Wie prägen gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen die Marginalisierung von Menschen mit Behinderung?

Nele Becker (WiSe 2024/25)

1. Einleitung

Die gesellschaftliche Marginalisierung von Menschen mit Behinderungen ist tief in hegemonialen Normvorstellungen verankert und mit Klassismus verbunden. Diese Vorstellungen bestimmen nicht nur den Zugang zu Ressourcen und sozialen Teilhabemöglichkeiten, sondern auch die Wahrnehmung und Behandlung von Behinderung im öffentlichen und privaten Raum. Die vorliegende Arbeit untersucht, wie der Begriff der Normalität strukturell, kulturell und psychologisch geformt wird und auch aus Intersektionalitätsperspektive Konsequenzen für Menschen mit Behinderungen hat.

2. Modelle von Behinderung

Innerhalb des letzten Jahrhunderts haben sich verschiedene Modelle entwickelt, welche erklären sollen, wie Behinderung zu definieren ist und wie dementsprechend damit umgegangen werden soll. Im Folgenden sollen drei Modelle herausgestellt werden, welche sowohl die wissenschaftliche Forschung als auch den gesellschaftlichen Umgang besonders geprägt haben.

2.1 Medizinisches Modell

Das medizinische Modell oder auch das individuelle Modell von Behinderung entwickelte sich im 20. Jahrhundert und gilt nach wie vor als das hegemoniale Modell in der gesellschaftlichen Betrachtungsweise von Behinderung, wodurch es zentral für das Verständnis der ableistischen Normalität ist (Hartwig, 2020). In diesem Modell wird Behinderung als eine individuelle Abweichung von einer gesellschaftlich konstruierten körperlichen, mentalen und kognitiven Norm gesehen, welche oft als ein „persönliches Unglück“ oder „tragisches Schicksal“ geframed wird. Dieses biophysische Verständnis von Behinderung führt hingegen zu einer Naturalisierung von körperlicher Differenz und deren Pathologisierung und hat eine Defizitorientierung zur Folge (Hirschberg, 2022). Denn Behinderung wird hier als ein individuelles Problem angesehen, welches durch rehabilitative und therapeutische Maßnahmen „gelöst“ werden soll. Hierbei ist die Dominanz und Orientierung an dem Wissen von medizinischen Expert*innen elementar, mit der gleichzeitigen Verlagerung der Verantwortung auf das Individuum mit Behinderung sich an gesellschaftliche Normen und Anforderungen anzupassen (Egen & Waldhoff, 2023). Das medizinische Modell konstruiert somit eine hierarchische Ordnung von Körpern, in welchem Menschen mit Behinderung und deren Lebensrealitäten als defizitär und „therapiebedürftig“ angesehen werden. Diese Sichtweise trägt zur Stigmatisierung bei und verstärkt die gesellschaftliche Tendenz, Menschen mit Behinderung als außerhalb der „Normalität“ zu betrachten.

2.2 Soziales Modell

Im Zuge der Behindertenorganisation Union of the Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) entstand in den 1970er Jahren in Großbritannien der Grundstein des heutigen sozialen Modells von Behinderung. Diese Gruppe machte in ihrem Grundsatzpapier erstmals den Unterschied zwischen individueller Beeinträchtigung (impairment) und der gesellschaftlich verursachten Behinderung (disability)(UPIAS, 1976).

Während also im medizinischen Modell Behinderung (disability) immer mit Beeinträchtigung (impairment) gleichgesetzt wurde, wird bereits zum Entstehungszeitpunkt des sozialen Modells und im Zuge des Wissenschaftsbereichs der Disability Studies deutlich, dass Behinderung nicht ein Ergebnis einer medizinisch zu definierenden Pathologie, sondern ein Produkt von sozialen Ausschluss- und Unterdrückungsverhältnissen ist (Waldschmidt, 2005). Demnach war dieses Modell bereichernd hinsichtlich des Verständnisses von Kontextfaktoren. Ein prägnantes Beispiel für diese Perspektive ist die Tatsache, dass Kurzsichtigkeit in einer Gesellschaft mit Zugang zu Sehhilfen keine Behinderung darstellt, während sie in einem Umfeld ohne diese Hilfsmittel sehr wohl eine bedeutende Einschränkung der Teilhabe darstellen würde insbesondere auch dadurch, dass Infrastruktur auf sehende Menschen ausgerichtet ist.

Das soziale Modell fordert demnach eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen (z.B. durch Leitsysteme, Rampen, Nachteilsausgleiche) die Menschen mit Behinderung ausschließen, anstatt den Fokus auf die „Heilung“ der körperlichen oder mentalen Beeinträchtigung zu legen.

2.3 Kulturelles Modell

In den 1980ern entwickelte sich in den USA aus den Kultur-, Sprach- und Literaturwissenschaften als Ergänzung zum sozialen Modell das kulturelle Modell, welches den Analysefokus auf das Zentrum der Gesellschaft und der oft nicht hinterfragten Normalität lenkt. Nach diesem Modell ist es fatal, Behinderung als ein „tragisches Schicksal“ zu verstehen wie nach dem medizinischen Modell, aber es reicht auch nicht, Behinderung lediglich als eine diskriminierte Randgruppenposition zu betrachten wie nach dem sozialen Modell. Nach dem kulturellen Modell ist Behinderung eine Form der Problematisierung von körperlicher Differenz (Waldschmidt, 2005). Ziel ist es, diese Prozesse, welche Behinderung als Differenzkategorie konstituieren zu re- und dekonstruieren (Behrisch, 2016). Hierfür ist die Betrachtung des Normalitätsbegriffs hinreichend.

2.3.1 Der Normalitätsbegriff

Im modernen Zeitalter ist Normalität als eine Kategorie zu verstehen, welche sich durch statistische Durchschnittswerte und einen kontinuierlichen Vergleich einzelner Menschen zur Mitte der Gesellschaft konzipiert. Der Normalitätsbegriff ist nicht nur ein abstraktes Konzept, sondern ein Werkzeug, das aktiv verwendet wird, um Gesellschaften zu strukturieren. Nach Stechow et al. (2019) zwingt die Vorstellung von Normalität zwar alle Körper zur Anpassung, privilegiert und honoriert hierbei aber insbesondere Körper, die sich normieren lassen oder solche, die bereits als „normal“ in gesellschaftlichen Normalitätsgrenzen anerkannt sind. Gerade die „normalen“ Körper können in ableistischen Regimen anders handlungsfähig werden und sind anderen Spielarten von Zwang ausgesetzt als die als „anormal“ markierten.

Nach Foucault wird Normalität durch und in Diskursen konstruiert und durch Verfahren der Disziplinarmacht, wie Vergleich, Differenzierung, Hierarchisierung, Homogenisierung und Ausschließung manifestiert. Diese lassen sich auch auf das Konstrukt der Behinderung übertragen: um Menschen eine Behinderung attestieren zu können, müssen laufend Körper verglichen werden (z.B. Intelligenztests), anschließend werden sie differenziert in unterschiedliche Arten der Leistungs- und Erwerbsminderung, Förder-, Hilfs- und Pflegebedürftigkeit und daraufhin hierarchisiert (z.B. im sozialrechtlich festgelegtem Grad der Behinderung (GdB)) und in Gruppen homogenisiert (z.B. Behinderung hinsichtlich körperlicher, seelischer, kognitiver Art), um dann mit Ausschließungsmaßnahmen (z.B. Förderschulen, Werkstätten) zu reagieren. Mit Foucault wird demzufolge die Perspektive verdeutlicht, dass behinderte Körper disziplinierte und normierte Körper und Regimen der Überwachung und Normalisierung ausgesetzt sind, mit dem Ziel, diese Körper an eine nicht-behinderte Ordnung anzupassen (Waldschmidt, 2008). Diese Normalitätskonstruktionen sind jedoch nicht isoliert zu betrachten, sondern in gesellschaftlichen Machtverhältnissen eingebettet, die auch andere Differenzkategorien wie Klasse, Gender oder Herkunft strukturieren.

3. Intersektionalität

Durch gesellschaftliche Machtverhältnisse ist Behinderung auch mit anderen Diversitätsmerkmalen und den damit oft einhergehenden Diskriminierungserfahrungen verwoben. Eine Überschneidung, die bei Behinderung häufig zu Tage tritt, ist die mit Klassenzugehörigkeit und/oder Klassenherkunft, welche mit dem Begriff Klassismus betitelt werden kann. Doch warum gibt es insbesondere bei diesen Diversitätsmerkmalen Überschneidungen? Dies liegt insbesondere am Kapitalismus. Denn hier treten Menschen auf dem Arbeitsmarkt in einen Wettbewerb und konkurrieren um Stellen, bei welchen jeweils die „am besten passenden“ Personen bevorzugt werden. Nach dem Gedanken von Unternehmer*innen und dem kapitalismus- und neoliberalorientierten System sind es demnach „funktions- und arbeitsfähige Bürger*innen“ (Maskos, 2015, S.6), die als produktiv, leistungsstark und damit als „wertvoll“ angesehen werden. Behinderung wird demnach nicht nur durch die verschiedenen Modelle von Behinderung verhandelt, sondern auch durch die Struktur der Wirtschaftsweise. Der Mensch wird somit in ein System gezwungen, in dem sein Wert primär über seine ökonomische Nützlichkeit definiert wird.

3.1 Erwerbsarbeit

Der Arbeitsmarkt ist ein Faktor bei dem deutlich wird, dass Menschen mit Behinderung systematisch ausgeschlossen oder in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungen werden. 310.000 Menschen mit Behinderung werden derzeit in deutschen Werkstätten für Menschen mit Behinderung beschäftigt (BAG WfBM, 2024). Werkstätten dienen formal dazu, Menschen mit Behinderungen auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten, doch in der Praxis spiegeln sie häufig ein ausbeuterisches System wider. Die Beschäftigten in Werkstätten arbeiten oft unter Bedingungen, die sie stark benachteiligen: sie erhalten für ihre Arbeit meist keinen Mindestlohn, sondern lediglich ein sogenanntes monatliches Arbeitsentgelt von ca. 200€ bei einer 40-Stundenwoche (ca. 1,35€/h). Da dies weit unterhalb der existenzsichernden Löhne liegt, erhalten die Beschäftigten zusätzlich Sozialleistungen, wodurch sie dann auf ein monatliches Gehalt von maximal 920€ gelangen, aber auch in einer abhängigen Position bleiben (Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik & Institut für angewandte Sozialwissenschaft, 2023). Dafür, dass Werkstätten Menschen für den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten sollen, ist die Vermittlungsquote von ca. 0,35% als klare Zielverfehlung einzuschätzen (Engels et al., 2023). Zudem sind die Beschäftigten hierbei keine Arbeitnehmer*innen sondern Rehabilitand*innen, weswegen ihnen Arbeitnehmer*innenrechte wie z.B. Streikrecht fehlen oder das Recht auf Mindestlohn verwehrt werden (Die Neue Norm, 2024). Diese systematische Abwertung ihrer Arbeitskraft und ihres Beitrags zur Gesellschaft zeigt, wie der Kapitalismus Menschen mit Behinderungen nicht nur ökonomisch ausbeutet, sondern auch ihre Position als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft in Frage stellt. Es wird ein Narrativ geschaffen, das ihre vermeintlich geringere Produktivität ins Zentrum stellt, anstatt die Strukturen so zu ändern, dass sie als gleichwertige Akteur*innen in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Allerdings gestaltet sich die Einstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt auch als schwierig. Zwar müssen Unternehmen ab 20 Mitarbeitenden mindestes eine Person mit Behinderung einstellen, wenn diese keine Ausgleichszahlung leisten wollen, allerdings ist diese Zahlung meistens ökonomisch günstiger als inklusivere Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, weswegen zweidrittel aller Unternehmen in Deutschland diese Quote nicht erfüllen (Aktion Mensch e.V., 2024). Außerdem haben Unternehmen zudem die Möglichkeit die zu besetzenden Arbeitsstellen an die beschriebenen Werkstätten für Menschen mit Behinderung auszulagern. Der Staat fordert offiziell Inklusion gemäß der UN-BRK, fördert aber gleichzeitig ein System, das Menschen mit Behinderung in Werkstätten hält.

 Dies zeigt, dass durch die Subventionen der Werkstätten durch den Staat die ökonomische Ungleichheit perpetuiert wird und Menschen mit Behinderung wirtschaftlich benachteiligt werden, was ihre Zugehörigkeit zu den unteren sozialen Klassen verstärkt, Aufstiegschancen erschwert und ihre ökonomische Abhängigkeit zementiert. Dem Kapitalismus ist die Abwertung von Menschen mit Behinderung durch seine Verwertungslogik demnach systemimmanent (Solbrig, 2022).

