Die Auswirkungen von Trans*feindlichkeit auf die psychische Gesundheit von trans* Personen

Elise Ferdoun Kedik (SoSe 2023)

1. Einleitung

In den letzten Jahren rücken die Themen Geschlechtsidentität und -vielfalt verstärkt in das öffentliche Bewusstsein. In diesem Zusammenhang hat die Trans*-Community, bestehend aus Menschen, die nicht das Geschlecht sind, dem sie bei der Geburt zugewiesen wurden (Queer-Lexikon, 2023), zunehmend Aufmerksamkeit erhalten. Trotz dieser wachsenden Sichtbarkeit, viel Engagement und Aufklärungsarbeit sehen sich trans* Menschen oder Menschen, die als trans* wahrgenommen werden, immer noch mit Trans*feindlichkeit konfrontiert. Diese manifestiert sich in vielfältigen Formen, sei es in der medialen Berichtserstattung, in gesetzgeberischen Entscheidungen oder im Alltag der Individuen. Die Rechte und das Wohlbefinden von trans*-Personen sind grundlegende Menschenrechtsfragen. Trans*feindlichkeit widerspricht den Prinzipien der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, die in vielen nationalen und internationalen Gesetzen verankert sind.

Im Rahmen der Ausarbeitung des Referatsthemas „Trans*feindlichkeit und die Realität der vielfältigen Diskriminierung“ im Seminar „Gender, Diversity, Gender Mainstreaming“ bin ich auf die verheerenden Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von trans* Menschen gestoßen. Nicht-Akzeptanz der Geschlechtsidentität, Stigmatisierung und Ablehnung scheinen zu einer relevanten psychischen Belastung beizutragen (OttRegli, Znoj, 2017).

Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit dem Thema Trans*feindlichkeit und die Auswirkungen dieser auf die mentale Gesundheit von trans* Menschen. Die Begriffserklärungen und das Minority Stress Modell liefern hierbei den theoretischen Rahmen, um die Ursachen und die Mechanismen hinter diesen Auswirkungen zu verstehen. Durch die Analyse von ausgewählten Studien und Forschungsarbeiten wird versucht die negativen Folgen auf die psychische Gesundheit zu beleuchten und notwendige Maßnahmen zur Bekämpfung aufzuzeigen. Schließlich werden mögliche Ansätze zur Bewältigung, Prävention und zur Verbesserung der psychischen Gesundheit von trans* Personen diskutiert.

2. Theoretischer Hintergrund

Um einen besseren Einblick in die Hausarbeit zu erlangen, werden im theoretischen Hintergrund die für das Verständnis relevanten Begriffe Geschlechtsidentität, trans* und Trans*feindlichkeit erklärt. Im weiteren Verlauf wird eine Einführung in das Minority Stress Modell gegeben und seine Relevanz für das Verständnis der psychischen Gesundheit von trans* Personen dargestellt.

2.1 Begriffserklärungen

Die Geschlechtsidentität beschreibt die innere Überzeugung, einem Geschlecht anzugehören (Lexikon der Psychologie, 2023). Man bekommt bei der Geburt ein Geschlecht zugeschrieben. Bis 2013 wurde im Geburten-Register anhand körperlicher Anzeichen zwischen „männlich“ oder „weiblich“ entschieden. Danach wurde vor allem für Neugeborene, die beide Merkmale der Geschlechter tragen, also „zwischen-geschlechtliche“ Menschen, die Bezeichnung „keine Angabe“ eingeführt. Viele Menschen fanden die neu eingeführte Bezeichnung nicht passend und klagten deshalb. Das Verfassungs-Gericht beschloss daraufhin eine Änderung. Seit 2018 sind die zur Auswahl stehenden Geschlechter in Deutschland ,,weiblich‘‘, ,,männlich‘‘ und „divers“ (Personenstandsgesetz, 2023). ,,Divers“ beinhaltet mehrere Geschlechtsbezeichnungen.

Laut Scheithauer & Niebank (2022) werden im Kleinkindalter bedeutsame Erfahrungen gesammelt, die zu einer Unterscheidung zwischen ,,männlich“ und ,,weiblich“ führen. Des Weiteren beschreiben sie, dass man bei unter Zweijährigen schon eine Geschlechtssterotype-Aneignung beobachten kann. Damit ist gemeint, dass sie sozial geteilte Vorstellungen darüber haben, welche Eigenschaften typisch ,,männliche“ und ,,weibliche“ Personen haben. Das kann sich äußern durch geschlechtstypisierte Kleidung, Spielzeuge oder Verhaltensweisen. Ungefähr im Alter von zweieinhalb Jahren formt sich daraufhin die Geschlechtsidentität. Man kann sich ab diesem Alter einem Geschlecht zuschreiben, dass bei einem Großteil von Personen lebenslang erhalten bleibt (ebd., 2022).

Einige Menschen erleben eine Diskrepanz zwischen ihrem bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht und ihrer eigenenGeschlechtsidentität. In der vorliegenden Hausarbeit liegt der Fokus auf trans* Menschen. Dabei ist zu erwähnen, dass trans* nicht nur auf die binären Geschlechter beschränkt ist, sondern auch das nichtbinäre Geschlecht beinhaltet (Queer-Lexikon, 2023).

Transgeschlechtliche Menschen erleben durch das geschlechterbinäre Denkmuster vermehrt Diskriminierung (Vanagas & Vanagas, 2023). Früher wurde dafür der Begriff Transphobie eingeführt. Allerdings definiert eine Phobie eine Angststörung, weshalb sich der Begriff ,,Trans*feindlichkeit‘‘ bewährte, der den diskriminierenden Charakter hervorhebt (ebd., 2023). Die Auswirkungen von Trans*feindlichkeit auf die psychische Gesundheit werden im Folgenden herausgearbeitet.

Das Ziel einer Einführung in das Minority Stress Modell besteht darin, die Bedeutung dieses Modells für das Verständnis der psychischen Gesundheit von Menschen mit einer geschlechtlichen Vielfalt zu verdeutlichen.

2.2 Minority Stress Modell

Das Minority Stress Modell (Meyer, 2003) bietet einen theoretischen Rahmen für das Verständnis von Auswirkungen auf die mentale Gesundheit im Sinne von Minderheitenstress. Es wurde im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit von homosexuellen und bisexuellen Menschen entwickelt. Minderheitenstress bezeichnet das erhebliche Ausmaß an Stress, dem Mitglieder*innen stigmatisierter Minderheitengruppen (b) ausgesetzt sind. Es erklärt, dass Stigmatisierung, Vorurteile und Diskriminierung ein feindliches und stressiges soziales Umfeld schaffen, das psychische Gesundheitsprobleme verursacht.

Abbildung 1

Stress durch Minderheiten ist in die Umweltbedingungen (a) eingebettet, zu denen Vorteile und Nachteile im Zusammenhang mit Faktoren wie dem sozioökonomischen Status gehören können. Kästchen (a) und Kästchen (b) sind überschneidend dargestellt, um deren enge Wechselwirkung aufzuzeigen. Der Minderheitenstatus führt zu einer persönlichen Identifikation mit dem eigenen Minderheitenstatus (e). Im dargestellten Stressprozess spielen auch die Merkmale der Minderheitenidentität (h) eine unterschiedliche Rolle. Sie können verstärkend oder abschwächend auf die psychische Gesundheit auswirken, z.B. je nach individueller Valenz. Das Modell beleuchtet verschiedene Stressprozesse, einschließlich der Erfahrung von Vorurteilen, der Erwartung von Ablehnung, das Verbergen der eigenen Identität, die internalisierte Diskriminierung und Bewältigungsmechanismen auf sozialer und individueller Ebene (h) (ebd., 2003).

Das Modell teilt separate, aber miteinander verknüpfte Aspekte von Erfahrungen in allgemeine Stressoren (c), wie Arbeitsplatzverlust oder Tod eines nahestehenden Menschen, in distalen Stress (d) und in proximalen Stress (f) ein. Distaler Stress ist externer Stress, der sich aus Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt ergibt, wie Trans*feindlichkeit. Proximaler Stress ist interner Stress, der mit selbstkritischen Überzeugungen zusammenhängt, die sich auf die psychische Gesundheit auswirken (i) können. Auch diese Kästchen sind anliegend dargestellt, um ihre Abhängigkeit dazustellen (ebd., 2003).

Trans* Menschen erleben diese vorher aufgezählten Punkte und sind Teil einer marginalisierten Gruppe, wodurch das Modell für die Beschreibung der Auswirkungen auf die mentale Gesundheit genutzt werden kann.

Im Folgenden wird darauf eingegangen welche möglichen Ursachen existieren, die zur Entstehung von Trans*feindlichkeit beitragen.

3. Ursachen von Trans*feindlichkeit

46 Prozent von 20.271 befragten Lesben, Schwulen, Bi* und Trans* Menschen (LSBT) in Deutschland geben Diskriminierungserfahrungen an (FRA – European Union Agency for Fundamental Rights, 2013). Dabei findet die Ausgrenzung in der Öffentlichkeit, der Freizeit und am Arbeitsplatz statt. (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2016)

Politische Einstellungen können eine Ursache hierfür sein: linkseingestellt Menschen stehen LSBT-Menschen eher positiv gegenüber als Menschen, die sich politisch eher mittig oder recht einordnen (Klocke, 2017). Ebenfalls scheint die religiöse beziehungsweise kulturelle Herkunft eine Rolle für das Auftreten feindlicher Einstellungen zu sein (ebd., 2017). Menschen mit Migrationshintergrund scheinen negativer eingestellt zu sein als Menschen ohne Migrationshintergrund, wobei zu erwähnen ist, dass in vielen Studien unterschiedliche Herkunftsländer zusammengefasst wurden. Vor allem zeigen Menschen mit Hintergrund aus islamischen Ländern und teilweise aus ehemalige UdSSR- Staaten diese negativen Einstellungen. (ebd., 2017)

Menschen neigen dazu, zu kategorisieren, wodurch Stereotypen entstehen und suggeriert werden (Vanagas & Vanagas, 2023). ,,[…] Die vorgegebenen gesellschaftlich anerkannten Kategorien – im Falle des Geschlechts die Kategorien männlich/weiblich – [sind] an gesellschaftliche Erwartungen gebunden wurden, die bei Erfüllung Anerkennung und Inklusion bedeuteten und bei Nicht-Erfüllung in der Regel zu Missachtung und Exklusion führten […]‘‘ (ebd., 2023, S.318). Auch stehen in diesem Zusammenhang Unsicherheiten, da durch trans* Identitäten die soziale Rollenvorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit hinterfragt wird (Friedrich, 2023). Somit sind soziale Privilegien und Rechte nicht am biologischen Geschlecht festzumachen (ebd., 2023).

Die Ursachen für trans*feindliche Einstellungen sind vielfältig und das Thema rückt zunehmend in den Fokus, weshalb die Forschung in diese Richtung weiterhin voranschreitet. Im Folgenden sind die Auswirkungen von Trans*feindlichkeit auf die psychische Gesundheit dargestellt.

4. Auswirkungen von Transfeindlichkeit auf die psychische Gesundheit

Im Minority Stress Modell spielen die verschiedenen Arten von Stress eine entscheidende Rolle, um die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit gegenüber marginalisierten Gruppen zu verstehen. Im Folgendem wird anhand von Ergebnissen und Erkenntnissen aus verschiedenen Studien und Forschungsarbeiten dargestellt, inwiefern Trans*feindlichkeit negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat.

Trans*feindlichkeit lässt sich nicht klar einordnen. Klassisch könnte man sagen, dass es sich um eine Diskriminierungsform handelt und somit als distaler Stress beschrieben wird. Dieser hat jedoch auch Einfluss auf proximalen Stress.

In der Studie von Timmins, Rimes & Rahman (2017) wurden direkte und indirekte Zusammenhänge zwischen Stressoren der Minderheit und psychischer Belastung an einer großen und geographisch vielfältigen Stichprobe (N= 1207) untersucht. Die Erwartung der Ablehnung, die Selbststigmatisierung und die Vorurteilserlebnisse waren alle mit psychischer Belastung verbunden. Die Beziehungen wurden teilweise durch das Grübeln erklärt und zeigte 54,5 Prozent der Varianz der psychischen Belastung und 29,3 Prozent des Grübelns. Die Ergebnisse verdeutlichen die starke Beziehung zwischen den Minderheitsstressoren und psychischen Belastungen von trans* Menschen.

Eine weitere Untersuchung zum Wohlbefinden von trans* Menschen (N= 90) in der Schweiz veranschaulicht Befragungen zu erlebter Nicht-Akzeptanz der Geschlechtsidentität, internalisierter Trans*feindlichkeit, Lebenszufriedenheit und psychischer Belastung (Ott, Regli & Znoj, 2017). Die Auswertung zeigt eine hohe Prävalenz an psychischer Belastung und eine starke negative Korrelation zwischen Minderheitenstress und Wohlbefinden. Internalisierte Trans*feindlichkeit vermittelt einen Zusammenhang zwischen Nicht-Akzeptanz der Geschlechtsidentität und dem Wohlbefinden. Diese Ergebnisse stützen das Minority Stress Modell.

Eine andere Studie zum Thema Genderidentität und sexuelle Orientierung untersucht Opfer in einer Stichprobe von 641 Menschen, die Gewaltverbrechen erlebt haben und eine medizinische Notfallbehandlung in einem öffentlichen Krankenhaus in Anspruch nehmen mussten (Cramer, McNiel, Holley, Shumway & Boccellari, 2012). Die Ergebnisse verdeutlichen, dass lesbische, schwule, bi* und trans* (LSBT) Menschen mit größerer Wahrscheinlichkeit Opfer sexueller Übergriffe wurden. Außerdem leiden LSBT-Menschen signifikant mehr unter akutem Stress und allgemeinen Ängsten (ebd., 2012). Außerdem machen die Forschenden (2012) die Beobachtung, dass die Genderidentität der Opfer den Zusammenhang zwischen Art der Gewalt und dem Auftreten von Paniksymptomen und den Zusammenhang zwischen Traumageschichte und allgemeinen Angstsymptomen moderiert.

Eine weitere Studie (Jefferson, Neilands & Sevelius, 2013) aus diesem Bereich stellt dar, inwieweit der Zusammenhang besteht zwischen trans* Frauen of Colour, die von vielfältiger Diskriminierung betroffen sind, und Depressionen. In dem einfachen logistischen Regressionsmodell mit Exposition gegenüber trans*feindlichen Ereignissen an ein Depressionssymptom-Ergebnis angepasst, bedeutet jede Einheit Anstieg der Exposition trans*feindlichen Ereignissen eine um 3 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit Depressionssymptome zu erleben.

Zu einem signifikanten Ergebnis kommt auch die Online-Umfrage von 2003 mit einer Stichprobe von 1093 trans* Teilnehmenden. Eine hohe Prävalenz von klinischen Depressionen (44,1 %), Angstzuständen (33,2 %) und Somatisierung (27,5 %) werden dokumentiert. Des Weiteren zeigt sich, dass soziale Stigmatisierung in einem positiven Zusammenhang mit psychischer Belastung steht (ebd., 2003).

Ein Erklärungsmodell von Plöderl (2016) legt viele Studien dar, die ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von psychischen Erkrankungen im Zusammenhang mit lesbischen, schwulen, bi*, trans* und inter* Menschen sehen. Dabei arbeitet er heraus, dass die Datenlage für die Gruppe der trans* Menschen noch nicht ausreichend ist. Die Ergebnisse lassen jedoch auf ein erhöhtes Risiko schließen.

Aufbauend auf diesen Informationen gibt es Präventions- und Interventionsstrategien, die vor allem den negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit abschwächen oder verhindern können. Diese werden im Folgenden dargestellt.

5. Präventions- und Interventionsstrategien

Eine Strategie ist es, die Sichtbarkeit von trans* Menschen grundlegend zu erhöhen (Klocke, 2017). Der sogenannte Mere exposure-Effekt, den man auch aus dem Bereich der Werbung kennt, kann dazu führen, dass sich Einstellungen ändern. Es wird positiver auf vertraute Personen reagiert. Aufbau von Vertrautheit durch das Kennenlernen von trans* Persönlichkeiten kann deshalb ein wichtiger Schritt sein (ebd., 2017). Umsetzen kann man das durch Aufklärungsprojekte, Aufklärungsarbeit und Kontaktinterventionen, die vor allem von Autoritäten oder Institutionen gestützt werden (Allport, Clark & Pettigrew, 1954).

Um trans*feindliche Angriffe von vornherein abzuwenden, können geschützte Räume erschaffen und genutzt werden, in denen die Identität selbstverständlich akzeptiert wird (Franzen, 2011). Auch die Einführung von einem Internationalen Tag gegen Homo-, Bi- und Transphobie am 17. Mai 2009 führt zu mehr Sichtbarkeit. Und auch Demonstrationen wie der transgeniale CSD in Berlin sind Wege, um Unsicherheit und Unsichtbarkeit abzubauen.

Eine andere Möglichkeit ist, sich über einen respektvollen zwischenmenschlichen Umgang mit trans*Personen zu informieren (Kailey, 2013). Man kann verschiedenste Literatur nutzen, die für unpassende Fragen sensibilisiert und Unwissende darauf hinweist, welche Bedürfnisse die trans* Community hat. Bespiele hierfür sind, nicht nach Operationen, Geschlecht oder Erfahrungen über Ausgrenzung zu fragen, Personen nicht ungewollt zu outen und die korrekten Pronomen und Namen zu verwenden (ebd.,2013).

Auch institutionell ist es wichtig für trans* Menschen eine Gesetzesgrundlage zu schaffen, wobei eine Reform zum Transsexuellengesetz (TSG) auf den Weg gebrachten werden soll. 2011 wurde vom Bundesverfassungsgericht beschlossen, dass das Gesetz verfassungswidrig ist. Aktuell stehen diese Reform und neue Gesetzesentwürfe in Diskussion.

Ebenfalls von großer Bedeutung sind pädagogische Einrichtungen, wie Schulen, um aufzuklären, die Lebenswirklichkeit von trans* Menschen in Schulbüchern darzustellen und das Thema Genderidentität im Allgemeinen einen Raum zu geben, um Vorurteile frühzeitig abzubauen, aber auch positive Erfahrungen zu schaffen (Krell, 2019).

Die vorangegangenen Strategien zur Prävention und Intervention zielen vor allem auf den Abbau von Vorurteilen ab und auf den Schutz vor Trans*feindlichkeit. Haben Menschen diese feindlichen Erlebnisse in ihrem Leben durchgemacht, ist es wichtig, auch hier Schutz und Hilfe anzubieten, um die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit einzudämmen. Allerdings haben viele trans* Menschen Vorbehalte gegen eine psychotherapeutische Behandlung, da sie auch immer noch von der Krankenkasse in Deutschland gefordert wird, um eine geschlechtsangleichende Behandlung zu übernehmen. Auch wird in Therapien eher geprüft und versucht umzustimmen, da früher das Trans*-Sein als psychische Störung eingeordnet wurde. Dabei sollte die Entscheidung zu einer psychotherapeutischen Behandlung individuell getroffen werden und nicht als Grundlage für die Auslebung einer eigenen Identität genutzt werden.

Die trans* Community stellt ebenso eine große Ressource für die mentale Gesundheit da, worauf in der Hausarbeit aufgrund von Limitationen nicht weiter eingegangen wird.

6. Zusammenfassung/Diskussion

Zusammenfassend kann bezüglich der in der Hausarbeit gewonnenen Erkenntnisse gesagt werden, dass obwohl ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen bei trans* Personen zum Teil auf Geschlechtsdysphorie zurückzuführen sein kann (Leiden, das aus der Inkongruenz zwischen dem zugewiesenen und dem erlebten Geschlecht), trans* Personen einem sozialen Umfeld mit Vorurteilen gegen trans* und soziale Stigmatisierung, bekannt als Trans*feindlichkeit, ausgeliefert sind (Norton & Herek, 2013).

Das Wohlbefinden spielt eine entscheidende Rolle bei der psychischen Gesundheit jedes Individuums. Trans* Menschen haben mit einer Vielzahl von Belastungen zu kämpfen, die das Wohlbefinden beeinträchtigen und somit auch ihre mentale Gesundheit. Dazu gehören soziale Stigmatisierung, Diskriminierung, Vorurteile, Gewalt und Trans*feindlichkeit, die diese Probleme erheblich verschärfen. Die permanente Angst vor Diskriminierung und Gewalt, die viele trans* Personen begleitet, belastet ihre psychische Gesundheit. Depressionen, Angstzustände, Suizidalität, posttraumatische Belastungsstörungen und Selbstverletzung sind einige der Auswirkungen.

Das in der Literatur gefundene Minority Stress Modell ließ sich anhand der vorgestellten Studien belegen und stellt eine wichtige Grundlage da, um zu verstehen, wie es durch täglich erlebten Stress zu psychischen Belastungen bei trans* Menschen kommen kann.

Es ist unerlässlich, trans* Menschen auf unterschiedlichen Ebenen zu unterstützen, Trans*feindlichkeit zu bekämpfen und für betroffene Menschen einzustehen.

7. Resümee

In meiner zukünftigen Arbeit als Psychotherapeutin möchte ich besonders auf die Bedürfnisse von trans* Menschen achten. Es ist besorgniserregend, was Menschen erleben müssen, die sich nicht ihrem zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen. Ich denke, dass es eine sehr wichtige Aufgabe ist, die Psychotherapie hier weiter auszubauen und auf das Individuum anzupassen. Das sehe ich auch in meiner aktuellen Beschäftigung speziell mit suchterkrankten Menschen. Sie erleben soziale Stigmatisierung durch ihre Erkrankung und bei einer anderen Geschlechtsidentität zusätzliche Diskriminierung, was zum Teil ihre Grunderkrankung beeinflussen kann. In diesem Bereich ist die Forschung noch ganz am Anfang und ich denke, dass vor allem Mehrfachdiskriminierung zunehmend einen Bereich in der psychologischen Forschung einnehmen wird.

Des Weiteren braucht es mehr Strategien, um Trans*feindlichkeit zu verhindern.

Auch habe ich in meiner Literaturrecherche gesehen, dass die Forschung im Bereich der Genderidentität weiter ausgebaut werden sollte, auch da das Thema zunehmend an Relevanz gewinnt und mehr Menschen zu ihrer Geschlechteridentität stehen.

Literaturverzeichnis

Allport, G. W., Clark, K., & Pettigr ew, T. (1954). The nature of prejudice.

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2016): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland: Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung und einer Betroffenenbefragung. Berlin.

Bockting, W. O., Miner, M. H., Swinburne Romine, R. E., Hamilton, A., & Coleman, E. (2013). Stigma, mental health, and resilience in an online sample of the US transgender population. American journal of public health103(5), 943-951.

Cramer, R. J., McNiel, D. E., Holley, S. R., Shumway, M., & Boccellari, A. (2012). Mental health in violent crime victims: Does sexual orientation matter? Law and Human Behavior, 36(2), 87–95. https://doi.org/10.1037/h0093954

Claudia Krell: „Schule ist nochmal eine ganz andere Sache“. In: Gender – Wissen – Vermittlung: Geschlechterwissen im Kontext von Bildungsinstitutionen und sozialen Bewegungen. Springer Fachmedien, Wiesbaden 22019, ISBN978-3-658-27700-0, S. 169–192, doi:10.1007/978-3-658-27700-0_10

FRA – European Union Agency for Fundamental Rights (2013): European Union lesbian, gay, bisexual and transgender survey: Results at a glance. (978-92-9239-173-7). Luxembourg: Publications Office of the European Union. Verfügbar unter https://fra.europa.eu/sites/default/files/eu-lgbt-survey-results-at-a-glance_en.pdf. Abgerufen am 15.09.2023

Florian Friedrich (2023). Trans*Phobie / Trans*Negativität – Gewalt gegen trans*Menschen. Abgerufen am 15.09.2023 von https://www.psychotherapie-salzburg.de/transphobie-trans-negativitaet-und-gewalt-gegen-trans-menschen-teil-1

https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/geschlechtsidentitaet/5801 Abgerufen am 13.09.2023 Stichwort: Geschlechtsidentität

Jannik Franzen (2011). Transphobie in LSBTI-Kontexten. In: LesMigraS – Antigewalt- und Antidiskriminierungsbereich der Lesbenberatung Berlin e. V. (Hrsg.): Empowerment in Bezug auf Rassismus und Transphobie in LSBTI-Kontexten: Verbindungen sprechen. 

Jefferson, K., B. Neilands, T. and Sevelius, J. (2013), „Transgender women of color: discrimination and depression symptoms“, Ethnicity and Inequalities in Health and Social Care, Vol. 6 No. 4, pp. 121-136. https://doi.org/10.1108/EIHSC-08-2013-0013

Klocke, U. (2017). Homo-und Transfeindlichkeit in Deutschland: Erscheinungsformen, Ursachen und Interventionsmöglichkeiten. Wer will die hier schon haben, 291-308.

 Matt Kailey: Ten Things Not to Say to a Trans Person. (Memento vom 29. März 2013 im Internet Archive) In: Tranifesto.  (englisch).

Matt Kailey: Trans Etiquette for Non-Trans People. (Memento vom 16. März 2013 im Internet Archive) In: Tranifesto. (englisch).

Meyer, I. H. (2003). Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: Conceptual issues and research evidence. Psychological Bulletin, 129(5), 674–697. https://doi.org/10.1037/0033-2909.129.5.674 

Norton, A. T., & Herek, G. M. (2013). Heterosexuals’ attitudes toward transgender people: Findings from a national probability sample of US adults. Sex roles68, 738-753.

Ott, A., Regli, D., & Znoj, H. (2017). Minoritätenstress und soziale Unterstützung: Eine Online-Untersuchung zum Wohlbefinden von Trans* Personen in der Schweiz. Zeitschrift für Sexualforschung30(02), 138-160.

Personenstandsgesetz, Bundesgesetz, Bundesrepublik Deutschland, Inkrafttreten der letzten Änderung: 21.07.2023

Plöderl, M. (2016). LSBTI und psychische Gesundheit: Fakten und Erklärungsmodelle. Psychotherapie-Wissenschaft6(2), 140–151. Abgerufen am 13.09.2023 von https://psychotherapie-wissenschaft.info/article/view/257

Queer-lexikon.net Abgerufen am 15.09.2023 Stichwort: trans*

Scheithauer, H., & Niebank, K. (Hrsg.). (2022) Entwicklungspsychologie. Entwicklungswissenschaft des Kindes-und Jugendalters. Neuropsychologische, genetische und psychosoziale Aspekte der Entwicklung. In Entwicklung von Persönlichkeit, Selbst und Identität Pearson. Kap.8

Timmins, L., Rimes, K. A., & Rahman, Q. (2017). Minority stressors and psychological distress in transgender individuals. Psychology of Sexual Orientation and Gender Diversity, 4(3), 328–340. https://doi.org/10.1037/sd0000237

Transsexuellengesetz – TSG) vom 10. September 1980 (BGBl. I S. 1654) 

Vanagas, Annette and Vanagas, Waldemar. Das Selbstbestimmungsgesetz: Über die Diskurse um Transgeschlechtlichkeit und Identitätspolitik, Bielefeld: transcript Verlag, 2023., Transnegativität und Transfeindlichkeit im Kontext der Diskurse, Kap.4.5 https://doi.org/10.1515/9783839467190 


Quelle: Elise Ferdoun Kedik, Die Auswirkungen von Trans*feindlichkeit auf die psychische Gesundheit von trans* Personen, , in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 05.12.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=413

Die Kolonialzeit, Unabhängigkeitsbewegung und die Formung des heutigen Pakistans

Abb. 1: Collage zur Kolonialgeschichte von Pakistan

Munaam Baig (SoSe 2023)

Einleitung

Ich komme aus Karachi, einer Stadt in Pakistan. In Gesprächen fällt mir oft auf, dass viele Leute gar nicht wissen, dass Pakistan existiert und noch lange nicht, wo es geographisch liegt. Einige machen die Verbindung, dass es ein Teil von Indien ist oder in der Nähe von Indien liegt. Andere kennen Pakistan nur aus den Nachrichten über Überflutungen, Dürren und Hunger. Verglichen mit den großartigen Assoziationen von Reichtum und Innovationen mit den westlichen Ländern, fällt auf, wie negativ die Assoziationen mit Pakistan ausfallen. Ich bin sehr früh nach Berlin gezogen, womit ich in Berlin aufgewachsen bin. Meine enge Familie lebt jedoch weiterhin in Pakistan und auch meine Eltern haben mich mit Ihrer Kultur aufgezogen und geprägt. Die ständigen Besuche nach Pakistan haben mir gezeigt, wie einfach Vorurteile geschaffen werden können, was durch die westliche Perspektive bewusst oder unbewusst übermittelt wird, da selbst ich diesen Vorurteilen geglaubt hatte. Rassistische Äußerungen werden nicht direkt und öffentlich gemacht, jedoch existieren diese Muster weiterhin unbewusst und zeigen sich auf verschiedenste Weisen.

