Gute Nachbar*innenschaft: Interview zu den Gender-Curricula des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW

Unter der Kategorie „Gute Nachbar*innenschaft“ stellen wir regelmäßig Angebote anderer Hochschulen zu gender- und diversitätsbewusster Lehre vor.

Diese Woche geht es um die Gender Curricula des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW, eine einzigartigen Datenbank mit Vorschlägen zur Integration von Lehrinhalten der Frauen- und Geschlechterforschung in 54 Studienfächer. Auch die  inhaltlichen Anknüpfungspunkte für jedes Fach, die wir in der Toolbox veröffentlicht haben, basieren auf diesen Gender Curricula.

Die Toolbox-Mitarbeiterin Melanie Bittner hat mit Dr. Lisa Mense und Dr. Heike Mauer ein Interview über die Entwicklung und Nutzung der Gender-Curricula geführt.

Von der Genderforschung zu Gender Curricula

Das Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW hat eine Datenbank mit Gender Curricula für über 50 Fächer erstellt. Gibt es mittlerweile eigentlich in jedem Fach Genderforschung?

In jedem Studienfach sicherlich nicht, auch wenn die Geschlechterforschung mittlerweile sowohl in vielen Einzelwissenschaften als auch als eigenes Fach, Gender Studies, eingeführt ist. Dies zeigen die über 200 Professor*innen mit einer entsprechenden Denomination an den Hochschulen in Deutschland, die Sektionen und Arbeitsgruppen der Frauen- und Geschlechterforschung innerhalb von Fachgesellschaften sowie die vielen wachsenden landes- und bundesweiten Netzwerke der Frauen- und Geschlechterforschung. Geschlechterforschung ist bereits seit ihren Anfängen als Frauenforschung und feministische Theorie besonders stark in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften verankert, aber auch in den Natur- und Technikwissenschaften war und ist sie vertreten. Dies spiegelt sich auch in der Datenbank www.gender-curricula.com wider.

Wer hat die Gender Curricula erstellt?

Die in der Datenbank zusammengetragenen Vorschläge, wie Inhalte und Methoden der Geschlechterforschung in die Curricula verschiedener Studienfächer integriert werden können, wurden von ausgewiesenen Fachwissenschaftler*innen entwickelt. Und es ist gelungen, für zurzeit 56 Studienfächer – und damit fast alle in Deutschland studierbaren Fächer – Expert*innen zu gewinnen. D. h. konkret, dass die Inhalte für das Fach Mathematik von einer Mathematikprofessorin erstellt wurden und die Inhalte aus der Romanistik von einem Professor für romanische Literaturwissenschaft. Zudem werden für jedes Curriculum weitere Expert*innen als Ansprechpersonen genannt, um die Vielfalt der Geschlechterforschung innerhalb der jeweiligen Fachdisziplinen sichtbar zu machen.

Allerdings zeigt sich auch, dass insbesondere in den technik-und naturwissenschaftlichen Fächern nur wenige Fachwissenschaftler*innen mit einem Schwerpunkt in der Geschlechterforschung forschen und lehren. Während beispielsweise in der Politikwissenschaft, aber auch in der Mathematik, mehrere ausgewiesene fachwissenschaftliche Geschlechterforscher*innen aufgeführt sind, gilt dies nicht im gleichen Maße für die Studienfächer der Agrar-, Forst- und Ernährungswissenschaften, zumindest im deutschsprachigen Raum. Dennoch werden auch für diese Fächer, wie beispielsweise für die Nautik, Vorschläge unterbreitet, wie Genderaspekte im Curriculum berücksichtigt werden können: Themen sind hierbei u. a. Personalführung oder auch Team- und Projekt-Management der Schiffsbesatzungen. Hier werden Genderaspekte vor allem auf der Ebene von „Geschlechtsrollenmustern“ oder als Unterschiede und Konflikte zwischen Frauen und Männern verstanden, während erkenntnistheoretische Grundlagen, wie im Curriculums-Vorschlag für die Informatik, weniger angesprochen werden.

Warum ist eine Verankerung der Genderforschung in all diese Studiengänge notwendig?