3.2 Bildungswesen

Um auf den Arbeitsmarkt zu gelangen, müssen Qualifikationen wie z.B. ein Schulabschluss vorliegen. Doch auch wenn Deutschland sich 2009 im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet hat, Segregation auch im Schulwesen abzuschaffen, stellte das Deutsche Institut für Menschenrechte (2023) fest, dass keine Transformation zu einem inklusiven Schulsystem stattfindet. Tatsächlich ist jede zehnte allgemeinbildende Schule in Deutschland eine Förderschule. Und nach wie vor werden mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung dort unterrichtet und 72,7% von ihnen verlassen die Förderschule ohne Schulabschluss (Deutsches Institut für Menschenrechte, 2023). Die Exklusionskette von Menschen mit Behinderung beginnt demnach bereits in der Schule, was bereits hier zu unfairen Startvoraussetzungen führt und wird durch einen ableistischen und segregierten Arbeitsmarkt inklusive „Sondereinrichtungen“ fortgeführt, wodurch ein „Klassenaufstieg“ bei durchschnittlich verdienenden Eltern eher negativiert wird.

Zusätzlich konnte herausgestellt werden, dass 73% aller Lehrkräfte an inklusiveren Schulen überzeugt sind, dass Kinder mit Behinderungen oder mit sogenannten „sonderpädagogischem Förderbedarf“ bevorzugt an einer Förderschule unterreichtet werden sollten (Robert Bosch Stiftung, 2023). Hierbei spielen einerseits logistische Rahmenbedingungen eine Rolle wie z.B., dass nur jede zehnte Lehrkraft im Studium auf inklusiven Unterricht vorbereitet wurde. Aber auch implizite ableistische Annahmen, die intrapsychisch formuliert werden, können eine Rolle dabei spielen, warum Inklusion sowohl im Bildungswesen als auch auf dem Arbeitsmarkt bewusst nicht gewollt ist.

4. Psychoanalytische Überlegungen

Laut Statistischem Bundesamt (2024) sind lediglich 3% der Behinderungen in Deutschland angeboren und die restlichen 97% erworbene Behinderungen (91% aufgrund einer Erkrankung, 1% Unfälle, 5% Sonstige). Die Konfrontation mit Behinderung kann bei Menschen ohne Behinderung tiefsitzende Ängste hervorrufen, weswegen die Psyche daraufhin häufig mit Abwehrmechanismen reagiert (Richarz, 2003). Abwehrmechanismen sind meist unbewusste Vorgänge der Psyche, welche dazu dienen, innerseelische als auch zwischenmenschliche Konflikte zu regulieren, um das seelische Gleichgewicht zu bewahren und Entlastung zu schaffen. Dabei sind sie nicht per se als pathologisch zu werten. Ein beispielhafter Abwehrmechanismus in diesem Zusammenhang wäre die Spaltung, welcher eine Reaktionsweise darstellt, um mit widersprüchlichen Gefühlen als auch starken Befürchtungen zurecht zu kommen. Hierbei wird ein Merkmal in zwei klar voneinander getrennte diametral gegenüberstehende Pole (z.B. Behinderung oder nicht-Behinderung) aufgeteilt, bei welchem ein Pol als erstrebenswert gilt, während der andere entwertet werden muss. Der Vorteil, den sich die Psyche hierbei verspricht, ist, dass die Welt als ein sicherer Ort erscheint und es vor den Gefühlen der Überwältigung und Angst schützt (Richarz, 2003). Doch welche Bedrohung erlebt die Psyche als so stark, dass sie beim Thema Behinderung auf Spaltung zurückgreift? Um dies zu verstehen, lohnt sich ein genauerer Blick auf die dahinterliegenden Ängste.

Die Ängste von nichtbehinderten Menschen könnten z.B. darum kreisen, dass der Körper oder die Seele irgendwann nicht mehr Mittel zum Zweck sind, in einer Gesellschaft die v.a. auf neoliberalen Kapitalismus setzt, bei dem der „Wert“ eines (nicht-kapitalbesitzenden) Menschen von dessen Arbeitskraft und -fähigkeit abhängig gemacht wird. Was damit einhergeht ist auch die Angst, dass der eigene Körper oder die Seele einem selbst Grenzen setzt bzw. Schmerzen bereitet oder im Körper und der Seele Prozesse ablaufen, welche sich trotz aller Bemühungen nicht beherrschen lassen. Diese Angst über fehlende Handlungsfähigkeit geht wiederum mit Angst vor Abhängigkeit von Anderen einher (Langnickel & Link, 2019; Schönwiese, 2003). Dies kann zur Folge haben, dass auf individueller Ebene Gefühle des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und Hilflosigkeit entstehen aufgrund der Angst vor dem Unkontrollierbaren, vor der eigenen Begrenztheit im Handeln und der Konfrontation mit der als Bedrohung wahrgenommen eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit (Egen & Waldhoff, 2023). Um all diese Ängste nicht zulassen zu müssen, wird also auf Spaltung gesetzt, welche auf Dauer aber immer mehr Aufwand bedarf und die dahinterliegenden Ängste nicht verschwinden lässt.

Spaltung geht deswegen häufig mit Rationalisierungen einher. Dies ist ein Abwehrmechanismus, den die Psyche verwendet, um einem vordergründig „sinnvolle“ Erklärungen und Begründungen aufzutischen, warum in diesem Fall Menschen mit Behinderungen abgewertet oder ferngehalten werden müssen und Inklusion auf allen Ebenen verhindert werden muss. Da Inklusion die Grenzen verwischen würde und die Konfrontation mit Ängsten schafft, weswegen dann z.B. öffentliche Räume, Schulen oder Arbeitsplätze so geschaffen werden, dass die Wahrscheinlichkeit der Begegnung sinkt.

5. Fazit

Bei der Analyse der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Behinderung hat sich gezeigt, dass insbesondere das medizinische Modell ableistische hegemoniale Normalitätsvorstellungen geprägt hat. Umso bereichernder ist es daher, dass in Behindertenorganisationen und den Disability Studies nach neuen Wegen gesucht wurde, die Konstruktion von (Nicht-)Behinderung und die dahinterstehenden Machtstrukturen zu verstehen, welche Behinderung zu einem Produkt sozialer, kultureller und politischer Prozesse macht. Denn durch institutionelle, strukturelle und psychologische Prozesse werden Normalitätsgrenzen gezogen, die bestimmte Körper und Lebensrealitäten ausschließen und eine hegemoniale Ordnung der Norm stabilisieren.

Eine intersektionale Betrachtung macht zudem deutlich, dass Behinderung in kapitalistischen Gesellschaften häufig mit anderen Differenzkategorien wie Klasse verwoben ist. Die ökonomische Abwertung von Menschen mit Behinderung ist nicht zufällig, sondern systemimmanent. Die Analyse verdeutlicht daher, dass eine inklusive Gesellschaft nicht allein durch den Abbau physischer Barrieren erreicht werden kann, sondern eine tiefgreifende Kritik an den bestehenden Machtverhältnissen und den dahinterliegenden Normalitätsvorstellungen erfordert.

Literaturverzeichnis

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Schönwiese, V. (2003). Angstabwehr und die Produktion von Behinderung. Gisela Hermes & Swantje Köbsell (Hg.), Disability Studies in Deutschland–Behinderung neu Denken. Dokumentation der Sommeruni, Kassel: bifos Schriftenreihe. S, 175-181.

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Stechow, E. v., Hackstein, P., Müller, K., Esefeld, M., & Klocke, B. (2019). Inklusion im Spannungsfeld von Normalität und Diversität: Band I: Grundfragen der Bildung und Erziehung. Verlag Julius Klinkhardt.

Steven Solbrig. (2022). Wo wir stehen: Behinderung im Fokus. Diversity Arts Culture. https://diversity-arts-culture.berlin/magazin/wo-wir-stehen-behinderung-im-fokus

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Quelle: Nele Becker, Wie prägen gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen die Marginalisierung von Menschen mit Behinderung? in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=505

Intergeschlechtlichkeit in der Psychotherapie

Marla Rohe (WiSe 2024/25)

1. Einleitung

21,7% der inter* Personen haben bereits einen Suizidversuch hinter sich und verspüren weiterhin den (starken) Wunsch zu sterben (Rosenwohl-Mack et al., 2020).

Auch wenn es zahlreiche wissenschaftlich belegte Fakten, Statistiken und Expert:innenbeiträge zum Thema Geschlechterdiversität gibt, halten zeitgleich noch immer Personen an der binären Vorstellung von Geschlecht fest. Dennoch: das wissenschaftliche Interesse an Intergeschlechtlichkeit wächst, so lässt sich dies in den letzten Jahren an der steigenden Anzahl wissenschaftlicher Publikationen ermessen (Hendricks & Testa, 2012). Auch der Psychologie als interdisziplinäres Fach ist diese Entwicklung nicht entgangen. Die mentale Gesundheit von Personen, die sich der LGBTQIA*-Community angehörig fühlen, ist immer häufiger Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Zum Glück, denn: Inter* Personen haben geringe Chancen auf ein gesundes Leben (Kasprowski et al., 2021).

Aus den vorliegenden Studien ließ sich intuitiv folgende Forschungsfrage ableiten:

„Wie muss die psychotherapeutische Begleitung gestaltet sein, um die psychische Gesundheit von inter* Personen zu verbessern?“

2. Intergeschlechtlichkeit – Herausforderungen durch binäres System

Im folgenden Abschnitt sollen zentrale Begriffe der vorliegenden Arbeit genauer definiert werden, so dass alle lesenden Personen über ein fundiertes Verständnis von Intergeschlechtlichkeit verfügen.

2.1 Begriffe, Abgrenzungen und Grundlegendes

Für Intergeschlechtlichkeit gibt es verschiedenste Definitionen, die als Basis für diese Arbeit herangezogen werden können. Um die geschlechtliche Vielfalt möglichst depathologisierend darzustellen, wird die Definition der Trans*Inter*Beratungsstelle (2024) verwendet:

„Inter* […] bezeichnet Menschen, mit angeborenen körperlichen Geschlechtsmerkmalen, die nicht den gängigen gesellschaftlichen und medizinischen Vorstellungen von männlichen oder weiblichen Körpern entsprechen.“

Dies kann sich durch Variationen auf chromosomaler, hormoneller Ebene zeigen oder auch durch vielfältige Ausprägungen der Gonaden (Teil der Geschlechtsorgane) auszeichnen (Antidiskriminierungstelle des Bundes, 2024). Alle Variationen der Geschlechtsmerkmale sind natürlich vorkommende und gesunde Ausprägungen einer geschlechtlichen Vielfalt. Laut Schätzungen des Ethikrates leben etwa 80.000 inter* Personen in Deutschland. Die Zahlen bleiben leider nur grobe Schätzungen, da es zum einen an verlässlicher Dokumentation fehlt und je nach zugrundeliegender Definition manche Personen nicht in ihrer Intergeschlechtlichkeit gesehen werden. Hochrechnungen gehen davon aus, dass circa 1,7% der Weltbevölkerung inter* Personen sind (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2024; Bora, 2012).

Das Wort „Inter“ stellt eine lateinische Vorsilbe dar, die mit dem Begriff „zwischen“ gleichgesetzt werden kann. Häufig als Antonym genutzt, bezeichnet „endo“ bzw. „dyadisch“ Personen, deren körperliche Merkmale, den gesellschaftlichen und medizinischen Normvorstellungen entsprechen. Der Zusatz des Sternchens („*“) wird gewählt, um eine möglichst inklusive Ansprache zu gewährleisten, indem das Sternchen vielfältige Endungen ermöglicht und somit keine Personen aus dem Bedeutungsraum ausschließt (Trans*Inter*Beratungsstelle, 2024). Laut der Trans*Inter*Beratungsstelle (2024) bezeichnet Intergeschlechtlichkeit die Übersetzung des Begriffs „intersex“, welcher insbesondere in der englischen inter* Community genutzt wird. „Sex“ steht im Englischen für die körperliche Ebene von Geschlecht. Im Deutschen könnte der Begriff „Intersex“ allerdings als irreführend wahrgenommen werden, da er Assoziationen zur sexuellen Orientierung einer Person hervorrufen könnte.

Intergeschlechtlichkeit beschreibt die körperliche Dimension von Geschlecht und sagt nicht automatisch etwas über die Genderidentität, die sexuelle Orientierung einer Person oder die Genderrollenübernahme und -darstellung aus. Eine dazu passende Abgrenzung zur Transgeschlechlichkeit soll dies verdeutlichen. Trans* Personen identifizieren sich nicht mit dem körperlichen Geschlecht, welches nach der Geburt auf Grundlage der körperlichen Ausprägungen festgelegt wurde. Transgeschlechtlichkeit bezieht sich somit auf die Ebene der Genderidentität. Die Begriffe sind klar voneinander abzugrenzen. Inter- und Transgeschlechtlichkeit treten unabhängig voneinander auf. Trans* Personen können inter* oder auch endo sein (Trans*Inter*Beratungsstelle, 2024).

Auch wenn dieses Kapitel zum Ziel hat, grundsätzliche Begriffe der Intergeschlechtlichkeit darzustellen, ist es unumgänglich inter* Personen immer nach der eigenen Selbstbezeichnung zu fragen, diese anzuwenden und zu respektieren.