In diesem Essay wird versucht herauszufinden, wodurch das heutige Bild Pakistans beeinflusst wurde bzw. wird. Die Kolonialgeschichte, von der frühen Präsenz europäischer Mächte bis hin zur Entstehung von einer unabhängigen Nation, wird hierbei unter die Lupe genommen und analysiert. Die daraus folgende Leitfrage lautet: Kolonialismus und Unabhängigkeit: Wie prägt die Vergangenheit Pakistans die heutige globale Stellung?

Um der Beantwortung der Leitfrage näher zu kommen, wird die Kolonialgeschichte Pakistans kurz zusammengefasst und wichtige Prozesse genannt, die schließlich zur Unabhängigkeit und Teilung des Landes geführt haben. Daraufhin wird auf die sozialen, politischen und kulturellen Aspekte eingegangen, die drastisch durch den kolonialen Einfluss transformiert wurden und bis heute in vielen Dynamiken eine Rolle spielen. Außerdem wird darauf eingegangen, wie diese Erfahrungen die heutige Perzeption Pakistans geformt haben, wie dies global präsentiert wird und inwiefern die Kolonialvergangenheit für die heutigen Defizite verantwortlich ist.

Kolonialgeschichte Pakistans

Die Kolonialgeschichte Pakistans besteht aus mehreren Epochen und startet mit der Kolonisation von Indien. In diesem Essay fokussieren wir uns auf drei Epochen, die besonders wichtig sind, um den späteren Zusammenhang besser verstehen zu können.

Ostindien-Kompanie

Bevor die britische Kolonialherrschaft begann, gab es drei ausschlaggebende Epochen zuvor.  In der frühe Kolonialherrschaft 16. Jahrhundert bis ca. Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in Indien Handelspräsenz von verschiedenen europäischen Ländern wie Portugal, den Niederlanden und Großbritannien. Zu dieser Zeit etablierte die britischen Ostindien-Kompanie Handelsstützpunkte in Indien, wodurch die politische und wirtschaftliche Dominanz der Kolonialmächte in einigen Gebieten begann. Die britische Ostindien-Kompanie regierte von 1757-1858. Durch gewalttätige Auseinandersetzungen stieg die Macht der Ostindien-Kompanie. Die britische Kontrolle nahm immer größere Teile Indiens ein. Praktiken wie wirtschaftliche Ausbeutung, Landbesteuerung und soziale Veränderungen nahmen zu. Im Jahr 1857 kam es zu einem Aufstand der Einheimischen, dieser wurde jedoch durch die Ostindien-Kompanie niedergeschlagen. Im Jahre 1858 endete die Herrschaft der britischen Ostindien-Kompanie und es kam zu einer direkten Übernahme durch die britische Krone (WENDE, 2010, S. 112).

Britische Kolonialherrschaft: 1858-1947

Die Übernahme verlief ohne große Probleme, da die größten Teile Indiens schon unter britischer Macht standen. In der Collage (siehe VII) sind oben rechts jeweils indische Bedienstete und Polizisten zu sehen, wie sie für die britischen Familien, die in Indien stationiert waren, arbeiteten. Es waren Jobs wie Bedienstete, Haushaltshilfen, Babysitter, Putzfrauen und Polizisten zum Schutz. Positionen der Befehlshaber wurden ausschließlich von weißen britischen Männern geführt, um die bestehende Hierarchie in der kolonialen Gesellschaft deutlich zu machen.

„Kolonialismus konnte nur damit legitimiert werden, dass die Unterworfenen als ungebildet und barbarisch in Bezug auf die eigenen Ideale und Werte dargestellt wurden, und sich damit rechtfertigte, sie mittels der Kolonisierung auf diese Ideale und Werte hin umzuerziehen. Der Kolonialismus konnte sich nur während dieser »Erziehungszeit« als notwendig ansehen, wodurch die Kolonialherren möglichst lange das Erreichen des »Erziehungsziels« herauszögern mussten, um ihre Legitimationsgrundlage zu erhalten.“ (BROECK, 2012, S. 105). Die Kontrolle über Indien sorgte für eine tiefgreifende Transformation der politischen Strukturen, der Wirtschaft und der sozialen Normen. Diese Ära hatte nicht nur Auswirkungen auf Indien als Ganzes, sondern ebnete auch den Weg zur späteren Gründung des unabhängigen Staates Pakistan im Jahr 1947. Die britische Kolonialherrschaft brachte starke wirtschaftliche Ausbeutung mit sich. Die indische Wirtschaft wurde auf die Bedürfnisse der Kolonialmacht ausgerichtet und zugeschnitten, was zu einer Deindustrialisierung und einer starken Abhängigkeit von landwirtschaftlichen Produkten führte. Die Einführung der Eisenbahn diente nur britischen Interessen und führte zu einer gewissen Modernisierung, die jedoch auf Kosten der einheimischen Bevölkerung ging, da diese nicht beachtet wurden. Diese führte zu mehreren Hungerskatastrophen, die in den Jahren 1876–1878 und 1899–1900 zahllosen Opfer kosteten. Allein 1877, ein Jahr nachdem Königin Viktoria zur Kaiserin von Indien wurde, starben dort aufgrund der Vernachlässigung der einheimischen Bevölkerung fünf Millionen Menschen den Hungertod (WENDE, 2010, S. 121).

Neben der direkten Administration von Regionen arbeiteten die Briten mit großen und kleineren indischen Führern, die die Briten als eine Oberhoheit ansahen, um in Ihren Gebieten einige Freiheiten zu bekommen. Die britische Kolonialmacht hat dafür gesorgt, dass die indischen Führer keine Verhältnisse untereinander hatten, um diese besser kontrollieren zu können und um eine mögliche Kooperation gegen die Kolonialherren auszuschließen (BOSE/JALAL, 2011, S. 54). Indien war der große überseeische Machtblock, bestehend aus dem Gebiet des direkt verwalteten Britisch-Indien und zahlreichen indischen Fürstentümern, die indirekt durch Großbritannien beherrscht wurden (WENDE, 2010, S. 17). “Power may have been exercised through indirect means, but it was not in any more than a formal sense limited in its potential to stamp out resistance.” (BOSE/Jalal, 2011, S. 55). Die britische Kolonialmacht hat ihre Macht nicht offen gezeigt, jedoch war die indirekte Methode stark genug, um jede Art von Widerstand zu zerdrücken. Widerstand wurde mit extremer Brutalität bekämpft (SIEBER, 2012, S. 104). Die Kolonialherren hatten nicht nur vor aktivem Widerstand Angst, denn dieser konnte meist als Barbarei brandmarken und mit Militärtechnik niederschlagen. Besonders ängstigten sie jedoch die angepassten Kolonisierte: Hybride Subjekte, die immer ähnlicher wurden, sowohl im Denken als auch im Verhalten, und trotzdem weiterhin Spuren der anderen Herkunft in sich trugen. Dies verwirrte die Kolonialherren, da eine Gleichheit und Differenz Ihnen entgegen stand, “as a subject of a difference that is almost the same, but not quite” – “almost the same but not white” (BHABHA, 1994, S. 86, 89).

Entgegen der Bemühungen trug die britische Herrschaft paradoxerweise selbst zur Entwicklung von Nationalismus und Identität bei. Die Erkenntnis der gemeinsamen Unterdrückung durch die Kolonialmacht führte zur Bildung eines gemeinsamen indischen Bewusstseins. Gleichzeitig wurde jedoch auch die Idee der gespaltenen Identität gefördert, was später zur Teilung des Landes führte (WENDE, 2010, S. 121).

Teilung und Unabhängigkeit: 1947

Der wachsende Widerstand gegen die britische Vorherrschaft führte zur Entstehung von Organisationen, mit dem Ziel der Unabhängigkeit durch Verhandlungen, die die Interessen der einheimischen Bevölkerung repräsentierten. Die wichtigste Figur der Unabhängigkeit Pakistans war Muhammad Ali Jinnah, der links oben in der Collage vor der pakistanischen Flagge zu sehen ist (siehe VII). Jinnah wurde am 25. Dezember 1876 in Karachi geboren und studierte Recht in Großbritannien. Er begann seine politische Karriere als Mitglied des Indischen Nationalkongresses, der zu dieser Zeit auf eine gemeinsame Unabhängigkeit von Großbritannien hinarbeitete.  Gandhi war ein indischer Anwalt, antikolonialer Nationalist und politischer Ethiker, der gewaltlosen Widerstand einsetzte, um die erfolgreiche Kampagne für die Unabhängigkeit Indiens von der britischen Herrschaft anzuführen. In der Collage (siehe VII) sieht man Jinnah und Gandhi zusammen lächelnd, mittig vom Bild. Beide hatten große Wertschätzung füreinander und arbeiteten als Team für die Befreiung ihres Landes Indien im Indischen Nationalkongress. Später trat Jinnah aus dem Kongress aus und schloss sich der All India Muslim League an, da er zunehmend besorgt über die Interessen der muslimischen Minderheit in Indien war. In der Collage (siehe VII) unten links ist die All India Muslim League zu sehen. Jinnah war ein eloquenter Befürworter der muslimischen Identität und betonte die Notwendigkeit eines eigenen Staates für die muslimische Bevölkerung. Er argumentierte, dass Muslime in einer hindu-dominierten Mehrheit in Indien in ihrer Kultur, Religion und politischen Vertretung gefährdet wären. Er führte die Muslim League in Richtung der Forderung nach einem unabhängigen muslimischen Staat. Jinnah war einer der Hauptgründer der Lahore-Resolution von 1940, die die Schaffung eines eigenständigen muslimischen Staates forderte. Unterdessen verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften in verschiedenen Regionen Indiens stark.

Zu Beginn des Jahres 1947 bestand Londons Hauptpriorität darin, Indien so schnell wie möglich zu verlassen, bevor die antikoloniale Politik noch radikaler wurde als ohnehin schon und die kommunale Gewalt noch gefährlichere Ausmaße annahm. Im ganzen Land gab es Berichte über Bauern-, Arbeiter- und Jugendunruhen, die sich zum Aufstand erhoben. Nach den Unruhen in Bengalen und Bihar Ende 1946 verschlechterte sich die kommunale Situation im Punjab ab Januar 1947 stetig. Diese unzähligen Konflikte entlang der Klassen- und Gemeinschaftsgrenzen bildeten die Grundlage für eine Verständigung zwischen dem Oberkommando des Kongresses und London. Schließlich verkündetet der britische Premierminister Clement Attlee am 20. Februar 1947, dass die Briten Indien bis zum 30. Juni 1948 verlassen würden (BOSE/JALAL, 2011, S. 150).

Jetzt musste das britische Parlament nur noch die notwendigen Gesetze verabschieden, um die Macht auf zwei neue Gebiete zu übertragen, was im Juli ordnungsgemäß geschah. Der Kongress und die Briten stellten Jinnah am Ende vor die Wahl: Entweder ein ungeteiltes Indien ohne Garantie für den muslimischen Machtanteil im gesamtindischen Zentrum, oder ein souveränes Pakistan, das aus den mehrheitlich muslimischen Bezirken bestehen solle (BOSE/JALAL, 2011, S. 153). Für Jinnah war Pakistan das Mittel, um den Muslimen im gesamtindischen Zentrum einen gerechten Machtanteil zu sichern. Bestätigende Beweise dafür, dass der Quaid-e-Azam den Islam nie als Religion zur Beherrschung des Staates Pakistan vorsah, finden sich in seiner Ansprache an die allererste Sitzung der verfassungsgebenden Versammlung Pakistans am 11. August 1947: “You are free to go to your temples, you are free to go to your mosques or to any other place of worship in this state of Pakistan. . .. You may belong to any religion or caste or creed – that has nothing to do with the business of the State. . .. We are starting with this fundamental principle that we are all citizens and equal citizens of one State.” (Why JI – Jinnah Institute) (BOSE/JALAL, 2011, S. 160). Jinnah spielte eine wichtige Schlüsselrolle in den Verhandlungen mit der britischen Regierung und den indischen politischen Führern, die zur Teilung des Subkontinents führten. Am 14. August 1947 wurde Pakistan als unabhängiger Staat für Muslime gegründet. Jinnah wurde der erste General Gouverneur Pakistans.

Postkoloniale Auswirkungen der Kolonialen Mächte

In dem geschichtlichen Abschnitt wurden einige Auswirkungen der Kolonialen Mächte schon genannt. In diesem Abschnitt sollen diese Aspekte nochmals eingeteilt und tiefer in den postkolonialen Kontext gesetzt werden, um die heutige Situation besser verstehen zu können.

Die konstante Ausbeutung des Landes sorgte dafür, das im Jahr 1947, zum Zeitpunkt der Entlassung in die Unabhängigkeit, Indien und Pakistan zu den ärmsten Ländern der Welt zählten. Mehr als 50% der ländlichen Bevölkerung waren nicht in der Lage, sich ausreichend zu ernähren, da eine dem freien Markt ausgesetzte Landwirtschaft nicht mehr genügend Grundnahrungsmittel produzierte. Das britische Königreich verlass die ehemaligen Kolonien in einem sehr ungünstigen Zustand. Einer dysfunktionalen Wirtschaft, ohne dass in dem Land ausreichende Grundlagen für eine eigene Industrialisierung geschaffen wurden (WENDE, 2010, S. 121). Die ersten Jahre nach der Unabhängigkeit waren sehr harte Jahre, die weiterhin viele Menschenleben kosteten.

Die Bedürfnisse der einheimischen Bürger wurden außen vorgelassen, da das Mutterland höchste Priorität hatte. Der Umsatz, der auf dem globalen Markt durch indische Produkte erzielt wurde, wurde zur Finanzierung der Kolonialen Mächte und Kolonialer Infrastruktur genutzt und ebenfalls an das Mutterland geschickt, um dieses weiter ausbauen zu können und prächtiger gestalten zu können. Selbst in der postkolonialen Ära sind die Spuren der Kolonialzeit weiterhin bestehend: „Koloniale Muster von Unterwerfung und Unterdrückung existieren auch nach dem Kolonialismus fort.“ (KASTNER, 2012, S. 94). Die heutige Infrastruktur der Eisenbahn spiegelt die damalige Intention weiterhin wider. Die einseitigen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen der Kolonialmacht in den Ausbau des Streckennetzes zu investieren, war nie für den möglichen Nutzung der Einheimischen vorgesehen (Vgl. Ian J. Kerr, 2007). Die für die Wirtschaft damals relevanten Gebiete besitzen eine Bahn Anbindung, während weniger relevante Orte außen vorgelassen werden und durch Vernachlässigung weiterhin strukturell schwach sind.

Die europäische Moderne, die Freiheit und Demokratie befürwortet, ist unmittelbar bedingt durch Eroberung, Verwüstung, genozidaler Vernichtung, Verschleppung, kultureller Auslöschung und kolonialer Ausbeutung von Menschen und Ressourcen anderer Völker (BROECK, 2012, S. 169, 170). Diese Vergangenheit sorgt weiterhin dafür, dass ehemalige Kolonien bis heute strukturelle Defizite aufweisen und aus ihrem Teufelskreis der Verschuldung und Abhängigkeit nicht entkommen können.

Wohingegen Indien inzwischen wirtschaftlich wächst und eine große Präsenz im globalen Diskurs hat, als größte Demokratie der Welt, kann von Pakistan nicht das gleiche behauptet werden. Aufgrund von Korruption und der ständigen Änderung der Regierungsform ist eine positive Entwicklung weiterhin nicht möglich.

Pakistan Heute

Die Pakistanische Flagge repräsentiert mit der dunkelgrünen Farbe, dem Mond und Stern die 90% muslimische Bevölkerung, die weiße Fläche der Flagge repräsentiert die 10% Minderheit, die sich aus anderen religiösen Gruppen zusammensetzt, wie in der Collage zu sehen ist (siehe VII). Die Idee für Pakistan war es, einen Staat zu schaffen, in dem sich Minderheiten ohne sorgen wohlfühlen können.

In dem heutigen globalen Diskurs bleibt Pakistan weiterhin, wie zu den Zeiten seiner Gründung, ein armes Land. Seit seiner Gründung leidet Pakistan an politischer Instabilität. Jinnah starb am 11. September 1948. Die Präsidenten*innen die danach gewählt wurden, waren entweder korrupt oder wurden durch Attentate ermordet. Bis jetzt hat in der Geschichte Pakistans noch kein*e Präsident*in die volle Amtszeit beendet. Viele dieser Ereignisse sind auf die Kolonialvergangenheit zurückzuführen, die dafür sorgt, dass ehemalige Kolonien nicht die Ressourcen besitzen, um an dem Weltmarkt teilzunehmen. Dieses Bild der Unsicherheit und fehlenden Entwicklung wird durch die Wiedergabe in der westlichen Welt weiterhin reproduziert. In der postkolonialen Theorie wird dieses Phänomen des Fortlebens kolonialer Muster nach dem Kolonialismus als Teil einer »Kolonialität« angesehen (KASTNER, 2012, S. 94). Kolonialität wird als Prozess der von Dekolonisierung und nation building hinaus als „Maschine“ gesehen, die im Rahmen der globalen Netzwerk-Gesellschaft soziale Ungleichheit reproduziert (D. MIGNOLO, 2001, S. 426). Die Ungleichheiten, die während der Kolonialzeit entstanden, werden in der westlichen Perspektive weiterhin bewusst und unbewusst reproduziert.

Schlussfolgerung

Die mehr als drei Jahrhunderte, während denen Großbritannien die Herrschaft über ein riesiges Kolonialreich hatte, haben unsere heutige globale Welt vielfach geprägt. Viele Staaten sind in ihren Grenzen und in ihrer demographischen Struktur die Resultate britischer Kolonialherrschaft. Indien und Pakistan sind zwei der vielen Staaten.  Viele Konflikte, die bis heute noch existieren, sind oftmals Hinterlassenschaften britischer Kolonialherrschaft. Während einige Länder sich inzwischen trotz ihrer kolonialen Vergangenheiten weiter entwickeln konnten, ist dies nicht der Fall für Pakistan, ein Land das erst 75 Jahre alt ist. Gegründet, damit Minderheiten eine Stimme bekommen und ein Ort geschaffen wird, an dem sie ohne Angst leben können. All die Bürger*innen, Politiker*innen und Anwält*innen wie Muhammad Ali Jinnah, die für die Unabhängigkeit und Freiheit der Einheimischen gekämpft haben. All die Opfer, die erbracht wurden, die zahlreichen Konflikte und Aufstände von Menschen, die nur menschlich behandelt werden wollten. Nicht nur in Indien und Pakistan, sondern auf der ganzen Welt: Diese Menschen inspirieren und prägen alle zukünftigen Generationen, für ihre Rechte zu kämpfen. Auch wenn diese Stimmen nicht gleich viel gehört werden bedeutet das nicht, dass diese Stimmen nicht existieren. Sie existieren und werden weiterhin gehört, von Leuten, die bis heute für ihre Freiheit kämpfen.

Muhammad Ali Jinnah bleibt eine faszinierende Persönlichkeit, die die Entstehung Pakistans geprägt hat. Er hat sein ganzes Leben und seinen Einsatz Pakistan gewidmet. Seine Vision und sein Einsatz für unterdrückte Minderheiten haben eine dauerhafte Wirkung auf die Geschichte und Identität des Landes hinterlassen. Sein Vermächtnis als „Quaid-e-Azam“ lebt in der pakistanischen Geschichte und Kultur weiter. Er wird oft als Symbol für Führung, Entschlossenheit und die Vision eines starken und unabhängigen Pakistans betrachtet.

Jede Art von Widerstand, ob aktiv oder passiv, ist eine wahre Inspiration, die zeitlos ist und uns immer daran erinnert, dass man seine Hoffnung niemals aufgeben sollte. Der Weg mag hart und ermüdend sein, jedoch ist jede Art von Anstrengung es wert, dass man sich für die Freiheit der Unterdrückten einsetzt.

Literaturverzeichnis

BHABHA, H. K. (1994): The Location of culture. London u. a.: Routledge. 408 S.

BOSE S. JALAL A., (2011): Modern South Asia: History, Culture, Political Economy. Second Edition. London u. a.: Routledge. 270 S.

BROECK, S. (2012): Dekoloniale Entbindung. In: Reuter, J., Karentzos, A. (eds) Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden. VS Verlag für Sozialwissenschaften. ‎375 S.

BRUNNER, M. P. (2021): Schooling the Subcontinent: State, Space and Society, and the Dynamics of Education in Colonial South Asia. London u. a.: Routledge. 534 S.

FISCHER-TINE, H. (2022): Kolonialismus zwischen Modernisierung und Traditionalisierung. Die britische Herrschaft in Indien. (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/indische-unabhaengigkeit-2022/510895/kolonialismus-zwischen-modernisierung-und-traditionalisierung/) (zuletzt aufgerufen 20.08.2023)

GILMARTIN, D. (1998): Imagining Pakistan: Colonialism, Nationalism, and the Long View of History. In: The Journal of Asian Studies Vol. 57, No. 4. Durham, North Carolina. Duke University Press. 1068-1095 S.

JALAL, A. (1985): The Sole Spokesman: Jinnah, the Muslim League, and the Demand for Pakistan. Cambridge. Cambridge University Press. 336 S.

KASTNER, J. (2012): Klassifizierende Blicke, manichäische Welt. In: Reuter, J., Karentzos, A. (eds) Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden. VS Verlag für Sozialwissenschaften. ‎375 S.

KERR, I. J. (2006): Engines of Change: The Railroads That Made India. Westport. Praeger. 224 S.

LOSSAU, J. (2012): Postkoloniale Geographie. Grenzziehungen, Verortungen, Verflechtungen. In: Reuter, J., Karentzos, A. (eds) Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden. VS Verlag für Sozialwissenschaften. ‎375 S.

MIGNOLO, W. D. (2021): The Politics of Decolonial Investigations (On Decoloniality). Durham, North Carolina. Duke University Press. 736 S.

PURUSHOTHAM, S. 2021: From Raj to Republic: Sovereignty, Violence, and Democracy in India. Redwood City. Stanford University Press. 360 S.

SAID, E. W. (2003): Orientalism. London, Ncw York: Penguin. 432 S.

SAID, E.  W. (1993/1994): Culture and Imperialism. New York: Vintage. 528 S.

SIEBER, C. (2012): Hybridity – Hybridität. In: Reuter, J., Karentzos, A. (eds) Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden. VS Verlag für Sozialwissenschaften. ‎375 S.

WENDE, P., (2010): Vom Inselstaat zum Weltreich: Anmerkungen zum Aufstieg und zur Struktur des Britischen Empire. In: Zeitschrift für Weltgeschichte Interdisziplinäre Perspektiven Jahrgang 11, Heft 2 (Herbst 2010) ZWG 11|2 herausgegeben von Hans-Heinrich Nolte Für den Verein für Geschichte des Weltsystems

Bild Quellen

https://www.constitutionofindia.net/blog/our-independence-movement-constitution/ (zuletzt aufgerufen: 02.08.2023)

https://www.constitutionofindia.net/blog/our-independence-movement-constitution/ (zuletzt aufgerufen: 02. 08.2023)

https://microform.digital/boa/series/16/india-under-colonial-rule-1752-1933 (zuletzt aufgerufen: 03.08.2023)

https://www.pngegg.com/en/png-exlky (zuletzt aufgerufen: 03.08.2023)

https://fdc4all.com/index.php?main_page=product_info&products_id=2279 (zuletzt aufgerufen: 03.08.2023)

https://news.abplive.com/news/india/independence-day-2021-how-foreign-indian-newspapers-covered-india-75th-i-day-freedom-from-british-in-1947-1476222 (zuletzt aufgerufen: 03.08.2023)

https://thediplomat.com/2020/04/covid-19-and-indias-addiction-to-colonial-era-laws/ (zuletzt aufgerufen: 03.0.2023)


Quelle: Munaam Baig, Die Kolonialzeit, Unabhängigkeitsbewegung und die Formung des heutigen Pakistans, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 05.12.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=405

Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung: Herausforderungen und Defizite

Atanasova Polina (S0Se 2023)

Einleitung

Die Gesundheitsversorgung ist ein grundlegendes Menschenrecht, das jedem Individuum unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft gleichermaßen zugänglich sein sollte. Dennoch offenbart die Realität, dass die geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung mit einer Vielzahl von Herausforderungen und Defiziten konfrontiert ist.          
Historisch gesehen hat die Medizin den männlichen Körper als universelles menschliches Modell verwendet.[1] Dabei wurden anatomische Abbildungen, Symptom-Beschreibungen, diagnostische Verfahren und Therapien ohne Berücksichtigung anderer Geschlechter entwickelt. Dies führte zu einer unangemessenen medizinischen Versorgung für Frauen*[2] und Minderheitsgruppen[3], die häufig vernachlässigt oder stigmatisiert wurden.         
Obwohl es Fortschritte bei der Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Reduzierung der Stigmatisierung gibt, sind Frauen* und LGBTQ*-Personen nach wie vor einem besonderen Maß an Unsichtbarkeit, Diskriminierung und Ungerechtigkeit ausgesetzt.

Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, die Herausforderungen im Gesundheitswesen zu schildern, denen Frauen* und LGBTQ*-Personen gegenüberstehen. Dabei liegt der Fokus auf den verschiedenen Faktoren und Erfahrungen von Frauen* und LSBTQ*-Menschen in Deutschland im Zusammenhang mit ihrer sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt.

1. Die medizinische Pathologisierung von Frauen*

Traditionelle Annahmen über Männlichkeit und Weiblichkeit haben im gesellschaftlichen Bewusstsein gewisse Asymmetrien in den Vorstellungen über beide Geschlechter gefestigt. Diese Geschlechterasymmetrien äußern sich hauptsächlich in stereotypen Geschlechterbildern, die sowohl negative Vorstellungen über das andere Geschlecht als auch positive Selbstbilder auf der Grundlage bestimmter Merkmale einschließen können. Solche stereotypen Vorstellungen über das Verhalten beider Geschlechter sind das Ergebnis historisch gewachsener sozialer Rollenverteilungen.[4] Historisch betrachtet wurde der männliche Körper als Norm angesehen, während der weibliche Körper als abweichend und pathologisch erklärt wurde.[5]    
Wie von Karin Nolte betont wird, bleibt diese Wahrnehmung auch in der Gegenwart hartnäckig bestehen:

„Bis heute prägen Geschlechterkonzeptionen der Medizin des 19. Jahrhunderts Wahrnehmungen von Weiblichkeit und Krankheit in unserer Gesellschaft, die nach wie vor auf der Vorstellung einer dichotomen Geschlechterordnung basieren.“

[6]

Die Pathologisierung von Frauen* in der Medizin hatte verschiedene Konsequenzen: Fehl- oder Überversorgung im Bereich der Medikalisierung durch Psychopharmaka; Vernachlässigung spezifischer Gesundheitsbedürfnisse; Stigmatisierung, sowie Unterrepräsentation von Frauen* in klinischen Studien.[7] In der Tat, obwohl geschlechtsspezifische Unterschiede in Symptomatik und Krankheitsverlauf nachgewiesen sind, werden klinische Studien häufig nur an männlichen* Probanden durchgeführt und Diagnosekriterien, Behandlungsmöglichkeiten sowie Medikamentendosierungen sind hauptsächlich auf Männer* ausgerichtet.[8] Weiterhin zeigen internationale Studien[9], dass Schmerzen bei Frauen* häufig unterschätzt oder nicht ernst genommen werden, insbesondere wenn die Schmerzen nicht mit anderen Symptomen einhergehen.[10]   
Nicht nur in der Forschung, sondern auch in der medizinischen Praxis werden nicht alle Körper gleichwertig behandelt. Besonders betroffen von dieser Ungleichbehandlung sind Frauen*, die als nicht weiß gelesen werden: bei ihnen überlagern sich sexistische und rassistische Vorurteile, was oft zu einer besonders schlechten medizinischen Versorgung führt.[11]  
Weitere Diskriminierungsrisiken aufgrund der sexuellen Identität betreffen vor allem nicht-heterosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Menschen. Dies kann auf mangelnde Sensibilität und Stereotypen seitens medizinischen Personals, Diskriminierung und Stigmatisierung sowie Zugangsbarrieren zu speziellen medizinischen Dienstleistungen zurückgeführt werden.[12]

All diese Aspekte werden genauer erläutert, und es wird auf die spezifischen Erfahrungen von Frauen* und LGBTQ*-Menschen in Deutschland eingegangen. Zuvor ist es jedoch wichtig, kurz zu definieren, was unter geschlechtsspezifischer Medizin zu verstehen ist.