Geschlecht ist eine sehr grundlegende Struktur unserer Gesellschaft, die nicht nur unser Denken und Handeln auf sehr vielfältige Weise prägt, sondern ebenfalls Organisationen, Institutionen und Gesellschaft und insbesondere auch die Wissenschaften. Deshalb ist es in Bezug auf viele Themen schlicht nicht möglich, gute Wissenschaft zu betreiben, ohne hierbei die Kategorie ‚Geschlecht‘ systematisch zu reflektieren. Viele gesellschafts- und wirtschaftspolitische Fragestellungen, wie Verteilung der Sorgearbeit, Altersarmut oder auch Modelle volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen, würden ohne Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht nur unzureichend behandelt. In der Medizin oder auch Versorgungsforschung sind insbesondere die Verschränkungen gesellschaftlicher und biologischer Aspekte von Bedeutung, um Erkrankungen und Heilmethoden nicht nur am Modell eines Mannes mit bestimmter sozialer Herkunft und Hautfarbe zu erforschen und damit möglicherweise ungenügende Diagnostiken und Therapien zu entwickeln. Bekanntes Beispiel ist insbesondere der Herzinfarkt, der bei Frauen oftmals andere Symptome aufweist als bei Männern und daher Herzinfarkte bei Frauen oftmals deutlich später erkannt werden. Dies führt dazu, dass Frauen häufiger an einem Herzinfarkt sterben als Männer. Demgegenüber werden Depressionen bei Männern oft nicht erkannt. Aber auch das derzeit prominente Thema der Digitalisierung ist kein geschlechtsneutrales Feld, denn Digitalisierung berührt Arbeits- und Lebensverhältnisse von Menschen, Formen der Kommunikation und Fragen der Repräsentation auch von Geschlecht. So waren beispielsweise Algorithmen in Bewerbungssystemen so programmiert, dass Frauen systematisch ausgeschlossen wurden. Oder die Onlineanmeldung zu einer Veranstaltung erzwingt die Angabe des Geschlechts, es können aber nur die beiden Ausprägungen männlich und weiblich angegeben werden. All dies sind Beispiele, warum es relevant und auch erkenntnisfördernd ist, sich bereits im Studium mit Fragestellungen der Geschlechterforschung zu befassen. Zudem sind wissenschaftstheoretische Fragestellungen, also wie wird (Geschlechter-)Wissen, unter welchen Bedingungen, von wem und zu wessen Nutzen hergestellt, für alle Studienfächer von Belang.

Im Grunde muss eine Geschlechterperspektive also nirgendwo ‚hinzuaddiert‘ werden, sondern Geschlecht ist bereits in die Wissenschaft und die von ihr bearbeiteten Themen eingelassen. Mit der Datenbank soll die Sichtbarkeit dieser Geschlechterperspektiven in der Lehre erhöht und eine systematische Verankerung von Geschlechterperspektiven bei der Akkreditierung von Studiengängen erleichtert werden. Wir verstehen die Datenbank als ein Angebot, das deshalb notwendig ist, weil auch Forschung und Lehre nicht frei von geschlechterbezogenen Ungleichheiten sind. Eine moderne Ausbildung von Studierenden schließt Genderaspekte ein – denn eine wissenschaftliche Ausbildung hat den Erkenntnisstand der Wissenschaft in die Lehre zu integrieren. Alles andere wäre antiquiert.

Werden die Gender Curricula vor oder nach der Veröffentlichung diskutiert? Gibt es besonders kontroverse Inhalte oder Fächer?

Die von den ausgewiesenen Geschlechterforscher*innen erstellten Curricula werden von uns lektoriert. Wir nehmen auch gerne kritische Hinweise von Fachwissenschaftler*innen entgegen und kommunizieren diese an die Autor*innen der Curricula. Da wir den Weg über den jeweiligen Fachzugang wählen, fallen die fachspezifischen Inhalte der Geschlechterforschung dementsprechend unterschiedlich aus. Ein genauer Blick auf die Lehrinhalte macht hier sowohl Ungleichzeitigkeiten, aber auch unterschiedliche – und durchaus konkurrierende und kontroverse – Verständnisse der Kategorie Geschlecht sichtbar. Um hier nur ein Beispiel zu nennen: In der Medizin wird den biologischen Dimensionen von Geschlechtlichkeit eine viel höhere Relevanz beigemessen, als dies in einer literaturwissenschaftlichen Perspektive der Fall ist, die die sprachliche Repräsentation von Geschlecht und Geschlechtlichkeit in Texten und Diskursen untersucht. Zugleich werden auch Unterschiede zwischen eher praxisorientierten Studienfächern, wie sie oftmals an den Fachhochschulen gelehrt werden, und Grundlagenfächern deutlich.

