Zeit geben, Transparenz und Wertschätzung – Studierende mit Prüfungsangst unterstützen: Interview mit Michael Cugialy

Was, wenn ich in der Prüfung alles Gelernte vergesse? Wie reagiere ich, wenn Studierende in der mündlichen Prüfung nichts sagen? Die Prüfungsphasen an der Hochschule gehen mit vielen Unsicherheiten einher – für Studierende wie Lehrende gleichermaßen.

Was genau Prüfungsangst ausmacht und wie ein souveräner Umgang damit aussehen kann, haben wir Dr. Dipl-Psych. Michael Cugialy gefragt. An der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung bietet der Psychologe Workshops an, die auch das Thema Prüfungsangst aufgreifen.

Überführung eines bestehenden Interviews (Februar 2020) von der Webseite. Überarbeitete und aktualisierte Version von Svenja Efinger.

Dr. Dipl.-Psych. Michael Cugialy ist an der Zentraleinrichtung Studienberatung und psychologische Beratung der Freien Universität Berlin tätig.

Kontakt: cugialy@zedat.fu-berlin.de

Toolbox: In die Einzelberatung der Zentraleinrichtung Studienberatung und psychologische Beratung kommen jährlich knapp 900 Studierende, von denen etwa 50 Prüfungsangst als Anliegen angeben. Wer sind diese Studierenden? Warum bereiten Prüfungen ihnen solchen Stress?

Michael Cugialy: Auch Studierende, die vorher nie Probleme mit Prüfungsangst hatten, entwickeln sie manchmal an der Uni. Das ist mindestens so häufig wie Studierende, die das immer hatten. Das kann für die Studierenden auch merkwürdig sein, weil sie vielleicht ein sehr gutes Abitur gemacht haben und sie dann im Studium auf einmal eine Angst entwickeln, die sie gar nicht kennen.

Sehr häufig ist es so, dass es eine Situation gab, in der eine Prüfungssituation als unkontrollierbar erlebt wurde, dass aus vielleicht unbekannten Gründen die Performance zu einer schlechten Note oder zum Durchfallen geführt hat und die Prüfungssituation selbst als unangenehm und bedrohlich erlebt wurde.

Das zentrale Stichwort dabei ist Kontrolle. Wenn Sie das Gefühl haben, eine Situation unter Kontrolle zu haben, dann haben Sie keine Angst. Entscheidend ist meist nicht die reale Kontrolle, sondern vielmehr das Kontrollgefühl. Auch eigene Ansprüche gehören dazu: Habe ich das Gefühl, ich muss eine Eins schreiben, sonst habe ich versagt? Oder habe ich Katastrophenfantasien vom Scheitern in der Prüfung und den als schrecklich erlebten Folgen?

Folgen von Prüfungsangst können die Verschlechterung der Leistungen, Aufschieben von Prüfungen, Aufschieben oder Abbrechen des Studiums sein. Aber darüber hinaus kann Prüfungsangst Auswirkungen über das Studium hinaus haben, z.B., dass es den Leuten sehr schlecht geht, das Selbstvertrauen leidet. Auch in der Gruppe darüber zu reden, ist sehr persönlich. Deshalb treffen wir in unseren Kursen auch eine Verabredung zur Schweigepflicht, die alle Teilnehmenden unterschreiben.

Auch Lehrende werden durch Prüfungsängste der Studierenden vor besondere Herausforderungen gestellt. Wie können Lehrende vor der Prüfung Studierende unterstützen?

Im Vorfeld sollten Lehrende bei häufigem Abmelden von Prüfungen aufmerksam werden. Auch wenn Studierende nicht auf Nachrichten reagieren, bedeutet es nicht unbedingt, dass sich die Person nicht mehr für das Studium interessiert oder unhöflich ist. Es gehört auch zum Wesen der Angst, alles auszublenden, was mit dem angstauslösenden Reiz zu tun hat. Dazu kann auch gehören, das E-Mail-Postfach nicht mehr zu öffnen.

Außerdem ist es hilfreich, eine gute Vorbereitung zu ermöglichen. Studierende sollten genau wissen, wie die Prüfung ablaufen wird und was die Bewertungskriterien sind, so dass sie sich gut vorbereiten können. Wenn Sie Multiple-Choice-Fragen stellen, müssten Studierende diese Form der Prüfung vorher üben können. Zeigen Sie auch beispielhaft ältere Klausuren sowie deren Lösungen und geben Sie den Studierenden Hinweise zur Bearbeitung, wie z.B. sich nicht zu lange mit Aufgaben zu beschäftigen, die sie nicht verstehen. Sie können Klausuren auch generell so aufbauen, dass Sie mit leichteren Fragen beginnen und den Schwierigkeitsgrad steigern.

Was können Lehrende während der Prüfung beachten?

In der Prüfungssituation erkennt man die Prüfungsangst häufig am Auftreten der Studierenden. Bei einer Klausur können Sie schwer Studierende fragen, ob alles okay ist, denn wenn 200 Leute im Hörsaal sitzen, fällt es Ihnen unter Umständen gar nicht auf.