2.     Geschlechtsspezifische Medizin

Die geschlechtsspezifische Medizin (auch als Gendermedizin bekannt) untersucht die Auswirkungen von biologischen und soziokulturellen Geschlechteraspekten auf Prävention, Entstehung, Diagnose, Therapie und Forschung von Krankheiten. Ihr Hauptziel besteht darin, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu optimieren.[13]
Dieses Teilgebiet der Humanmedizin entstand in den 1970er Jahren als Reaktion auf die internationale Frauengesundheitsbewegung. Anfangs lag der Schwerpunkt hauptsächlich auf den Gesundheitsproblemen von Frauen*, doch im Laufe der Zeit hat sich ein ausgewogenes Interesse an der Erforschung anderer Geschlechter etabliert.[14]       
Dank der geschlechtsspezifischen Medizin konnte ein stark ausgeprägter Geschlechterunterschied bezüglich des Gesundheitsgeschehens nachgewiesen werden, d. h., in der Morbidität (Krankheitshäufigkeit) und der Mortalität (Sterberate). In den Entstehungsprozessen von Krankheiten sowie den Krankheitsverläufen und im Gesundheitsverhalten scheinen Männer* und Frauen* sich signifikant zu unterscheiden.
Es muss jedoch beachtet werden, dass die Medizin in ihrer Definition von Gender[15] immer noch ein dichotomes, normiertes zweigeschlechtliches Verständnis nutzt: das Forschungsfeld konzentriert sich vorrangig auf die Binarität der Geschlechter Mann* und Frau*. Studien zu trans* und queeren Personen sind in diesem Bereich selten anzutreffen.[16]              

Es lässt sich also konstatieren, dass die geschlechtsspezifische Medizin eine bedeutsame und vielversprechende Disziplin darstellt, welche das Potenzial besitzt, die Gesundheitsversorgung erheblich zu optimieren. Indem geschlechtsspezifische Unterschiede in Betracht gezogen werden, können genauere Diagnosen und individualisierte Behandlungen ermöglicht werden, was zu verbesserten Ergebnissen für die Patienten führt. Des Weiteren trägt die geschlechtsspezifische Medizin dazu bei, gezieltere Präventionsstrategien zu fördern.
Dennoch ist es auch unbestreitbar, dass der geschlechtsspezifischen Medizin gewisse Herausforderungen gegenüberstehen. Eine nähere Erläuterung dieser Herausforderungen folgt im anschließenden Abschnitt.

3. Probleme und Barrieren der gesundheitlichen Versorgung  

In unserem alltäglichen Wissen wird die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen sowie die von Geburt an festgelegte Geschlechtszugehörigkeit (und größtenteils die damit verbundene Heterosexualität) in der Regel als selbstverständlich und natürlich akzeptiert und praktiziert.[17] Dennoch handelt es sich bei der Geschlechtskategorie um ein sozial strukturelles und sozial konstruiertes Phänomen, das historisch und gesellschaftlich geformt ist und in sozialen und alltäglichen Interaktionen sowie Handlungen reproduziert wird.            
Geschlecht klassifiziert Individuen in zwei unterschiedliche Gruppen, basierend sowohl auf biologischen Zuordnungen als auch auf gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen.
Demzufolge liegt das Problem dieser Ausrichtung an zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Normen in der Gesundheitsversorgung hauptsächlich darin, dass es spezifische Benachteiligungen aufgrund der geschlechtlichen und sexuellen Identität verursacht.[18]        
Wie bereits zuvor kritisch angemerkt wurde, werden Frauen* in medizinischen Studien oft nicht angemessen berücksichtigt, während nicht-binäre Personen, die sich außerhalb des traditionellen Geschlechterspektrums identifizieren, mit unzureichender Anerkennung und Sensibilisierung seitens Gesundheitsdienstleistern konfrontiert sind. Dies führt zu geschlechtsbezogenen Datenlücken, erschwertem Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, Schwierigkeiten bei geschlechtsangleichenden Maßnahmen, psychischen Gesundheitsproblemen und sozialer Stigmatisierung.            
Diese Probleme verdeutlichen die Notwendigkeit einer geschlechtsbewussten und LGBTQ* inklusiven Herangehensweise in der Medizin, um eine gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung für Frauen* und LGBTQ*-Menschen sicherzustellen.

Im Folgenden werden wir uns in den kommenden beiden Abschnitten konkret mit Daten und Erfahrungen bezüglich der Gesundheitsversorgung von Frauen und LGBTQ*-Menschen in Deutschland auseinandersetzen.

3.1 Erfahrungen von Frauen*

Laut des RKI-Berichtes zur gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland[19] von 2020 sind Frauen* häufiger von psychischen Störungen – vor allem von Depression, Angststörungen und Essstörungen – betroffen als Männer*:

„Bei der Entstehung psychischer Störungen spielen biologische, psychische und soziale Faktoren eine Rolle und werden als Gründe für bestehende Geschlechterunterschiede diskutiert. Aber es scheint auch Unterschiede in der ärztlichen Diagnosestellung zu geben: so wird bei gleicher Symptomatik bei Frauen häufiger eine psychische, bei Männern eine körperliche Erkrankung diagnostiziert.“

[20]

Forschungsergebnisse[21] belegen, dass Frauen* im Vergleich zu Männern* seltener Schmerzmittel verschrieben bekommen, wenn sie unter Schmerzen leiden, und stattdessen häufiger an Psycholog*innen überwiesen werden.[22]       
Hier lässt sich argumentieren, dass es sich bei den festgestellten gesundheitsspezifischen Unterschieden um naturgegebene Phänomene handelt, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann. Dennoch ist es wichtig zu beachten, dass viele der gesundheitlichen Probleme von Frauen* nicht unmittelbar mit ihren spezifischen biologischen Eigenschaften in Verbindung stehen. Vielmehr sind sie das Ergebnis oder die Folge anhaltender Diskriminierung oder Benachteiligung.[23]        
Es kann festgestellt werden, dass die geschlechtsspezifische Medizin in der Realität nicht immer das gewünschte Maß an Inklusivität aufweist. Studien weisen darauf hin, dass ärztliches Fachpersonal männliche* Beschwerden ernster nehmen. Dagegen werden bei dem weiblichen Geschlecht anscheinend häufiger psychisch bedingte Leiden vermutet und die Behandlung dementsprechend ausgerichtet.[24] 
Deutliche Geschlechterunterschiede zeigen sich auch im Bereich der Gesundheitsversorgung, z.B. bei der Einnahme von Arzneimitteln. Sie betreffen zum einen die Verstoffwechselung und Wirkung von Arzneimitteln, einschließlich der Nebenwirkungen. Zum anderen gibt es Unterschiede in der Inanspruchnahme: Frauen* wenden häufiger Arzneimittel an als Männer*, sowohl mit ärztlicher Verordnung als auch in Selbstmedikation.[25]   
Besonders ausführlich belegt sind Behandlungsunterschiede nach Geschlecht bei Herzinfarkten. Nach Berücksichtigung der vorhandenen Symptome und des kardialen Risikos wurden weibliche Patientinnen, die mit Brustschmerzen die Notaufnahme aufsuchten, im Vergleich zu männlichen Patienten seltener auf Herzkrankheiten getestet.[26]   
Zusätzlich erfuhren Frauen* mit Brustschmerzen in der Notaufnahme längere Wartezeiten im Vergleich zu Männern*. Diese Beobachtung wurde in vier Berliner Krankenhäusern bestätigt.[27] Des Weiteren ergab eine Studie, dass kardiologische Untersuchungen bei Frauen* deutlich häufiger fehlerhaft durchgeführt wurden als bei Männern*, insbesondere wenn diese von männlichen Ärzten vorgenommen wurden.[28]            
Armut und soziale Ungleichheit haben ebenso  zentrale Auswirkungen auf die Gesundheit: Immer noch bekommen Frauen* im Durchschnitt 21 % weniger Gehalt als Männer*.
Diese geschlechtsspezifischen Ungleichheiten haben einen deutlichen Einfluss auf das Gesundheitswesen und stellen Barrieren dar, die zu Unterschieden in den Zugangschancen von Männern* und Frauen* führen.[29]

3.2 Erfahrungen von LGBTQ*-Menschen

Eine andere von Diskriminierung im Gesundheitswesen betroffene Gruppe sind LGBTQ*-Menschen. Trotz gesellschaftlicher Fortschritte in Richtung Akzeptanz und Gleichstellung bestehen weiterhin pathologisierende und stigmatisierende Perspektiven auf nicht-heterosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Lebensweisen. LGBTQ*-Menschen sind nach wie vor einem erhöhten Risiko von Vorurteilen, Stereotypen und ungleicher Behandlung durch medizinisches Fachpersonal ausgesetzt. Diese Problematik wirkt sich nicht nur auf individuelle Gesundheitsergebnisse aus, sondern beeinträchtigt auch das Vertrauen und die Bereitschaft der LGBTQ-Gemeinschaft, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen.[30]      
Insgesamt berichteten acht von zehn Jugendlichen und jungen Erwachsenen (82%), mindestens einmal Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität an mindestens einem Ort erlebt zu haben. Bei jungen trans* und gender*diversen Menschen sind es gut neun von zehn (96%).[31] 
Die Erkenntnisse der Europäischen Union Agentur für Grundrechte zeigen, dass jeder fünfte Trans*Mensch im Gesundheitswesen Diskriminierung erfährt. Der Bericht enthüllt, dass Trans*Menschen oft mit einem Mangel an Fachwissen über Transgender-Anliegen seitens der Gesundheitsdienstleister konfrontiert werden, unangemessene Fragen gestellt bekommen, ihr Geschlecht wiederholt fehlerhaft interpretiert wird, sie nicht ernst genommen oder beschimpft werden und ihnen sogar die Behandlung verweigert wird.[32]   
Ein weiteres Beispiel in Hinblick auf die Verweigerung von gleichen Zugängen findet sich im Gesundheitsbereich, da der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung für Menschen mit einer HIV-Erkrankung deutlich erschwert ist. Ein konkretes Problem besteht darin, dass HIV-positive Menschen Schwierigkeiten bei der Terminvereinbarung in Arztpraxen haben.[33]     
Zwei Studien[34] zur Gesundheit von lesbischen Frauen liefern ebenfalls klare Hinweise darauf, dass es im deutschen Gesundheitssystem Barrieren gibt.         
Insgesamt hatten über 20% aller Befragten Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitssystem aufgrund ihrer lesbischen oder bisexuellen Lebensweise; ebenso viele gaben an, ihre soziosexuelle Identität aus Furcht vor Stigmatisierung und Ausgrenzung im medizinischen Bereich nicht offen gelegt zu haben: „Ich habe es nie öffentlich gemacht, um nicht schlechter behandelt zu werden.“[35]  
Oftmals wurden Frauen* fälschlicherweise als heterosexuell gelesen, sogar nachdem sie ihr Coming-out hatten, bis sie aktiv diese Annahme korrigierten. Die betroffenen Frauen* kritisierten die Verwendung nicht-einschließender Fragen, die ein „Zwang zum Selbst-Outing“ darstellten. Solche Fragen bezogen sich zum Beispiel auf Verhütung oder den letzten Geschlechtsverkehr, wobei nur heterosexueller Geschlechtsverkehr angenommen wurde.
Wenn sich Frauen nicht offenbarten, führte dies vor allem in der gynäkologischen Versorgung zu Verwirrung auf Seiten der ÄrztInnen und sogar zu fehlerhaften Differentialdiagnosen und Therapieempfehlungen.[36]
Aus den Erkenntnissen über die gesundheitliche Situation von LGBTQ*-Menschen wird ersichtlich, dass sozialer Ausschluss und Diskriminierung den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung behindern. Um das Ziel des universellen Zugangs zu erreichen, ist es unerlässlich, angemessene Ressourcen bereitzustellen, um diese Barrieren zu überwinden.

Fazit

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gesundheitsbranche und die Forschungsgemeinschaft weiterhin in die geschlechtsspezifische Medizin investieren und sie als integralen Bestandteil der Gesundheitsversorgung etablieren. Durch eine verstärkte Sensibilisierung, Bildung und Zusammenarbeit kann sichergestellt werden, dass geschlechtsspezifische Unterschiede angemessen berücksichtigt werden und alle Patienten von den Vorteilen einer personalisierten und geschlechtsgerechten Medizin profitieren.

Letztendlich bietet die geschlechtsspezifische Medizin eine vielversprechende Perspektive für eine inklusivere, gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung. Es besteht daher ein dringender Bedarf an Maßnahmen, um diese Herausforderungen anzugehen und die Versorgung dieser spezifischen Minderheitsgruppen zu verbessern.


[1] Vgl. Schiebinger, Londa. 1993. Schöne Geister: Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 291; sowie vgl. Oertelt-Prigione, S., Hiltner, S. (2018). Medizin: Gendermedizin im Spannungsfeld zwischen Zukunft und Tradition. In: Kortendiek, B., Riegraf, B., Sabisch, K. (eds) Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft, vol 65. Springer VS, Wiesbaden.

[2] Durch die Verwendung des Symbols „*“ wird betont, dass die Kategorie Geschlecht konstruiert ist. Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck sind keine fest definierten Kategorien. Sie gehen über die binären Bezeichnungen weiblich und männlich* bzw. Frau* und Mann* hinaus und umfassen eine Vielfalt von Identitäten.

[3] Mit dem Begriff sind: ethnische Minderheiten, LGBTQ+-Personen und Menschen mit Behinderungen gemeint.

[4] Vgl. Khrystenko, O. (2016). Die Manifestierung von Geschlechterstereotypen in Metaphern der deutschen Jugendsprache. Linguistik Online75(1). S.84-85.

[5] Vgl. Nolte, K. (2020). „Medizin und Geschlecht“ – Medizinhistorische Perspektive. Schwerpunkt: Gender & Medizin. In: Dr. med. Mabuse 247 September/Oktober 2020, S. 39.

[6] Ebenda, S. 39.

[7] Vgl. Maschewsky-Schneider U. (2002). Gender Mainstreaming im Gesundheitswesen — die Herausforderung eines Zauberwortes. In: Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis 34(3). S. 493.

[8] Vgl. Bartig et al. (2021): Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung. S. 32.

[9] Verweis auf Chen et al. 2008; Hoffmann und Tarzian 2001; Pierik et al. 2017; Samulowitz et al. 2018

[10] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.

[11] Vgl. Süess, M. Medizin: Wer hat Angst vor der gesunden Frau? WOZ Die Wochenzeitung. https://www.woz.ch/2236/medizin/medizin-wer-hat-angst-vor-der-gesunden-frau/!GGDTEYEPQ0RZ

[12] Vgl. K. Oldemeier, Kerstin: Sexuelle und geschlechtliche Diversität aus salutogenetischer Perspektive: Erfahrungen von jungen LSBTQ*-Menschen in Deutschland, In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2-2017, S. 146.

[13] Vgl. Meinert, T. (2023): Geschlechtsspezifische Medizin. In: Deutscher Bundestag Nr. 09/23, S. 1.

[14] Vgl. Oertelt-Prigione, S., Hiltner, S. (2018).

[15] Mit dem Begriff Gender ist das gesellschaftlich zugewiesene und sozial konstruierte Geschlecht gemeint.

[16] Vgl. Keim-Klärner, S. (2019). Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten im Kontext verschiedener Ungleichheitsdimensionen. In: Neue Ideen für mehr Gesundheit. Georg Thieme Verlag KG. S. 276.

[17] Verweis auf die Studie von Wetterer, 2004.

[18] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 56.; sowie Verweis auf die Studie von Pöge et al. 2020.

[19] Vgl. RKI “Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland | 2020“, aufrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/frauenbericht/11_Zusammenfassung_Fazit.pdf?__blob=publicationFile.

[20] Ebenda, S. 377.

[21] Verweis auf Naamany et al. 2019; Samulowitz et al. 2018.

[22] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.

[23] Vgl. Riggers, M.: Gender Mainstreaming in Niedersachsen. In: Gesundheitswesen. 12. Tagung des Netzwerkes Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen am. 7. Dezember 2000 in Hannover, SS.4-5.

[24] Vgl. A. Klärner et al. (2019), S. 283.

[25] Vgl. RKI “Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland | 2020“, S. 378.

[26] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.; sowie Verweis auf Chang et al. 2007.

[27] Verweis auf Jungehulsing et al. 2006.

[28] Vgl. Bartig, et al. (2021), S. 33.; sowie Verweis auf Chakkalakal et al. 2013.

[29] Vgl. A. Klärner et al. (2019), S. 283.

[30] Verweis auf Oldemeier (2017).

[31] Ebenda, S.56.

[32] Vgl. Karsay, D. (2017, October 10). Gesundheitliche Diskriminierung von Menschen außerhalb des binären Geschlechtersystems | Heinrich-Böll-Stiftung. Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.boell.de/de/2017/10/10/gesundheitliche-diskriminierung-von-menschen-ausserhalb-des-binaeren-geschlechtersystems.

[33] Vgl. Kalkum, Dorina; Otto, Magdalena (2017): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland anhand der sexuellen Identität: Ergebnisse einer quantitativen Betroffenenbefragung und qualitativer Interviews. Berlin: Antidiskriminierungsstelle des Bundes. S. 88.

[34] Verweis auf Dennert 2005; Wolf 2004.

[35] Vgl. Dennert, G.; Wolf, G. Gesundheit lesbischer und bisexueller Frauen. Zugangsbarrieren im Versorgungssystem als gesundheitspolitische Herausforderung. In: Femina Politica 1 | 2009, S.50.; Zitate aus dem offenen Frageteil der Fragebogenerhebung. Sie werden hier z.T. gekürzt und in neuer Rechtschreibung wiedergegeben; Dennert 2005, 75-82.

[36] Ebenda.


Quelle: Atanasova Polinda, Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung: Herausforderungen und Defizite, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.09.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=399

Inwiefern haben gesellschaftliche Konzepte von Männlichkeit einen Einfluss auf die Diagnostik von Depressionen bei Männern?

Nele Lorenz (SoSe 2023)

1. Einleitung

Das Erkranken an einer Depression stellt in der heutigen Gesellschaft ein zunehmendes Risiko dar. Insbesondere Frauen scheinen vermehrt betroffen. Sie erkranken häufiger an Depressionen und weisen ausgeprägtere depressive Symptome auf. Werden allerdings die geschlechterspezifischen Suizidraten miteinander verglichen, kann ein Paradoxon festgestellt werden. Obwohl Männer seltener mit einer Depression diagnostiziert werden, suizidieren sie sich fast doppelt so häufig wie Frauen (Wolfersdorf et al., 2006). Schlussfolgernd kann von einer Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern ausgegangen werden. Es stellt sich die Frage inwieweit sich traditionelle Bilder von Männlichkeit auf dieses Phänomen auswirken und eine Ursache darstellen.

Die vorliegende Ausarbeitung wird sich im Folgenden auf den derzeitigen Literaturbestand und die Forschung, in Hinblick auf den Zusammenhang von gesellschaftlichen Konzepten von Männlichkeit und einer depressiven Erkrankung bei Männern, beziehen. Die anfängliche Darstellung von traditionellen Männlichkeitsbildern, sowie die darauffolgende Beschreibung einer depressiven Erkrankung anhand des ICD-10 fungiert als Grundlage der Analyse. Der Hauptteil umfasst die Betrachtung eines männerspezifischen Depressionsverständnisses mit vier verschiedenen Schwerpunkten. Es werden die grundlegenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Prävalenz von Depressionen aufgeführt. Anschließend werden die Artefakttheorie, sowie der Begriff der Maskierten Depression und die Thematik des Hilfesuchverhaltens als Verständnis einer männerspezifischen Depression veranschaulicht. Den Schluss bildet ein Resümee.

Die Literatur, sowie die Forschung, die sich mit der beschriebenen Thematik befasst, geht oftmals von einem binären System der Geschlechter aus. Zusätzlich wird größtenteils nicht ausreichend konkret zwischen dem biologischen (sex) und dem sozialen (gender) Geschlecht unterschieden. Im Folgenden werde ich demnach ausschließlich auf die binären Konzepte von Frau und Mann eingehen können. Da sich die Ausarbeitung insbesondere mit gesellschaftlich vermittleten Geschlechterbildern auseinandersetzt, werde ich mich mit dem Begriff „Geschlecht“ auf das soziale Geschlecht beziehen. Ich werde versuchen diesen Begriff zu vermeiden und stattdessen „Gender“ zu verwenden.

2. Männlichkeitskonzepte

Die folgenden Unterkapitel befassen sich mit grundlegenden traditionellen Bildern von Männlichkeit, sowie der hegemonialen Männlichkeit als konkretes Konzept.

2.1. Traditionelle Männlichkeit

Die Idee der traditionellen Männlichkeit lässt sich mit den Begriffen der Genderrolle und Gendernorm weiter ausführen und konkretisieren.

Die männliche Genderrolle beinhaltet Erwartungen an die Rolle als Mann, die im Verlauf des Sozialisationsprozesses von Individuen erlernt und auf diesem Weg von einer Generation in die nächste weitergegeben werden (Addis & Mahalik, 2003; Branney & White, 2008). Traditionell männliche Normen beeinflussen diese idealisierte männliche Genderrolle, die somit keine angeborene Eigenschaft darstellt (Addis & Cohane, 2005; Addis & Mahalik, 2003; Cochran & Rabinowitz, 2003). Die Gendernormen beinhalten soziale Normen, die vorgeben, welche Verhaltensweisen, Eigenschaften, Gedanken und Emotionen bei den binären Konstrukten von Geschlecht, demnach bei Männern und Frauen erwünscht sind und erwartet werden (Syzdek & Addis, 2010). Idealisierte Eigenschaften wie körperliche Stärke, kompetitives Verhalten in Zusammenhang mit Erfolg, dem Interesse an Macht, emotionaler Gleichmut oder Anti-Feminität zählen zu der männlichen Gendernorm (Addis & Cohane, 2005; Addis & Mahalik, 2003; Cochran & Rabinowitz, 2003).

2.2. Hegemoniale Männlichkeit

Der Begriff der hegemonialen Männlichkeit findet sich erstmals in der marxistischen Literatur des italienischen Autors Gramsci wieder (Connell, 1987; Donaldson, 1993). Der Gedanke der hegemonialen Männlichkeit geht davon aus, dass Frauen schwächer und vulnerabler als Männer sind und ihnen außerdem körperlich unterlegen sind. Das Bitten um Hilfe hingegen, also auch sich um seine*ihre Gesundheit zu kümmern, ist weiblich konnotiert. Es besteht die Annahme, dass Männer strukturell leistungsfähiger sind und auch, dass Gesundheit und Sicherheit keine Rolle für einen Mann spielen sollen, wenn er dem Ideal der hegemonialen Männlichkeit entsprechen will (Courtenay, 2000).

Das Konzept definiert eine Form von Männlichkeit und vermittelt ein dominierendes Bild, das als wünschenswert und erstrebenswert gilt (Connell, 1987; Connell & Messerschmidt, 2005; Donaldson, 1993; Schigl, 2018). Es fungiert als handlungsleitender Grundeinstellung, an der Männer sowohl sich selbst als auch andere Männer messen (Möller-Leimkühler, 2010). Es wird von der Existenz einer Vielzahl unterschiedlicher Männlichkeit innerhalb einer bestimmten Kultur ausgegangen. Die hegemoniale Männlichkeit stellt allerdings das vorherrschende Modell der Männlichkeit, als Ausdruck von Macht, Prestige und Überlegenheit dar, dem andere Formen untergeordnet werden (Connell, 1987; Connell & Messerschmidt, 2005). Ausschließlich für eine Minderheit von Männern ist dieses Idealbild realisierbar (Möller-Leimkühler, 2010). Die Aufrechterhaltung der hegemonialen Männlichkeit wird mit der Interaktion zwischen Männern sichergestellt. Die Männlichkeit eines Mannes wird von anderen Männern bestätigt (Schigl, 2018). Männer, die dem Bild der hegemonialen Männlichkeit nicht entsprechen laufen also Gefahr, von anderen Personen einer der „untergeordneten“ Form von Männlichkeit zugeordnet zu werden.

3. Depressionen

Die Diagnosekriterien einer Depression sind im ICD-10 unter dem Überbegriff der depressiven Episode festgehalten. Es werden eine gedrückte Stimmung und ein vermindertes Antriebs- und Aktivitätsverhalten beschrieben. Es können Schlafstörungen, eine Verminderung des Appetits und der Konzentration, sowie ausgeprägte Müdigkeit, auch nach nur kleinen Anstrengungen, auftreten. Zusätzlich sind Depressionen durch ein geringes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl gekennzeichnet, das mit einem Gefühl der Wertlosigkeit einhergeht. Anhand der Anzahl und Schwere der Symptome findet eine Zuordnung zu einer leichten, mittelgradigen oder schweren depressiven Episode statt (ICD-code, o.J.).

4. Männerspezifische Depression

Die aufgeführten Unterkapitel stellen Argumentationspunkte in Bezug auf ein männerspezifisches Depressionsverständnisses dar und führen die Hintergründe für eine Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern auf. Grundlage ist der aktuelle Literatur- und Forschungsstand.

4.1. Datenlage zu den Unterschieden zwischen Männern und Frauen

Die Anzahl der depressiv diagnostizierten Männer und die Zahl der männlichen Suizidopfer weist in der Literatur eine Inkongruenz auf. Es wird davon ausgegangen, dass mehr Männer an Depressionen leiden, als die klinische Prävalenzrate vorhersagt. Begründet wird dies an der Feststellung, dass Frauen häufiger mit Depressionen diagnostiziert werden, Männer allerdings in der Relation viermal häufiger Suizid begehen (Addis & Cohane, 2005; Cochran & Rabinowitz, 2003; Fields & Cochran, 2011). Das Robert Koch Institut stellte in einer Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGD1) aus den Jahren 2008 bis 2012 eine 12-Monats-Prävalenz von 8,1% diagnostizierter Depressionen bei Frauen und 3,8% bei Männern fest (Müters et al., 2013). Bei Frauen werden demnach mehr als doppelt so häufig Depressionen diagnostiziert als bei Männern. Bei depressiven Frauen bewegen sich die Themen besonders in ihrem engeren Verpflichtungsfeld der Familie, Partnerschaft und Kinder, während bei männlicher Depression der Themenschwerpunkt vermehrt, egozentrisch, auf der eigenen Person liegt (Wolfersdorf et al., 2006). Depressive Frauen geben in einer Selbstbeurteilung außerdem signifikant höhere Werte in Bezug auf eine Selbstbeschreibung von Angst und Ärger-Äußerungen an. Außerdem berichten Frauen konstant von mehr Symptomatik hinsichtlich der Beschwerdeliste. Im Freiburger Erregbarkeitsinventar und im STAIG-Angstfragebogen erreichen Männer signifikant höherer Werte in dem Item der Erregbarkeit versus Hemmung (Wolfersdorf et al., 2006).

In Kulturen, in denen Alkoholkonsum und Suizid gesellschaftlich tabuisiert werden, wie beispielsweise in der Jüdisch-Orthodoxen Gemeinde unterscheidet sich die Depressionsrate und -symptomatik zwischen Frauen und Männern nicht. Dieses Phänomen lässt sich auch in der Kultur der Amish People beobachten, in der die Geschlechterrollennormen streng egalitär sind (Möller-Leimkühler, 2008).

4.2. Artefakttheorie

Eine Studie von Mahalik und Cournoyer (2000) untersuchte den Einfluss von Männlichkeitsvorstellungen auf Männer mit Depressionen. Es wurde ein Vergleich der Testergebnisse der Gender Role Conflict Scale von depressiven und nicht depressiven Männern durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass Männer, die depressiv erkrankt waren, bei 17 Items, die sich auf Genderbilder bezogen, höhere Werte erzielten als Männer, die nicht depressiv waren. Die Autoren formulierten daraufhin die Annahme, dass Männer, die an Überzeugungen der männlichen Genderrolle festhalten, eher von Depressionen betroffen sind als Männer, die diese Überzeugungen nicht vertreten. Diese Überzeugung wird „genderspezifische kognitive Verzerrung“ genannt (Mahalik & Cournoyer, 2000). Folgernd kann von der Theorie ausgegangen werden, dass Männlichkeitsnormen die Entwicklung psychopathologischer Probleme begünstigen (Syzdek & Addis, 2010). Die sogenannte Artefakttheorie führt den Unterschied zwischen den Geschlechtern in der Prävalenz von Depressionen auf „künstliche“ Faktoren zurück. Es wird davon ausgegangen, dass Genderbilder, die über den Sozialisationsprozess vermittelt werden, sich auf die Wahrnehmung und Äußerung der Symptome bei Männern und Frauen auswirken. Es stellt sich die Frage, inwiefern sich Depressionen mit einer anderen Symptomatik bei Frauen und Männern äußern. Anhand einer Studie ließ sich zeigen, dass Symptommuster wie Irritabilität, antisoziales Verhalten und Aggressivität bei Männern häufiger ein Hinweis für eine depressive Erkrankung waren. Bei Frauen handelte es sich dagegen oftmals um eine grundlegende Unruhe, Klagsamkeit, als auch um eine depressive Verstimmung (Müters et al., 2013). Männer berichten außerdem häufiger von atypischen Symptomen als Frauen, die sich nicht den regulären diagnostischen Kriterien einer Depression im ICD-10 zuordnen lassen. Es handelt sich beispielsweise um Alkoholabhängigkeit, feindselige Verstimmungen, Verlangsamung in Bewegung und Sprache, sowie einem Mangel an Gesten (Branney & White, 2008). Die verwendeten Skalen zur Erfassung von Depressionen weisen eine frauenspezifischere Auslegung auf, was zu einer systematischen Unterdiagnostizierung und Unterschätzung von Depressionen bei Männern führen kann (Müters et al., 2013). Demnach lässt sich ein Gender Bias in der Depressionsdiagnostik festhalten.