Die vorliegende Definition sowie Begriffsdebatte weist zudem auf einen weiteren wichtigen Aspekt von Intergeschlechtlichkeit hin: die gesellschaftliche und medizinische Perspektive. Die gesellschaftlich gelebte Binarität des Geschlechtersystems führt dazu, dass Personen, die nicht dieser Binarität entsprechen, gewissen Stressoren ausgesetzt sind, welche langfristig zu negativen gesundheitlichen Folgen führen können. Neben einer strukturellen Benachteiligung und Diskriminierung im somatisch-medizinischen Bereich durch unter anderem (Zwangs-)Operationen, unzureichende Forschung und mangelnde Fachpersonalschulung, zählt auch psychischer Stress zu einem negativen Outcome der starren Geschlechterbinarität. Psychischer Stress kann sich langfristig negativ auf die mentale Gesundheit einer Person auswirken, sodass gegebenenfalls psychotherapeutische Behandlungen notwendig sind, um die Lebensqualität wieder herzustellen bzw. zu verbessern. Rosenwohl-Mack et al. (2020) fanden heraus, dass 53,6% der befragten inter* Personen ihre mentale Gesundheit als mittelmäßig bis schlecht bezeichnen. Diese subjektiv eher negative Einschätzung der mentalen Gesundheit von inter* Personen zeigte sich vor allem unter jüngeren Menschen (28,2%). 61,1% der befragten inter* Personen gaben an, mit einer depressiven Störung diagnostiziert worden zu sein. 62,6% leiden unter diagnostizierten Angststörungen. Von Suizidversuchen und dem (starken) Wunsch zu sterben berichteten, wie einleitend dargestellt, 21,7% der befragten inter* Personen (Rosenwohl-Mack et al., 2020).

Der Handlungsbedarf zur Verbesserung der mentalen Gesundheit von inter* Personen ist, gemessen an den oben aufgeführten Studienergebnissen, enorm. Während ein langfristiges gesellschaftliches Umdenken zumindest teilweise bereits im Gange ist, braucht es kurzfristigere und schnell umsetzbare Möglichkeiten zur psychologischen Begleitung von inter* Personen. Hierfür ist es notwendig, sich konkreter mit der Lebensrealität, den Erfahrungen und Herausforderungen von inter* Personen auseinanderzusetzen und diese Stressoren in ihrer Komplexität zu verstehen. Ein Modell, das sich den spezifischen Stressoren von Minderheiten widmet, ist das Minoritäten-Stress-Modell, welches als theoretische Grundlage dieser Arbeit im anschließenden Kapitel genauer beleuchtet werden soll.

2.2 Minoritäten-Stress-Modell

Das Minoritäten-Stress-Modell wurde im Jahr 2003 von I. H. Meyer entwickelt und beschreibt, wie chronischer Stress durch soziale Stigmatisierung und Diskriminierung die psychische Gesundheit von Menschen aus marginalisierten Gruppen negativ beeinflusst. Fokusgruppen bei der Entwicklung durch Meyer (2003) bildeten vorrangig lesbische, schwule und bisexuelle Personen. Da allerdings alle, der LGBTQIA* Community angehörigen Personen, von Ausgrenzungen und Diskriminierungen betroffen sein können (van de Grift et al., 2024), lässt sich dieses Modell auch für die vorliegende Arbeit zum Thema Intergeschlechtlichkeit anwenden.

Abb. 1 Minority Stress Modell (Meyer, 2003)

Das Modell unterscheidet zwischen distalen (aus Abbildung 1: (d)) und proximalen (f) Stressprozessen (Hendricks & Testa, 2012). Distale Stressoren entstehen durch den vorgestellten Minderheitenstatus (b), welcher sich bei inter* Personen durch die „Nicht-Übereinstimmung der angeborenen körperlichen Geschlechtsmerkmale mit den gängigen gesellschaftlichen und medizinischen Vorstellungen von männlichen oder weiblichen Körpern“ ergibt (abgeleitet aus Begriffsdefinition, vgl. Trans*Inter*Beratungsstelle, 2024).

Unter distalen Stressprozessen versteht man insbesondere von außen einwirkende, also externe, Geschehnisse, welcher eine Person ausgesetzt ist. Dazu kann unter anderem Diskriminierung und Ablehnung durch die Gesellschaft, die Stigmatisierung im medizinischen System – auch im psychotherapeutischen Bereich – aber auch Viktimisierung und fehlende Akzeptanz von Geschlechtervielfalt fallen (van de Grift et al., 2024). Auch die fehlende Sichtbarkeit von Intergeschlechtlichkeit in der Gesellschaft wird von inter* Personen als frustrierend empfunden und führt unter anderem zu Gefühlen der Einsamkeit und Isolation (van de Grift et al., 2024). Diese distalen Stressprozesse setzen wiederum proximale Stressprozesse in Gang bzw. verstärken diese zudem (Meyer, 2003).

Die proximalen Stressprozesse stellen internalisierte Überzeugungen (bspw. „sich unnormal fühlen“) dar, die einen großen Einfluss durch die Minderheitenidentität (e) einer Person erfahren sowie deren Selbstbild definieren (Meyer, 2003). So können Personen einer Minderheit Ablehnungen/ Diskriminierungen auch internalisiert haben, obwohl sie selbst dieser Minderheitengruppe angehörig sind. Zudem spielen bei den proximalen Stressprozessen auch negative Erwartungen bei Outing/ romantischen Beziehungen und Verschweigen von Gefühlen/ Erfahrungen und dadurch eine gespielte Anpassung an Binarität eine große Rolle (Hendricks & Testa, 2012; van de Grift et al, 2024). Zu den proximalen Stressoren ergänzen die Autor:innen der Studie von van de Grift et al. (2024) noch die Überinterpretation von körperlichen Vorgängen, die durch das fehlende Vertrauen in den eigenen Körper entstehen kann. Eine weitere Herausforderung für inter* Personen kann das Kommunizieren von körperlichen Grenzen darstellen. Durch zahlreiche, oft übergriffige medizinische Untersuchungen und die dadurch verringerte körperliche Autonomie fühlen sich inter* Personen häufig ungeschützter bzw. gefährdeter in Bezug auf übergriffige körperliche Begegnungen (ebd., 2024). Der interpersonelle Stress, welcher wie oben aufgeführt u.a. durch internalisierte negative Überzeugungen auftritt, äußert sich bei inter* Personen durch konstante negative Verstimmung. Körperliche und emotionale Intimität kann dadurch für inter* Personen ebenfalls eine große Herausforderung und somit Stressor darstellen (ebd., 2024).

Diese Stressoren wirken sich, gemeinsam mit den generellen Lebensstressoren (c) und unter Berücksichtigung der Merkmale der Minorität (g) auf die mentale Gesundheit von Personen aus (Meyer, 2003). Meyer (2003) beschreibt allerdings auch, ins Deutsche übersetzt, „Bewältigungsstrategien und soziale Unterstützung“ (h). Diese können, wenn richtig ausgeprägt, als Gegenpol zum chronischen Stress wirken und somit die mentale und körperliche Gesundheit von inter* Personen stärken. Hierzu zählen unterstützende Netzwerke („Community“), die Entwicklung von Stolz („Pride“), Selbstakzeptanz und positive Identitätsentwicklung, die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und die positiv unterstützende Gestaltung des unmittelbaren sozialen/ familiären Umfeldes (van de Grift et al., 2024).

3. Intergeschlechtlichkeit in der Psychotherapie

3.1 ICD-11: Wirklich ein Fortschritt?

Das Diagnostikmanual „ICD-11“, welches zum 01. Januar 2022 in Kraft trat und zum Teil auch schon in der psychotherapeutischen Praxis Anwendung findet, hat der Stigmatisierung von trans* Personen entgegengewirkt und somit Transgeschlechtlichkeit im Diagnostikbereich entpathologisiert. Für Intergeschlechtlichkeit jedoch hat das ICD-11 keine solche Verbesserung gebracht. Noch immer wird Intergeschlechtlichkeit als Störung klassifiziert und unter dem Code LD2A als „Fehlbildungen in der Geschlechtsentwicklung“ geführt (oii Germany, 2022; Bundesministerium für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2022). Dieser, aus dem älteren DSM übernommene, Diagnosecode trägt weiterhin zur Stigmatisierung und Pathologisierung von Intergeschlechtlichkeit bei (oii Germany, 2022).

3.2 Überlegungen für psychotherapeutische Praxis: Stärkung von Resilienzen

Ein möglicher Ansatz innerhalb der psychotherapeutischen Betreuung von inter* Personen ergibt sich aus den vorherigen Kapiteln zunächst intuitiv: Stressoren senken bzw. diesen entgegenwirken und Resilienzfaktoren fördern bzw. diese aufrechterhalten. Diese Empfehlung vertreten auch die Autor:innen der Studie von van de Grift et al. (2024): Um gesundheitliche Probleme von inter* Personen zu vermeiden bzw. diesen entgegenzuwirken, empfehlen die Autor:innen, dass klinische Expert:innen aktiv nach Minoritäten-Stressoren fragen, um hier mit psychotherapeutischen Programmen anzusetzen.

Ein weiterer wichtiger Anknüpfungspunkt für psychotherapeutische Maßnahmen stellen die Resilienzfaktoren von inter* Personen dar. Van de Grift et al. (2024) haben auch diese noch einmal genauer differenziert und in distale und proximale Resilienzfaktoren unterschieden. Ein distaler Resilienzfaktor, der sich in der Studie der Autor:innen bestätigen ließ, ist das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Community oder auch Selbsthilfegruppe. Auch das Zuwenden zu „role models“ oder die eigene Annahme einer solchen Modellrolle zählen laut den Autor:innen zu den distalen Resilienzfaktoren. Vorbilder, wie bspw. berühmte queere Persönlichkeiten, helfen dabei, Erfahrungen von inter* Personen zu normalisieren oder neue Bewältigungsstrategien und Wissen zu vermitteln. Aktivismus (bspw. in Form von politischem Engagement) wird ebenfalls aufgeführt, da es die wahrgenommene Kontrolle über die eigene Situation steigert. Psychotherapeutische Maßnahmen sollten insbesondere auf die Förderung von hoffnungsstiftenden Aktivitäten (wie oben beschriebener Aktivismus oder der Zuwendung zu „role models“) abzielen. Hoffnung und das Gefühl von Sinnstiftung wurden von van de Grift et al. (2024) als relevante Resilienzfaktoren zum Abbau von Minoritätsstressoren genannt. Zur Erleichterung der Förderung von Aktivismus und/oder der Zuwendung zu „role models“ sollten psychotherapeutische Praxen über Informationsmaterial zu entsprechenden aktivistischen Vereinen/ Institutionen und Selbsthilfegruppen bereithalten. Auch Namen von (berühmten) queeren Vorbildern sowie Kenntnis über deren Social-Media-Kanäle sollten als Orientierungspunkte für inter* Personen zur Verfügung gestellt werden.

Ausschlaggebend bei der Resilienz von distalem Stress sei aber auch die Akzeptanz und der Support von nahestehenden Menschen und Institutionen, wie bspw. Eltern oder Schule (van de Grift et al., 2024). LGBTQIA* Personen treffen sich signifikant häufiger mit Freund:innen, Nachbar:innen oder Bekannten als cis-Personen. Daraus lässt sich schließen, dass die Bedeutung von zwischenmenschlichen Beziehungen für LGBTQIA* Personen höher ist und aktiver Beziehungsaufbau betrieben wird (Kasprowski et al., 2021). Ableitend für mögliche psychotherapeutische Maßnahmen sollten Eltern, Geschwister oder Freund:innen von inter* Personen stärker in die Therapien miteinbezogen werden, um die (Selbst-)Akzeptanz von Intergeschlechtlichkeit zu fördern und somit soziale Unterstützung zu sichern. Denkbar wäre, zeitgleich zur Individualtherapie workshopähnliche Betreuungen anzubieten, in welchen das enge Umfeld der zu therapierenden Person nähere Informationen und Wissen um Intergeschlechtlichkeit an sich, aber auch der Komplexität von Minoritäten-Stressoren und Resilienzfaktoren erwerben kann. Die „Interdisziplinäre Spezialsprechstunde zu Fragen der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter“ von der Charité bietet in der Begleitung von trans* Personen auch die Arbeit mit Eltern im Sinne des „Ambiguous Loss“ an. Dies kann den Prozess des sozialen Supports stark voranbringen, da Eltern hier zunächst Abschied von internalisierten Vorstellungen und Wünschen über ihre Kinder nehmen können, bisherige Geschlechterannahmen reflektieren und sich anschließend für neue Konzepte öffnen bzw. Stolz („Pride“ als Resilienzfaktor) erarbeiten (Charité, 2025). Auch wenn dieses Beratungsangebot sich auf trans* Personen bezieht, sollte diese Form der Elternarbeit auch in die psychologische Begleitung von inter* Personen Einzug finden.

Selbstakzeptanz, positive Erfahrungen mit Offenheit und vor allem das Gefühl von Handlungskompetenz werden von van de Grift et al. (2024) als Resilienzfaktoren gegen proximale, also innerliche Stressoren aufgeführt. Die psychotherapeutische Betreuung von inter* Personen sollte positive Erfahrungen mit subjektiver Offenheit ermöglichen, diese verstärken und so zu mehr Selbstakzeptanz und auch Handlungskompetenz beitragen. Wichtig hierbei könnte eine gendersensible Ansprache und empathische, wertfreie Perspektivenübernahme für die Lebensrealität der inter* Person sein. Handlungskompetenzen könnten beispielsweise durch die Vermittlung von Wissen über individuelle Rechte/ Möglichkeiten im medizinischen System gestärkt werden. Aber auch Skills-Training zur Steigerung der Selbstwirksamkeit und die Beihilfe zur Entwicklung von realistischen Selbstzielen könnten dazu beitragen, dass die inter* Person über mehr Handlungskompetenzen verfügt. Das Training von Kommunikationsstrategien und konkrete Gesprächssimulationen (bspw. Gespräche mit Ärzt:innen), könnten eingesetzt werden, um Grenzen setzendes Verhalten zu fördern.

