Mit 15 konvertierte sie zum Islam, fünf Jahre später brachte sie Studierenden als Tutorin Arabisch bei. Jetzt, mit 30, ist sie Juniorprofessorin für Islamische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin. Prof. Dr. Mira Sievers hat eine beachtliche Vita und wurde für ihre Forschung kürzlich mit dem Nachwuchspreis des Berliner Wissenschaftspreises ausgezeichnet.
Bildquelle: Philipp Plum/ HU Berlin
Zu Frau Sievers Forschungsinteressen gehören die islamische Ethik, Grundlagen der islamischen Theologie – und die Rolle, die Gender dabei spielt. Im Gespräch mit der Toolbox ging es um gute Lehre, Corona-Frust und um aktuelle Themen in alten Texten.
Frau Sievers, was begeistert Sie an Ihrem Forschungsgebiet?
An der islamischen Ethik, meinem aktuellen Schwerpunkt, begeistern mich zwei Dinge: Zunächst die Auseinandersetzung mit der islamischen Tradition, das Lesen von alten Texten. Ethik ist keine eigene Disziplin, sondern ethische Diskussionen kommen in unterschiedlichen Bereichen vor. Es ist interessant zu sehen, wie reich eigentlich die islamische Theologie in ihrer Behandlung ethischer Themen auf unterschiedlichen Ebenen ist.
Das zweite ist die Vielfalt an gegenwärtigen Themen, mit denen ich mich beschäftigen darf. Im Bereich der Ethik sind das ganz unterschiedliche Fragestellungen von umweltethischen Überlegungen über medizinethische Fragen bis zur Sexualethik.
Wenn Sie diese Inhalte Studierenden vermitteln – was ist Ihnen da besonders wichtig?
Ich möchte immer ermöglichen, dass Studierende sich autonom in der islamischen Theologie bewegen können. Dass sie, wenn sie selbst zu einem bestimmten Thema recherchieren wollen, wissen, wie und wo man das tun kann, und was man beachten muss.
Ihre Zeit als Studentin und als Lehrende liegen nah beieinander. Inwiefern wurde Ihr derzeitiges Verständnis von guter Lehre durch Ihr Studium geprägt?
Ich war insgesamt zufrieden mit der Lehre, die ich als Studentin erlebt habe. Seit 2011 war ich außerdem selbst Tutorin für Arabisch und da kam die Frage auf, warum man das den Leuten beibringt. Es ist so: Nur, weil Studierende Arabisch sprechen, heißt das nicht, dass sie mit theologischen Texten umgehen können. Da braucht es Fachterminologie.
Seit 2015 mache ich inhaltliche Lehre. Da war schnell klar, dass sich die gleiche Problemstellung ergibt wie bei der Arabischlehre: Was ist die Bedeutung des Ganzen? Da die Texte in der islamischen Theologie oft nach einer festgelegten Struktur aufgebaut sind, hilft es, wenn Studierende diese verinnerlichen. Deswegen baue ich meine Seminare grob entsprechend dieser Struktur auf und erkläre, in welcher Reihenfolge Dinge diskutiert werden.
Gab es auch abschreckende Beispiele aus Ihrer Studienzeit?
Ja, aber von einem tollen Lehrer! Da wollte ich gemeinsam mit einem Kommilitonen einen Text von dem Gelehrten Abū Hāmid al-Ghazālī lesen. Wir saßen in meinem Büro und haben uns daran versucht und es war unglaublich schwierig. Dann kam dieser Dozent, mittlerweile ein Freund, herein, und sagte: „Das könnt ihr nicht machen, das geht nicht.“ Wir fragten, warum nicht, und er sagte: „Man kann den Text nicht verstehen, wenn man nicht schon viel Erfahrung mit Texten dieses Autors hat.“ Wir haben dann nicht aufgegeben, es weiter versucht und sind trotzdem verzweifelt. Aber das war schon so eine Erfahrung, wo ich gedacht habe, man muss Studierenden die Chance geben, solche Erfahrungen in den Lehrveranstaltungen zu sammeln.
Wie hat die Pandemie – und somit die Verlegung von Lehrveranstaltungen ins Digitale – Ihre Lehre verändert?
Die letzten Dinge vor einer Sitzung erledigen, das geht jetzt bis 30 Sekunden vor Beginn, anstatt bis eine halbe Stunde vorher (lacht). Das ist aber ein kleiner Trost, weil ich die Vorbereitung auf die digitale Lehre als intensiver empfinde. Für mich ist das Lesen und Diskutieren von Texten extrem wichtig. Das macht für mich den Kern von Theologie aus und das funktioniert online ganz schlecht.
Studierende der islamischen Theologie machen leider besonders selten ihre Kameras an. Das kann damit zusammenhängen, dass unsere Studierenden relativ früh Familie haben. Oder damit, dass sie überdurchschnittlich häufig die ersten in der Familie sind, die zur Uni gehen und Hemmungen haben, sich zu zeigen. Oft arbeiten sie viel, es kommt vielleicht auch das Thema von Bedeckung und Privatsphäre dazu. Ich will aber auch nicht alles wegerklären. Ich glaube, dass teilweise noch das Bewusstsein fehlt, dass Online-Lehre nicht einfach ein Stream ist, den man sich in der Straßenbahn reinziehen kann.