4.2.1. „Male Depression“

Während eines Suizidpräventionsprogramms auf der schwedischen Insel Gotland wurde das Konzept der „male depression“, mithilfe von psychologischen Autopsien an durch Suizid verstorbenen Menschen und weiteren klinischen Erfahrungen, entwickelt. Nach Weiterbildungen in Bezug auf die Depressionsdiagnostik und -behandlung stellte sich heraus, dass sich die Suizidrate der Frauen auf der Insel um etwa 90% verringerte, während die der Männer allerdings unverändert blieb. Bei den Autopsien der männlichen Suizidopfer zeigte sich, dass diese oftmals sowohl depressiv, als auch teilweise alkoholabhängig waren. Den Ärzt*innen war diese Tatsache, im Gegensatz zu der örtlichen Polizei und Ordnungsbehörden, häufig nicht bekannt. 

Mit der Berücksichtigung der häufig zusätzlich auftretenden Symptome bei Männern wie Aggressivität, Irritabilität, antisoziales Verhalten, Ärgerattacken oder Risiko- und Suchtverhalten während der Therapie, konnte die Suizidrate der Männer reduziert werden.

Diese Erkenntnisse führten zu der Entwicklung der „Gotland Scale for Male Depression“, die als Screening-Instrument explizit nach männlichen Symptomen fragt.

Das Konzept der „male depression“ geht zusammenfassend davon aus, dass die zuvor aufgeführten Symptome, die eigentlichen depressiven Symptome bei Männern maskieren. Diese geschlechtertypische, allerdings depressionsuntypische Symptomatik, ist in den üblichen Depressionsinventaren nicht enthalten. Dies hat eine Unterdiagnostizierung von Männern mit Depressionen zur Folge und führt zu eventuellen Fehldiagnosen (Möller-Leimkühler, 2007).

 4.3. Maskierte Depression

In der Literatur lässt sich oftmals ein Zusammenhang zwischen der Forschung zu Männlichkeit und Depressionen und dem Begriff der „Alexithymie“ finden. Dieser beinhaltet u.a. den Verlust der Fähigkeit Gefühle zu erkennen, zu benennen und zu kommunizieren (Carpenter & Addis, 2000). Zurückhaltung in der Emotionalität wird typischerweise der traditionellen männlichen Norm zugeordnet und somit häufig mit Männern und Männlichkeit in Verbindung gebracht. Wird an diesen Mustern festgehalten, kann nicht adäquat auf eine depressive Erkrankung reagiert werden. Gefühle von Trauer, die mit einer depressiven Erkrankung verbunden werden, gelten als unerwünscht und unmännlich (Cochran & Rabinowitz, 2000). Ein Erreichen der männlichen Idealnorm scheint ausschließlich auf Kosten von weiblich definierten Emotionen und Eigenschaften, wie Angst, Schwäche, Traurigkeit, Unsicherheit und Hilflosigkeit möglich (Möller-Leimkühler, 2010). Es findet eine Externalisierung der einhergehenden Probleme statt. Aufgrund der verdeckten und externalisierten Symptome, die oftmals nicht mit einer Depression in Verbindung gebracht werden, zeigt sich eine depressive Erkrankung bei diesen Männern nicht direkt (Cochran und Rabinowitz, 2000; Addis, 2008). Cochran und Rabinowitz (2000) beschreiben dieses Phänomen in ihrem Buch „Men and Depression: Clinical and Empirical Perspectives“ als „maskierte Depressionen“. Die maskierte Depression schließt sowohl physische Krankheiten, Alkohol- und Drogenmissbrauch, sexuelle Dysfunktion, als auch Aspekte wie häusliche Gewalt und Selbstsabotage im Beruf oder ähnlichem als mögliche Folgen und Anzeichen ein (Cochran & Rabinowitz, 2000). Rochlen et al. (2010) befragten im Rahmen einer Studie zum Einfluss der männlichen Genderrolle 45 Männer zu ihrer persönlichen Einstellung in Hinblick auf Genderrollen und Depressionserlebnissen. Die Beschreibungen der Probanden deckten sich zu einem Großteil mit dem Begriff der maskierten Depression. Es wird von Erwartungen an die männliche Rolle berichtet, die sich auf das Erleben der Depression auswirkten. Dazu zählten u.a. Erwartungen, wie nach außen hin ein gutes Bild zu vermitteln, keine Schwäche zu zeigen und Schmerzen zu verbergen. Auch die Erzählungen von Problemverhalten deckten sich mit der Theorie der maskierten Depression (Rochlen et al., 2010). Die Studie berichtete auch, dass einige Teilnehmer Depressionen als Gegenstück zum Glücklichsein betrachten, welches gelichzeitig selbst als unmännlich aufgefasst wird. Die Schlussfolgerung daraus ist die normative Betrachtung von Depression bei Männern (Rochlen et al., 2010).

4.4. Hilfesuchverhalten

Neben einem Gender Bias und dysfunktionales Stressverarbeitungsmustern und Umgangsformen lässt sich zusätzlich ein mangelndes Hilfesuchverhalten als Grund der Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern festhalten. Der gemeinsame Nenner dieser drei Faktoren stellt das Konstrukt der traditionellen Maskulinität dar, das eine Depression normativ ausschließt und deren Maskierung durch externalisierendes Verhalten fördert (Möller-Leimkühler, 2008). Traditionelle Männlichkeitsideale implizieren das Abhalten einer Hilfesuche (Addis & Mahalik, 2003; Epstein et al., 2010; Good et al., 1989). Good et al. (1989) fanden in einer Studie mit 401 männlichen Studenten heraus, dass bei Männern, die an traditionellen männlichen Genderrollen festhalten, das Hilfesuchverhalten geringer ausfällt als bei Männern mit einer weniger traditionellen Ausprägungen. Es zeigte sich, dass Männer, die eine negative Einstellung zu offener Emotionalität aufwiesen, weniger geneigt waren, sich psychologische Hilfe zu suchen (Good et al. 1989). Eine weitere Studie von Vogel et al. (2011) fand heraus, dass sich Selbststigmatisierung als ein entscheidender Prädiktor für ein Hilfesuchverhalten erwies. Zusammenfassend kann festgehalten, dass normative Geschlechterrollenerwartungen, die zu einer Nichtwahrnehmung und Verleugnung von Symptomen anleiten, Barrieren für eine Hilfesuche darstellen (Wolfersdorf et al., 2006). Zusätzlich werden psychische oder emotionale Probleme selten von Männern während eines Besuchs eines*r Ärzt*in angesprochen. Vielmehr wird von körperlichen Beschwerden berichtet. Dahinter verbirgt sich ein Vermeidungsverhalten, das die männliche Identität wahren soll (Möller-Leimkühler, 2008). Ein Therapieprozess kann nicht stattfinden, wenn sich ein depressiv erkrankter Mann keine Hilfe sucht.

5. Fazit

Schlussendlich lässt sich festhalten, dass die Unterdiagnostizierung von Depressionen im Vergleich zu der hohen Suizidrate bei Männern eine Problematik darstellt. Dieses Paradoxon lässt sich auf den Hintergrund von gesellschaftlich vermittelten traditionellen Gendernormen, wie der hegemonialen Männlichkeit, zurückführen. Stereotypische Genderbilder, die während eines Sozialisationsprozesses internalisiert werden, können eine maskierte Depression bei Männern hervorbringen. Hegemoniale Gedanken, wie beispielsweise „Männer sind nicht vulnerabel“ werden verinnerlicht und mit Scham verbunden. Symptome, wie ein verringertes Selbstwertgefühl, werden daraufhin von externalisierten Symptomen überdeckt. Diese zeigen sich beispielsweise in einer Alkoholsucht, was wiederrum eine Fehldiagnose zur Folge haben kann. Eine mangelndes Hilfesuchverhalten, das von Genderbildern unterstützt wird, führt zusätzlich zu einer Unterdiagnostizierung von Depressionen bei Männern. Auch der Gender Bias in der Diagnostik lässt sich als eine Ursache für die Unterschiede in der Prävalenz von Depressionen zwischen den binären Gendersystemen verordnen. Beurteilungsskalen und Diagnosekriterien weisen insbesondere in Hinblick auf traditionelle Genderrollen einen frauenspezifischen Schwerpunkt in der Symptomatik auf.

Ich möchte abschließend die Kritik aufführen, dass Probanden der wenigen Studien oftmals weiße, heteronormative, cis-männliche Universitätsstudenten aus den USA waren. Die Studien sind demnach nicht repräsentativ für Männer anderer Ethnien oder anderer sexueller Orientierung. Auch der sozioökonomische Hintergrund wurde häufig nicht miteinbezogen. Verallgemeinernd ist zu verzeichnen, dass noch nicht ausreichend wissenschaftliche Evidenz für das Konzept von männlichen Depressionen, sowie Studien zur Thematik von geschlechterspezifischer Wirksamkeit von Antidepressiva oder psychotherapeutischen Verfahren bestehen. Zukünftig werden weitere Untersuchungen, die Studien, wie die auf der Insel Gotland weiter untermauern und stärken, von großer Bedeutung sein, um die Unterschiede in der Prävalenz von Depressionen zu reduzieren und Betroffenen umfangreicher behandeln zu können. Es ist von großer Wichtigkeit, ein Bewusstsein und eine Sensibilität für die Lücke in der Forschung, als auch im zwischenmenschlichen Umgang, zu schaffen.

6. Literaturverzeichnis

Addis, M. e. (2008). Gender and Depression in Men. Clinical Psychology: Science and Practice, 15, 153-168. doi:10.1111/j.1468-2850.2008.00125.x

Addis, M. E., & Cohane, G. H. (2005). Social Scientific Paradigms of Masculinity and Their Implications for Research and Practice in Men’s Mental Health. Journal of Clinical Psychology, 61(6), 633-647. doi:10.1002/jclp.20099

Addis, M. E., & Mahalik, J. R. (2003). Men, Masculinity, and the Contexts of Help Seeking. American Psychologist, 58(1), 5-14.

Branney, P., & White, A. (2008). Big boys don’t cry: depression and men. Advances in Psychiatric Treatment, 14(4). doi:10.1192/apt.bp.106.003467

Carpenter, K. M., & Addis, M. E. (2000). Alexithymia, Gender, and Responses to Depressive Symptoms. Sex Roles, 43(9/10), 629-644. doi:10.1023/A:1007100523844

Cochran, S. V., & Rabinowitz, F. E. (2000). Men and Depression: Clinical and Empirical Perspectives). doi:10.1016/B978-0-12-177540-7.X5000-0

Cochran, S. V., & Rabinowitz, F. E. (2003). Gender-Sensitive Recommendations for Assessment and Treatment of Depression in Men. Professional Psychology: Research and Practice, 34(2), 132-140. doi:10.1037/0735-7028.34.2.132

Connell, R. W. (1987). Gender and Power: Society, the Person and Sexual Politics. Cambridge, UK: Polity Press.

Connell, R. W., & Messerschmidt, J. W. (2005). Hegemonic Masculinity: Rethinking the Concept. Gender & Society, 19(6), 829-859. doi:10.1177/0891243205278639

Courtenay, W. H. (2000). Constructions of masculinity and their influence on men’s well- being: a theory of gender and health. Social Science & Medicine, 50(10), 1385-1401. doi:10.1016/S0277-9536(99)00390-1

Donaldson, M. (1993). What Is Hegemonic Masculinity? Theory and Society, 22(5), 643-657. doi:10.1007/BF00993540

Epstein, R. M., Duberstein, P. R., Feldman, M. D., Rochlen, A. B., Bell, R. A., Kravitz, R. L., . . . Paterniti, D. A. (2010). “I Didn’t Know What Was Wrong:” How People With Undiagnosed Depression Recognize, Name and Explain Their Distress. Journal of General Internal Medicine, 25(9), 954-961. doi:10.1007/s11606-010-1367-0

Fields, A. J., & Cochran, S. V. (2011). Men and Depression: Current Perspectives for Health Care Professionals. American Journal of Lifestyle Medicine, 5(1), 92-100. doi:10.1177/1559827610378347

ICD-code. (o.J.). Depressive Episode. https://www.icd-code.de/icd/code/F32.-.html (zuletzt abgerufen am 12.08.2023)

Good, G. E., Dell, D. M., & Mintz, L. B. (1989). Male Role and Gender Role Conflict: Relations to Help Seeking in Men. Journal of Counseling Psychology, 36(3), 295-300. doi:10.1037/0022-0167.36.3.295

Mahalik, J. R., & Cournoyer, R. J. (2000). Identifying Gender Role Conflict Messages That Distinguish Mildly Depressed From Nondepressed Men. Psychology of Men & Masculinity, 1(2). doi:10.I037//1524-9220.1.2.I09.

Möller-Leimkühler, A. M. (2007). „Male depression“ in einer Bevölkerungsstichprobe junger Männer. Der Nervenarzt, 78, 641-650. doi:10.1007/s00115-006-2173-0

Möller-Leimkühler, A. M. (2008) Depression – überdiagnostiziert bei Frauen, unterdiagnostiziert bei Männern?. Der Gynäkologe, 41, 381-388. doi:10.1007/s00129-008-2161-5

Möller-Leimkühler, A. M. (2010). Depression bei Männern: Eine Einführung. Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, 11(3), 11-20. https://www.kup.at/kup/pdf/9154.pdf (zuletzt abgerufen am 14.08.2023)

Müters, S., Hoebel, J. & Lange, C. (2013). Diagnose Depression: Unterschiede bei Frauen und Männern. GBE kompakt, 4(2), 1-10. https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/3112/2.pdf?sequence=1&isAllowed=y (zuletzt abgerufen am 15.08.2023)

Rochlen, A. B., Paterniti, D. A., Epstein, R. M., Duberstein, P., Willeford, L., & Kravitz, R. L. (2010). Barriers in Diagnosing and Treating Men With Depression: A Focus Group Report. American Journal of Men’s Health, 4(2), 167-175. doi:10.1177/1557988309335823

Schigl, B. (2018). Psychotherapie und Gender. Konzepte. Forschung. Praxis. Welche Rolle spielt die Geschlechtszugehörigkeit im therapeutischen Prozess? In H. G. Petzold, U. A. Lammel, K. A. Leitner, & S. Petitjean (Hrsg. der Reihe), Integrative Modelle in Psychotherapie, Supervision und Beratung. doi:10.1007/978-3-658-20471-6

Syzdek, M. R., & Addis, M. E. (2010). Adherence to Masculine Norms and Attributional Processes Predict Depressive Symptoms in Recently Unemployed Men. Cognitive Therapy and Research, 34, 533-543. doi:10.1007/s10608-009-9290-6

Vogel, D. L., Heimerdinger-Edwards, S. R., Hammer, J. H., & Hubbard, A. (2011). “Boys Don’t Cry”: Examination of the Links Between Endorsement of Masculine Norms, Self-Stigma, and Help-Seeking Attitudes for Men From Diverse Backgrounds. Journal of Counseling Psychology, 58(3), 368–382. doi:10.1037/a0023688

Wolfersdorf, M., Schulte-Wefers, H., Straub, R. & Klotz, T. (2006). Männer-Depression: Ein vernachlässigtes Thema – ein therapeutisches Problem. Blickpunkt der Mann, 4(2), 6-9. https://www.kup.at/kup/pdf/5784.pdf (zuletzt abgerufen am 16.08.2023)


Quelle: in: Nele Lorenz, Inwiefern haben gesellschaftliche Konzepte von Männlichkeit einen Einfluss auf die Diagnostik von Depressionen bei Männern?, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.09.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=395

Die neue Generation Mann? Von Alpha-Männern, Online-coaches und fragile masculinity

Hannah Held, Jule Kocherscheidt, Lino-Noel Leichsenring, Charlotte Riemer (WiSe 2022/23)

Teaser: Online-coaches trainieren dich online, damit du erfolgreich und zum Frauenheld wirst. Die sogenannten "alpha-males" sind kein neues Phänomen, dennoch machen sie sich aktuell online auf Plattformen wie z.B. Tiktok breit. Wer sind diese Trainer*innen? Wer ist Andrew Tate? Und warum sind diese Trainer*innen mit ihrer Methodik so erfolgreich?

Länge: 17:36 Minuten 
Triggerwarning: sexuelle Belästigung, Gewalt, mental health

Über Podcast Werkstatt: Gender und Diversity in den Techno-Sciences: Von Sexrobotern, Dating Apps und KI 

Wie wollen wir in einer Welt leben, die durch Technik geprägt ist? Inwiefern beeinflussen soziale Ungleichheiten technologische Entwicklungen? Welche Rolle kann Technik spielen, um unsere Welt gerechter zu gestalten und sozialen Ungleichheiten entgegen zu wirken?

In der von Dr. Tanja Kubes geleiteten Podcast-Werkstatt werden aktuelle soziotechnische Themen wie Künstliche Intelligenz, Dating Apps, Social Media, etc. aufgegriffen und deren feministisches Potenzial beleuchten. Dabei wird von den Studierenden Technik nicht nur kritisch analysiert, sondern auch selbst aktiv angewendet und Podcasts produziert.


 Where Are You From?

Inwieweit hinter dieser Frage Rassismus steckt

JeongA Hwang (WiSe 2022/23)

1. „Where are you from?”

Wie sind meine Erfahrungen mit dieser Frage?

In den 4 Jahren, die ich in Deutschland lebe, bin ich dieser Frage unzählige Male begegnet. In meiner Erinnerung waren die Menschen, die nach meiner Herkunft gefragt haben, meist Weiß. Sie stellten mir unerwartet auf der Straße, in einem Restaurant, in einem Wartezimmer, irgendwo, solche Fragen, ohne dass wir davor ein Gespräch führten. Wenn jemand Deutsch spricht, fragte diese Person mich nicht auf Deutsch „Woher kommst du?“, sondern erstmal immer auf Englisch: „Where are you from?“. 

Einige Male habe ich diese Situation so empfunden, als wolle diese Person mit mir Smalltalk führen. Als dies allerdings immer wieder passierte, fühlte ich mich sehr unwohl. Daher möchte ich in diesem Essay erstens meine Reflexion mit dieser Frage beschreiben und folglich darauf eingehen, warum „Where are you from?“-Frage eine rassistische Frage ist, wie meine ethnische Identität als asiatisch bestimmt wird und welche Konsequenzen racial microaggression im Zusammenhang mit der Fremdzuschreibung mit sich bringen kann.

Reflexion

Ich wurde zuletzt vor zwei Wochen (Mitte April 2023) gefragt, wo ich herkomme. Ich hatte mich in einer Bar mit meinen Freundinnen getroffen. Wir alle kommen aus Südkorea, leben seit einigen Jahren in Deutschland und können Deutsch sprechen. Während wir uns in unsere Sprache unterhielten, kam eine Gruppe von etwa 8-9 gut gekleideten weißen Menschen und nahmen den Platz neben uns ein. Sie schienen unter Kolleginnen und Kollegen zu sein. Ich bemerkte, dass sie sich auf Deutsch unterhielten.

Als eine von uns zum Rauchen kurz weg war, nahm eine Person von ihnen plötzlich einen unserer Stühle weg, obwohl noch viele übrige danebenstanden. Daraufhin sprach eine meiner Freundinnen diese Person an: „Der Stuhl ist besetzt. Sie können daneben einen anderen nehmen.“ Diese reagierte daraufhin lästig und antwortete auf Englisch „I know, I know. I will give it back to her soon.“

Wir fühlten uns gekränkt, taten aber so, als würde es uns nicht stören, weil wir unser gutes Treffen nicht zerstören wollten. In der darauffolgenden Stunde starrte jedoch eine andere Person von ihnen uns an, während wir uns unterhielten, und kam schließlich mit einem entschlossenen Gesicht zu uns und fragte:

„Hey, Where are you from?“

Eine von uns hatte auf Deutsch darauf geantwortet, weil sie schon wusste, dass jene Person Deutsch sprechen kann:

„Aus Berlin.“

Daraufhin dachte diese einen Moment nach:

„Ah, Ihr könnt Deutsch. Ich meinte, wo eure Sprache herkommt.“

Ich fragte mich, warum diese Person uns so was fragte. Aber wir versuchten nett zu bleiben:

„Es ist Koreanisch.“

Nachdem sie unsere Antwort hörte, hat sie mit einem fröhlichen Gesicht zu uns gesagt:

„Achso, Ich habe ähnliche Sprache gehört, als ich in Singapur war!“

Nach der Unterhaltung mit dieser Person hatte ich unerklärlich schlechte Laune bekommen und unser angenehmer Abend war ruiniert. Ich kann nicht anders als zu wiederholen, warum sie uns gefragt hat, woher wir kommen, warum wir ihr das sagen müssen, und was für ein Zusammenhang zwischen Korea und Singapur für diese Person besteht, dass sie uns das ohne Überlegung fragen kann. Nach kurzem Nachdenken kam ich zum Ergebnis, dass solche Haltung gegenüber uns eindeutig rassistisch ist und dass diese Person uns aufgrund unseres Aussehens als asiatisch betrachtet hat. Jedoch meinte eine von uns, dass wir nicht beleidigt sein sollten und dass diese Person uns nicht mit schlechten Absichten gefragt hat. Daher musste ich mich nochmal fragen, ob mein schlechtes Gefühl richtig war.  

2. Was stört mich an dieser Frage?

Racial Microaggression

Rassismus ist eine Form von Diskriminierung. Rassismus richtet sich vorwiegend gegen BIPoC (Der Begriff bezieht sich auf Schwarze, Indigene und People of Color.) um diese aufgrund ihrer Herkunft, Farbe, Haare, Namen, Sprache, usw. zu entwerten, abzugrenzen und zu diskriminieren, ohne die individuellen Eigenschaften von betroffenen Menschen zu berücksichtigen.[1] Rassistische Handlungen können nicht nur Körperverletzung, verbale Herabsetzung und feindselige Darstellungen, sondern auch Komplimente und Gefälligkeiten sein.

Den Begriff Mikroaggressionen verwendete Harvard Professor Dr. Chester M. Pierce zum ersten Mal im Jahr 1970, um die Angriffe auf die Würde schwarzer Menschen bei Begegnungen zwischen weißen und schwarzen Menschen im US-Kontext zu bezeichnen und darzustellen. Laut Pierce sind Mikroaggression Äußerungen in der alltäglichen Kommunikation, die als übergriffig wahrgenommen werden und die der andere Person bewusst oder unbewusst abwertende Botschaften übermitteln, welche sich auf deren Gruppenzugehörigkeit beziehen.[2] In seinem Artikel An Experiment In Racism TV Commercials (1977) beschrieb er,“the chief vehicle for proracist behaviors is microaggression” (1977: 65).

Über die Jahre wurde dieser Begriff und diese Form von Rassismus weiter erforscht. Nach Solorzano, Ceja und Yosso wurde rassistische Mikroaggression wie folgt definiert: “subtle insults (verbal, non-verbal, and/or visual) directed toward people of color, often automatically or unconsciously” (2000: 60). Derald W. Sue teilt mit seinen Kolleginnen und Kollegen interpersonelle rassistische Mikroaggression in drei Ebenen ein: Erstens bezeichnen Mikroangriffe (microassaults) vorsätzliche diskriminierende Angriffe, die den Angegriffenen verbal oder nonverbal herabsetzen oder verletzen. Dies gleicht dem klassischen und offenen Rassismus, weshalb sie in der Forschung zur Mikroaggression selten erwähnt werden. Zweitens sind Mikrobeleidigungen (microinsults) unhöfliche oder unsensible, instinktlose Äußerungen, die die Herkunft oder Identität des Angegriffenen betreffen. Sie sind unterschwellig und deuten an, dass die Angegriffenen weniger wert sind. Schließlich beziehen sich Mikroentwertungen (microinvalidations) auf Aussagen, die die rassistischen Erfahrungen von BIPoC ignorieren oder entkräften. Wenn die Angegriffenen dies verwerfen, können die Angreifer diese unter dem Deckmantel des „Kompliments“ (z.B. Du kannst gut Deutsch!), des „gut gemeinte“ Widerstandes (z.B. Ich sehe keine Farben) oder der Zurechtweisung (z.B. sei nicht so sensibel!) zurückschlagen. Die Frage „Woher kommst du?“/ „Where are you from?“ gehört dazu.[3]

Rassistische Mikroaggressionen treten in den einzelnen Interaktionen zwischen den Täter:innen und den Opfern auf, weshalb sie als ‚mikro“ bezeichnet werden. Darüber hinaus kann es passieren, dass weder die Täter:innen noch die Opfer sie als eine Form von Aggressionen bemerken, da die Täter:innen sich scheinbar unabsichtlich rassistisch äußern. Williams demonstrierte jedoch, dass rassistische Mikroaggression tatsächlich beleidigend und aggressiv genug sei, weil die Opfer vorher bereits Mikroaggression erlebt hätten, unabhängig davon, ob die Täter:innen absichtlich oder unabsichtlich agieren. In der psychologischen Forschung wurde festgestellt, dass Mikroaggressionen auch einen ebenso großen psychologischen Einfluss auf die Opfer haben, wie andere Formen von Aggressionen. Neben den Auswirkungen auf die Opfer spielen rassistische Mikroaggressionen unter Interaktionen zwischen Weißen und BIPoC eine große Rolle, da die weiße Vorherrschaft unbewusst gestützt und bestärkt wird. Die Täter:innen demütigen oft unbeabsichtigt, weshalb die Opfer in einem Dilemma stecken und sich fragen, ob ihnen wirklich Rassismus widerfahren ist. Ein wichtiger Punkt zum Erkennen der rassistischen Mikroaggression ist es, dass sie aus der Perspektive des Opfers betrachtet werden muss.[4] Dementsprechend sind rassistische Mikroaggressionen Aussagen von Täter:innen, die absichtlich oder unabsichtlich erfolgen, wobei sie die Opfer abwerten und deren Identitäten, Erfahrungen und Wissen unsichtbar machen.

3. Was heißt eigentlich, Asiat:innen zu sein?

Asiatische Identität

Seitdem ich in Deutschland lebe, habe ich durch solche oben erwähnten Erfahrungen bemerkt, dass ich hier sowohl als Fremde, Ausländerin oder auch als Asiatin angesehen werde. Ich muss mich immer wieder fragen, warum ich nicht als eine Koreanerin, sondern als eine Asiatin wahrgenommen werde und was eigentlich asiatisch bedeutet.

Asiatische Identität ist eine ethnische Identität, die aufgrund verschiedener Aspekte wie z.B. Herkunft, Kultur, Geschichte und Religion als asiatisch selbst bezeichnet wird, oder vor allem aufgrund des Aussehens von anderem Individuum und andere ethnischen Gruppe als asiatisch zugeschrieben und abgegrenzt wird. Eine asiatisch gelesene Person kann deshalb von anderen als Mitglied einer asiatischen Gruppe behandelt werden, ohne mit dieser wirklich verbunden zu sein oder sich selbst dieser verbunden zu fühlen.

Jedoch ist Asien der größte Kontinent unserer Erde. Er vereint verschiedenen Nationen, Kulturen, Geschichten und Religionen und kann deshalb nicht einfach einheitlich angesehen werden. Nun kommt die nächste Frage: Welche Personen sind gemeint, wenn über „Asiatinnen und Asiaten“ gesprochen wird?