4. Konklusion

Die vorliegende Arbeit erläutert kompakt die Stressoren und Resilienzen von inter* Personen und leitet daraus erste intuitive Implikationen für die psychotherapeutische Betreuung ab. Auch wenn inter* Personen die Variation in angeborenen Geschlechtsmerkmalen sowie die Erfahrung von Diskriminierungen gemeinsam haben, kann der Leidensdruck von Person zu Person unterschiedlich ausgeprägt sein. Abschließend sei deshalb wichtig zu erwähnen, dass es nicht die eine inter* Lebensrealität gibt. Psychotherapeutische Ansätze müssen die Individualität einer Person einbeziehen und Interventionen an individuelle Belastungs- und Bedürfnissituationen anpassen. Komorbiditäten wie Depressionen oder Angststörungen sollten ebenfalls Bestandteil einer psychotherapeutischen Begleitung von inter* Personen sein. Psychotherapeutische Begleitung von inter* Personen sollte sich zudem nicht allein auf die zu therapierende Person fokussieren, sondern das Umfeld der inter* Person einbeziehen. Sozialer Support und Akzeptanz ist für die mentale Gesundheit von inter* Personen entscheidend (van de Grift et al., 2024) und sollte in direkter Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld erarbeitet werden.

5. Resümee

Abschließend noch ein paar subjektive Worte. Da ich später eine Karriere als psychologische Psychotherapeutin anstrebe, hat mir das Seminar „Gender & Gesundheit“ und auch die Ausarbeitung der vorliegenden Arbeit viele neue Sichtweisen und Denkanstöße für die spätere Berufspraxis geliefert. Ich konnte detaillierteres Wissen über die Komplexität der Stressoren der LGBTQIA* Community erlernen. In einem möglichen Berufsalltag würde ich mich deshalb stark für mehr Sichtbarkeit von Intergeschlechtlichkeit einsetzen, beispielsweise durch mehr Aufklärung und genderneutrale Dokumente. Zudem hat mich das Seminar zum Überdenken von eigenem heteronormativem Sprachgebrauch angeregt, welcher auch in zukünftiger Berufspraxis eine große Rolle spielen wird. Die Beziehung zwischen Therapeut:in und Klient:in macht etwa 30% des Therapieerfolges aus (Lambert & Barley, 2001). So ist mir noch deutlicher bewusst geworden, dass ich beispielsweise bei der Frage nach dem Beziehungsstatus einer Person nicht direkt von heterosexueller Bindung ausgehen sollte, sondern auch hier auf eine genderneutrale Sprache achten muss, um anderen sexuellen Orientierungen Sichtbarkeit zu verschaffen und das Vertrauensverhältnis und die Möglichkeit zur Offenheit von der bzw. dem Klient:in zu sichern.

6. Literaturverzeichnis

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2024). inter*, abgerufen über: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/inter/inter-node.html#:~:text=Laut%20Sch%C3%A4tzung%20des%20Deutschen%20Ethikrats%20leben%2080.000%20intergeschlechtliche%20Personen%20in%20Deutschland.

Bora, A. (2012). Deutscher Ethikrat. Zur Situation intersexueller Menschen. Berlin.

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (2022). IDC-11 in Deutsch – Entwurfsfassung, abgerufen über: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html

Charité Berlin (2025). Interdisziplinäre Spezialsprechstunde für Fragen der Geschlechtsidentitä im Kindes- und Jugendalter, abgerufen über: https://kinder-und-jugendpsychiatrie.charite.de/fuer_patienten_eltern/ambulanzen/interdisziplinaere_spezialsprechstunde_fuer_fragen_der_geschlechtsidentitaet_im_kindes_und_jugendalter

Hendricks, M. L., & Testa, R. J. (2012). A conceptual framework for clinical work with transgender and gender nonconforming clients: An adaptation of the Minority Stress Model. Professional Psychology: Research and Practice, 43(5).

Kasprowski, D., Fischer, M., Chen, X., de Vries, L., Kroh, M., Kühne, S., Richter, D. & Zindel, Z. (2021). Geringere Chancen auf ein gesundes Leben für LGBTQI*-Menschen. DIW Wochenbericht, 88(6).

Lambert, M. J., & Barley, D. E. (2001). Research summary on the therapeutic relationship and psychotherapy outcome. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training38(4), 357–361.

Meyer, I. H. (2003). Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: Conceptual issues and research evidence. Psychological Bulletin, 129(5), 674–697.

oii Germany (2022). Stellungsnahme OII Germany zum Eckpunktepapier für ein Selbstbestimmungsgesetz, abgerufen über: https://oiigermany.org/eckpunktepapier-selbstbestimmungsgesetz/

Rosenwohl-Mack, A., Tamar-Mattis, S., Baratz, A. B., Dalke, K. B., Ittelson, A., Zieselman, K., Flatt, J. D., & Useche, S. A. (2020). A national study on the physical and mental health of intersex adults in the U.S. PloS One15(10).

Trans*Inter*Beratungsstelle (2024). Begriffsklärungen, abgerufen über: https://www.trans-inter-beratungsstelle.de/de/begriffserklaerungen.html 

Van de Grift, T. C., Dalke, K. B., Yuodsnukis, B., Davies, A., Papadakis, J. L., & Chen, D. (2024). Minority stress and resilience experiences in adolescents and young adults with intersex variations/differences of sex development. Psychology of Sexual Orientation and Gender Diversity.


Quelle: Marla Rohe, Intergeschlechtlichkeit in der Psychotherapie in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=501

Zwischen Reproduktion und Ideologie:

Weiblichkeitskonstruktionen und Zwangssterilisation im Nationalsozialismus

Loredana Engel (WiSe 2024/25)

1.  Einleitung

Der Nationalsozialismus war geprägt von rassistischen, antisemitischen und patriarchalen Vorstellungen. Das neue System erlaubte es, Menschen zu kategorisieren und „rassisch minderwertige“ zu verfolgen und zu vernichten. Zugleich zielte der NS-Staat auf die ideologische Formung und politische Steuerung derjenigen, die als „rassisch wertvoll“ galten. Sie verknüpften Reinheitsideale mit biologisch definierten Geschlechterrollen.

Weiblich gelesene Personen, die dem Ideal entsprachen, spielten eine große Rolle in der Logik der NS-Ideologie, denn sie sollten als Trägerinnen fungieren, die die „arische“ Reproduktion vorantreibt. Daraus resultierte eine umfassende Kontrolle über Sexualität, Fortpflanzung und soziale Beziehungen.

Bereits vor 1933 wurde der erste Lehrstuhl im Bereich Medizin für „Rassenhygiene“ in München eingerichtet und wurde zunehmend zum Pflichtbestandteil medizinischer Ausbildung.[1]

Menschen jüdischen Glaubens, Sinti*zze, Rom*nja, sowie mit einer Behinderung beziehungsweise einer unheilbaren Krankheit wurden als „gemeinschaftsfremde“ Gruppen betrachtet. Jene, die einer der Personengruppen angehörte, wurde gezielt aus der sogenannten „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen und zur Reproduktion, durch zum Beispiel einer Sterilisation, angehalten. Damit hatte die Regierung versucht, sie langfristig auszulöschen.

Die NS-Herrschaft erklärte ihr Leben als „lebensunwert“ und rechtfertigte ab 1939 mithilfe anthropologischer, genetischer und eugenischer Forschungen der sogenannten „Rassenhygieniker“ den systematischen Mord. Die medizinischen Eingriffe, die an den Menschen vorgenommen wurden, wurden perfide als „Euthanasie“ bezeichnet.[2]

Im Jahr 1935, zwei Jahre nach der Machtübernahme, erließ die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) die Nürnberger Gesetze. Personen mit nachweislicher „arischer Abstammung“ wurden automatisch mehr politische Rechte zugeschrieben. Ein weiteres Gesetz besagte, dass jene, die Eheschließungen und außereheliche Beziehungen mit jüdischen Menschen oder anderen, nicht „arischen Rassen[3] eingingen, mit Zuchthausstrafen rechnen müssten. Allgemein wurden solche Beziehungen als „Rassenschande“ bezeichnet, ein Begriff, der nicht nur diffamierte, sondern schwerwiegende Konsequenzen mit sich brachte.[4]

Mit dieser Arbeit möchte ich zeigen, wie Weiblichkeit im Nationalsozialismus vom Staat gesellschaftlich definiert, bewertet und gelenkt wurde. Der Fokus liegt dabei auf der Analyse, wie weiblich gelesene Körper durch die Zuschreibung einer reproduktiven Aufgabe zur Erhaltung der „Volksgemeinschaft“ politisch instrumentalisiert wurden.

Zudem soll die Arbeit die These stützen, dass Weiblichkeit intersektional entlang von Geschlecht, Rassenzuschreibung, sozialer Zuschreibung und Behinderung kontrolliert wurde. Es geht darum, die strukturellen Ausschlussmechanismen der Bevölkerungspolitik des NS-Regimes sichtbar zu machen und die Rolle weiblich gelesener Personen in der NS-Rassenpolitik differenziert zu beleuchten.

2. Grundlagen der NS-Rassenideologie

Die nationalsozialistische Rassenideologie bestand aus pseudowissenschaftlichen Theorien, sozialdarwinistischem Denken und tief verankertem Antisemitismus. Im Zentrum stand die Darwin’sche Evolutionstheorie, dass es biologische „Rassen“ gäbe, die sich in einem ständigen Überlebenskampf befänden. Diese Theorie wurde auf die Menschheit übertragen und die deutsche „arische Rasse“ als überlegen konstruiert, die vor „Verunreinigung“ geschützt werden müsse.[5]

Bereits im späten 19. Jahrhundert etablierten sich die ersten Ideologien. Das Judentum wurde vom britischen Autor Houston Stewart Chamberlin sowie dem deutschen Wilhelm Marr als „fremdartig und minderwertig“ bezeichnet.

Diese Denkweise wurde von den Nationalsozialisten übernommen und machte sie zu ihrem ideologischen Fundament. Wissenschaftler*innen aus Medizin, Biologie und Anthropologie unterstützten die nationalsozialistische Politik durch scheinwissenschaftliche Studien zur „Rassenzugehörigkeit“. So wurde versucht, durch körperliche Merkmale wie Schädelmaße oder Blutgruppe eine Rassenzuordnung zu verwenden.[6]

Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik entstand der Begriff der „Rassenhygiene“. Diese Bezeichnung wurde zu einem wichtigen Teil der sozialpolitischen Biopolitik und wurde dem Volk als staatliches Gesundheitsprogramm verkauft. Der Ausdruck von „Volksgesundheit“ diente als Tarnung, um ihr Projekt zur Kontrolle von Körper, Sexualität und Zugehörigkeit aufrechtzuerhalten. Alfred Ploetz prägte den Begriff 1895 und verstand darunter eine gezielte Beeinflussung der Vererbung, um „minderwertige“ Anlagen auszuschließen und „wertvolle“ zu fördern.[7] Zur Umsetzung dieser Absicht wurde die Reproduktion gezielt gesteuert und überwacht, um durch genetische Optimierung die Herausbildung einer idealisierten Menschheit zu ermöglichen.[8]

Mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialist*innen wurden diese Konzepte verschärft und durch Maßnahmen wie Zwangssterilisation und Heiratsverbote systematisch in der Bevölkerungspolitik implementiert. Dadurch wurde diese Ideologie zur offiziellen Staatsdoktrin, was letztlich in eine eliminatorische Strategie mündete. Alle Personen, die „fremd“ waren und als eine Bedrohung für das deutsche Volk galten, wie Sinti*zze, Rom*nja, homosexuelle und sogenannte „asoziale“, sollten beseitigt werden. Die Öffentlichkeit wurde weitestgehend manipuliert, indem ihr durch derartige Maßnahmen die Projektion einer langfristigen Sicherheit der Bevölkerung suggeriert wurde. Diese erfundene Erzählung beruhte auf gesellschaftlicher Zustimmung und wurde durch Angst vor Degeneration angekurbelt.[9]

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die nationalsozialistische Rassenideologie keine Nebenerscheinung war, sondern in allen Bereichen auftauchte. Vor allem in der medizinischen Ausbildung kam man an „Rassenkunde“ nicht vorbei. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie Wissenschaft zur Waffe werden kann, wenn sie sich in den Dienst einer totalitären Ideologie stellt.

3. Weiblichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus

Weiblichkeit in der Zeit des nationalsozialistischen Deutschlands wurde nicht als vielfältiges Spektrum verstanden, sondern auf ein politisch kontrolliertes, konstruiertes Idealbild reduziert. Frauen[i] wurden nicht als eigenständige Person gesehen, sie dienten lediglich dem Mittel zum Zweck. Die sogenannte „deutsche Mutter“ galt als Leitbild. Der Staat sah sie als Trägerin des „Volkskörpers“ deren höchste Aufgabe in der Reproduktion „erbgesunder“ Nachkommenschaft lag.[10] Sie wurde somit mit Fruchtbarkeit, Häuslichkeit, Gehorsam und Aufopferung gleichsetzt, wobei gesellschaftliche Anerkennung an biologische und soziale Nützlichkeit verknüpft war.[11]

Dieses nationale Frauenbild war stark durch offizielle Publikationen, Propagandafilme und Frauenzeitschriften geprägt und wurde kontinuierlich reproduziert.[12] Nur Frauen, die der Vorstellung von „arischer“ Herkunft, körperlicher Gesundheit, sittlicher Integrität und sozialer Konformität entsprachen, waren gesellschaftlich erwünscht.

Zu den rassistischen Reinheitsidealen der „arischen“ Frau gehörten die äußeren Eigenschaften, wie blonde lange Haare, blauäugig, hellhäutig, ein gesunder, fruchtbarer, aber nicht zu sportlicher oder zu muskulöser Körper.[13]

Bereits in den frühen Jahren wurden Mädchen und junge Frauen zu dieser Ideologie erzogen. Ihnen wurde in schulischen Lehrplänen, im „Bund Deutscher Mädel“ oder in Aufklärungsschriften die Vorstellung vermittelt, dass ihre Erfüllung einzig in der Mutterschaft und im Dienst der „Volksgemeinschaft“ liege. Die weibliche Identität wurde zum Objekt einer staatlichen Reproduktions- und Bevölkerungspolitik, deren Funktion klar definiert wurde. Die Frau sollte daher nicht aus individueller Freiheit heraus Mutter werden, sondern weil es ihre „natürliche“ und „völkische“ Pflicht sei.

Demnach sahen die Nationalsozialist*innen jene Frauen als Bedrohung, die von dieser normativen Konstruktion, sei es aufgrund ihrer Herkunft oder sexueller Selbstbestimmung abwichen. Vor allem die weibliche Sexualität wurde pathologisiert oder kriminalisiert, wenn sie nicht im Dienst der Reproduktion stand. Thomas Roth zeigt, wie Frauen, die sexuelle Beziehungen zu ausländischen Zwangsarbeiter*innen eingingen, durch die Justiz nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern systematisch verfolgt wurden.[14]

Insgesamt zeigt sich, dass das nationalsozialistische Frauenbild wenig Raum für Individualität oder Diversität ließ. Die reproduktiven Ideale der „arischen“ Mutter wurden nicht nur zur aktiven Exklusion „abweichender“ Frauen genutzt, sondern ebenfalls zur sozialen Ordnung und waren Bestandteil rassistischer, biopolitischer und geschlechterbasierter Machtausübung.

4. Zwangssterilisation als Instrument der Herrschaftskontrolle

Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik nannte es die „erbbiologische Reinigung“ des „Volkskörpers“ und begründete es als „medizinische“ Maßnahme. Es handelt sich um die Zwangssterilisation, die Ausdruck eines Systems war, das Körper, Reproduktion und soziale Zugehörigkeit regulierte.

Im späten 19. Jahrhundert entstanden die ersten wissenschaftlichen Diskurse, die die Reproduktion als Aspekt politischer Regulierung thematisierten.[15]

Als die NSDAP 1933 an die Macht kam, wurde am 14. Juli 1933 mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchs“ eine flächendeckende Praxis eingeführt. Menschen, die nicht ins rassistische Idealbild passen, sollten dauerhaft von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden. Am 01. Januar 1934 trat das Gesetz schließlich in Kraft. Dieses Gesetz ermöglichte den Nationalsozialist*innen bis 1945 ungefähr 400.000 Zwangssterilisationen, wobei 5.000 Menschen an den Folgen verstarben.[16]

Die Zahlen suggerieren, dass Frauen und Männer gleichermaßen von der Zwangssterilisation betroffen waren. Diese Darstellung verschleiert jedoch wichtige Details. Die Kriterien für weibliche Opfer basierten auf geschlechterspezifischen Normvorstellungen. Ihnen wurden Zuschreibungen wie „sexuelle Abweichung“, „Asozialität“ oder „Promiskuität“ unterstellt.[17]

Um die Umsetzung dieser Eingriffe zu legitimieren, arbeiteten institutionelle Akteur*innen, wie Gesundheitsämter, ärztliche Gutachter*innen, Richter*innen der Erbgesundheitsgerichte und Pflegeeinrichtungen eng zusammen.

Ein Beispiel dafür ist das Schicksal von Anna Lehnkering. Sie wurde 1915 in Sterkrade geboren und bereits mit vier Jahren fiel ihren Eltern psychische Auffälligkeiten auf. Im Jahr 1931 wurde sie von Ärzten mit „Schwachsinn erheblichen Grades“ diagnostiziert.[18]

Daraus folgte, dass A. Lehnkering vier Jahre später auf Grundlage der nationalsozialistischen Erbgesundheitsideologie als „erbkrank“ klassifiziert und zwangssterilisiert wurde. Ihre Angehörigen beschrieben sie als sanftmütig und hilfsbereit im Gegensatz zu der Beschreibung der Heil- und Pflegeanstalt, die sie als „arbeitsunwillig“ und „lästig“ charakterisiert.[19] Ihr Leben endete 1940 im Alter von 24 Jahren, als Anna Lehnkering mit anderen Frauen nach Grafeneck deportiert und vergast wurde.[20]

Die meisten Kriterien zur Auswahl „erbkranker“ Personen waren so ungenau, dass die verantwortliche Person Vorurteile problemlos einfließen lassen konnte. Anna Lehnkering ist nur eine von Tausenden Frauen, die im NS-Staat entrechtet, zwangssterilisiert und ermordet wurden.

Die Zwangssterilisation bedeutete für Frauen nicht nur einen physischen gewaltsamen Eingriff, der zur körperlichen Unfruchtbarkeit führte, sondern auch einen tiefgreifenden sozialen Ausschluss.

Ihnen wurde die Rolle einer potenziellen Mutter aktiv entzogen, was in einer Gesellschaft, die Weiblichkeit primär über Reproduktionsfähigkeit definiert, einer existenziellen Aberkennung gleichkam.

Viele Betroffene litten durch die Folgen der Zwangssterilisation oder Zwangsabtreibungen, die ab 1935 gesetzlich bis zum 6. Schwangerschaftsmonat möglich waren,[21] an psychischen Traumata, Scham und sozialer Isolation, ohne juristische oder gesellschaftliche Anerkennung des erlittenen Unrechts zu bekommen.[22]

Die nationalsozialistische Zwangssterilisation war daher kein geschlechtsneutrales Mittel zur Bevölkerungspolitik, sondern ein zentraler Baustein einer intersektionalen Gewaltstruktur. Sie kombinierte medizinische Macht mit staatlicher Ideologie, um eine definierte Gesellschaftsordnung herzustellen.

5. Fazit

Wir haben anhand der Analyse gesehen, dass die ideologische Konstruktion von Weiblichkeit und rassistische Zuschreibungen Diskurse systematisch miteinander verflochten wurden, um gesellschaftliche Kontrolle auszuüben.

Weiblich gelesene Personen standen dabei im Zentrum einer biopolitischen Strategie, die ihr körperliches Dasein auf ihre Reproduktionsfähigkeit reduzierte und sie entweder zur „Trägerin des Volkskörpers“ stilisierte oder aus der „Volksgemeinschaft“ exkludierte.

Die nationalsozialistische Ideologie handelte dabei nicht nur mit einer binären Geschlechterlogik, sondern aus einem Zusammenspiel aus sozialer, gesundheitlicher und geschlechtlicher Diskriminierung.

Die in dieser Arbeit zugrunde gelegte These, dass Weiblichkeit im Nationalsozialismus intersektional entlang von Geschlecht, rassistischer Zuschreibung, sozialem Status und Behinderung kontrolliert wurde, hat sich im Verlauf der Untersuchung bestätigt. Die „deutsche Frau“ diente nicht nur als Objekt propagandistischer Inszenierung, sondern ebenfalls zur politischen Instrumentalisierung. Ihr gesellschaftlicher Wert wurde ausschließlich durch seine Funktion für das Fortbestehen der „arischen Rasse“ reduziert. Femininität war weder individuell noch autonom, sondern durch staatliche Gewalt reglementiert und diszipliniert.

Besonders drastisch zeigt sich das anhand der Zwangssterilisation. Diese Methode der Enteignung war nicht nur Ausdruck einer rassistischen und ableistischen Bevölkerungspolitik zu verstehen, sondern auch als ein gezielter Angriff auf geschlechtsspezifische Selbstbestimmung.

Die betroffenen Personen wurden nicht nur Opfer von medizinischen Eingriffen, sondern ihnen wurde ebenfalls die gesellschaftliche Anerkennung genommen und das Recht, als Frau und Mutter gesehen zu werden.

In einer Gesellschaft, die Weiblichkeit primär über Reproduktion definierte, war das ein existenzieller Gewaltakt.

Diese Gewalt war jedoch nicht nur ein physischer Akt, sondern auch ein symbolischer.

Die nationalsozialistische Regierung erschuf damit ein System der Ungleichwertigkeit, das bestimmte Körper als „wertvoll“ und andere als „minderwertig“ klassifizierte.

Die Fremdbestimmung über weibliche Sexualität, die moralische Bewertung reproduktiven Verhaltens und die staatlich legitimierte Kontrolle über den Körper sind keine Phänomene, die ausschließlich dem historischen Nationalsozialismus angehören. Auch in heutigen Debatten über Geschlecht, Migration, Behinderung oder soziale Herkunft lassen sich Strukturen der Kontinuität beobachten.

Der Rückblick auf die NS-Zeit erlaubt uns nicht nur eine historische Analyse, sondern eröffnet uns auch eine kritische Perspektive auf gegenwärtige Gesellschaftsstrukturen. Er veranlasst uns Nachzudenken und Fragen nach der Legitimität von Machtansprüchen über den eigenen Körper zu hinterfragen. Wissenschaft und Medizin sollten keine Autorität besitzen, um über Normalität und Abweichungen einer Person zu bestimmen. Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik war kein irrationaler Zufall, sondern das Produkt gesellschaftlicher Zustimmung, wissenschaftlicher Komplizenschaft und politischer Kalkulation.

Wir halten fest, dass das nationalsozialistische Konzept von Weiblichkeit nicht nur Ausdruck einer patriarchalen Ideologie war, sondern in seiner Kombination mit Rassismus, Ableismus und Klassismus ein erschreckend wirkmächtiges Herrschaftsinstrument darstellte. Die politische Funktionalisierung weiblich gelesener Personen offenbarte sich in einer rassistischen Biopolitik, die auf Ausschluss, Gewalt und Vernichtung beruhte.

Eine Erinnerung daran ist nicht nur ein Akt der historischen Gerechtigkeit, sondern ein notwendiger Appell an heutige Gesellschaften, sich gegenüber sämtlicher Form struktureller Ungleichheit und ideologischer Kontrolle über Körper entschieden entgegenzustellen.

6. Literaturhinweise

Achtelik, K. (2016). Eugenik und »Euthanasie« im Nationalsozialismus. In Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Verbrecher Verlag.

Bock, G. (2010). Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik / Gisela Bock. (Nachdruck der Erstausgabe 1986). MV-Wissenschaft.

Bundeszentrale für politische Bildung. (2012). Die Grundlagen der NS-Rassenideologie. In: Informationen zur politischen Bildung, Heft 284.

Koonz, C. (1988). Mothers in the fatherland: women, the family and Nazi politics / Claudia Koonz. (Paperback ed.). Methuen.

Kopecká, L. (2011). Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit im Nationalsozialismus (Bachelorarbeit). Universität Wien.

Reyer, J. (1988). Rassenhygiene und Eugenik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik: Pflege der Volksgesundheit oder Sozialrassismus. In U. Herrmann & J. Oelkers (Hrsg.), Pädagogik und Nationalsozialismus. Weinheim & Basel: Beltz Verlag. S. 113–145.

Roth, T. (2009). „Gestrauchelte Frauen“ und „unverbesserliche Weibspersonen“. In E. Frietsch & C. Herkommer (Hrsg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Bielefeld. S. 109–123.

Wagenaar, M. (2023). Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute. Opladen: Budrich Academic Press.

7. Quellen

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Deutsches Historisches Museum (2010). Frauen im Nationalsozialismus. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/innenpolitik/frauen (aufgerufen am 25.03.2025)

Deutsches Historisches Museum (2016). Rassenpolitik im Nationalsozialismus. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/innenpolitik/rassenpolitik (aufgerufen am 25.03.2025)

Holocaust.cz. (2019). Die NS-Ideologie – Historischer Kontext. https://www.holocaust.cz/de/geschichte/holocaust-2/historischer-kontext/die-ns-ideologie/ (aufgerufen am 03.04.2025)

MDR. (2025). Zwangssterilisation und Euthanasiegesetz im NS-Staat. https://www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/politik-gesellschaft/zwangssterilisation-euthanasie-gesetz-zur-verhuetung-erbkranken-nachwuchses-pirna-sonnenstein100.html (aufgerufen am 01.04.2025)

Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. (2024). Anna Lehnkering – Biografie. Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde. https://www.t4-denkmal.de/biografies/view/4 (aufgerufen am 24.04.2025)

Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (2021). Rassenschande. https://www.erinnert-euch.de/de/glossar/rassenschande/ (aufgerufen am 07.04.2025)


[1] Husemann, M. (2016). NS-Rassenpolitik, Deutsche Historisches Museum Berlin.