Das ist in mündlichen Prüfungen leichter und es ist einfacher zu intervenieren. Dabei ist die volle Aufmerksamkeit der Lehrenden notwendig. Studierende erzählen, dass einzelne Professor*innen auch schon während einer Prüfung ihr klingelndes Telefon beantwortet haben, was sie als sehr irritierend wahrgenommen haben. Hören Sie aktiv zu, signalisieren Sie Zustimmung und geben Sie konstruktives Feedback. In mündlichen Prüfungen werden die besten Leistungen erzielt, wenn Studierende das Gefühl haben, die Prüfung sei ein Fachgespräch unter Kolleg*innen. Wenn es die Prüfungsordnung erlaubt, können die Studierenden auch zunächst über ein Eingangsthema referieren. Das wird nicht bewertet und soll helfen, ins Sprechen zu kommen. Setzen Sie die Studierenden nicht unter Druck, ermöglichen Sie, einen Schluck zu trinken und durchzuatmen. Fürs Gedächtnis ist es gut, das Thema einzubetten: „Gehen Sie mal davon aus, dass …“. Wenn keine Hilfestellung hilft, ist es empfehlenswert, auf ein anderes, entfernteres Thema eingehen. Schlagen Sie vor, eine Frage erstmal zu parken und später ggf. darauf zurückzukommen. Es geht nicht darum, Standards aufzuweichen, aber Sie wollen ja wissen, was die Person wirklich weiß bzw. kann.

Welche Hilfestellungen sind nach der Prüfung notwendig?

Studierende erzählen selten, dass eine Prüfung nicht fair gelaufen ist, also dass Prüfende offensiv unfair gewesen seien. Häufiger kommt es vor, dass Studierende die Benotung nicht nachvollziehen können. Wenn jemand durchfällt, sollten Lehrende erklären können, warum und was genau gefehlt hat. Wenn die Person das nicht versteht, wird sie die nächste Prüfung möglicherweise als weniger kontrollierbar wahrnehmen. Lehrpersonen sollten ihre Sprechstunde dafür aktiv anbieten, denn direkt nach der Prüfung ist nicht für alle Studierenden ein guter Zeitpunkt, um das Feedback zu verstehen. Lehrende sollten generell Ansprechbarkeit zu Prüfungsfragen – ob im Vorfeld oder im Nachgang – signalisieren. Was uns freut ist, dass viele Lehrende bereits auf unsere Beratungsstelle verweisen.

Besonders wichtig ist das bei Letztversuchen, die sowohl für Studierende als auch für Prüfende sehr belastend sind. In vielen Fächern ist der Letztversuch eine mündliche Prüfung. Prüfende sollten darauf achten, in einer Vorbesprechung so transparent wie möglich über die Prüfung und die Bewertungskriterien zu sein. Studierenden sollte verständlich erklärt werden, woran es bei den vorherigen Versuchen hakte.

Insgesamt geht es darum, durch Transparenz bei der Vorbereitung von Prüfungen möglichst hohe Berechenbarkeit herzustellen. Das Gefühl von Kontrolle mindert Prüfungsangst. Daher hilft alles, was Selbstwirksamkeit stärkt und Ungewissheit verringert. Studierende sollen sich in Prüfungen Herausforderungen stellen. Aber es ist schade für alle, wenn sie ihr Potential dann gar nicht abrufen können.

Was hilft Studierenden dabei, einen Umgang mit Ihrer Prüfungsangst zu finden oder sie zu überwinden?

Alle Mitglieder der Freien Universität, egal ob Mitarbeitende oder Studierende, können sich an uns als Beratungsstelle wenden. Sie können einen Termin für eine Einzelberatung vereinbaren. Für Studierende bieten wir jedes Semester unterschiedliche Workshops an, unter anderem „Fit für die Prüfung“. Dort thematisieren wir die Angst und die Nervosität. Wir beschäftigen uns mit Einstellungen und Erwartungen: Welche negativen Gedanken habe ich? Was denke ich über mich und meine Fähigkeiten? Wie realistisch sind meine Erwartungen? Wir arbeiten gezielt an funktionalen, entlastenden Gedanken, so dass die innere Stimme zur Unterstützung wird. Außerdem trainieren wir ganz praktische Lern- und Arbeitstechniken. Und drittens empfehlen wir Entspannungsübungen, die wir vor allem aus Zeitgründen nicht im Seminar machen. Die Krankenkassen stellen beispielsweise kostenlos Materialien zur Verfügung, mit denen man zu Hause Entspannungstechniken üben kann. Wichtig ist, dass diese regelmäßig über mehrere Wochen trainiert werden. In der Regel taucht die Angst schon auf, sobald sich Studierende mit dem Prüfungsstoff beschäftigen. Auch bei der Vorbereitung können Entspannungsverfahren hilfreich sein.


Der Workshop „Fit für die Prüfung“ findet dieses Semester an zwei Terminen statt.

Montag, 22.11.2022 und Montag, 29.11.2022, jeweils 16:15 – 19:15 Uhr Anmeldung unter: cugialy@zedat.fu-berlin.de

Weitere Informationsquellen:

Walther, Holger. 2015. Ohne Prüfungsangst studieren. Konstanz, München: UVK Verlagsgesellschaft. (Link zum online verfügbaren Exemplar im Bibliothekskatalog der FU)

ZE Studienberatung und Psychologische Beratung. 2019. Prüfungsangst. In: Dies (Hg.). Online-Wiki Studieren leicht gemacht. Berlin: Freie Universität Berlin.

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