In Deutschland werden Menschen aus Westasien in großem Zusammenhang mit der Religion eher als muslimisch wahrgenommen, obwohl der Islam nicht bei allen westasiatischen Ländern als offizielle Religion gilt. Außerdem werden Menschen aus Zentralasien eher mit der ehemaligen Sowjetunion verbunden wahrgenommen. Welche menschliche Gruppe mit dem Asiatischen verknüpft sind, wurde von einer Befragung erforscht. Zusammengefasst resultiertet daraus, dass der Großteil der deutschen Bevölkerung vor allem Menschen aus China, Japan, Südkorea, Thailand, Indien und Vietnam mit Asien verknüpft.[5]

Asiant:innen sind Forever Foreigners

An dieser Stelle möchte ich mich damit befassen, wie asiatisch wahrgenommene Menschen in der weißen Dominanzgesellschaft stereotypisiert und dargestellt werden, welche Bedeutung dahintersteckt und welche Konsequenz dies mit sich bringt, beispielsweise für die Corona-Pandemie.

Asiatisch gelesene Menschen in Deutschland oder in anderen weißen Dominanzgesellschaften werden in widersprüchlichen Dimensionen sowohl positiv als auch negativ wahrgenommen. Einerseits werden sie als „Vorzeigemigrant*innen“ beschrieben und mit anderen (post-)migrantischen Gruppen verglichen, egal ob sie das wollen oder nicht. Andererseits werden sie als „G**** Gefahr“[6] dargestellt, einer homogene Masse, welche die weiße Bevölkerungen gesundheitlich, ökonomisch, usw. gefährden.[7] Geschlechtsspezifisch werden asiatisch weiblich gelesene Menschen hypersexualisiert und ihnen Eigenschaften wie „gehorsam“ und „unterwürfig“ zugeordnet, während asiatische männlich gelesene Menschen, je nach Narrativ, eher als de-sexualisiert dargestellt werden.

Weiße Menschen glauben, dass asiatisch gelesene Menschen sich in ihre Gesellschaft integrieren wollen. Aufgrund des existierenden Rufes der asiatisch gelesenen Menschen sind weiße Menschen nicht dagegen, sie in ihre Gruppen aufzunehmen. Dadurch scheinen asiatisch gelesene Menschen leichter der weißen Dominantgesellschaft anzugehören als andere BIPoC. Tatsächlich werden sie in dieser Gesellschaft jedoch als „forever foreigners“ angesehen und erfahren verschiedene Formen von Marginalisierung und Ausgrenzung.[8]

Die stereotypisierten Darstellungen, die Asien aus westlichem Blick zugeschrieben werden, stehen im Zusammenhang mit dem Konzept des „Orientalismus“ von Said. Ihm zufolge definiert der Westen sich selbst als überlegene Zivilisation, den Osten dagegen als „exotische“ und „minderwertige, unterlegende“ Zivilisation und den Osten als „Andere“, die „Uns“ ständig bedrohen. Mit diesen in westlichen Gesellschaften tief verwurzelten orientalistischen Ideen sind die asiatisch gelesenen Menschen den Weißen unterlegene und dauerhaft bedrohliche Ausländer:innen, unabhängig davon, wie lange sie in Deutschland leben, ob sie in Deutschland geboren sind, oder wie gut sie Deutsch können und wie gut sie in die deutsche Gesellschaft integriert sind.

Einige Wissenschaftler:innen behaupten, dass die positive Zuschreibung (asiatisch gelesene Menschen als „Vorzeigemigrant:innen“) auch wie ein „camouflaged Orientalism“ wirkt. Dies liegt daran, dass Druck auf asiatisch gelesene Menschen ausgeübt wird, sich „vorbildlich“ zu verhalten und sich an die weiße Dominantgesellschaft anzupassen. „G**** Gefahr“ hingegen ist ein negativerer und deutlich rassistischerer Ausdruck und spiegelt sehr direkt den Orientalismus wider. Hierbei werden asiatisch gelesene Menschen erniedrigt, da sie kulturell und politisch den Weißen unterlegen und dabei bedrohlich für Weiße seien.[9] Diese beiden Narrative markieren asiatisch gelesenen Menschen als permanente „Ausländer:innen“ oder „Andere“, die sich nie in Weiße dominierende Gesellschaft integrieren. Dieser Blick auf Asiatinnen und Asiaten kommt im Alltag in Form von rassistischer Mikroaggression zum Ausdruck, in einer nationalen Krise tritt er jedoch in einer kollektiveren und gewalttätigeren Form auf.

Ein Beispiel hierfür ist die Covid-19-Pandemie. Während der Pandemie verbreiteten sich in den deutschen Medien negative Verschwörungstheorien über China, was zu einem Anstieg der Antichina- und Antiasien-Stimmung führte. Infolgedessen sind nicht nur Chinesinnen und Chinesen, sondern auch alle asiatische wahrgenommenen Menschen von Gewalt und Diskriminierung betroffen, weil sie „wie Chinesinnen und Chinesen aussehen“ oder weil die falsche Vorstellung besteht, dass alle Asiatinnen und Asiaten aus China kommen.

Antiasiatischer Rassismus geschieht aus solchen falschen Darstellungen in sehr umfangreichen Formen, z.B. verbalen Mikroaggressionen, struktureller Diskriminierung und körperlichen Angriffen, oder im schlimmsten Fall sogar Mord. In diesem Kontext fand eine Rassifizierung und Kulturalisierung eines biologischen Phänomens statt. Der Virus wurde asiatisch gelesenen Körpern zugeschrieben und asiatisch gelesenen Menschen wurde die Schuld für die vermeintliche Verbreitung des Virus zugewiesen. Asiatinnen und Asiaten erleben in Krisenzeiten „Othering“ von anderen ethnischen Gruppen. Durch „Othering“ werden sie für ihre Lebensweise und ihre kulturellen Merkmale verurteilt, stigmatisiert und für das Verursachen und Verbreiten der Krise verantwortlich gemacht. Dies impliziert, dass Asiatinnen und Asiaten nicht als Mitglieder:innen der deutschen Gesellschaft anerkannt werden, sondern Andere sind, die jederzeit ausgeschlossen werden können, wenn die Dominanzgesellschaft sie nicht mehr will.[10] Covid-19 deutet in verschiedenen Formen von Othering und Rassismus an, dass Asiatinnen und Asiaten in Deutschland immer noch als permanente Ausländer:innen gelten und dabei ihre eigene Erfahrungen ignoriert wird.

4. Ausblick

Rassistische Mikroaggressiontritt normalerweise in interpersoneller Kommunikation auf. Dabei wird sie möglicherweise nicht als rassistische Haltung wahrgenommen und ihre Auswirkung auf die Betroffenen wird unterschätzt. Allerdings kann sich daraus eine kollektive, gewalttätige und strukturelle Form von Rassismus ergeben.

Das Problem mit rassistischer Mikroaggression und antiasiatischem Rassismus besteht darin, dass sie weniger im Vergleich zu Rassismus gegen andere BIPoC erforscht und erkannt wird. Aufgrund des Blicks, dass Asiatinnen und Asiaten vorbildlich sein sollen, wird ihr Leben in der deutschen Gesellschaft unsichtbar. Dadurch bleibt die antiasiatische Diskriminierung, sowie ausgrenzende Situationen gegenüber Asiatinnen und Asiaten, unsichtbar. Das lässt sich unter anderem auf den Mangel an inhaltlicher und personeller Diversität in verschiedenen Bereichen zurückführen. Insbesondere werden Asiatinnen und Asiaten in Deutschland in der Wissenschaft, in Bildungsinstitutionen, in den Medien und in der Kultur immer noch zu wenig repräsentiert. Sie sind z.B. in den meisten Medien abwesend oder erscheinen in einer Art, in der bestimmte Stereotypen verstärkt werden, wie beispielsweise als „token asian“. Es ist sehr wichtig zu repräsentieren und darzustellen, dass Asiatinnen und Asiaten an vielfältigen und vielseitigen Orten auf verschiedene Weise existieren. Dadurch können ihre Existenz und ihr Leben in der Gesellschaft sichtbar werden und die Öffentlichkeit wird gegenüber antiasiatischem Rassismus sensibilisiert.

Seit dem Beginn der Pandemie hat antiasiatischer Rassismus in Deutschland bewirkt, dass sich bundesweit Aktivistinnen und Aktivisten aus der Asiatisch-Deutschen Community vernetzen und sich gemeinsam gegen Rassismus engagieren.[11] Die Selbstbezeichnung „Asiatische Deutsche“ wird verwendet, damit viele asiatisch wahrgenommenen Menschen sich politisch gemeinsam positionieren und solidarisieren, um gegen Rassismus zu kämpfen.[12] Sich  als Asiatinnen und Asiaten zu identifizieren kann einerseits dazu führen, sich durch ethno-national-kultureller Kategorisierung von anderen Gruppen abzugrenzen, anderseits mit dieser gemeinsamen Bezeichnung ein Zugehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl hervorbringen.[13] Dahingehend können Asiatinnen und Asiaten sich zusammenfinden und gegenseitig unterstützen, indem sie gemeinsam öffentlich ihre Erfahrungen teilen und andere Erfahrungen hören. Dadurch können sie stolz darauf bleiben, dass sie Asiatinnen und Asiaten sind.

Literaturverzeichnis

Administrator: ASIATISCHE DEUTSCHE – Migrationsgeschichten, in: Migrationsgeschichten, 15.08.2022, [online] https://migrations-geschichten.de/asiatische-deutsche/.

Bildung, Bundeszentrale Für Politische: Rassismus, in: bpb.de, 30.11.2022, [online] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-in-einfacher-sprache/322448/rassismus/.

Ha, Kien Nghi: Asiatische Deutsche: Vietnamesische Diaspora and Beyond, 15.01.2021. S. 212-215

Li, Yao/Harvey L. Nicholson: When “model minorities” become “yellow peril”—Othering and the racialization of Asian Americans in the COVID‐19 pandemic, in: Sociology Compass, Wiley-Blackwell, Bd. 15, Nr. 2, 01.02.2021, [online] doi:10.1111/soc4.12849, S. 1-13

Nguyen, Kimiko Suda |  Sabrina J. Mayer |, Christoph: Antiasiatischer Rassismus in Deutschland, in: bpb.de, 07.12.2021, [online] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antirassismus-2020/316771/antiasiatischer-rassismus-in-deutschland/.

Pierce, Chester M./Jean V. Carew/Diane Pierce-Gonzalez/Deborah Wills: An Experiment in Racism, in: Education and Urban Society, SAGE Publishing, Bd. 10, Nr. 1, 01.11.1977, [online] doi:10.1177/001312457701000105, S. 61–87.

Spanierman, Lisa B./D Anthony Clark: Racial Microaggressions: Empirical Research that Documents Targets’ Experiences, in: Gesellschaft der Unterschiede, Transcript Verlag, 06.02.2023, [online] doi:10.14361/9783839461501-008, S. 231–250.

Sue, Stanley/Christina M. Capodilupo/Gina C. Torino/Jennifer Bucceri/Aisha M. B. Holder/Kevin L. Nadal/Marta Esquilin: Racial microaggressions in everyday life: Implications for clinical practice., in: American Psychologist, American Psychological Association, Bd. 62, Nr. 4, 01.05.2007, [online] doi:10.1037/0003-066x.62.4.271, S. 271–286.


[1] Vgl. Bildung, 2022.

[2] Vgl. Spanierman/Clark, 2023. S. 231

[3] Vgl. Sue et al., 2007. S. 274f

[4] Vgl. Spanierman/Clark, 2023. S. 232f

[5] vgl. Nguyen, 2021.

[6] Der Begriff „G**** Gefahr“ ist ein Pejorativum aus der Kolonialzeit gegen (süd-)ostasiatische Völker und eine diskriminierende Bezeichnung für die Betroffenen, deshalb möchte ich in diesem Essay nicht direkt verwenden.

[7] vgl. Nguyen, 2021.

[8] Vgl. Li/Nicholson, 2021. S. 2

[9] vgl. Li/Nicholson, 2021. S. 3f

[10] vgl. Li/Nicholson, 2021. 4ff

[11] vgl. Nguyen, 2021.

[12] Vgl. Administrator, 2022.

[13] vgl. Ha, 2021. S. 213


Quelle: JeongA Hwang, Where Are You From? Inwieweit hinter dieser Frage Rassismus steckt, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 20.07.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=380

Von der Pathologisierung zur Selbstbestimmung

Betrachtung des TSG im Hinblick auf das Selbstbestimmungsgesetz

John Krakow (WiSe 2022/23)

Einleitung

Zur trans* Geschichte gehört auch Pathologisierung und Fremdbestimmung. Einen großen Anteil daran hat das TSG, das sogenannte „Transsexuellengesetz“. Es regelt in Deutschland die Personenstands- und Vornamensänderung für trans* Personen (Stand Mai 2023). Das Gesetz ist seit dem 1. Januar 1980 in Kraft, jedoch längst überholt und mehrfach für verfassungswidrig erklärt worden.[1] Zur trans* Geschichte gehört aber auch Vielfalt, Freude und Kultur, um die es öfter gehen sollte, leider wird sie auch hier wieder zu kurz kommen. Aktuell ist die Frage nach Selbstbestimmung, das Händeringen nach Sichtbarkeit und die Notwendigkeit von Information brennend. Seit dem 09.05.2023 liegt der Entwurf für das Selbstbestimmungsgesetz vor, nun liegt er bei den Interessenverbänden.[2]

In dieser Hausarbeit wird es hauptsächlich um die Erklärung des TSG gehen, auch unter Bezugnahme des Entwurfes zum Selbstbestimmungsgesetz. Dabei fokussiere ich mich auf den Aspekt der Pathologisierung. Zum Schluss habe ich meine eigene Meinung in einem Essay zusammengefasst, das sich mit der Pathologisierung auf der alltäglichen und gesellschaftlichen Ebene beschäftigt.

Begriffe

Zunächst ist eine Begriffsdifferenzierung nötig, da das TSG den veralteten Begriff transsexuell im Namen trägt. Trans* sein hat nichts mit Sexualität zu tun, sondern befindet sich auf der Geschlechtsebene: Trans* Personen können jede Sexualität haben, die cis Personen auch haben können. Transsexualität oder auch Transsexualismus kommen aus einem medizinischen, pathologisierenden Kontext, in dem Transidentität als Krankheit eingestuft wurde. Außerdem hängt der Begriff transsexuell auch mit Gatekeeping und der Vorstellung zusammen, man sei nur wirklich trans*, wenn man sich einer „vollständigen“ Transition unterziehe. Der Begriff Transsexuell wird daher nicht mehr verwendet, sondern stattdessen transident, transgeschlechtlich oder auch transgender, da die Begriffe genauer und wertfreier sind. Es wird auch nicht mehr von Transsexuellen gesprochen, sondern von trans* Personen.

Diese Differenzierungen und Untersuchungen sind wichtig, da hinter den Begriffen auch gesellschaftliche Verständnisse stecken.

Aktuelle Namens- und Personenstandsänderung

Um aktuell als trans* Person Vornamen und/oder Personenstand zu ändern, muss das TSG durchlaufen werden. Unterschieden wurde in der Vergangenheit zwischen „der kleinen Lösung“ und „der großen Lösung“. Die kleine Lösung bestand dabei nur aus der Vornamensänderung und die große Lösung beinhaltete ebenfalls die Anpassung des Personenstandes. Diese Unterteilung, sowie die darin beinhalteten Voraussetzungen, sind als verfassungswidrig eingestuft worden und finden keine Anwendung mehr. Sie sind jedoch immer noch im TSG festgeschrieben.[3]

Um Namen und Personenstand zu ändern, ist für trans* Personen immer noch ein gerichtliches Verfahren Voraussetzung, in dem sie mit zwei voneinander unabhängigen psychologischen Gutachten ihr Geschlecht beweisen müssen. Ein Gericht urteilt anschließend darüber. Die Kosten müssen selbst getragen werden, Prozesskostenbeihilfe ist möglich. Der Arbeitsaufwand für Behörden, Psycholog*innen und Betroffene ist immens. Zudem liegt dem Prozess eine Pathologisierung zugrunde, die zur Entmündigung führt. Das eigene Geschlecht muss bewiesen und fremd beurteilt werden, weil das eigene Urteilsvermögen nicht belastbar scheint. Der Name des Gesetzes spricht also für sich, Fundament für dieses gesetzliche Regelung ist der Irrglaube von Transidentität als Krankheit, als Transsexualismus.[4] In den Gutachtenverfahren sind die Betroffenen der Willkür der Gutachter*innen ausgesetzt. Das Spektrum reicht von wohlwollender Beratung bis hin zu grenzüberschreitenden (Re-)Traumatisierung. Teil dieses Verfahrens sind häufig seitenlange Fragebögen, mit Fragen zu Befindlichkeit und Rollenverständnis aus der Kindheit, beispielsweise „Welche Toilette oder Umkleide benutzen Sie in der Schule? Hatten Sie eine Lieblingssportart?“. Persönlichere, jedoch nicht weniger willkürliche Fragen, beinhalten zum Beispiel „Wie alt war ihre Mutter bei ihrer Geburt?“ oder „Hatten Sie bereits wichtige Freundschaften oder Partnerschaften?“. Manche Betroffene berichten davon, über ihr Liebes- und Sexleben, sowie Masturbationsverhalten ausgefragt worden zu sein, teilweise mit Unterstellungen, die Pädophilie beinhalten. Einige berichten ebenfalls davon, dass sie sich haben ausziehen müssen. Homophobie ist neben der offensichtlichen Transphobie und Übergriffigkeit ein weiteres Problem innerhalb der Verfahren. Betroffene verschweigen ihre Homosexualität, oder andere nicht-heteronormative Sexualitäten, aus Angst ein negatives Gutachten zu erhalten.[5] Es gibt natürlich auch Gutachter*innen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben trans* Personen zu unterstützen, zu beraten und vor solchen Situationen zu schützen. Um Einzelpersonen geht es bei der Kritik an den Gutachten jedoch nicht, sondern um die Willkür, Gefährdung und die Entmündigung, die das Verfahren bedeuten. Selbst Gutachter*innen, die diese Verfahren durchführen, halten diese für überholt und schlichtweg unnötig, da Geschlecht keine Kategorie ist, die von außen bestimmbar ist. Einer Beratung steht einer Begutachtung konträr gegenüber.[6]

Der Paragraf zu den Gutachtenverfahren lautet wie folgt:

„Das Gericht darf einem Antrag nach § 1 nur stattgeben, nachdem es die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt hat, die auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfahrung mit den besonderen Problemen des Transsexualismus ausreichend vertraut sind. Die Sachverständigen müssen unabhängig voneinander tätig werden; (…)“

[7]

„(…) in ihren Gutachten haben sie auch dazu Stellung zu nehmen, ob sich nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft das Zugehörigkeitsempfinden des Antragstellers mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr ändern wird.“

[8]

Allein die Formulierung gibt Aufschluss darüber, wie trans* sein hier immer noch als Krankheit geframt wird.  Es wird von „besonderen Problemen“ ausgegangen, die Expertise benötigen. Zudem wird hier erneut der pathologisierende Begriff Transsexualismus verwendet. Der zweite Part des Paragrafen ist ebenfalls interessant, da er eine Angst widerspiegelt, die sich immer noch um den Diskurs zur Selbstbestimmung rankt und selbst im Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz zu finden ist, in dem eine einjährige Sperrfrist vorgesehen ist bis Name und/oder Personenstand wieder geändert werden können. Zudem gibt es bei dem Selbstbestimmungsgesetz eine dreimonatige Bedenkzeit, bis die Änderung beim Standesamt rechtkräftig wird. Hier ist deutlich die Angst vor Veränderung zu sehen, ebenso wie die Angst von Geschlecht als wandelbare, diverse und komplexe Kategorie, sowie die diffuse Angst vor Missbrauch gesetzlich festgelegter Rechte marginalisierter Gruppen, die den Diskurs prägen. Im Gesetzesentwurf zur Sperrfrist heißt es:

„Dies (die Sperrfrist) soll dazu führen, dass insbesondere volljährige Personen sich der Tragweite ihrer Erklärung bewusst sind, weil klar ist, dass sie an die Erklärung mit den entsprechenden Einträgen mindestens ein Jahr gebunden sind. Die Vorschrift dient damit als Übereilungsschutz und verdeutlicht der erklärenden Person die Ernsthaftigkeit ihrer Erklärung.“[9]

Interessant ist hierbei auch wieder die Formulierung. Ein „Übereilungsschutz“ klingt nach über 40 Jahren TSG nach fehlgeleiteter Pädagogik. Die Tragweite ist durch alltägliche Diskriminierung und Marginalisierung von trans* Personen schlichtweg nicht zu übersehen. Die Festschreibung der Ernsthaftigkeit als Kriterium scheint der Ernsthaftigkeit der Rechtesicherung gegenüber trans* Personen nicht gerecht zu werden.

Mitzuberücksichtigen ist sicherlich die Gerichtsfestigkeit, die solche Entwürfe ebenfalls sichern müssen. Einen mindestens faden Beigeschmack hinterlassen solche Regelungen und Formulierungen trotzdem, auch angesichts der jahrzehntelangen staatlichen Diskriminierung, dem dieses Gesetz genau gegenübertritt.

„(…) sie sich auf Grund ihrer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet (…)“

[10]

Ein weiterer problematischer Aspekt ist die geschlechtliche Binarität, auf dem das TSG basiert. Nicht-binäre Personen finden erst seit 2020 Erwähnung, durch die Erweiterung um die Kategorie divers und die Möglichkeit der Streichung der Geschlechtseintragung. Die Kategorie divers steht seit 2018 inter* Personen zur Verfügung. Sie müssen aber eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ attestiert bekommen, welche eine weitere Form der Pathologisierung aufweist und essentialistisch argumentiert. Die sogenannte „Dritte Option“ wurde bis 2019 auch von trans* Personen genutzt, bis diese neu formuliert wurde und trans* Personen kriminalisiert, die diese Option nutzen. Diese Möglichkeit der Personenstandsänderung bezieht sich ausdrücklich nur auf Körperlichkeit und dem Herausfallen aus essentialistischer Zweigeschlechtlichkeit, die offengelegt und offiziell nachgewiesen werden muss.[11]

Im Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz sind nicht-binäre Personen ausdrücklich mitbedacht und erhalten die gleiche Rechte wie binäre trans* Personen.[12]

TSG – pausierte Klauseln

Das TSG beinhaltet einige Klauseln, die für verfassungswidrig erklärt wurden, da sie gegen das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung verstoßen und die Menschenwürde missachten.[13] Drei dieser Klauseln sind besonders gravierend.

Bis 2009 ging die Anpassung von Name- und Personenstand auch mit der Zwangsscheidung der eigenen Ehe einher. Das geht zurück auf Homophobie und nationalistische Familienvorstellungen, die ein Abweichen von der cis-hetero Norm nicht vorsahen:

“Ist die Person im Zeitpunkt der gerichtlichen Anordnung verheiratet gewesen und ist ihre Ehe nicht inzwischen für nichtig erklärt, aufgehoben oder geschieden worden, so gilt die Ehe mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes als aufgelöst. (…)“

[14]

Bis 2011 wurden trans* Personen dazu gezwungen „dauerhaft fortpflanzungsunfähig“ zu sein. Das bedeutete die Entscheidung zwischen der Anerkennung der eigenen Identität und Zwangssterilisation. Trans* Personen wurden außerdem zur Transition gezwungen, um sich cis Vorstellungen von Geschlecht anzupassen. Sehr deutlich wird hier die binäre Vorstellung von Geschlecht und der Versuch des Erhalts tradierter Geschlechterrollen:

„(…) sich einem ihre äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen hat, durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht worden ist“

[15]

Trans* Personen sollte so zwar ermöglicht werden staatlich anerkannt (und reguliert) zu existieren, jedoch nur in der Anpassung an Heteronormativität und unter Ausschluss von Familienleben. Das bedeutet unsichtbar sein und nicht partizipieren. Deutlich wird hier ein nationalistisches Bild von Familie, in dem der Staat massiv in Reproduktionsrechte eingreift und darüber bestimmen möchte, wer Familien gründet. Auch die Legalität und Information von Schwangerschaftsabbrüchen und die Gleichstellung der Ehe entspringen diesem Motiv.  

Bis heute haben die Betroffenen dieser Zwangssterilisation und Zwangsoperationen keine Entschädigungsleistungen erhalten, die immer wieder von Verbänden und sogar dem UN-Menschenrechtsrat gefordert werden. Die planmäßige Aktenvernichtung nach dreißig Jahren konnte noch verhindert werden, sodass dies weiterhin möglich wäre.[16]

Gesundheit und Selbstbestimmung

Selbstbestimmung hat große, positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Dieser Satz ist nicht nur gültig für trans* Personen, sondern für alle Menschen. Ein selbstbestimmtes Leben ist ein essenzieller Bestandteil für Zufriedenheit, Selbstwirksamkeit und auch Sicherheit. Anerkennung der eigenen Identität hat ebenfalls großen Einfluss auf die psychische Gesundheit. Die Verwendung von korrekten Pronomen und dem selbstgewählten Namen senkt nachweislich das Depressions- und Suizidrisiko, wie eine Studie über junge trans* Personen aus Texas zeigt[17]. Diskriminierung und Unwissenheit in medizinischen Kontexten sind ein weiteres Problem. Trans* Personen suchen sich möglicherweise viel später Hilfe und bekommen teilweise eine schlechtere Versorgung, weil das Wissen über trans* Körper noch nicht besonders verbreitet ist.[18] Den Beitrag, den das Selbstbestimmungsgesetz dazu leisten könnte, wäre ein Hürdenabbau, durch banal erscheinende Aspekte wie die Anpassung einer Krankenkassenkarte.

Eine Rechtssicherheit und Selbstbestimmtheit bezüglich des eigenen Namens und Pronomens wie es im Selbstbestimmungsgesetz vorgesehen ist, wird riesige Auswirkungen auch auf die Gesundheit von trans* Personen haben. Das Offenbarungsverbot, das vorsieht, Misgendering und Outing strafrechtlich zu verfolgen, könnte ebenfalls ein lang ersehntes Stück Sicherheit für trans* Personen bringen, weißt aber Lücken auf.[19] Den eigenen Personenstand und Namen nicht angepasst zu haben, birgt ständige Unsicherheit im Alltag und kann auch zur Gefahr werden. Diese Art der existenzbedrohenden Unsicherheit bedeutet eine massive Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit und des allgemeinen Wohlbefindens. Auch wenn das Selbstbestimmungsgesetz die Angst, die Personen marginalisierter Gruppen alltäglich empfinden, nicht aufheben kann, kann es ein Stück längst überfällige Rechtssicherheit bringen. Die Auswirkungen des Selbstbestimmungsgesetzes wären weitreichend – sie bewegen sich auf dem fundamentalen Level der Anerkennung, der Sicherheit, aber beinhalten auch die Freude darüber, auf der Bankkarte endlich den eigenen Namen zu haben, problemlos(er) einen Job anzufangen und wieder verreisen zu können, weil der Check-in am Flughafen nicht mehr das Aus bedeutet.

Pathologisierung und Selbstbestimmung im gesellschaftlichen, bürgerlichen Kontext

Der folgende Text ist ein Essay, der auf meiner persönlichen Meinung basiert

Im TSG spiegelt sich auch ein gesellschaftliches Verständnis von trans* Personen und deren Realitäten. Gerade im Angesicht eines möglichen Selbstbestimmungsgesetz ist es wichtig, sich das TSG noch einmal genau anzuschauen, auch im gesellschaftlichen, konkret bürgerlich-liberalen Kontext. Die Pathologisierung, die im TSG deutlich zu erkennen ist, findet sich auch im Alltag, mit dem trans* Personen konfrontiert sind, wieder. Fragen nach „Wie weit bist du schon?“ zeichnen trans* sein als Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, als Prozess, der abgeschlossen werden soll, um in eine vermeintliche Normalität zurückzukehren. Die Prozesshaftigkeit, die schon im Wort trans* verankert zu sein scheint, findet immer noch zu selten Beachtung.

Trans* sein verstehe ich auch als Chance der ständigen Transformation und der Wandelbarkeit. Nicht jede trans* Person strebt überhaupt eine Transition an und keine Transition sieht gleich aus. Wenn ich also mal wieder gefragt werde „XY ist aber schon weiter als du, oder?“, kann ich nur fragen: Womit? Mit dieser Hausarbeit? Mit dem Einrichten der eigenen Wohnung?

Trans* sein ist weder als abgeschlossen zu betrachten, noch in Frage zu stellen. Es findet sich auch eine Sicherheit in der Reflexion und der Möglichkeit zur Veränderung, im Verständnis für sich selbst. Die Möglichkeit Grenzen zu ziehen und mehr über sich herauszufinden, bietet auch die Chance, Empathie gegenüber anderen Menschen und deren Realitäten zu entwickeln.