Die ganze Konstellation sorgt dafür, dass man nicht so in die Beziehung treten kann wie in der persönlichen Lehre. Das ist in diesem Fach besonders schwierig, weil Textlektüre immer schon Überwindung gekostet hat. Das sind schwere Texte, im Original auf Arabisch, es ist schwierig, sie vorzulesen. Wenn ich in mit einer Gruppe in einem kleinen Raum bin, entsteht eine Arbeitsatmosphäre und man schafft das. Das ist für die Studierenden motivierender, weil sie sehen, jede und jeder kann mitgenommen werden. Das klappt dann. Aber digital ist die Tendenz, sich abzuschalten, höher.
Hatte diese Situation Einfluss darauf, individuelle Bedürfnisse von Studierenden, etwa von Erstakademiker*innen oder Elternteilen, wahrzunehmen?
Auf jeden Fall. Vor der Pandemie besprach man vor oder nach Veranstaltungen die persönlichen Situationen der Studierenden. Jetzt ist die Hürde von Studierenden, eine Mail zu schreiben und eventuelle Schwierigkeiten zu beschreiben, sehr hoch. Ich versuche, das mitzudenken, das zum Thema zu machen, wenn es geht. Aber ich muss sagen, dass ich das in der Corona-Zeit schwierig finde – auch weil ich selbst Grenzen habe, was meine Kapazitäten betrifft. Auf persönliche Bedürfnisse eingehen zu können erfordert außerdem ein Vertrauensverhältnis, das ich kaum aufbauen kann. Im persönlichen Kontakt waren solche Situationen immer Selbstläufer.
Welche Rolle spielen Gender und Diversity in Ihren Lehrinhalten?
Das Thema Gender ist sehr präsent. Jedes Wintersemester versuche ich, eine Veranstaltung anzubieten, die sich speziell dem Thema Gender widmet. Letztes Jahr ging es stark um Frauenforschung. Das war ein Seminar zu Frauen in al-Andalus, also den muslimisch beherrschten Teilen der iberischen Halbinsel im Mittelalter. Es gibt diesen Mythos, dass es Frauen dort zu der Zeit an dem Ort besser ging als irgendwo sonst – das wollten wir prüfen. Am Ende habe ich darüber einen Artikel geschrieben, der hieß „Weder die Ausnahme noch die Regel“.
Dieses Jahr gebe ich ein grundsätzliches Seminar zu Gender in Koran und Koranexegese. Es ist auf der einen Seite ein exegetisches Proseminar. Man spricht genauso wie in den nicht-genderbezogenen Veranstaltungen darüber, was es mit der Kontextualität, der Chronologie und den Lesarten auf sich hat. Dann aber konzentrieren wir uns in den theologischen und normativen Fragen auf Gender: Wie wird im Koran die Schöpfung des Menschen gedacht? Ist der erste Mensch ungeschlechtlich gewesen oder hat er mehrere Geschlechter in sich getragen? Gibt es Prophetinnen aus islamischer Sicht? Wie sieht das aus in den normativen Fragen, mit den typischen Themen vom Kopftuch über Eheschließung, Ehescheidung bis hin zu Polygamie und Erbfragen. Außerdem behandle ich islamischen Feminismus. Aber auch in meinen allgemeinen Ethikseminaren spielen Geschlecht und Sexualität regulär eine Rolle: Wie weibliches Selbstbestimmungsrecht gedacht wird, oder der Umgang mit intersexuellen Kindern. Im Zentrum steht die Frage: Was ist unsere heutige Debatte, etwa zu geschlechtsverändernden Operationen an intersexuellen Kindern? Und was ist die Entsprechung zu so einer Debatte in der islamischen Tradition?
Die gibt es?
Ja, die gibt es! Es gibt einen Namen, khunthā, das sind Kinder bzw. Menschen allgemein, die mit nicht eindeutig zuordenbaren Geschlechtsteilen geboren werden. Weil insbesondere das islamische Rechtssystem sehr binär denkt, und auch Rechte unterschiedlich an Männer und Frauen vergibt, löst das eine große Diskussion aus. Wenn jetzt Männer und Frauen unterschiedlich erben, was erbt dann ein khunthā? Oder wenn Frauen hinter den Männern beten, wo beten dann intersexuelle Personen? Wird hier eigentlich eine dritte Geschlechtskategorie anerkannt oder ist das nicht der Fall? Das ist nicht alles unproblematisch, was man da findet und doch ist es spannend, dass diese Diskussion stattfindet.
Ausgewählte Beiträge von Prof. Dr. Mira Sievers:
- „Frauen als religiöse Autoritäten in islamisch-theologischer Perspektive: Weder die Ausnahme noch die Regel“, Neue Wege 6 (2020), S. 15–18.
- „Gottgewollte Geschlechterordnung? Gender als Ausgangspunkt für eine Neubetrachtung der göttlichen Gerechtigkeit“, Theologie – gendergerecht? Perspektiven für Islam und Christentum, Hg. Christian Ströbele, Amir Dziri, Anja Middelbeck-Varwick und Armina Omerika, Regensburg: Friedrich Pustet, 2021, S. 113–126.
- „Zu den Voraussetzungen einer islamischen Umweltethik“, CIBEDO-Beiträge 3 (2021), S. 113-118.