Für welche Zielgruppen stellen Sie die Gender Curricula zur Verfügung? Wen wollen Sie damit gerne erreichen?

Die Gender Curricula richten sich an die jeweilige Fachöffentlichkeit und insbesondere an diejenigen, die (Fach-)Studiengänge konzipieren. Darüber hinaus an Lehrende, die ein Interesse haben, fachspezifische Geschlechterperspektiven in ihren Veranstaltungen aufzugreifen. Deshalb enthalten die Curricula in der Regel auch Vorschläge, wie die Inhalte der Geschlechterforschung in die fachspezifische Lehre umgesetzt werden könnten und zu welchem Zeitpunkt im Studienverlauf dies sinnvoll ist.

Indem die Fachcurricula in der Datenbank sowohl auf Deutsch wie auf Englisch verfügbar sind, richtet sich die Datenbank auch an den internationalen Kontext und nicht ausschließlich an den deutschsprachigen Raum.

Gender Curricula im Wandel

Die Gender Curricula werden kontinuierlich aktualisiert. Was hat sich im Vergleich zu früheren Versionen verändert?

Wissenschaft lebt durch eine beständige Infragestellung und Weiterentwicklung bestehender Erkenntnisse. Insofern werden die Fachcurricula in der Regel alle fünf Jahre aktualisiert. Im Zuge der letzten Aktualisierung wird unter anderem sichtbar, dass sich die Geschlechterforschung in vielen Fachinhalten fest etabliert hat. Zudem wird die Entwicklung von der Frauen- hin zur Geschlechterforschung sichtbar. Die Bezugnahmen auf die Frauenforschung sind seltener und zugleich werden auch Ansätze der Männlichkeitsforschung aufgenommen. Geschlecht wird – je nach Fach – weniger als Aspekt einer gendersensiblen Didaktik formuliert und differenzgeprägte Bezugnahmen auf Geschlechterunterschiede werden zugunsten gendertheoretischer Ansätze seltener.

Wie intersektional sind die Gender Curricula? Also wird Gender darin auch im Zusammenwirken mit anderen Dimensionen wie Alter oder Behinderung gedacht? Brauchen wir nicht eigentlich auch Diversity Curricula?

Die Aktualisierung der Gender Curricula hat ebenfalls gezeigt, dass der Bezug zu einem intersektionalen Verständnis von Geschlecht an Bedeutung gewonnen hat. In vielen Curricula wird sichtbar, dass Geschlecht in Verbindung mit anderen gesellschaftsstrukturierenden Kategorien reflektiert wird, insofern ist Geschlecht keine ‚Masterkategorie‘ mehr, sondern wird zumeist als situiert verstanden. Trotzdem wäre es sicherlich wünschenswert, weitere Perspektiven zu haben, die Lehrinhalte kritisch reflektieren (bspw. rassismuskritisch oder vom Inklusionsgedanken aus). Ob es möglich – und wünschenswert – ist, diese unterschiedlichen Perspektiven in jeweils ein ‚Diversity‘-Curriculum zu synthetisieren, kann jedoch kontrovers diskutiert werden.

Dr. Heike Mauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW, Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Intersektionalität, Antifeminismus innerhalb und außerhalb der Wissenschaft sowie Gender in der Lehre.
Kontakt: heike.mauer@netzwerk-fgf.nrw.de

Dr. Lisa Mense ist stellvertretende Koordinatorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Hochschul- und Gleichstellungsforschung, Geschlechter- und diversitätskompetente Lehre, Gender Studies und Queer Theory.
Kontakt: lisa.mense@netzwerk-fgf.nrw.de

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