Davon abgesehen, dass solche Fragen durchaus grenzüberschreitend sind, sind sie doch sehr aufschlussreich. Sie geben auch Aufschluss über gesellschaftliche Scham, die, wenn auch nicht nur, als Folge von Pathologisierung zu sehen ist. Auch Krankheit ist nach wie vor ein Tabuthema – auch dies ist problematisch, ist aber zu weitreichend an dieser Stelle.

Worte wie trans*, nicht-binäre Person, trans Mann, trans Frau und Transition sind noch immer schambehaftet. Anstatt also im passenden Rahmen, und nach vorheriger Erlaubniseinholung, zu fragen wie es mir mit meiner Transition geht und wie meine Hormonbehandlung läuft, kommt „Wie weit bist du schon?“. Als sei man ein Payback Punkte Heft, noch zwanzigmal Testogel schmieren und die Teflonpfanne Burgund ist schon zum halben Preis erhältlich.

Eine weitere solcher Fragen ist dann oft „Wie lange musst du das denn noch machen?“, bezogen ist das auf die Zufuhr von Testosteron.

Die Kritik ist eine gesellschaftliche Kritik. Die Unwissenheit von Einzelpersonen, denen ich ehrliches Interesse gar nicht abspreche, ist nur Symptom der fortlaufenden Pathologisierung. Ich werde Testosteron mein Leben lang nehmen, das ist kein Medikament zur Bekämpfung einer Krankheit. Trans* sein ist eine Variante der Existenz, genau wie cis sein. Trans* sein darf und muss ausgesprochen werden, laut ausgesprochen werden. Es ist kein Zufall, dass das TSG Transsexuellengesetz heißt, es immer noch besteht, und die Angst vor dem Selbstbestimmungsgesetz, auf allen Seiten, gerade größer ist denn je. Der pathologisierende Ansatz im Umgang mit trans* Personen findet sich im Alltag und in Institutionen wieder. Im besten Fall durchläuft man die Transition in den sicheren cis-Hafen, im schlechtesten existiert man gar nicht, sondern ist verwirrt, nicht zurechnungsfähig. Trans* muss zur Normalität als Facette hinzugefügt werden, die eine Gleichwertigkeit mit cis hat. Ich werde immer trans* sein und das finde ich schön.

In einer Gesellschaft in der trans* Personen gleichzeitig nicht existieren und eine Bedrohung sind, ist Aufklärung und im Zuge dessen Entpathologisierung essenziell und reichlich verspätet. Bereits Magnus Hirschfeld verfolgte den Ansatz der Entpathologisierung, beispielsweise mit der Einführung des sogenannten Transvestitenscheins. Dieser ermöglichte es trans* Personen, von Polizei und Behörden einigermaßen unbehelligt, selbst über ihren Geschlechtsausdruck zu bestimmen. Dieser Schein, eine der ersten Umsetzungen zur Entpathologiserung, wurde 1909 eingeführt.[20] „Transsexualismus“ fiel erst mit der Einführung des ICD 11, der immer noch keine großflächige Anwendung findet, aus dem Katalog der Persönlichkeitsstörungen, 2019.[21] Knapp 114 Jahre später liegt nun auch schon ein Gesetzesentwurf vor, der aus Transsexualität Transidentität macht und für Selbstbestimmung sorgen soll. Selbstbestimmung scheint greifbar, endlich möglich. Aber die noch so hoffnungsvollen Stimmen, die selbst nach 2021, der ersten Ablehnung der Abschaffung des TSG[22], werden stetig leiser und sorgenvoller. Hausrecht, Verteidigungsfall. Was ist denn jetzt mit meinen trans* Schwestern? Warum muss in einem Gesetz, das für uns gemacht wird, erwähnt werden, dass sich am allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz rein gar nichts ändern wird? Die Formulierungen sprechen Bände: Das dient nicht dem Schutz von Frauen, weder trans* noch cis. Die Beruhigung der Angst vor mindestens konservativen Stimmen, während man die Strohfrau wieder aufstellt und das einfachste Feindbild bedient: die bedrohliche trans Frau. Als ginge Gewalt nicht immer und immer wieder von Männern aus, meistens cis Männern und als bräuchten sie eine weitere staatliche Erlaubnis übergriffig zu sein, das hat das Patriachat doch gar nicht nötig. Die Aufmerksamkeit ist da, zusätzlicher Schutz nicht. Es muss darüber geredet und gestritten und informiert werden. Ich kann keinen Text, keine Arbeit über Selbstbestimmung schreiben, ohne darüber zu reden, doch die Emotionalität ist vorhanden, das will in keine streng wissenschaftliche Form. Die Emotionalität ist wichtig, hier geht es um Existenzen, und Sensibilität macht Aspekte nicht weniger wichtig, es unterstreicht sie.

Noch immer werden trans* Personen mit gedämpfter Stimme und unangebrachten Detailwünschen nach der Transition gefragt, als sei diese mit trans* sein gleichzusetzen und als sei trans* nur eine Zwischenstufe zurück in die Normalität hinein in eine Bürgerlichkeit. So ähnlich, als habe man in den 1980ern einen Vokuhila gehabt.

Und wenn das Bewusstsein über die Tragweite als Kriterium im Entwurf bereits sieben Mal erwähnt wird, frage ich mich langsam ernsthaft nach der Ernsthaftigkeit und dem Verständnis der Tragweite, wenn nach 114 Jahren das erste Mal ernsthaft Aussicht auf Selbstbestimmung in Deutschland besteht.

Literaturverzeichnis

Antidiskriminierungsstelle des Bundes https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/dritte-option/dritte-option-node.html (letzter Aufruf 15.05.23)

Bundesverband trans* zum ICD 11 https://www.bundesverband-trans.de/bvt-begruesst-icd-11-der-who-verbesserung-der-transgendergesundheitsversorgung-in-aussicht/ (letzter Aufruf 15.05.23)

Bundestag Abstimmungsergebnisse über die Abschaffung des TSG vom 19.05.2021 https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimmung/?id=738 (letzter Aufruf 15.05.23)

Dokumentation „Ab heute – Der lange Weg zum eigenen Namen“ 2021 https://www.abheute-doku.com (letzter Aufruf 15.05.23)

ICD-10 https://www.icd-code.de/suche/icd/code/F64.-.html?sp=STranssexualismus (letzter Aufruf 15.05.23)

Jstor Daily Artikel zum Transvestitenschein https://daily.jstor.org/gender-identity-in-weimar-germany/ (letzter Aufruf 15.05.23)

Queer.de Artikel Entschädigungsfonds https://www.queer.de/detail.php?article_id=43769 (letzter Aufruf 15.05.23)

Referentenentwurf Selbstbestimmungsgesetz des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Bundesministeriums der Justiz – Entwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften https://www.bmfsfj.de/resource/blob/224548/ee3826a31ca706aed23053b633ff5c60/entwurf-selbstbestimmungsgesetz-data.pdf (letzter Aufruf 15.05.23)

Schwulenberatung Berlin, Studie – „Wo werde ich eigentlich nicht diskriminiert?“ – „Diskriminierung von LSBTIQ* im Gesundheitssystem in Berlin“

Sven Lehmann Interview zum Entwurf des SBGG https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/hausrechtsparagraf-lost-angste-aus-queerbeauftragter-will-anderungen-an-selbstbestimmungsgesetz-9790259.html (letzter Aufruf 15.05.23)

TSG – Gesetze im Internet Gesetzestext Einsicht https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html (letzter Aufruf 15.05.23)

University of Texas at Austin, Studie über psychische Gesundheit von jungen trans* Personen https://news.utexas.edu/2018/03/30/name-use-matters-for-transgender-youths-mental-health/

Private Quellen: Eigene Erfahrung, Erfahrung anderer trans* Personen, allgemeines Wissen, das Teil von queeren und trans* Diskursen ist und nicht auf eine spezielle Quelle zurückzuführen sind

Weiterführende Links zu Stellungsnahmen (letzter Aufruf 05.06.23)

dgti* (Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V) https://dgti.org/2023/05/10/selbstbestimmungsgesetz/

transinterqueer e.V.: https://www.instagram.com/p/Cs3i5fqMitW/?igshid=MzRlODBiNWFlZA%3D%3D (Stellungnahme auf Website folgt noch https://www.transinterqueer.org)

Deutscher Juristinnenbund: https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st23-16

Frauen gegen Gewalt e.V.: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/aktuelles/nachrichten/nachricht/stellungnahme-zum-referentenentwurf-des-bmfsfj-und-des-bmjv-zum-selbstbestimmungsgesetz.html

Stellungnahme von Sven Lehmann (Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt) : https://www.sven-lehmann.eu/wp-content/uploads/2023/05/Stellungnahme-des-Queer-Beauftragten-zum-Entwurf-Selbstbestimmungsgestz-1.pdf


[1] TSG https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html

[2] Stellungnahmen von Interessenverbänden liegen seit dem 31.05 vor, diese Hausarbeit entstand davor, weiterführende Links zu Stellungnahmen finden sich im Literaturverzeichnis. Insgesamt begrüßen die meisten Interessenverbände ein Selbstbestimmungsgesetz, kritisieren jedoch die Umsetzung. Die meistgenannten Punkte sind dabei die unzureichenden Möglichkeiten der Selbstbestimmung für Minderjährige (teilweise Forderung nach selbstständiger Änderung ab 14 Jahren), das nicht ausreichend schützende Offenbarungsverbot (Ehepartner*innen werden hier zum Beispiel ausgenommen), die Diskriminierung von trans* Eltern durch falsche Einträge im Geburtenregister, die Diskriminierung von trans* Frauen und trans* femininen Personen durch die unnötige Nennung des AGG und die fragwürdige Regelung im Verteidigungsfall, sowie fehlender gesetzlicher Schutz, außerdem die Forderung nach Stärkung und Förderungen von peer-to-peer Beratung und die Einrichtung von Entschädigungsfonds.

[3] Referententwurf Selbstbestimmungsgesetz unter Begründung A. Allgemeiner Teil, Seite 17

[4] ICD-10 Transidentität klassifiziert als Persönlichkeitsstörung https://www.icd-code.de/suche/icd/code/F64.-.html?sp=STranssexualismus

[5] Teils private Quellen; basierend auf Erfahrungen von verschiedenen trans* Personen, außerdem interessant  ZDF Magazin Royale vom 2. Dezember 2022 https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-2-dezember-2022-100.html

[6] Dokumentation „Ab heute – Der lange Weg zum eigenen Namen“ 2021 https://www.abheute-doku.com, private Quellen

[7] TSG Erster Abschnitt Vornamenänderung §4 (4) Gerichtliches Verfahren https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html

[8] TSG Erster Abschnitt Vornamensänderung §1 (2) Voraussetzungen

[9] Referententwurf Selbstbestimmungsgesetz unter §5 Sperrfrist; Vornamen bei Rückänderung Seite 41

[10] TSG Erster Abschnitt Vornamensänderung §1 (1) Voraussetzungen

[11]Antidiskriminierungsstelle des Bundes; Dritte Option und AGG    https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/dritte-option/dritte-option-node.html

[12] Referentenentwurf SBGG zum Beispiel auf den Seiten 20, 25, 34  

[13] Unter anderem Referentenentwurf SBGG Seite 1 A. Problem und Ziel

[14] TSG §16 (2) Übergangsvorschrift

[15] TSG §8 (4) Voraussetzungen

[16] https://www.queer.de/detail.php?article_id=43769

[17] „Wo werde ich eigentlich nicht diskriminiert?“ „Diskriminierung von LSBTIQ* im Gesundheitssystem in Berlin“ Studie der Schwulenberatung in Berlin, Seiten 8, 9

[18] Studie der University of Texas at Austin https://news.utexas.edu/2018/03/30/name-use-matters-for-transgender-youths-mental-health/

[19] Referentenentwurf SBGG §13 Offenbarungsverbot und §14 Bußgeldvorschriften Seite 9 und Stellungnahme von Sven Lehmann  https://www.sven-lehmann.eu/wp-content/uploads/2023/05/Stellungnahme-des-Queer-Beauftragten-zum-Entwurf-Selbstbestimmungsgestz-1.pdf

[20] Jstor Daily Artikel https://daily.jstor.org/gender-identity-in-weimar-germany/

[21] Artikel Bundesverband trans* zum ICD 11 https://www.bundesverband-trans.de/bvt-begruesst-icd-11-der-who-verbesserung-der-transgendergesundheitsversorgung-in-aussicht/

[22] Abstimmungsergebnisse über die Abschaffung des TSG vom 19.05.2021 https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimmung/?id=738


Quelle: John Krakow, Von der Pathologisierung zur Selbstbestimmung – Betrachtung des TSG im Hinblick auf das Selbstbestimmungsgesetz, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 12.06.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=375

Neoliberalismus und Postfeminismus

Die Unterminierung des kritischen Ansatzes

Emilia Maise (WS 2022/23)

1. Neoliberalismus und Postfeminismus

Im Zuge einer sich immer wandelnden Welt ist es selbstverständlich, dass sich auch soziale Bewegungen, wie der Feminismus, ändern und von neuen Gedanken beeinflusst werden. Seit einigen Jahrzehnten verbreiten sich die Ideen des neoliberalen Marktansatzes auch auf die Gesellschaft und soziale Ordnung und sorgen für einen starken Wandel in den Werten, die uns begleiten. Das konstante Streben nach Leistung, Individualisierung und Selbstoptimierung kommt insbesondere im Konstrukt der Meritokratie zum Ausdruck – also der Auffassung, dass jedes Individuum seinen Status in der Gesellschaft durch Leistung beeinflussen und verändern kann (El-Mafaalani).

Ein entsprechender Wandel ist auch im feministischen Kontext zu beobachten, in dem eine neue Sensibilität zu erkennen ist: der Postfeminismus, der oftmals mit dem „Vorbeisein“ des Feminismus verbunden wird. Ein großer Teil davon wird mit der Entwicklung eines sogenannten Marktfeminismus verbunden. In diesem werden „individualisierte, erfolgszentrierte Werte [mit] ehemals feministischen Anliegen“ (Göweil, S.22) vermischt. Feminismus wird zur Ware und Humanressource umgedeutet und die Gleichstellung der Geschlechter wird vor allem deshalb gefördert, weil sie wirtschaftlich profitabel sei (Bereswill, S. 53). Weil der Impuls zur Gleichstellung aller Geschlechter in diesem Ansatz fast ausschließlich aus ökonomischem Gewinnstreben entspringt, ist der Marktfeminismus „konsumdominiert, erwerbszentriert, erfolgszentriert [und] individualisiert“ (Bruder-Bezzel, S. 58). In der Verbreitung des neoliberal geprägten Postfeminismus und dem daran geknüpften Marktfeminismus verlieren vermeintlich feministische Bestrebungen zunehmend gesellschaftliche Strukturen und Hintergründe aus den Augen und somit auch tendenziell ihren sozialkritischen Ansatz. Das folgende Essay wird die Problematik dieser Entwicklung anhand von einigen zentralen Aspekten herausarbeiten.

2. Individualisierung, Selbstoptimierung und Meritokratie

Im Zuge des Neoliberalismus wird individuellen Leistungen ein höherer Stellenwert zugewiesen. Die bestehende Gesellschaftsordnung wird als Meritokratie gedeutet – also einer Ordnung, in der Erfolg und sozialer Status allein von individuellen Leistungen abhängen und grundsätzlich alle Menschen gleiche Chancen zum sozialen Aufstieg haben. Der „American Dream“ verkörpert genau dieses Ideal: alle können etwas erreichen und reich werden, wenn sie sich genug Mühe geben.

Allerdings wahrt unsere Gesellschaft bei näherer Betrachtung nur den Schein einer solchen Meritokratie, denn tatsächlich sind Erfolge im herkömmlichen Sinn (z.B. ein erfolgreicher Schulabschluss) stark vom sozialen Hintergrund einer Person abhängig (El-Mafaalani). Trotzdem halten viele Menschen – insbesondere einflussreiche, meinungsbildende Politiker*innen und Prominente – an der Idee fest, dass unsere Gesellschaft eine meritokratische ist, was den Einfluss struktureller Ungleichheiten und Hürden herunterspielt, beziehungsweise als durch individuelle Anstrengung überwindbar darstellt (Bruder-Bezzel, S. 58). Aussagen wie die von Kim Kardashian („I have the best advice for women and business. Get your f—ing ass up and work. It seems like nobody wants to work these days”) oder Ratschläge, wie der von Sheryl Sandberg (Chief Operating Officer von Meta), man müsse sich als Frau nur ein wenig “reinhängen“, fördern diese Perspektive, indem sie den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge vernebeln und politische/strukturelle Ursachen gesellschaftlicher Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bagatellisieren (Respers France; Bruder-Bezzel, S. 58). Auf diese Weise wird die systematische Benachteiligung vieler Bevölkerungsgruppen und Intersektionalität von gesellschaftlicher Diskriminierung ignoriert, und die Verantwortung für den jeweiligen sozialen und ökonomischen Status wird allein dem Individuum (also hier der Frau*) zugeschrieben.

Es liegt also fast ausschließlich in der Verantwortung der individuellen Frau*, erfolgreich, gebildet, erfahren und vieles mehr zu sein. Dieses Bild ist extrem problematisch, nicht nur weil es auf Frauen* einen großen Druck aufbaut, sondern auch weil so der Fokus vom gesamtgesellschaftlichen Kontext auf das Individuum verschoben wird. Es wird vom Ursprung des Problems abgelenkt und die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels weg von einer patriarchalen Gesellschaftsform abgestritten, beziehungsweise sogar dadurch bekämpft, dass strukturelle Benachteiligungen negiert, beziehungsweise als einfach überwindbar dargestellt werden. Es entsteht also der Eindruck einer Gesellschaft, in der ungleiche gesellschaftliche Teilhabe gewissermaßen eine Entscheidung der Individuen ist, also kann das Problem nicht die Gesellschaft selbst sein. Diverse Machtstrukturen müssen unter dieser Annahme nicht bekämpft werden, weil sie nicht existieren beziehungsweise von geringer Relevanz sind.

Die vom neoliberalen Gesellschaftsmodell versprochene, vermeintliche Selbstbestimmtheit überträgt sich außerdem nicht nur auf die Erwerbstätigkeit und einige kulturelle Errungenschaften, sondern auch auf das Frau*sein an sich und das sexuelle Auftreten. Es wird nun von Frauen* erwartet, stets selbstbestimmt und selbstbewusst aufzutreten und einen immensen Erfahrungsschatz zu haben (Göweil, S. 23). Diese Frau* wird als emanzipiert angesehen und darf in der Regel gesellschaftliche Teilhabe genießen.

Weil aber diese Anforderungen sehr vielfältig und hoch sind, ist auf dem Markt unzählig viel Ratgeber- oder Coaching-Literatur zu finden, die Frauen* dabei helfen soll, dieses Ideal der Weiblichkeit* und Emanzipation zu erreichen. Feminismus orientiert sich an Konsum und Erfolg und das Bild einer emanzipierten und feministischen Frau* wird mit dem Erreichen von absoluter Selbstbestimmtheit und finanziellem Erfolg verknüpft. Weil dies mit vielen hohen Anforderungen verbunden ist, entsteht die Wahrnehmung, dass Konsum in Form von Ratgebern, Coachings oder Ähnlichem zur „Emanzipation“ unerlässlich ist. Die neoliberale, politische Botschaft lautet: Emanzipation und Freiheit sind individuell zu erreichen. Der prägende, gesellschaftliche Kontext und bestehende Chancenungleichheiten werden ausgeblendet.

3. Der Marktfeminismus

Die Entwicklung des Marktfeminismus bedeutet für feministische Bewegungen tendenziell einen Verlust des gesellschaftskritischen Ansatzes, weil das feministische Narrativ sich zu einem erwerbszentrierten wandelt (Göweil, S.22). Dieser Verlust ist vor allem deshalb problematisch, weil so der gesellschaftliche Ursprung von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nicht mehr analysiert wird. Viel mehr stehen Erfolge von Personen, vor allem Frauen*, im Fokus: wer ist in Führungspositionen? Wessen Karriere verläuft auf welche Weise? Im Kontext des Kapitalismus erfolgreiche, gebildete junge Frauen* werden in dieser Auffassung dann als beispielhaft emanzipiert dargestellt (was durchaus der Fall sein kann), doch die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründe werden nicht aufgegriffen und analysiert.

Es wird zum Beispiel nicht hinterfragt, warum Emanzipation mit Erwerbstätigkeit zusammenhängt und ob Entwicklungen, die Männer* und Frauen* gleichstellen tatsächlich gut/hilfreich sind. Bis 1994 gab es beispielsweise in Deutschland ein Nachtarbeitsverbot für weibliche* Arbeiterinnen. Als dieses aufgehoben wurde, geschah dies aufgrund des Gleichberechtigungsartikels des Grundgesetzes, der gesellschaftliche Nachteile der Frau* abbauen soll (Grundgesetz) und wurde als Schritt in Richtung Gleichberechtigung aufgefasst. Das ist per se nicht falsch: Frauen* durften genau wie Männer* nachts arbeiten und zusätzliches Geld verdienen. Allerdings korreliert Nachtarbeit mit vielen Belastungen (Struck et al.), was die Frage aufwirft, wer tatsächlich davon profitiert, dass auch Frauen* nachts erwerbstätig sind. Sind es die Frauen*, die nun mit höherer Wahrscheinlichkeit unter Schlafstörungen oder Magen-Darm-Beschwerden leiden (Struck et al.)? Von dieser vermeintlich emanzipatorischen Veränderung profitieren in der ersten Linie wohl die Arbeitgeber*innen, die durch die Aufhebung des Gesetzes rund um die Uhr eine größere Belegschaft haben und so mehr Profit erzielen können.

Die Gleichstellung ist in diesem Fall also stark wirtschaftlich motiviert und die Gesellschaftsstruktur, die Profit von Arbeitgeber*innen auf Kosten der Gesundheit der Arbeitnehmer*innen ermöglicht, wird mit dem Ansatz des Marktfeminismus nicht hinterfragt. Die Verwobenheit des Patriarchats mit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem wird als Grundursache für gesellschaftliche Ungleichheiten nicht analysiert.

Diese Verwobenheit wird in zahllosen Fällen der sexuellen Belästigung von Frauen* durch männliche* Vorgesetzte klar sichtbar. In der patriarchalen Gesellschaftsstruktur werden Frauen* abgewertet und es wird erwartet, dass sie der Erfüllung männlicher* Bedürfnisse dienen – unter anderem auch sexuell. Im Kapitalismus ist die Macht auch binär aufgeteilt: zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen. In Situationen des sexuellen Missbrauchs oder der sexuellen Belästigung, wie im Fall von Harvey Weinstein, der von vielen Schauspieler*innen des sexuellen Missbrauchs angeklagt wurde, treffen diese Machtstrukturen aufeinander und arbeiten zusammen. Das Zusammenspiel dieser Dynamiken ermöglichte es Weinstein Frauen* zu zwingen, nicht nur als Arbeitnehmerinnen zu dienen, sondern auch sexuell, weil er als berühmter Hollywood-Produzent die Macht hat, Karrieren zu fördern oder zu zerstören. Jeffrey Epstein hat diese Ausbeutung noch weitergetrieben: unter dem Versprechen eines Arbeitsplatzes, brachte er junge Mädchen* und Frauen* in prekären finanziellen Situationen in seine beeindruckende Villa, um sie dann auf seine „rape island“ zu bringen. Hier wurden dann verschiedenste machtvolle, reiche Männer* eingeladen, um die Frauen* und Mädchen* zu vergewaltigen. Auch hier wurde also die finanzielle Macht ausgenutzt, um die patriarchale zu stützen (Fraad).

4. Annäherung an Männlichkeit* als Gleichheit

Die Ansicht, dass eine verhaltensmäßige Annäherung von Frauen* an Männer* mit Gleichberechtigung und Emanzipation gleichgesetzt werden kann, ist nicht nur auf Erwerbstätigkeit und Konsum beschränkt. Auch das soziale Verhalten wird zunehmend so bewertet. Frauen*, die traditionell „männliche“ Eigenschaften verkörpern, scheinen Gleichberechtigung erlangt zu haben und gelten als emanzipiert.

Die Soziologin Angela McRobbie bezeichnet dieses Phänomen als die Entstehung der „phallischen Frau[*]“ (McRobbie, S. 83), wobei der Phallus symbolisch fungiert, als begehrenswert gilt und mit diversen Eigenschaften (Autorität, Selbstbestimmung, Aggression, etc.) verbunden wird. Die symbolische Funktion des Phallus beinhaltet außerdem eine Art Orientierungspunkt; ein begehrenswertes Ziel des Genießens und der Selbstbestimmtheit.  Diese Funktion war früher Männern* vorbehalten, doch mit einem Rückgang der symbolischen Ordnung können nun auchFrauen* diese symbolische Funktion übernehmen (Göweil, S.26). Es ist Frauen* jetzt also nicht nur erlaubt die phallische Funktion zu übernehmen, sondern die Übernahme dieser mit Männlichkeit* verknüpften Charakterzügen wird zunehmend mit Emanzipation gleichgesetzt.

Dieses Phänomen ist auch in der Populärkultur zu erkennen, beispielsweise in dem 2015 erschienenen Film „Trainwreck“. Hier stellt die Schauspielerin Amy Schumer eine junge Frau* namens Amy dar, die einen sehr hedonistischen Lebensstil pflegt: sie geht oft in Clubs, trinkt viel und schläft mit vielen verschiedenen Männern (wobei sie ihre sexuellen Vorlieben klar ausdrückt). Sie ist außerdem recht schroff, setzt sich wenig mit ihrer Gefühlswelt auseinander und verurteilt ihre kleine Schwester dafür, verheiratet und Mutter zu sein. Es lässt sich also sagen, dass sie einige mit Männern* assoziierte Eigenschaften aufweist und sie wirkt auch auf Zuschauer*innen vollkommen emanzipiert. In der Mitte des Films verliebt sie sich, ist in einer festen Beziehung mit einem Mann* namens Aaron, die dann (eben wegen dieser Eigenschaften) endet. Daraufhin verliert sie, aufgrund einiger schlechter Entscheidungen, ihren Job und ist am Boden, weshalb sie sich mit ihrer Schwester trifft, um nach Rat zu fragen. Nach diesem Gespräch entscheidet sich Amy dazu, sich bei Aaron für ihr Verhalten zu entschuldigen und verspricht, dass sie sich ändern wird, damit ihre Beziehung funktionieren kann. Auf Zuschauer*innen wirkt sie sofort nicht mehr emanzipiert, weil unklar ist, ob diese Veränderung wirklich ihre Wünsche für sich selbst widerspiegelt oder nur stattfindet, um einem Mann* zu gefallen. Außerdem ist das Narrativ, dass männliche* Eigenschaften Emanzipation bedeuten, im ganzen Film durch die Darstellung von Amys Schwester und ihren Freundinnen* erkennbar: Sie und die anderen Frauen* haben Kinder, sind verheiratet, freundlich und liebevoll und es wird (obwohl wenig über sie bekannt ist) der Eindruck vermittelt, dass sie komplett von ihren männlichen* Partnern abhängig sind.

Wie bei diesem Beispiel schon angedeutet wird, wird Frauen* auch abverlangt, für Männer* als begehrenswert zu gelten und in deren Schönheitsideal zu passen – sonst werden sie in der Gesellschaft weniger akzeptiert und erhalten weniger Teilhabe. Eine totale Abwendung von vermeintlich weiblichen* Eigenschaften ist also auch nicht „erlaubt“. Das wird zum Beispiel auch im Film „The Proposal“ (2009) deutlich. Margaret Tate, von Sandra Bullock dargestellt, ist hier eine erfolgreiche und ambitionierte Verlagslektorin, mit viel Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen. Als Chefin zeigt sie ein Verhalten, das, wenn es von einem Mann* käme, niemanden überraschen würde, beziehungsweise nicht als negativ gewertet werden würde. Weil sie sich jedoch genau verhält, wie ein Mann* es in ihrer Situation tun würde, wird sie von allen als „Tyrannin“ angesehen.

Zwar wird oft auf diese Doppelmoral (also, dass manche Eigenschaften bei Männern* einfach akzeptiert, aber bei Frauen* kritisiert werden) hingewiesen, doch dass die Übernahme „männlicher*“ Eigenschaften mit Emanzipation gleichgesetzt wird, wird nicht hinterfragt. Durch die unkritische Hinnahme der Idee, dass eine Frau*, die sich „männlich*“ verhält, emanzipiert sei, wird die männliche* Hegemonie nicht hinterfragt (McRobbie, S. 83). Mit diesem Ansatz wäre der Weg zur Emanzipation nur eine Imitation des Mannes*, ohne dass diese Eigenschaften oder prävalenten Geschlechterverhältnisse weiter hinterfragt und kritisiert werden, was das vorherrschende Geschlechterregime nur stärkt. Der grundlegende gesellschaftliche Umbruch, der notwendig ist, um das patriarchale System abzuschaffen, wird auf diese Weise verhindert und das Ziel der Gleichberechtigung rückt weiter in die Ferne.