[2] Husemann, M. (2016). NS-Rassenpolitik, Deutsche Historisches Museum Berlin.

[3]  „Als „nicht-arisch“ galt, wer ein jüdisches Eltern- oder Großelternteil hatte.“ zitiert aus:

Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung. (o. D.). Arier.

[4] Siehe Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. (o. D.). Rassenschande.

[5] Holocaust.cz (2019). Die NS-Ideologie.

[6] Holocaust.cz (2019). Die NS-Ideologie.

[7] Reyer, J. (1988). Rassenhygiene und Eugenik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik: Pflege der Volksgesundheit oder Sozialrassismus. In U. Herrmann & J. Oelkers (Hrsg.), Pädagogik und Nationalsozialismus, Beltz Verlag. S. 115ff.

[8] Ebd. Reyer, J. (1988), S. 116f.

[9] Bundeszentrale für politische Bildung. (2012). Die Grundlagen der NS-Rassenideologie. In Informationen zur politischen Bildung Nr. 284: Nationalsozialismus II. S. 68-69.

[10] Koonz, C. (1987). Mothers in the Fatherland: Women, the Family and Nazi Politics. New York: Routledge.

[11] Wagenaar, M. (2023). Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute. Opladen: Budrich Academic Press. S. 162-164.

[12] Kopecká, L. (2011). Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit im Nationalsozialismus (Bachelorarbeit). Universität Wien. S. 6-7.

[13] Ebd. Kopeckà, L. (2011).

[14] Roth, T. (2009). „Gestrauchelte Frauen“ und „unverbesserliche Weibspersonen“. In E. Frietsch & C. Herkommer (Hrsg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Bielefeld. S. 109-123. S. 114-117.

[15] Achtelik, K. (2016). Eugenik und »Euthanasie« im Nationalsozialismus. In Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Verbrecher Verlag. S. 64ff.

[16] Vgl. Studie von Gisela Bock, 1986.

[17] Bock, G. (2010). Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. Münster: MV Wissenschaft. S. 8-11.

[18] Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. (2024). Anna Lehnkering – Biografie. Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde.

[19] Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. (2024). Anna Lehnkering – Biografie.

[20] Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. (2024). Anna Lehnkering – Biografie.

[21] Achtelik, K. (2016). Eugenik und »Euthanasie« im Nationalsozialismus. In Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Verbrecher Verlag.S.73.

[22] Vgl. Bock, G. (2010). Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. Münster: MV Wissenschaft.

MDR (2025). Zwangssterilisation im Dritten Reich.


[i] In dieser Arbeit wird der Begriff „Frau“ ausschließlich für cis-geschlechtliche Personen verwendet, die bei Geburt dem weiblichen Geschlecht zugewiesen wurden. Trans, inter* oder nicht-binäre Personen, die schwanger werden können oder von ähnlichen Körperpolitiken betroffen sind, werden in dieser Begriffsverwendung hier nicht gemeint.


Quelle: Loredana Engel, Zwischen Reproduktion und Ideologie: Weiblichkeitskonstruktionen und Zwangssterilisation im Nationalsozialismus in: log ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=498

Das Spannungsfeld des Menstruationsdiskurses

Lea Nitsch (WiSe 2024/25)

Einleitung

Jeden Tag menstruieren mehr als 300 Millionen Menschen weltweit (1) und obwohl etwa die Hälfte der Weltbevölkerung diesen biologischen Prozess erlebt, werden damit regelmäßig Scham, Stigmatisierung und Tabus verknüpft. Diese negative Wahrnehmung, die in der Gesellschaft vorherrschend ist, wird als „period shaming“ oder „menstrual shaming“ beschrieben. Übersetzt bedeutet dies „Perioden-Beschämung“ oder „Menstruations-Beschämung“.

„period shaming“ sowie „menstrual shaming“ manifestiert sich in verschiedenen Formen, von Schweigen und kulturellen Tabus bis hin zu offener Diskriminierung, unzureichender Aufklärung und mangelndem Zugang zu Gesundheitsdiensten. Die Auswirkungen sind tiefgreifend und können nicht zuletzt zu gesundheitlichen Komplikationen führen. Menstruierende Menschen sehen sich zum Beispiel gezwungen ihre Periode zu verstecken oder Fakten über ihre Menstruation zu verschleiern, womit negative Auswirkungen auf das körperliche, emotionale und soziale Wohlbefinden verknüpft sind (2).

In dem Diskurs über Menstruation spielt der Aspekt Gender eine wichtige Rolle, da Menstruation traditionell als ein biologisches Merkmal von Frauen wahrgenommen wurde und größtenteils auch weiterhin so wahrgenommen wird. Die Konsequenz ist eine vermeintliche Verknüpfung zwischen dem Konzept von Menstruation und Weiblichkeit (3). Gesellschaftlich wird die Menstruation weitgehend als „weibliches Thema“ angesehen, was oft zur Tabuisierung führt. Allerdings greift diese Perspektive zu kurz, da nicht alle Frauen menstruieren, beispielsweise aufgrund von diversen medizinischen oder hormonellen Faktoren und nicht alle Menschen, die menstruieren, sich als Frauen identifizieren. Menstruierende Menschen können ebenfalls zum Beispiel trans* Männer, nicht-binäre oder genderqueere Personen sein. Das Stigma rund um die Menstruation spiegelt und verstärkt bestehende patriarchale Strukturen, indem es menstruierende Menschen als „unrein“ oder „schwach“ darstellt. Solche Einstellungen tragen zur systematischen Benachteiligung von Frauen und anderen menstruierenden Menschen bei (4).

Die Verknüpfung von Menstruation und Gender zeigt, wie eng biologische Prozesse mit sozialen und kulturellen Strukturen verflochten sind und wie wichtig es ist, diese Verbindungen kritisch zu hinterfragen, um mehr Gleichberechtigung und Inklusion zu schaffen. Besonders deutlich zeigt sich die Verbindung von Menstruation und Gender ebenfalls in der Art und Weise, wie menstruierende Menschen weltweit Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialen Ressourcen erhalten oder daran gehindert werden.

Diese Hausarbeit soll die Verbindung von Geschlechterrollen, Menstruation und Gesundheit genauer beleuchten. Eine geschichtliche Einordnung der Wahrnehmung der Menstruation soll zunächst ein Verständnis für das Spannungsfeld heute geben. Dieses soll daraufhin erörtert werden, indem auf Mythen und das Stigma über Menstruation eingegangen wird. Weiterhin wird Repräsentationsmangel von trans* und non-binären Menschen, die menstruieren eingeordnet. Folglich soll der Einfluss auf die Gesundheit aufgezeigt werden und ein Ausblick auf mögliche Veränderungen dieser gegeben werden. Des Weiteren wird eine persönliche Selbstreflexion zum Thema der Hausarbeit vorgenommen.

Geschichtliche Einordnung

Ein Blick auf die geschichtliche Wahrnehmung der Menstruation zeigt schnell auf, wo sich der Ursprung heutiger Vorurteile befindet. Im alten Ägypten wurde Menstruationsblut in medizinischen Rezepturen verwendet, während bei indigenen Völkern Nordamerikas menstruierende Menschen als spirituell stark galten. In den griechisch-römischen Kulturen fanden jedoch bereits negative Zuschreibungen statt. Aristoteles sah Menstruationsblut als „unreines“ Nebenprodukt des Körpers. In den patriarchalen Weltreligionen wurde dieser Unreinheitsgedanke als Legitimation weiter ausgeführt und stellt die Grundlage dar, um Frauen systematisch zu unterdrücken und auszuschließen, besonders während ihrer Periode (5).

In Europa verstärkte sich im Mittelalter die Pathologisierung der Menstruation, wobei menstruierende Menschen als „krankhaft“ oder gefährlich während dieser galten. Erst mit der Aufklärung begann eine wissenschaftlichere Betrachtung, wobei die Medizin die Menstruation jedoch weiterhin problematisierte und sie in Zusammenhang mit Schwäche gebracht wurde. Im 20. Jahrhundert brachte die industrielle Produktion von Hygieneartikeln (z. B. die Einführung von Tampons in den 1930er-Jahren) eine praktische Erleichterung und eine erste Welle des öffentlichen Diskurses (6). Feministische Bewegungen ab den 1960er-Jahren kämpften für eine Enttabuisierung und körperliche Selbstbestimmung. Dieser Prozess dauert immer noch an.

Mythen über die Menstruation

Die Vorurteile und Mythen, die dazu führen, dass die Menstruation weitestgehend pathologisiert wird und schambehaftet ist, sind vielfältig. Einige Mythen scheinen jedoch besonders herauszustechen, wodurch ihre Entkräftung umso wichtiger ist. Oftmals sind die Übergänge zwischen einzelnen Mythen nicht klar abgrenzbar. Im folgenden Abschnitt werden einige Mythen aufgegriffen, ohne jedoch einem Anspruch an Vollständigkeit zu genügen, da es unzählige Mythen über die Menstruation gibt.

Eines der verbreitetsten Mythen ist jenes der „irrationalen Frau“, welches davon ausgeht, dass (hier ausschließlich und derogativ gemeint) Frauen aufgrund ihrer biologischen Grundvoraussetzung emotionaler sind und folglich eine geringere Kontrolle über ihr selbst haben und weniger Vernunft besitzen (7). Der mögliche Kontrollverlust, der hiermit beschrieben wird, ist Grundlage dafür Frauen z.B. als keine verlässlichen Personen für Führungspositionen einzustufen.

Ein medizinscher Faktor, der dieses Bild weiterhin prägt ist die Diagnose des prämenstruellen Syndroms (PMS) (8). Sally Kingbeschreibt in ihrem Artikel “Premenstrual Syndrome (PMS) and the Myth of the Irrational Female“ (7), dass die Zuschreibung psychologischer Symptome der Menstruation und medizinische Klassifizierung dieser weit über die Beschreibung der eigentlichen physischen Symptome hinaus geht. Sie zeigt auf, dass die Darstellung der Menstruation und ihre Pathologisierung auf einer sexistischen historischen Blickweise auf die Menstruation basiert. King weist darauf hin, dass nur eine Minderheit der menstruierenden Personen schwere zyklische Symptome erlebt, die medizinische Unterstützung erfordern. Das explizite Anerkennen und Entkräften des Mythos der „irrationalen Frau“ und seines Einflusses auf die klinische Beschreibung und Behandlung von PMS ist laut King ein wichtiger Schritt, um diejenigen besser zu unterstützen, die tatsächlich zyklische Symptome erleben (7). Dabei soll vermieden werden, ungewollt oder gewollt zu suggerieren, dass der Menstruationszyklus selbst eine Form von Krankheit darstellt oder eine „biologische“ Rechtfertigung für Geschlechterungleichheit bietet. Sie erwähnt ebenfalls die Wichtigkeit der richtigen sprachlichen Beschreibung. Dazu gehört für sie Forschungsergebnisse aus neutraler Perspektive zu betrachten und vor allem „Frauen“ oder „menstruierende Personen“ als Beschreibung zu vermeiden, wenn eigentlich „Personen mit PMS“ gemeint sind, damit die Grenze zwischen dem Krankheitsbild PMS und der Menstruation selbst nicht verschwimmt. Damit kann dem Vorurteil und Mythos der „pathologisch emotionalen Frau“ entgegengearbeitet werden.

Der Mythos, dass die Menstruation schädlich und ungesund für das vaginale Mikrobiom sei, ist ebenfalls weit verbreitet und trägt dazu bei unbegründeten Ängsten über den eigenen Körper hervorzurufen. Diese Pathologisierung des natürlichen Zyklus wird als gesellschaftliches Machtinstrument benutzt und führt zu Fehleinschätzungen über den Gesundheitszustand des eigenen Körpers und fördert die Schambehaftung der Menstruation selbst  (9).

Repräsentationsmangel von trans* und non-binären Menschen im Menstruationsdiskurs

Menschen, die menstruieren und nicht in die binäre Kategorie „Frau“ passen, erleben oft eine doppelte Marginalisierung. Sie werden mit den gleichen Tabus konfrontiert wie cis Frauen, aber zusätzlich auch mit der Herausforderung, dass ihre Menstruation nicht in die gesellschaftlichen genderbasierten Erwartungen passen. Dies kann zu einer verstärkten Isolation und einem Gefühl der Unsichtbarkeit führen.

Um einen nicht-pathologisierenden Diskurs über Körper und Erfahrungen von trans* Personen und nicht binären Personen zu fördern, ist es essenziell, Perspektiven dieser Personengruppe im Menstruationsdiskurs einzubeziehen. Die Menstruation ist dabei nicht nur ein körperliches Phänomen, sondern auch eng mit gesellschaftlichen Erwartungen, Normen und Vorstellungen von Weiblichkeit verwoben (3).

