortality Among Essential Workers in the United States, in: WMHP World Medical & Health Policy, 05.08.2020, online unter URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/wmh3.358 Abruf: 03.10.2021, Seite: 312
Bentley, Gillian, R. (2020): Don´t blame the BAME Ethnic and structural inequalities in susceptibilities to COVID-19, in: American Journey of Human Biology, 16.07.2021 online unter URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/ajhb.23478 Abruf: 03.10.2021, Seite: 2
Quelle: Jacqueline Franz, Ein Essay über Rassismus im Gesundheitswesen: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 31.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/31/ein-essay-ueber-rassismus-im-gesundheitswesen/