5. Fazit

Die neoliberale Sichtweise, dass ökonomischer und gesellschaftlicher Status des Individuums vor allem von dessen persönlichem Einsatz und Leistung abhängig sind, hat sich auch im Kontext des Feminismus verbreitet. Der sogenannte „Marktfeminismus“ im Postfeminismus lässt vermeintlich feministische Bestrebungen konsum- und erwerbsdominiert werden und spielt somit der existierenden Gesellschaftsstruktur zu. Von Frauen* wird gefordert, sich bestehende Strukturen und Verhaltensmuster zu eigen zu machen, um erfolgreich und damit „emanzipiert“ zu sein. Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass diese Sichtweise sowohl in Populärkultur als auch im klassischen Gewerbe propagiert wird.

Die Verbreitung von explizit an Frauen* gerichteter Ratgeber-Literatur zur Förderung der Karriere entspricht dem Zeitgeist der Selbstoptimierung und ist abermals ein Beispiel dafür, dass der Marktfeminismus in erster Linie konsumorientiert ist. Sie zeigt auch, dass eine Frau*, die als emanzipiert gelten will, sich im Markt durchsetzen muss und die Karriereleiter aufsteigen muss. Außerdem wird Gleichstellung in vielerlei Hinsicht, einerseits mit Blick auf Erwerbstätigkeit und andererseits mit Blick auf Verhaltensweisen, mit der Annäherung an „Männlichkeit*“ gleichgesetzt. So werden Gesellschaftsstrukturen, die Mann*sein überhaupt als Norm festgelegt haben, nicht mehr infrage gestellt und der gesellschaftskritische Ansatz geht verloren.

Gleichzeitig zeigen Fälle wie der Harvey-Weinstein-Skandal, dass grundlegende gesellschaftliche Probleme, die vom Zusammenspiel des Patriarchats und der kapitalistischen Ausbeutung zeugen, nach wie vor ungelöst bleiben, oder sich im Zuge zunehmender sozialer Ungleichheit in unserer Gesellschaft sogar vertieft haben. Frauen* sind nach wie vor Opfer sexueller und kapitalistischer Ausbeutung, insbesondere in niedrigeren, prekären sozialen Schichten. 

Der Marktfeminismus kann als Instrument gelten, um bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse des Patriarchats und des Kapitalismus zu verfestigen. Er dient der Schwächung emanzipatorischer Kräfte und liegt im Interesse der derzeit herrschenden Eliten.

Literaturverzeichnis

BERESWILL, M. (2004): » Gender « als neue Humanressource? Gender Mainstreaming und Geschlechterdemokratie zwischen Ökonomisierung und Gesellschaftskritik. In: MEUSNER, M., NEUSÜSS, C. (Hrsg.) (2004): Gender Mainstreaming. Konzepte – Handlungsfelder – Instrumente. Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd 418. Bonn. S. 52 – 70

BRUDER-BEZZEL, A. (2020): Von der Frauenbewegung zum Postfeminismus. Zeitschrift für Individualpsychologie 45(1) S. 47–63.

DEUTSCHLANDFUNK KULTUR (2013): Die Ideologie des Neoliberalismus. https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-ideologie-des-neoliberalismus-100.html (letzter Zugriff:14.03.2023)

EL-MAFAALANI, A. (2015): Bildungsaufstieg – (K)eine Frage von Leistung allein? https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/205371/bildungsaufstieg-k-eine-frage-von-leistung-allein/ (letzter Zugriff: 14.03.2023)

FRAAD, H. (2021): Capitalism & Patriarchy – Cuomo, Cosby, Weinstein & Epstein. In Capitalism Hits Home. https://open.spotify.com/episode/1hkkVAeyoMKeUsIjXtIKId?si=ae9589c373fe4959 (letzter Zugriff: 15.03.2023).

GILL, R. (2018): Die Widersprüche verstehen: (Anti-)Feminismus, Postfeminismus, Neoliberalismus. Aus Politik und Zeitgeschichte 68(1) S. 12–19.

GÖWEIL, S. (2017): Grenzen und Chancen der modernisierten Geschlechterordnung: ein geschlechtskritischer Blick auf Gesellschaft und Schule. Psychosozial-Verlag. Gießen.

MCROBBIE, A. (2009): The aftermath of feminism: gender, culture and social change. SAGE. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC.

MÜLLER, U. G. T. (2013): Dem Feminismus eine politische Heimat – der Linken die Hälfte der Welt: Die politische Verortung des Feminismus. Springer VS. Wiesbaden.

RESPERS FRANCE, L. (2022): Kim Kardashian’s business advice for women sparks controversy: ‘It seems nobody wants to work these days’. https://edition.cnn.com/2022/03/10/entertainment/kim-kardashian-work-backlash/index.html (letzter Zugriff: 14.03.2023)

STRUCK, O., DÜTSCH, M., LIEBIG, V., SPRINGER, A. (2014): Arbeit zur falschen Zeit am falschen Platz? Eine Matching-Analyse zu gesundheitlichen Beanspruchungen bei Schicht- und Nachtarbeit. Journal for Labour Market Research 47(3) S. 245–272.


Quelle: Emilia Meise, Neoliberalismus und Postfeminismus: Die Unterminierung des kritischen Ansatzes, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 12.06.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=372

Mental Load – feministischer Kampfbegriff oder fruchtbares Konzept, um Geschlechtergerechtigkeit neu zu denken?

Eva Schießl (WiSe 2022/23)

„You should´ve asked!“[1] – sagt der Familienvater zur Familienmutter im gleichnamigen Comic der feministischen Bloggerin und Comicautorin Emma in der englischen Übersetzung des französischen Originals. „I would´ve helped!“[2], schiebt er hinterher. Die Situation ist die folgende: Die Mutter versucht, die beiden Kinder abendessenstechnisch zu versorgen und gleichzeitig für die Gästin des Paars zu kochen – mit allem, was dazu gehört. Dabei passiert es, dass das Essen überkocht. Auf den Ausruf des Mannes, was sie denn nur getan hätte, antwortet sie wütend, dass sie eben alles mache, woraufhin das oben genannte Zitat fällt.

So weit, so vertraut? Vor allem in heterosexuellen Partner:innenschaften mit Kindern tritt dieses Phänomen auf, doch auch von Freund:innen in ebensolchen Beziehungen ohne Nachwuchs haben sicher viele Frauen* voneinander schon den Satz “Sieht der denn einfach nicht, was alles getan werden muss?“ gehört. Einen Namen hat dieses Phänomen auch: Mental Load. Der Begriff beschreibt hauptsächlich die „Last der alltäglichen, unsichtbaren Verantwortung für das Organisieren von Haushalt und Familie“[3], die Initiative Equal Care Day nimmt aber auch die Gedankenarbeit für die Koordination beruflicher Aufgaben, sowie die Beziehungsarbeit in beiden Lebensbereichen in die Definition mit auf.[4] Diese Last übernehmen meist die Frauen*. Die Diskussion um Mental Load nahm anlässlich von Covid-19, in Verbindung mit dem Diskurs um Care-Arbeit und vermuteter Re-Traditionalisierung der Familie, medial an Fahrt auf. Zum Beispiel in der Studie Parenthood in a Crisis 2.0 erwies sich die subjektiv wahrgenommene, vermehrte Überbelastung von Frauen* in der Pandemie als wesentlich höher als die der Männer, ganz unabhängig davon, ob Kinder mit im Haushalt lebten.[5] Die Autorinnen vermuten als Begründung neben dem auch schon vor der Pandemie bestehenden Gender Care Gap die ungleiche Verteilung des größer gewordenen Mental Loads.

Was ist das nun schon wieder für ein neu ersponnenes Modewort, lediglich erfunden, um Futter für die Feuilletons zu liefern? Ein weiterer feministischer Kampfbegriff, der die angebliche Benachteiligung von Frauen* beweisen soll? Oder ist Mental Load schlicht und einfach ein sehr brauchbares Konzept, um die unsichtbare Mehrbelastung von Frauen* sichtbar zu machen und anhand dessen die Gleichstellung der Geschlechter neu zu denken? So viel lässt sich schon verraten: Neu ist die Idee nicht. Bereits in den 1950ern beschäftigte sich das Müttergenesungswerk damit, nur nicht unter diesem Namen – der entstammt den 70ern, kommt aber erst jetzt im öffentlichen Diskurs vor.[6] Und dass Mental Load für den Feminismus und die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit absolut notwendig ist, statt Kampf- oder Modebegriff zu sein, soll dieser Essay verdeutlichen.

Der Begriff Mental Load lässt sich, wie bereits angeklungen, im größeren Feld der Care-Arbeit verorten. Bekannt ist mittlerweile, dass Sorgearbeit auch Arbeit ist – und zwar unbezahlte. Sehen wir uns nun (leider sehr heteronormativ) die heterosexuellen Beziehungen mit und ohne Kinder an, denn hier wird das Mental-Load-Ungleichgewicht besonders markant deutlich (was nicht heißt, dass es in anderen Beziehungsformen nicht auch auftreten kann und dort ebenfalls untersucht werden muss – Mental Load ist für sich genommen zuerst einmal nicht geschlechtsspezifisch).

In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten wird die Erwerbsarbeit weitgehend noch immer den Männern zugeordnet. Alle Arbeit, die die sogenannte Reproduktion betrifft, wird den Frauen* überlassen.[7] Obwohl die Befürwortung dieses Modells abnahm und -nimmt, stellt es sich in der Realität vielerorts noch ziemlich genau so dar.[8] Selbst, wenn Frauen* ebenfalls einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ändert sich das Verhältnis in der Reproduktionsarbeit nicht.[9] Allein hier müssten schon alle Alarmglocken schrillen. Bereits 1989 veröffentlichte Arlie Hochschild eine Studie, die die schon im Vorhinein vermutete Second Shift der Frauen* nach der Lohnarbeit Zuhause bestätigte.[10] Regina Becker-Schmidt spricht von der doppelten Vergesellschaftung der Frau*, was bedeutet, dass sie sowohl erwerbstechnisch als auch auf Sorgearbeit bezogen ihre Arbeitskraft einsetzen muss.[11] Entscheidend ist, dass es sich hierbei wohl kaum um eine individuelle Problematik handelt. Vielmehr spielt sich das Ganze auf gesellschaftlicher bzw. struktureller Ebene ab.[12]

Nun hat sich in den letzten Jahren sicherlich einiges getan. Die Verteilung der Care-Arbeit wird zumindest zunehmend verhandelt, neue Vaterrollen werden definiert, Männer sind zunehmend bereit, sich zu kümmern. Und trotzdem: Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wenden Frauen* im Schnitt täglich immer noch 52,4 Prozent mehr Zeit für Care-Arbeit auf. Haben sie Kinder, sind es ganze 83,8 Prozent mehr.[13] Durch den Mental Load kommt außerdem die Komponente der Gedankenarbeit dazu, die auch in emanzipierten Haushalten oft nicht mitgedacht wird. In ihrer Studie zu diesem Thema von 2019 stellt Allison Daminger fest, dass immerhin die Höhe der jeweiligen Gesamtarbeitsstunden von Eltern, wenn man Lohn- und Sorgearbeit jeweils aufrechnet, nicht mehr signifikant geschlechtsspezifisch ist.[14] Die Daten ihrer Studie legen aber nahe, dass die Erklärung hierfür ist, dass die kognitive Arbeit, wie sie sie nennt, bisher in Studien nicht miteinbezogen wurde.[15] Das zeigt, wie wichtig es ist, sich nun endlich damit zu beschäftigen.

Bekannt wurde das Phänomen Mental Load durch Comics, wie den oben erwähnten der Autorin Emma, sowie in Deutschland durch das Buch Raus aus der Mental-Load-Falle von Patricia Cammarata.[16] Zusammenfassend kann man Mental Load drei Eigenschaften beziehungsweise Mechanismen zuschreiben: Er ist erstens unsichtbar, weil er innerlich stattfindet und abstrakt ist, zweitens ist er zeitlich und räumlich unbegrenzt, und drittens dauerhaft, da es um das (emotionale) sich Kümmern von nahen Menschen geht.[17] Diese Charakteristika machen es nicht verwunderlich, dass Mental Load auch von den Leittragenden selbst oft nicht erkannt wird. Im Folgenden werden einige Einwände skizziert, die so oder so ähnlich erhoben werden, um der Bedeutung von Mental Load den Wind aus den Segeln zu nehmen oder, um Mental Load in eine Ecke vermeintlich unnötiger feministischer Erfindungen zu stellen. Ich möchte zeigen, wie die Argumente recht schnell entkräftet werden können. So soll auch das Konzept Mental Load noch klarer werden.

„Das bisschen Hausarbeit – Müll runterbringen dauert grad mal eine Minute! Und denken muss man da nun wirklich nicht.“ Zuerst also eine ganz klassische Aussage, die eine recht unreflektierte Sicht auf Care-Arbeit allgemein widerspiegelt. In der Summe sind es aber eben viel mehr Dinge als der Müll, kann man direkt erwidern. Und selbst an den muss man denken bzw. bemerken, dass der Mülleimer voll ist und ihn dann auch wirklich leeren. Tatsächlich umfasst Care-Arbeit sehr viel mehr: Kindererziehung und die dazugehörigen Entscheidungen, alle Arbeiten im Haushalt wie Einkaufen, Kochen, Putzen, Aufräumen, Waschen, um nur eine Auswahl zu nennen. Zusätzlich, und genau da kommt Mental Load ins Spiel, geht es um die Gesamtorganisation und darum, den Überblick zu behalten, sowie die Bedürfnisse aller abzudecken und für alle ein offenes Ohr zu haben. Nur ein Beispiel: Bei einem Termin bei dem:r Zahnärzt:in geht es eben nicht nur um die Begleitung des Kindes dorthin, also den eigentlichen Vorgang. Tatsächlich beinhaltet ein solcher Termin das rechtzeitige Vereinbaren des Termins, wenn wieder eine Kontrolle ansteht. Es geht um die Absage des parallel stattfindenden Fußballtrainings, darum, die Krankenkassenkarte mitzunehmen (und zu wissen, wo sie sich befindet) und das Kind und den Partner, der es begleiten soll, daran zu erinnern, dass der Termin morgen stattfindet und vorher die Zähne geputzt werden müssen. Von der emotionalen Begleitung des Kindes, die ein solches Vorhaben erforderlich machen kann, mal ganz zu schweigen.

Daran lässt sich schon erkennen: Dieser eine vermeintlich kleine Vorgang hat ganz schön viele Unteraufgaben und ist mit Sicherheit nicht der einzige, der bedacht werden muss. Die Überbelastung von Frauen*, die diese Arbeiten größtenteils alleine übernehmen, kann gesundheitliche Auswirkungen haben. Physisch können sie Schlafprobleme, Kopf- oder Rückenschmerzen verursachen, psychisch zu Erschöpfung, Depression und Angst führen.[18]

Was der Aussage zum Thema Müll des Weiteren entnehmbar ist: Eine fehlende Wertschätzung für die Aufgaben der Sorgearbeit. Wird hingegen anerkannt, was und wie viel da geleistet wird, steigt das Selbstwertgefühl, wodurch der Mental Load abnimmt.[19] Und um diese Anerkennung zu erreichen, die ihnen eben meist nicht erwiesen wird, verausgaben Mütter sich dann oft noch mehr.[20] Dabei geht es ja nicht nur um individuelle Wertschätzung, sondern vielmehr um die gesellschaftliche Anerkennung der Leistung. Interessant ist in diesem Zusammenhang zudem, was Franziska Schutzbach in Bezug auf die Forschung von Lisbeth Bekkengen unter „Paradoxie der Anerkennung“[21] zusammenfasst: Beteiligen sich Männer an Sorgearbeit, werden sie gelobt, bei Frauen* wird sie vorausgesetzt.[22] All das darf aber natürlich nicht zu der irrigen Annahme führen, dass mit ein bisschen Klatschen alles erledigt wäre.

„Frauen* können das doch auch besser mit dem Kümmern um alle, liegt irgendwie in ihrer Natur.“– darauf lässt sich einfach und klar antworten: Nein. Doing gender wird nun wirklich lang genug diskutiert, sodass ein solches Argument eigentlich nicht mehr existieren dürfte. Statt Genetik geht es um Sozialisation. Den Menschen wird überall und vom ersten Atemzug an vermittelt, wie eine gute Mutter zu sein hat, und durch die ständige Präsenz dieses Bildes wird es Gesellschaft und Individuum eingebrannt.[23] Haben Frauen* einen Job, so stehen sie im Generalverdacht, die Familie zu vernachlässigen, kümmern sie sich nur um die Familie, leisten sie angeblich nicht genug. Außerdem flüstert ihr gesamtes Umfeld ihnen konstant ins Ohr, dass sie emotionaler seien, mehr Empathie hätten – klar, dass man dann denkt, dass man dieser Erwartung entsprechen muss. Auch die Erziehung ist weit davon entfernt, geschlechtsneutral zu sein und sieht für kleine Mädchen* Puppen, um die man sich zu kümmern hat, vor. Aus Sicht der Rollentheorie übernehmen in heterosexuellen Paaren, die Kinder erwarten, Mütter und Väter diejenigen Rollen, die ihnen vorgelebt wurden, mit allen Normen, Werten und Erwartungen.[24] Es gibt wahrlich nicht viele Fälle, in denen diese nicht dem Klischee entsprachen. Und auf die Person, die weniger Lohnarbeit leistet, um mehr Sorgearbeit zu übernehmen, fällt meist auch der Mental Load zurück.[25] Das muss nicht die Frau* sein, ist aber bekanntermaßen in der Regel die Frau*. Und natürlich, wenn Frauen* dann alle diese Aufgaben übernehmen und quasi in sie hineinwachsen, selbstverständlich werden sie dann auch besser darin sein als Menschen, die dies viel weniger tun. Es geht also um Übung und nicht um naturgegebene Fähigkeiten. Und zwar sowohl beim Windeln wechseln oder Kinder ernähren als auch dabei, die Gesamtverantwortung in einer Familie zu übernehmen. In ihrem Beruf können Männer das ja übrigens auch meistens mit dieser Verantwortung.

„Alles, was mir meine Frau* aufträgt, erledige ich zuverlässig! Wir teilen uns das gerecht auf.“ Und genau hier liegt der springende Punkt, warum das hier keine faire Arbeitsteilung ist: Weil nicht beide gleichermaßen die Verantwortung tragen, und der Mann oft nur Aufträge, an die die Frau* denken muss, erfüllt – das heißt der Mental Load bleibt ungeteilt. Frauen* bleiben die Manager:innen, die durch ihre Position dauerhaft mit der inneren To-Do-Liste konfrontiert sind.[26] Aus der Aussage lässt sich herauslesen, dass eine Auftragserteilung erwartet wird, und zu erledigende Vorgänge von selbst gegebenenfalls nicht erkannt oder erledigt werden. Das zementiert die Gesamtverantwortung der Frau* und wenn sie dann, wie Emma in ihrem Comic schreibt und zeichnet, auch noch einen großen Teil der Anforderungen selbst absolvieren soll, übernimmt sie insgesamt ¾ der Arbeit.[27] Problematisch ist außerdem, dass Paare, die sich die Sorgearbeit vermeintlich gerecht aufteilen und auch sehr explizit und überzeugt die Gleichberechtigung verfolgen, auf diese Weise manchmal sogar die kognitive Mehrarbeit der Frauen* verschleiern.[28] Es klingt absurd, und doch ist dieser Punkt sehr einleuchtend: Nur weil man an die Gleichstellung aller Menschen als Ideal glaubt, heißt das nicht, dass man nicht auch in einer Welt sozialisiert wurde, die einem etwas anderes unterjubeln will. Und deshalb ist es zentral, sich konstant zu fragen, ob man die Werte, die man vertritt, auch wirklich so lebt. Dafür muss nicht zuletzt das Selbstbild immer und immer wieder mit der gelebten Praxis abgeglichen werden. Die Faktenlage zeigt, dass das notwendig ist: Partner:innen, die sich beide kümmern und Sorgearbeit übernehmen, teilen sich noch lange nicht den Mental Load.[29] Interessant ist auch, dass Entscheidungen trotzdem fast immer unter der gleichen Beteiligung beider gefällt werden, das liegt laut Studie daran, dass diese mit Geltungsbewusstsein und Ansehen assoziiert werden.[30] Wer aber tendenziell die Vorarbeit für die Entscheidung auf sich nimmt, kann man sich denken.

„Um die Kinder kümmere ich mich wirklich sehr viel. Das ist auch Mental Load nach einem langen Arbeitstag!“ Auch wenn das nicht als Mental Load bezeichnet werden kann, ist das an sich ein guter Anfang. Dennoch erweist sich die Angelegenheit als ähnlich wie oben: Sich um Nachwuchs zu kümmern bedeutet nicht, die Absolution erteilt zu bekommen, sich auch in anderen Care-Arbeits-Bereichen einzubringen. Denn oft verschiebt sich in einer solchen Konstellation die Verantwortlichkeit nur. Über Haushaltsaufgaben, die Frauen* in der Folge der abgegebenen Kinderbetreuung zu einem noch größeren Teil übernehmen, wird nicht mal mehr verhandelt – was wiederum die Belastung der Frauen* abermals unsichtbarer macht.[31] Darüber hinaus kriegen Väter dann meist die Sahnehäubchen der Zeit mit den Kindern ab, wie zum Beispiel Ausflüge.[32]

„Die wollen ja auch alles managen und selbst machen, meine Hilfe wird gar nicht angenommen!“ Väter haben also in diesem Argument aufgrund der angeblich gluckenhaften Mutter gar keine Möglichkeit, sich einzubringen, auch wenn sie es wollen. Hier kommt der Begriff maternal gatekeeping ins Spiel, der klassischerweise so viel bedeutet wie die mütterliche Befähigung dazu, die väterliche Beschäftigung mit den Kindern zu beschneiden.[33] Ohne nun genauer auf den Begriff eingehen zu können, da dies den Rahmen hier sprengen würde, klingt er doch recht gegensätzlich zum Konzept von Mental Load. Dass es dieses Phänomen geben mag, dass Mütter die Hilfe von Vätern abweisen, mag sein, aber es kann fälschlicherweise natürlich auch missbraucht werden, indem man so die männliche Nicht-Beteiligung an Care-Arbeit rechtfertigt. Und maternal gatekeeping ignoriert zudem komplett den bereits erwähnten Einfluss von Sozialisation und Erwartung an die Frauen*. Auch Franziska Schutzbach entkräftigt dieses Begründungsmuster recht bündig, indem sie auf Patricia Cammarata verweist: Einerseits, sagt sie, wird nicht erledigte Sorgearbeit auf die Frauen* zurückgeführt – und nicht auf die Männer.[34] Statistisch viel bedeutsamer als das maternal gatekeeping sei aber die geringe Anstrengung von Männern, sich für Haushaltsdinge verantwortlich zu fühlen. [35] Das wiederum hat natürlich auch mit dem Abgeben von jahrtausendealten Privilegien zu tun. Und seine Privilegien abgeben muss man eben wirklich wollen und setzt voraus, sich dieser und der damit verbundenen Machtungleichgewichte schmerzlich bewusst zu werden.

Wie kann das Konzept Mental Load nun weitergedacht werden, in die alltäglichen Überlegungen eingebettet werden und was ist der größere Rahmen, in dem das Thema betrachtet werden muss? Zunächst ist es wichtig, Care-Arbeit und damit auch den Mental Load intersektional zu denken. Strukturelle Diskriminierung spielt hier eine entscheidende Rolle – wird man marginalisiert, wird selbstverständlich auch die emotionale Last höher.[36] Um Care-Arbeit outzusourcen, damit Frauen* eben nicht überlastet sind, werden migrantisierte Frauen* dafür geringfügig entlohnt eingestellt.[37] Care-Ketten wie diese reproduzieren nicht nur transnationale Ungleichheiten, sie verursachen logischerweise ebenfalls einen großen Mental Load für die Betroffenen, die die kognitive Arbeit für eine andere Familie erledigen und sich nicht um ihre gegebenenfalls eigene kümmern können.

Praxistauglich gemacht hat Patricia Cammarata das Thema Mental Load, indem sie konkrete Tipps gibt: Man sollte ganz genau aufdröseln, welche Unterpunkte einzelne Aufgaben beinhalten.[38] Darauf aufbauend können ganzheitliche Aufgabenbereiche verteilt werden, für die komplett nur die jeweilige Person verantwortlich ist, inklusive des Mental Loads.[39] Helfen können dabei die Tests der Initiative Equal Care Day, um herauszufinden, wer bisher wie viel Arbeit übernimmt.[40] Schaut man auf eine größere Ebene, so wird leider auch klar: das Problem ist systemimmanent, denn nur aufgrund von unbezahlter Sorgearbeit kann der Kapitalismus bestehen. Ein Wandel des wirtschaftlichen Systems und eine ganz grundlegende Macht- und Ressourcenumverteilung sind aus aktueller feministischer Perspektive unabdingbar.[41] Dazu möchte ich kurz die konkrete Idee der Soziologin Frigga Haug erwähnen. Sie stellte 2008 ihre Vier-in-eine-Perspektive vor, die die Sinnhaftigkeit der großen Bedeutung, die der Erwerbsarbeit in unserer jetzigen Zeit zukommt, hinterfragt.[42] Sie schlägt vor: Von den 16 Stunden, die Menschen am Tag circa wach sind, sollen je vier für Lohn-, Care-, kulturelle Selbstverwirklichung und politisches Engagement zur Verfügung stehen.[43] Wie diese visionäre Utopie umgesetzt werden könnte, sei dahingestellt, aber eines steht fest: Ein Umdenken in Bezug auf die Lohnarbeit brauchen wir jedenfalls, wenn wir Care-Arbeit mehr Anerkennung verschaffen und gerechter verteilen wollen.

Diese genauere Betrachtung von Mental Load hat gezeigt, dass er kein sinnfreies Konzept sein kann, um die Gleichstellung der Geschlechter in Sachen Care-Arbeit zu fokussieren – im Gegenteil: Durch seine Unsichtbarkeit ist das Phänomen zwar schwer erkennbar, spiegelt aber sehr klar unsere Sozialisation wider, nach der Frauen* sich wie Projektleiterinnen um Kinder, Haushalt und Emotionen zu kümmern haben. Das muss sich ändern, indem wir versuchen, den Mental Load sichtbar zu machen, ihn produktiv zu nutzen und so Frauen* zu entlasten. Es lohnt sich anhand des Begriffs für eine wirklich faire Aufteilung von Sorgearbeit zu kämpfen, um so auch unseren eigenen Kindern ein anderes Modell vorzuleben und dabei aufzuhören, uns selbst auszubeuten. Das wäre zumindest ein kleiner Schritt in Richtung der Abschaffung des Patriarchats. Doch die abschließende Beobachtung, dass gefühlt circa 99% der Literatur über Mental Load von Frauen* geschrieben wurde (als natürlich nicht repräsentativer, kleiner Anhaltspunkt kann zumindest das Literaturverzeichnis dieses Essays gelten), zeigt das unbändige (wissenschaftliche) Interesse der männlichen Seite, die Dinge wirklich anzugehen. Eines steht fest: Es bleibt noch viel zu tun.

Literatur

Becker-Schmidt, Regina: Doppelte Vergesellschaftung von Frauen: Divergenzen und Brückenschläge zwischen Privat- und Erwerbsleben. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hrsg.) (2010): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 3. erw. und durchges. Aufl., Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwissenschaften, 65-74.

Bücker, Teresa: Ist es radikal, sich die Gedankenarbeit zu teilen? In: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 08.12.2020. Online verfügbar unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/freie-radikale/mental-load-teilen-teresa-buecker-89594, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gender-care-gap/indikator-fuer-die-gleichstellung/gender-care-gap-ein-indikator-fuer-die-gleichstellung-137294, zuletzt aufgerufen am 14.03.2023.

Daminger, Allison: The Cognitive Dimension of Household Labor. In: American Sociological Reciew (2019), Vol. 84(4). Los Angeles, USA: Sage Publications, 609-633.