Die Vorstellung von Weiblichkeit ist durch sichtbare und unsichtbare Normen geprägt, die den weiblichen Körper und seine Funktionen definieren. Trans* Personen und nicht-binäre Menschen, die menstruieren, stehen vor der Herausforderung, ihre Identität gegen gesellschaftlich geprägte Vorstellungen vom weiblichen Körper zu behaupten. Traditionell wurde die Menstruation ausschließlich als Funktion des von der Gesellschaft als weiblich definierten Körpers verstanden. Für trans* und nicht-binäre Personen kann diese biologische Funktion jedoch zu einem gesellschaftlichen Marker für Geschlechts- oder Geschlechteridentität werden (10). So weisen Comics aus einer Studie von Sarah E. Frank (10) auf das Unwohlsein, welches trans* und nicht binäre Personen, die Menstruieren, im Umgang mit Menstruationsprodukten empfinden können. Das Abwerfen von Menstruationsprodukten etwa in der Männertoilette löst in diesem Beispiel Nervosität aus.

Werbungen für Menstruationsprodukte reproduzieren beispielsweise auch diskriminierende Sichtweisen auf die Menstruation. Eine australische Firma hat 2019 die erste Werbung veröffentlicht, in der das Menstruationsblut auf den Menstruationsprodukten nicht blau oder anderweitig gefärbt ist, sondern in der realer roter Farbe dargestellt wird (6). Dennoch wird hier weiterhin von ausschließlich Frauen und nicht von allen menstruierenden Menschen gesprochen. Damit ist das Ziel einer inklusiveren Sprache in Diskussionen rund um die Menstruation sowie geschlechtsneutrale Periodenprodukte noch lange nicht erreicht (11).

Einfluss auf Gesundheit

„period shaming“ hat einen relevanten Einfluss auf die Gesundheit menstruierender Menschen. Die Menstruation und die damit verbundene Schambehaftung führt dazu, dass Frauen und andere menstruierende Menschen sich zum Beispiel sozial isolieren, auf Sport verzichten und sogar nicht zur Schule oder zur Arbeit gehen. Dies hat zum Teil tiefgreifende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen (1).

Eine Umfrage von ActionAid zum Welt-Menstruationshygienetag 2023 ergab, dass 39 % der Frauen und anderer menstruierender Menschen im Vereinigten Königreich während ihrer Periode auf Sport oder Bewegung verzichteten oder sie ausließen. In der Altersspanne 18-24 Jahre betrug dieser Anteil sogar 48 % (12).

Der stigmatisierte Status der Menstruation hat also schädliche Folgen für die Gesundheit, insbesondere das Selbstwertgefühl, das Körperbild, die Selbstpräsentation und die sexuelle Gesundheit von Mädchen und Frauen und anderen menstruierenden Personen (4). Die gesellschaftlichen Erwartungen an menstruierende Menschen und die damit verbundenen Tabus können lebensgefährliche Auswirkungen haben (13).

Ohne die nötige Unterstützung, Information und Orientierung kann die Periode, besonders die erste, eine äußerst isolierende und einsame Erfahrung sein – eine, die oft von Stigmatisierung begleitet wird. Menstruation wird als etwas Schmutziges oder Beschämendes betrachtet, das versteckt werden sollte. Dies wird deutlich bei der Betrachtung von Euphemismen, mit denen wir die Periode beschreiben, ohne das Wort „Blut“ zu verwenden, wie etwa zum Beispiel „die Zeit des Monats“ oder auch „die Erdbeerwoche“.

Der stigmatisierte Status der Menstruation hat also schädliche Folgen für die Gesundheit, insbesondere das Selbstwertgefühl, das Körperbild, die Selbstpräsentation und die sexuelle Gesundheit von Mädchen und Frauen und anderen menstruierenden Personen (4). Die gesellschaftlichen Erwartungen an menstruierende Menschen und die damit verbundenen Tabus können lebensgefährliche Auswirkungen haben (13).

Menstrual health – wo wollen wir eigentlich hin?

Menstrual health, also Menstruationsgesundheit ist ein Zustand des vollständigen physischen, mentalen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechlichkeit im Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus  (14).

Das umfassende Konzept der Menstruationsgesundheit beinhaltet, dass menstruierende Personen Zugang zu angemessenen Behandlungen für menstruationsbedingte Symptome und Krankheiten sowie zu Hygieneprodukten und angemessener Pflege während der Periode haben sollten. Aufklärung und Information über Menstruation in einem Umfeld, das frei von Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung ist, vervollständigen die Agenda. (15)

Alle menstruierenden Menschen sollten Zugang zu präzisen, altersgerechten Informationen über den Menstruationszyklus, Menstruation und die damit verbundenen Veränderungen im Leben haben, sowie zu Selbstpflege- und Hygienepraktiken. Sie sollten in der Lage sein, ihre Körper während der Menstruation so zu pflegen, dass ihre Vorlieben, Hygiene, Komfort, Privatsphäre und Sicherheit unterstützt werden. Dies umfasst den Zugang zu effektiven und erschwinglichen Menstruationsmaterialien sowie zu unterstützenden Einrichtungen wie Wasser-, Sanitär- und Hygienediensten. Ebenso sollten sie rechtzeitig eine Diagnose, Behandlung und Pflege bei menstruationsbedingten Beschwerden erhalten, einschließlich Schmerzlinderung und Selbstpflegestrategien. Menschen sollten ein positives, respektvolles Umfeld erleben, das frei von Stigmatisierung und psychischer Belastung ist, und die Ressourcen haben, um ihren Körper selbstbewusst zu pflegen und informierte Entscheidungen zu treffen. Zudem sollte ihnen die Freiheit gegeben sein, während aller Phasen ihres Menstruationszyklus selbst zu entscheiden, ob und wie sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen – ohne Ausgrenzung, Einschränkungen, Diskriminierung, Zwang oder Gewalt  (14).

Historisch entstandene Vorstellungen und Dichotomien, welche auf veralteten biologischen und medizinischen Erkenntnissen basieren, sollten kritisch hinterfragt werden. Um eine inklusive und menschliche Herangehensweise an die Menstruation zu ermöglichen sollte Gesundheit als multidimensionaler Prozess verstanden werden, indem Klassifikationssysteme nicht binär, sondern auf den Menschen bezogen arbeiten (16).

Reflexion

Mit Menstruation verbinde ich zunächst Anstrengung und Schmerzen. Gleichzeitig verbinde ich damit ein sehr vertrautes und friedliches Gefühl. Während meiner Schulzeit hätte ich diesen Satz nicht so formuliert. Dank einer offenen Herangehensweise zuhause war ich zwar gut informiert über verschieden Phasen des Zyklus, Menstruationsprodukte und mögliche Symptome, jedoch fand lange gar kein öffentlicher Diskurs in meinem sozialen Umfeld über das Thema Menstruation statt. Damit war die Menstruation zunächst ein geheimnisvolles und gefährliches Thema. Ab dem Zeitpunkt, ab dem im Sportunterricht Schulschwimmen stattfand, waren einige meiner Mitmenschen vom Unterricht entschuldigt aufgrund der Menstruation. Dies führte bei mir zu der Überzeugung, dass Sport und menstruieren nicht zeitgleich möglich wären. Zunehmend wurde die Menstruation problematisiert. Blut wurde als „eklig“ beschrieben und alle Veränderungen in der Stimmung der menstruierenden Menschen wurden damit in Verbindung gebracht. Außerdem war es kompliziert, Menstruationsprodukte mit sich zu führen ohne, dass sie von anderen bemerkt wurden, um nicht ausgelacht zu werden. Die Vorstellung, dass es an öffentlichen Orten Menstruationsprodukte zur freien Verfügung geben könnte, war zu diesem Zeitpunkt fast absurd. Am schwierigsten war insgesamt jedoch die Konnotation der ersten Menstruation und dem „Frau“ werden. Da ich mich mit dem Begriff „Frau“ ohnehin nicht wohl gefühlt habe, war es für mich sehr schwer verständlich, wieso ich damit zu einer „Frau“ wurde und inwiefern die Menstruation und die damit einhergehende Fruchtbarkeit das Wertvollste und am Frau-Sein bedeutete.

Heute kann ich diese Erfahrungen kritisch betrachten. Mehr Wissen, Austausch und Sensibilisierung auch durch eigene körperliche Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich Menstruation und vermeintliche Weiblichkeit nicht mehr miteinander verknüpfe. Es ist jedoch weiterhin in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten nicht selbstverständlich, offen über das Thema Menstruation reden zu können. Immer wieder begegne ich Situationen, wo ein Informationsdefizit vorliegt, oder mir bestimmte Attribute, wie etwa „zu emotional“ aufgrund meiner Menstruation angerechnet werden. Hierbei versuche ich mit Offenheit und Aufklärung entgegenzuwirken.

Fazit

Das Thema Menstruation ist nach wie vor von gesellschaftlichen Tabus, Stigmatisierung und Missverständnissen geprägt. Diese Haltung beeinflusst nicht nur die Wahrnehmung des eigenen Körpers, sondern führt auch zu erheblichen psychischen und physischen Belastungen für menstruierende Personen. Der Diskurs über die Menstruation sollte vom Status Quo der Pathologisierung und Scham in Richtung einer offenen, inklusiven und respektvollen Auseinandersetzung verändert werden. Die enge Verknüpfung von Menstruation und sozialen, kulturellen und politischen Dynamiken, die von Geschlechterrollen und Ungleichheiten geprägt sind, bringt die Verantwortung den Menstruationsdiskurs inklusiver und offener zu gestalten. Mythen über die Menstruation sind geschichtlich verankert und vielfältig, ihnen entgegenzuwirken ist weiterhin eine Aufgabe, der sich menstruierende Menschen täglich stellen müssen. Um die gesundheitlichen Voraussetzungen für menstruierende Menschen zu verbessern, muss es einen offenen Diskurs und ein Ende des „period shaming“ geben. Eine gendergerechte Herangehensweise trägt dazu bei, Barrieren abzubauen, Stigmata zu reduzieren und allen Menschen ein gesundes und würdevolles Leben zu ermöglichen. „Menstrual health“ ist folglich eine Zielvorstellung, welche gesamtgesellschaftlich erreicht werden sollte.

Literaturverzeichnis

1. Arif N. From shame to solidarity: how we can reverse harmful narratives on period stigma. BMJ. 2024;384:q152.

2. McHugh MC. Menstrual Shame: Exploring the Role of ‘Menstrual Moaning’. In: Bobel C, Winkler IT, Fahs B, Hasson KA, Kissling EA, Roberts T-A, editors. The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapore: Springer Singapore; 2020. p. 409-22.

3. Frank SE, Dellaria J. Navigating the Binary: A Visual Narrative of Trans and Genderqueer Menstruation. In: Bobel C, Winkler IT, Fahs B, Hasson KA, Kissling EA, Roberts T-A, editors. The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapore: Springer Singapore; 2020. p. 69-76.

4.  Johnston-Robledo I, Chrisler JC. The Menstrual Mark: Menstruation as Social Stigma. In: Bobel C, Winkler IT, Fahs B, Hasson KA, Kissling EA, Roberts T-A, editors. The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapore: Springer Singapore; 2020. p. 181-99.

5.  Germerott I. Blut und Scham: Wie die Menstruation zum Tabuthema wurde: National Geographic; 2023 [Available from: https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2023/03/blut-und-scham-wie-die-menstruation-zum-tabuthema-wurde-religion-patriarchat-wissenschaft-medizin.

6. Deutschlandfunk. Der Rest ist Geschichte [Internet]; 2024 25.07.2024. Podcast. Available from: https://www.deutschlandfunk.de/menstruation-geschichte-periode-hysterie-102.html

7.  King S. Premenstrual Syndrome (PMS) and the Myth of the Irrational Female. In: Bobel C, Winkler IT, Fahs B, Hasson KA, Kissling EA, Roberts T-A, editors. The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapore: Springer Singapore; 2020. p. 287-302.

8. Manual M. Prämenstruelles Syndrom (PMS): MSD Manual;  [Available from: https://www.msdmanuals.com/de/profi/gynäkologie-und-geburtshilfe/menstruationsstörungen/prämenstruelles-syndrom-pms?query=prämenstruelles%20syndrom%20(pms)#Symptome-und-Beschwerden_v1062694_de.

9. Sommer M, Chrisler JC, Yong PJ, Carneiro MM, Koistinen IS, Brown N. Menstruation myths. Nature Human Behaviour. 2024;8(11):2086-9.

10. Frank SE. Queering Menstruation: Trans and Non-Binary Identity and Body Politics. Sociological Inquiry. 2020;90(2):371-404.

11. Neve M. War on period shaming goes mainstream. Eureka street. 2019;29(17):25-7.

12. Pycroft H. Cost of living: UK period poverty has risen from 12% to 21% in a year: Actionaid; 2023 [Available from: https://www.actionaid.org.uk/blog/2023/05/26/cost-living-uk-period-poverty-risen.

13. Gottlieb A. Menstrual Taboos: Moving Beyond the Curse. In: Bobel C, Winkler IT, Fahs B, Hasson KA, Kissling EA, Roberts TA, editors. The Palgrave Handbook of Critical Menstruation Studies. Singapore2020. p. 143-62.