Dean,Liz/Churchill, Brendan/Rupanner, Leah: The mental Load. Building a deeper theoretical understanding on how cognitive and emotional labor overload women and mothers. In: , Vol. 25, (2022), online verfügbar unter: https://www.tandfonline.com/doi/epdf/10.1080/13668803.2021.2002813, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

Emma (2018): The mental Load. A feminist comic. New York/Oakland/London: Seven Stories Press. Online verfügbar unter: https://english.emmaclit.com/2017/05/20/you-shouldve-asked/, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

https://www.equalcareday.de/mental-load/, zuletzt aufgerufen am 14.03.2023.

https://www.gender-mediathek.de/de/care-arbeit, zuletzt aufgerufen am 14.03.2023.

Land, Louise: „Mental Load ist unsichtbar, kann aber krank machen“. Interview mit Simone Frohwein und Elke Hüttenrauch. In Süddeutsche Zeitung Magazin vom 31.01.2023. Online verfügbar unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesundheit/mental-load-stress-belastung-burn-out-muetter-frauen-92354, zuletzt aufgerufen am 09.03.2023.

Lange, Bianca/Ohlbrecht, Heike: Parenthood in a crisis 2.0. Motherhood in the Tension Between Homeschooling and Home Office. A Comparison After 1 Year of Pandemic. In: International Dialogues on Education Journal, 8(1/2), 36–50 (2022). Online verfügbar unter: https://doi.org/10.53308/ide.v8i1/2.252, zuletzt aufgerufen am 09.03.2022.

Lutz, Helma/Benazha, Aranka Vanessa: Transnationale soziale Ungleichheiten. Migrantische Care- und Haushaltsarbeit. In: Biele Mefebue, Astrid/Bührmann, Andrea D./ Grenz, Sabine (Hrsg.) (2022): Handbuch Intersektionalitätsforschung, Wiesbaden: Springer VS, 289-302.

Notz, Gisela: Arbeit. Hausarbeit, Ehrenamt, Erwerbsarbeit. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hrsg.) (2010): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 3. erw. und durchges. Aufl., Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwissenschaften, 480-488.

Puhlman, Daniel J./Pasley, Kay: Rethinking Maternal Gatekeeping. In: Journal of family theory & review (2013), Vol.5 (3). Hoboken, USA: Wiley, 176-193.

Schrammel, Barbara: Mental-Load. Ein psychodramatischer Blick auf die ungleiche Verteilung der Care-Arbeit. In Psychodrama Soziom (2022) 21, 369-379.

Schutzbach, Franziska (2021): Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit. München: Droemer, 239-267.


[1] Emma 2018, https://english.emmaclit.com/2017/05/20/you-shouldve-asked.

[2] Ebd.

[3] https://equalcareday.de/mental-load/.

[4] Vgl. ebd.

[5] Vgl. Lange/Ohlbrecht 2022, 45.

[6] Vgl. Frohwein in Land 2023, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesundheit/mental-load-stress-belastung-burn-out-muetter-frauen-92354.

[7] Vgl. Notz 2010, 480-481.

[8] Vgl. ebd., 481.

[9] Vgl. ebd.

[10] Vgl. Schutzbach 2021, 245.

[11] Vgl. Becker-Schmidt 2010, 66.

[12] Vgl. ebd.

[13] Vgl. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gender-care-gap/indikator-fuer-die-gleichstellung/gender-care-gap-ein-indikator-fuer-die-gleichstellung-137294.

[14] Vgl. Daminger 2019, 628.

[15] Vgl. ebd.

[16] Vgl. Hüttenrauch in Land 2023.

[17] Vgl. Dean/Churchill/Rupanner 2022, 20-22.

[18] Vgl. Frohwein/Hüttenrauch in Land 2023.

[19] Vgl. Frohwein in Land 2023.

[20] Vgl. Bücker 2020, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/freie-radikale/mental-load-teilen-teresa-buecker-89594

[21] Schutzbach 2021, 249.

[22] Vgl. ebd.

[23] Vgl. Hüttenreich in Land 2023.

[24] Vgl. Schrammel 2022, 372-373.

[25] Vgl. ebd., 373.

[26] Vgl. Schutzbach 2021, 246.

[27] Emma 2018.

[28] Vgl. Schutzbach 2021, 250-252.

[29] Vgl. Daminger 2019, 609.

[30] Vgl. ebd.

[31]  Vgl. Schutzbach 2021, 249-250.

[32] Vgl. Schutzbach 2021, 250.

[33] Vgl. Puhlman/Parsle 2013, 176. Die Autor:innen weiten in ihrem Artikel den Begriff allerdings aus und wollen ihn neu konzeptualisieren, das würde hier aber zu weit vom Thema wegführen.

[34] Vgl. Schutzbach 2021, 252-253.

[35] Vgl. ebd., 253.

[36] Vgl. https://www.gender-mediathek.de/de/care-arbeit.

[37] Vgl. Lutz 2022, 293-294.

[38] Vgl. Schutzbach 2022, 253-254.

[39] Vgl. Hüttenrauch in Land 2023.

[40] Vgl. https://equalcareday.de/mental-load/.

[41] Vgl. Schutzbach 2021, 259.

[42] Vgl. ebd., 261.

[43] Vgl. ebd.


Quelle: Eva Schießl, Mental Load – feministischer Kampfbegriff oder fruchtbares Konzept, um Geschlechtergerechtigkeit neu zu denken? in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 16.05.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/mental-load-feministischer-kampfbegrif

Geschlechtervielfalt in Musikwirtschaft und Livebranche

Was sind die Hintergründe mangelnder geschlechtlicher Diversität im deutschen Musikmarkt?

Eva Briegel (WiSe 2022/23)

Einleitung

„Frauen machen Kunst für Frauen, Männer machen Kunst für Menschen“

(Liere, 2022)

Diversität, Gendergerechtigkeit und Inklusion sind in den vergangenen Jahren in den Fokus der deutschen Musiklandschaft gerückt. Immer mehr Musikschaffende fragen sich, wie es um ihre Chancen, ihre Kunst einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und davon leben zu können, eigentlich bestellt ist. Bereits seit einigen Jahren wird eine lebhafte Debatte darüber geführt, wie es um das Geschlechterverhältnis in allen Bereichen der deutschen Musikindustrie, aber auch bei den Musikschaffenden selbst, den Songschreiber*innen, Musiker*innen auf und hinter der Bühne, im Bereich Komposition, Musikproduktion, Livegeschäft, in Booking-agenturen,  bei Radiostationen, im Mediengeschäft und vielen anderen Teilbereichen des Musikbusiness steht. Die Bilanz ist ernüchternd: Trotz vielfältiger Initiativen, einer wachsenden Anzahl an kritischen Stimmen in den Medien und der Branche selbst und eines sich wandelnden Problembewusstseins sind die Fortschritte seit dem Aufkommen der Debatte um mehr Inklusion im Popgeschäft und eine Entwicklung in Richtung Vielfalt bescheiden. Noch immer ist der allergrößte Teil der Musikwirtschaft männlich.

Ich bin seit vielen Jahren Teil der Musikbranche und habe immer wieder erlebt, in welchen Abhängigkeiten sich junge Künstler*innen befinden, welche große Rolle es spielt, (von Männern) gemocht zu werden und in welchem Ausmaß junge Künstler*innen von allen Formen von Sexismus betroffen sind.

In dieser Arbeit soll beleuchtet werden, welche Gender-Stereotypen dazu führen, dass es einer Branche, die von sich behauptet, sich durch Offenheit, Toleranz und Vielfältigkeit auszuzeichnen, so schwerfällt, sich sichtbar zu verändern.

Hauptteil

Zahlen

Der Anteil an Frauen in den deutschen Charts ist seit Jahren rückläufig. Eine Studie des Streaminganbieters Qobuz kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2021 nur 7,32%  aller Top-20-Titel in Deutschland von Frauen interpretiert wurden (Diversität in den deutschen Charts: Frauenquote erreicht 2021 Tiefstwert, 2022). In einer Erhebung der MaLisa Stiftung sollten noch genauere Daten erhoben werden. 2021 veranlasste sie Recherchen zum Thema Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche. Darüber hinaus wurde in Kooperation mit der GEMA und Music S Women*, dem Dachverband der Musikfrauen* in Deutschland, eine Studie zum Thema „Charts, Werke und Festivalbühnen“ durchgeführt. Aus deren Ergebnissen lässt sich leider das Gegenteil dessen ablesen,  was öffentlich gefordert wird: in jedem der Bereiche Songwriting, GEMA-Mitgliedschaft, Gema-gemeldete Autorenschaft und Engagements bei Musikfestivals lag der Frauenanteil bei weit unter 20 %, und trotz einiger Initiativen, beispielsweise Selbstverpflichtungen der Veranstalter und der medialen Aufmerksamkeit war dieser Prozentsatz in den meisten Bereichen im Vergleich zu 2010 rückläufig. Einzig die weibliche Teilnehmer*innenquote kleinerer Festivals stieg leicht an.  Waren die Festivals von mittlerer bis großer Größe (41.00 – 200.000 Besucher*innen), stieg der Anteil der Musiker*innen von 2010 bis 2019 lediglich von 6 % auf 8 %. Der männliche Autorenanteil aller bei der GEMA gemeldeten Werke liegt sogar bei über 90 %, Tendenz steigend. Dagegen betrug der Anteil an nicht binären Personen und Personen ohne Geschlechtsangabe in allen Bereichen unter 1 %. Songs aus rein weiblicher Autorenschaft machten 2010 noch knapp über 3 %,  2015 knapp 2 % und  2019 weit unter 1% aus (Gender in Music – Charts, Werke und Festivalbühnen, 2022). Eine Ausnahme bildet das öffentlich-rechtliche Radio mit einer Mitarbeiterinnenquote von 50 %. Die redaktionelle und programmliche Entscheidungsmacht liegt aber nach wie vor weitgehend in männlicher Hand (Röben, 2022). Diese Zahlen überraschen, da in unserer Wahrnehmung das Geschlechterverhältnis im Radio und bei Streamingdiensten ausgeglichen zu sein scheint. Es gibt große weibliche Popstars, die vermeintlich das Musikgeschäft dominieren. Doch diese mediale Fokussierung auf einzelne weibliche Superstars wie Taylor Swift oder  Miley Cyrus überdeckt offenbar die Realität.

Die Musikwirtschaft als people business

Die Musikindustrie ist in vielen Bereichen ein sog. „people business“, eine personenbezogene Branche, in der persönliche Kontakte, Freundschaften, und die Eigenschaft, gemocht zu werden von großer Bedeutung sind. Viele Businesskontakte, aber auch Engagements und die Jobvergabe funktionieren über Sympathie, persönliche Präferenzen und Beziehungen. Da extrem viele Angehörige der Branche Autodidakten ohne Berufsabschlüsse sind, bzw. Berufsabschlüsse im Feld der Popmusik eine untergeordnete Rolle spielen, ist die Persona der oder des Einzelnen von größerer Bedeutung als in anderen Branchen. Hier gibt es selten Zeugnisse oder Auswahlverfahren, mit Hilfe derer sich der diskriminierungsfreie Zugang zu verschiedenen Positionen gewährleisten lässt. Das Musikbusiness bietet gute Möglichkeiten für Quereinsteiger*innen, egal ob als Musiker*in, im Management, als Licht-Operator*in, als Gitarrentechnikern*in, als „Roadie“, oder in vielen anderen Berufen. Dabei ist das, was das Musikgeschäft ausmacht, gleichzeitig Chance und Nachteil: Subjektivität und Geschmack. Gerade im Pop ist die Qualität eines Acts nicht objektiv messbar. Die Kunst kann nicht von dem oder der Künstler*in getrennt beurteilt werden und nicht selten hat der oder die Musiker*in mit der objektiv schlechtesten Stimme oder die Band mit den geringsten musikalischen Fähigkeiten den größten Erfolg. Eine langjährige Ausbildung mit anerkanntem Abschluss kann einem oder einer Musiker*in den Weg ins Pop-Geschäft ermöglichen, sie ist aber nicht zwingend notwendig. Im Bereich elektronischer Musik ist der Weg über eine musikalische Ausbildung eher selten, da die verwendeten Technologien relativ neu sind und die technologische Entwicklung so schnell voranschreitet, dass sich die Inhalte der verschulten Weitergabe entziehen. Oft entscheiden Geschmack, die persönliche Sympathie oder private Kontakte über ein Booking auf einem Festival oder einen Slot als Vorband bei einem etablierten Act. Die Musikindustrie funktioniert also häufig und viel über Netzwerke. Suchen Popstars Live-Musiker*innen für ihre Tour, suchen Künstler*innen Produzent*innen für ihre Tonaufnahmen, suchen Bands Toningenieur*innen oder Lichttechniker*innen für ihre Live-Shows, gehen sie bewusst den Weg über Netzwerke, Mund-zu-Mund-Propaganda und persönliche Empfehlungen und Referenzen.

Im Bereich des Live-Tour-Geschäftes gibt es so gut wie keine objektiven Auswahlverfahren. Das wichtigste Qualifikationskriterium für einen dieser Berufe ist neben guten Beziehungen die Erfahrung. Diese kann aber nur erworben werden, wenn es einen initialen Zugang zum Musikgeschäft und Live-Business gibt, somit fällt auch dort Frauen der Quereinstieg deutlich schwerer. Auf die Frage der Malisa-Studie „Mit welchen Barrieren sehen Sie sich persönlich in Ihrer beruflichen Weiterentwicklung konfrontiert?“ antworten 54 % aller befragten Frauen mit „Vetternwirtschaft“, 49 % sahen sich mit „Stereotypen und Vorurteilen“ konfrontiert und 47 % gaben „intransparente Entscheidungskriterien“ als Hindernis an (Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche, 2021).

Mangelnde Repräsentanz im Live-Geschäft und auf Festivals ist aber für viele Musikschaffende in erster Linie ein finanzielles Problem. Die vorwiegende Nutzung von Streamingdiensten und die damit einhergehenden geringen Absatzzahlen physischer Tonträger macht für viele Musiker*innen das Livegeschäft zur einzigen wirklichen Einnahmequelle. Die Kosten einer eigenen Headliner-Tour aber sind oft so hoch, dass sich die Touren kaum selbst finanzieren und nur in der Mischkalkulation mit Festivalauftritten können viele Musiker*innen leben, üben, ihre Musik schreiben und produzieren. Der erschwerte Zugang zu Festivalbühnen stellt für nicht männliche Musiker*innen also sowohl ein inhaltliches als auch ein wirtschaftliches Problem dar. 

Mögliche Hintergründe mangelnder Vielfältigkeit im Musikgeschäft

Fragt man auf Entscheider*innenebene nach, also bei Radioredakteur*innen, Festival-Veranstalter*innen, oder in (überwiegend männlich besetzten) Jurys für die Musikpreisvergabe, werden diverse Gründe genannt. Frauen seien angeblich oft „nicht so gut“, es gäbe ohnehin nicht viele Frauen, die Musik machten oder das Publikum wolle lieber Männer als Frauen sehen, das zeige sich anhand des Kartenverkaufs.

Tatsächlich haben Frauen aufgrund ihres Seltenheitswertes, aber auch wegen inhaltlicher Gründe eine Sonderstellung inne. Nicht selten offenbart sich ein männlicher Blick auf weibliche und nicht-binäre Kolleg*innen. So bezeichnet man Bands, deren Mitglieder zu größeren Teilen weiblich sind, oft als „Frauenbands“. Inhaltlich unterstellt man Künstlerinnen, dass sich ihre Lieder um typische Frauenthemen wie Partnerschaft, ihre Rolle als Frau, ihr Aussehen oder die Anforderungen der Gesellschaft an sie als Frau drehen. In vielen Sparten des Unterhaltungsbetriebs drängt sich der Gedanke auf, dass Frauen, die diesem Klischee entsprechen, öfter gebucht werden. So bestehen zum Beispiel die Inhalte weiblicher Comedians aus typisch „weiblichen Themen“. Das könnte daran liegen, dass Entscheider*innen, die Künstler*innen für Festivals buchen, Künstlerinnen bevorzugen, die ihrem Bild von „weiblicher Kunst“, „weiblichen Themen“ oder auch der Vorstellung von dem, was „weibliches Publikum“ interessiert und bevorzugt, entsprechen. Durch die größtenteils männlich besetzten Entscheidungspositionen definiert also der männliche Blick auf andere Geschlechter, was gut und sehenswert ist.

Das Argument, es gebe keine guten, interessanten Frauen im Rock und Popbusiness lässt sich vergleichsweise schnell widerlegen, indem man sich das Angebot der unterschiedlichen Streamingplattformen ansieht. Dort findet man eine unglaubliche Fülle an Musik, deren Urheber*innen und Interpret*innen von allerlei Geschlechtern vertreten sind. Das Problem liegt also zum einen eher in der Förderung und Sichtbarmachung vorhandener Talente. Zum anderen stellt sich ohnehin die Frage, was „gut“ im Sinne der Popmusik eigentlich bedeutet soll. In erster Linie entspricht „gute Musik“ oft dem eigenen Geschmack und der ist bekanntlich durch individuelle Erfahrungen, Ähnlichkeiten zur eigenen Person und Identifikationspotential des Künstlers geprägt. Umso wichtiger ist es für die Gatekeeper in der Musikwirtschaft, sich vorhandene blinde Flecke bewusst zu machen, um den eigenen Geschmack nicht als Objektivität zu labeln und dadurch Andersartigkeit und fremde Perspektiven, Grundvoraussetzungen des Pop und der Kunst allgemein, zu verhindern.

Die Konsument*innensicht ist eine andere: einer Studie der Malisa Stiftung in Kooperation mit der Initiative „Keychange“ zufolge bescheinigt die Altersgruppe der 16 bis 29-jährigen Musikhörer*innen dem Thema Geschlechtervielfalt eine hohe Relevanz. Jede*r Zweite wünscht sich eine verstärkte öffentliche Auseinandersetzung, viele sind bereit, für mehr Diversität auch ihr Konsumverhalten zu verändern oder anzupassen. Allerdings sehen 43 % der Befragten die Verantwortung für geschlechtliche Ausgewogenheit in der Mehrheit bei den Veranstalter*innen, Streamingdiensten und Radioprogrammen (Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche, 2021).

Ein häufig genannter Grund für die Dominanz männlicher Künstler auf Großveranstaltungen und Festivalbühnen wie „Rock am Ring“ ist die Behauptung, „Frauen verkauften keine Tickets“, der Auftritt nicht-männlicher Künstler*innen stelle also nur aufgrund ihren Geschlechtes für Festivalbesucher keinen Kaufanreiz für ein Ticket dar. Eine Behauptung, die sich schwer überprüfen lässt, da aufgrund mangelnder Repräsentanz viele Themen und Formen der Kunst nicht in ausreichender Bandbreite dargeboten werden. Gibt es z.B nur wenige weibliche Rapperinnen, ist die Frage, ob ich Rap mag, der von Frauen gemacht wird, in viel höherem Maße von einzelnen sichtbaren Künstlerinnen abhängig, als wenn es eine Vielzahl an weiblichen Musiker*innen eines Genres gibt, und ich mir unabhängig vom Geschlecht ein geschmackliches Urteil bilden kann.

Auch stellt sich die Frage nach der Zielgruppe von Konzerten und Festivals. Werden Festivals hauptsächlich mit Bands und Künstlern, die eine stereotype Maskulinität erzählen, besetzt, ist womöglich dadurch die Attraktivität für nicht männliche Festivalbesucher geringer und das System reproduziert sich selbst. „Harter Rock“ auf der Bühne, „harte Männer“ im Publikum, Festivalveranstalter, die auf dieses Publikum eingehen, und so weiter. Das rein weiblich besetzte DCKS-Festival von Carolin Kebekus 2022 in Köln erhielt viel mediale Aufmerksamkeit und war außerdem sowohl ausschließlich mit female artists besetzt als auch sehr gut besucht. Beide Argumente, fehlende weibliche Acts sowie die Annahme, weibliche Künstler zögen kein Publikum, sind somit zumindest fragwürdig.

Ein System reproduziert sich selbst

Viele Personen, die als Quereinsteiger in der Musikbranche tätig sind, haben meiner Erfahrung nach vormals als Musiker*innen gearbeitet. Häufig fördern sie in ihrer zweiten Karriere Bands und Solokünstler*innen nach persönlicher Präferenz und nach Kredibilität, also Glaubwürdigkeit und Authentizität. Diese sind subjektiv und nicht messbar. Es bleibt der Verdacht, dass auch hier die Ähnlichkeit ausschlaggebendes Kriterium dafür ist, dass eine Person gefördert wird, die andere nicht. So werden im Rock und Pop Aggressivität und Aktivität, typisch männliche Zuschreibungen, als authentischer eingeschätzt als Introvertiertheit oder Weichheit, Eigenschaften, die gesellschaftlich eher Frauen zugeschrieben werden. Kunst aber beschäftigt sich mit allen Facetten menschlichen Seins. In der neuen Züricher Zeitung schreibt Sarah Pines: „Weibliche Kunst wird vor allem als Kunst anerkannt, wenn sie explizit feministisch ist. Der Rest interessiert nicht wirklich. Unser Verhältnis zu Frauen in der Kunst ist ebenso von Unnatürlichkeit geprägt wie von Ausblendung.“ (Pines, 2022). Künstler*innen, die ihre geschlechtliche Identität zum Thema ihres musikalischen Ausdrucks machen, werden derzeit in besonderer Weise gehört. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, die sich unbedingt weiterentwickeln muss zu einer nicht männlichen Perspektive der Vielfältigkeit menschlichen Erlebens. Immer noch wird auch in der Musik die männliche Sichtweise als „Default“ (Voreinstellung) akzeptiert und von allen Geschlechtern angenommen. Frauen können sich mit männlichen Künstlern besser identifizieren als männliche Zuhörer sich mit Frauen identifizieren. Das lässt darauf schließen, dass die weibliche Perspektive immer noch eine zweitrangige ist, die zwar beachtet, verstanden und respektiert werden kann, sich aber nicht zur Identifikation eignet, keine Vorbildfunktion erfüllt und maximal Begehren, aber kaum Gefolgschaft und Fantum auslösen kann.

Das Problem mangelnder Vielfalt in Kunst und Kultur ist längst ein Trendthema, dem sich Magazine und der Musikjournalismus, Mainstreammedien und Kulturformate verstärkt zuwenden. Sie berichten über das Problem mangelnder Diversität, die Hintergründe und mögliche Faktoren der Entstehung sowie Stellschrauben für Veränderung. Doch auch hier fehlt immer wieder die nicht-männliche Perspektive, denn auch im Musikjournalismus ist das Geschlechterverhältnis traditionell alles andere als ausgewogen. Auffällig ist dabei gerade die Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit in einer Branche, die für sich in Anspruch nimmt, Vordenker und Initiator gesellschaftlicher Veränderungen zu sein.

Problembewusstsein und Lösungswege

So unterschiedlich die verschiedenen, an der Vermarktung und Verbreitung von Musik beteiligten Organisationen sind, aus so unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten sie dabei Diversität. Während Privatradiostationen oder Plattenfirmen neue Käuferschichten suchen und neue Absatzmärkte erschließen möchten, haben institutionell geförderte Kultureinrichtungen eher die Verantwortung, die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden. Häufig sind auch hier Gremien zur Förderung von Kunst und Kultur überwiegend männlich besetzt, so dass aufgrund fehlender objektiver Parameter über die Förderung junger Talente anhand von Geschmacks- und Kritiker*innenurteilen entschieden wird.

Daher fordert der Dachverband der Musikfrauen* in Deutschland „Music Women*“ in seinem 20 Punkte umfassenden Forderungskatalog unter anderem die „Einführungen von intersektionalen Quotenregelungen“, die „Einführung verbindlicher Diversitätskriterien in Gremien, Findungskommissionen, Beiräten, Vorständen, Aufsichtsräten u.a. bei staatlicher Förderung“ sowie die „Einführung von Diversitäts Checklisten bei staatlich geförderten Projekten und Institutionen im Bereich Programm, Personal und Publikum“ (Music Women* Germany, 2022). Die 2015 gegründete Initiative Keychange fordert mehr Geschlechtergerechtigkeit bei Konferenzpanels, Orchestermusikern und Komponisten und will Produzentinnen und Technikerinnen fördern. Der Keychange-Pledge, einer Selbstverpflichtung zu 50 % geschlechtergerechten Quote auf deutschen Festivalbühnen, schlossen sich mehrere deutsche Festivals an. Seit 2020 fördert Keychange 37 Musiker*innen und 37 Akteur*innen aus der Musikindustrie über einen Zeitraum von 4 Jahren und wird dafür von der Europäischen Union mit 1,4 Millionen Euro unterstützt.

Schluss

Geht man der Frage nach, warum das Geschlechterverhältnis in der Musikwirtschaft, unter Musiker*innen, Komponist*innen und in allen mit Musik zusammenhängenden Branchen des Kunst- und Kulturbetriebe,s so unausgeglichen ist, kommt man zu keiner einfachen Lösung. In erster Linie kann man die Qualität und die Qualifikation von Popmusikern schlecht messen. Ein Qualitätsmerkmal populärer Musik ist die Einzigartigkeit und Emotionalität, die sich der objektiven Bewertung entziehen. Daraus folgt, dass die Mechanismen, nach denen eine Karriere im Musikbusiness, ob als Musiker*in oder als Produzent*in, als Sound Engineer*in oder als Fotograf*in, als Musikredakteur*in oder als Autor*in, sehr anfällig sind für Diskriminierung aller Art. Die einzige Möglichkeit, mehr Chancengleichheit zu gewährleisten, ist, die entscheidenden Positionen mit Angehörigen aller Geschlechter zu besetzen. Nur so kann man sicher sein, dass im Pop auch wirklich die Vielfalt aller Perspektiven und aller Gefühle repräsentiert und behandelt werden. Daher unterstütze ich die Forderungen von Music Women* nach einer festen Quote in allen relevanten Bereichen der Musikbranche.

Abschließend bliebe noch die Frage zu klären, was man gewönne, wenn man die Musikwirtschaft um die Perspektiven aller Geschlechter erweiterte. Nicht nur, dass der Pool an Kunst- und Kulturschaffenden sich nahezu verdoppeln würde, sondern es gäbe die Chance auf die Entwicklung einer neuen Art von Musik. Wenn Musiker*innen mehr Unterstützung, Solidarität, Mentor*innenschaft und Schutz erfahren würden, würde das in hohem Maße ihre Musik beeinflussen und würde auf ihren kreativen Ausdruck wirken. Die Folge dessen könnte sein, dass wir ein Verständnis der menschlichen Gefühlswelt erfahren könnten wie noch nie zuvor, unabhängig von Geschlechtszuschreibungen und Stereotypen. 

In dieser Arbeit habe ich mich bewusst dagegen entschieden, der Frage nachzugehen, inwieweit diskriminierende Erfahrungen in Bezug auf das Geschlecht in Zusammenhang mit Sexismus und sexuellen Übergriffen stehen. Dies ist ein Thema, das unbedingt in weiteren Arbeiten reflektiert werden sollte.

 Literaturverzeichnis

Diversität in den deutschen Charts: Frauenquote erreicht 2021 Tiefstwert. (2022, 20. Dezember). Qobuz. Abgerufen am 1. Februar 2023, von https://www.qobuz.com/de-de/info/News/Diversitat-in-den-deutschen-Charts185703

Gender in Music – Charts, Werke und Festivalbühnen. (2022, 19. September). malisa Stiftung. Abgerufen am 1. Februar 2023, von https://malisastiftung.org/gender-in-music/

Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche. (2021, 17. Dezember). malisa Stiftung. Abgerufen am 2. Februar 2023, von https://malisastiftung.org/studien-und-recherchen-zu-geschlechtergerechtigkeit/

Liere, J. (2022, 4. Juni). Mitleid mit Musikmännern. www.zeit.de. Abgerufen am 4. Februar 2023, von https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fkultur%2F2022-06%2Frock-am-ring-festival-maenner-bands-frauenanteil%3Fpage%3D4

Music Women* Germany. (2022, 4. Mai). MW*G Tagung schließt mit Forderungskatalog “Gender Equality Now!” für Politik und Branche. Abgerufen am 4. Februar 2023, von https://www.musicwomengermany.de/news/346-test

Pines, S. (2022, 16. Juli). Kunst von Frauen: Nur feministische Kunst ist gute Kunst. Neue Zürcher Zeitung. Abgerufen am 4. Februar 2023, von https://www.nzz.ch/feuilleton/kunst-von-frauen-nur-feministische-kunst-ist-gute-kunst-ld.1692076?reduced=true

Röben, B. (2022, 28. April). ProQuote im Rundfunk: „Bewusstsein ist da!“ M – Menschen Machen Medien (ver.di). Abgerufen am 3. Februar 2023, von https://mmm.verdi.de/beruf/proquote-im-rundfunk-bewusstsein-ist-da-81093


Quelle: Eva Briegel, Geschlechtervielfalt in Musikwirtschaft und Livebranche, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 16.05.2023, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=35