14. Hennegan J, Winkler IT, Bobel C, Keiser D, Hampton J, Larsson G, et al. Menstrual health: a definition for policy, practice, and research. Sex Reprod Health Matters. 2021;29(1):1911618.

15. Carneiro MM. The hidden tales menstruation may tell: time to break the silent spell. Women & Health. 2022;62(4):273-5.

16. Sharon G. Lifting the Curse of Menstruation : A Feminist Appraisal of the Influence of Menstruation on Women’s Lives. New York: Routledge; 2015.


Quelle: Lea Nitsch, Das Spannungsfeld des Menstruationsdiskurses in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=494

Diskriminierung an Schulen:

Welche Auswirkungen haben Mikroaggressionen auf betroffene Schüler*innen und wie beeinflussen diese ihren Alltag?

Chiara Shuri (WiSe 2024/25)

1. Vorwort

Der folgende Essay wurde von mir, Chiara Schuri, Studentin des Studiengangs Bildungs- und Erziehungswissenschaften im 5. Fachsemester an der Freien Universität Berlin geschrieben, um auf Diskriminierungsformen wie Mikroaggressionen im Schulalltag aufmerksam zu machen. Meine Motivation in dieser Arbeit liegt insbesondere an der demografischen Entwicklung Deutschlands. Der Anteil von Schüler*innen mit verschiedenen Hintergründen und Bedürfnissen steigt kontinuierlich und demnach steigt die Notwendigkeit, sich mit den Erfahrungen und Herausforderungen der Schüler*innen genauer auseinanderzusetzen ebenfalls. Dies umfasst auch die Untersuchung von Mikroaggressionen – oft unbewusste, aber dennoch verletzende Äußerungen oder Verhaltensweisen – die das schulische Wohlbefinden und die Bildungschancen der betroffenen Schüler*innen beeinflussen. Obwohl ich als cis weibliche, weiße Person ohne körperliche oder psychische Einschränkungen und mit christlichem Glauben schon sehr privilegiert bin, habe auch ich in meinem Schulalltag bezüglich meiner schulischen Leistungen aufgrund meines Geschlechts schon Mikroaggressionen erfahren. Insbesondere wenn es um die Berufswahl oder meine Kompetenzen in wissenschaftlichen Fächern ging. Allerdings kann ich mich auch erinnern, dass ich aufgrund meiner sehr hellblonden Haarfarbe ebenfalls häufig mit „Scherzen“ wie: „blond ist doof“ konfrontiert war. Und da stelle ich mir vor wie es Personen gehen muss, die weniger privilegiert sind. Mit dieser Arbeit möchte ich nicht nur auf die Auswirkungen von Mikroaggressionen hinweisen, sondern auch dazu beitragen, ein besseres Verständnis für die Notwendigkeit einer inklusiven und diskriminierungsfreien Schulumgebung herzustellen. Durch die Verknüpfung wissenschaftlicher Erkenntnisse mit Erfahrungen möchte ich aufzeigen, welches Bewusstsein erforderlich ist, um Schulen zu einem sichereren und unterstützenderen Raum für alle Schüler*innen zu machen.

2. Einleitung – Mikroaggressionen im schulischen Kontext

Diskriminierung ist in unserer Gesellschaft tief verankert. Es gibt keine Räume, die vollständig frei von diskriminierenden Strukturen oder Handlungen sind. Ebenso wenig existieren Menschen oder Gruppen, die außerhalb dieser Dynamiken stehen. Mikroaggressionen als subtile Formen von Diskriminierung treten in vielfältigen Kontexten auf und manifestieren sich in Rassismus, Sexismus, Klassismus, Adultismus, Cissexismus und weiteren Diskriminierungsformen, wodurch sie die Lebensrealität vieler Menschen prägen (Hamaz, 2023). Insbesondere durch die gesellschaftliche Sozialisation erlernen und geben die Menschen verschiedene diskriminierende Rede- und Verhaltensweisen weiter (Hamaz, 2023). Schon in der frühkindlichen Entwicklung bis ins hohe Erwachsenenalter prägen uns die Handlungsmuster, die wir immer wieder beobachten, wahrnehmen und erleben (Hamaz, 2023). Beispielsweise üben Familienbilder einen wesentlichen Einfluss auf die Sozialisation eines Kindes aus, ebenso wie die Institutionen, in denen Kinder einen bedeutenden Teil ihrer frühen Lebensjahre verbringen. Demnach verinnerlichen wir schon früh gesellschaftliche Machtverhältnisse und den Umgang mit diesen, weshalb wir bewusst oder unbewusst oftmals zu diskriminierenden Verhaltens- und Denkmustern neigen, und dazu beitragen, dass sie weiter bestehen.

Ein besonders zentraler Raum für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen ist die Schule, da diese nicht nur Wissen, sondern ebenfalls soziale Normen und Werte vermittelt. 

Sie soll idealerweise zu einem respektvollen Miteinander beitragen, Diversität aktiv fördern und ein diskriminierungsfreies Umfeld schaffen, in welchem die Unterschiede der Menschen wertgeschätzt und zum gegenseitigen Lernen und Unterstützen als sinnvolle Ressource genutzt werden. Die Schule steht als Institution in der Verantwortung, sich für die Beseitigung von Diskriminierungen einzusetzen und eine chancengleiche, diskriminierungsfreie Bildung für alle Schüler*innen zu ermöglichen (ADS, 2018).  Unter anderem kann diese Verantwortung aus der Ebene der Menschenrechte, des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und des Landesschulrechts abgeleitet werden (ADS, 2018). Doch leider sieht die Realität für die meisten Schüler*innen in Deutschland anders aus. Gemäß dem Journalist Philip Banse ist rund ein Viertel aller Schüler*innen in Schulen mit Diskriminierungserfahrungen konfrontiert (2016). Eine besondere Herausforderung stellen in diesem Zusammenhang Mikroaggressionen dar, da diese durch ihren subtilen Charakter schwer zu erkennen sind.        

Ich möchte mich in diesem Essay demnach ausschließlich auf die Mikroaggressionen beziehen, da ich der Meinung bin, dass diese als subtile Diskriminierungsform schneller übersehen und abgetan werden können, als offensichtliche Angriffe, aber einen ebenso starken Effekt auf betroffene Personen nehmen, welche allerdings seltener und deutlich später Hilfe erhalten. Ausschlaggebend für diesen Essay ist mein zukünftiges berufliches Interesse an der Schulsozialarbeit, um gegenüber Diskriminierungsformen im (Schul-)Alltag zu sensibilisieren und betroffenen Schüler*innen das Gefühl zu geben, dass ihre Sorgen und ihr Problem gesehen und gehört werden, sowie um Hilfsmöglichkeiten zu schaffen.  Ich denke es ist wichtig, die Denkmuster der jungen Menschen schon möglichst früh auf bestehende Stereotype und Vorurteile in der Gesellschaft vorzubereiten und ihnen beizubringen, wie man ihnen entgegentritt und auch andere Menschen sensibilisieren und auf ihre diskriminierenden Verhaltensweisen hinweisen kann. Außerdem möchte ich den Schüler*innen beibringen, ihre Verschiedenheit untereinander wertzuschätzen und als Ressource zu nutzen. Dazu möchte ich jedoch erst einmal tiefgehende Einblicke in die Auswirkungen auf die betroffenen Schüler*innen und möglicherweise auch Täter*innen gewinnen, weshalb ich mich der Frage widme, welche Auswirkungen Mikroaggressionen auf betroffene Schüler*innen haben und wie diese ihren Alltag beeinflussen.

3. Begriffserklärung von Mikroaggressionen

Um über die Auswirkungen von Mikroaggressionen sprechen zu können, muss zunächst der Begriff an sich geklärt werden. Wie bereits im Seminar erwähnt, werden Mikroaggressionen bildlich mit Mückenstichen verglichen, welche zunächst unbedeutend scheinen. Wird eine Person allerdings sehr oft und regelmäßig gestochen, wirken die Stiche schon deutlich belastender, fast schon schmerzhaft (Fusion Comedy, 2017). Ebenso erzeugen häufige Mikroaggressionen im Vergleich dazu Stress und dauerhafte emotionale Belastungen, wenn Personen immer wieder auf dieselben Aspekte reduziert werden und ihre Identität verteidigen müssen (Lots*, 2024). Zudem werden Personen mit verschiedenen Eigenschaften womöglich besonders häufig gestochen und ihre Belastung steigt weiter an, während nicht betroffene Personen das Problem kaum wahrnehmen und wenn herunterspielen (Fusion Comedy, 2017). Langzeitig können sich die Mückenstiche zu schweren Entzündungen entwickeln, welche schwer heilbar sind. Ähnlich wirken die Mikroaggressionen, die sich auf das psychische Wohlbefinden, die Identität und die Lebensqualität der Menschen auswirken.

Fachlich erklärt, können als eine Form der Diskriminierung unter Mikroaggressionen subtile, oft unbewusste oder beiläufige, aber auch bewusste Bemerkungen und Verhaltensweisen in der alltäglichen Kommunikation verstanden werden, die gegenüber einer Person oder Gruppe diskriminierend oder abwertend wirken und von dieser so wahrgenommen werden (Wolf, 2021; Hasters, 2020; Eissa, 2023). Hierzu lassen sich beispielsweise nicht nur verbale Äußerungen, sondern ebenfalls Blicke oder Gesten zählen (Hamaz, 2023). Im Gegensatz zu offensichtlichen und physischen Übergriffen sind Mikroaggressionen schwer wahrnehmbar, insbesondere für nicht betroffene Personen (Eissa, 2023). Die Motivation der Täter*innen lässt sich bei subtilen Formen deutlich schwieriger identifizieren und diese sind sich ihrer eigenen Denkmuster und Handlungen häufig selbst nicht bewusst (Eissa, 2023). Unter anderem führt eine Konfrontation mit dem Thema häufig zu einer Verleugnung und Ablehnung sowie Verharmlosung. So nennt die Bildungsreferentin Samira Eissa als Beispiel, dass viele bei einem Hinweis auf die Mikroaggression statt einer kritischen Selbstreflexion durch die Aussage „man dürfe heutzutage gar nichts mehr sagen“, ihr Verhalten relativieren, welche wahrscheinlich nicht nur ich schon häufiger gehört habe (2023). Auch bei den diskriminierten Personen kann es zu dem Gefühl von eigener Überempfindlichkeit und Verharmlosung der Angriffe kommen, obwohl diese erhebliche Belastungen verursachen.

Der Begriff und die Bedeutung von Mikroaggressionen wurden erstmals in den 1970er Jahren vom Psychologen Chester M. Pierce eingeführt, um alltägliche Beleidigungen an afroamerikanischen Menschen, wie ihm selbst, und wie er sowie diese Personengruppe die bewussten oder unbewussten Angriffe erleben, zu beschreiben (Wolf, 2021). Viele Jahre später im Jahr 2007 prägte Derald Wing Sue ein Professor für Beratungspsychologie an der Columbia University den Begriff und weitete diesen auf die Themenbereiche Rassifizierung, Geschlecht und Sexualität aus (Hamaz, 2023). Er differenzierte zudem in drei verschiedene Formen der Mikroaggressionen, der Mikro-Angriff, die Mikro-Beleidigung und Mikro-Entwertung (Hamaz, 2023; Eissa, 2023; In Diverse Company, 2023). Betroffene Personengruppen sind insbesondere ethnische und kulturelle sowie religiöse Minderheiten, BIPoC, LGBTQ+ Personen, Menschen mit Behinderungen, sozioökonomisch Benachteiligte und verstärkt Personen, die eine Intersektionalität aufweisen, also mehrerer dieser Gruppen angehören (Eissa, 2023; Küpper, 2022).

4. Kritik an der Bedeutung und dem Begriff Mikroaggression

Mikroaggressionen treten häufig in alltäglichen Kontexten wie beispielsweise in Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz oder beim Einkaufen auf und bleiben für viele unbeachtet (Hamaz, 2023). Sowohl in der gesellschaftlichen Praxis als auch in wissenschaftlichen Diskursen finden sie bislang wenig Beachtung, obwohl sie erheblichen Einfluss nehmen. Grund dafür könnte sein, dass das Konzept wissenschaftlich umstritten ist (Wolf, 2021). Im Vordergrund steht der zentrale Kritikpunkt, dass die Einstufung eines Angriffs wesentlich vom Empfinden der diskriminierten Personen abhängt, was wissenschaftliche Analysen durch die starke Subjektivität erschwert (Wolf, 2021). Zudem wird bemängelt, dass ebenso harmlose oder mehrdeutige Aussagen einer Person falsch interpretiert werden können, da die Intention des/der Absender*in nicht immer eindeutig bzw. klar identifizierbar ist. Der Kontext, in dem eine problematische Aussage gemacht wird, sei gemäß Christian Wolfs Artikel entscheidend um einzuschätzen, ob diese abwertend oder diskriminierend gemeint ist (2021). Eine pauschale Klassifizierung alltäglicher Erfahrungen als Mikroaggressionen birgt nach den Kritiker*innen die Gefahr einer Überpathologisierung, weshalb diese fordern, rassistische oder negative Absichten klar nachzuweisen, um das Konzept wissenschaftlich fundiert anzuwenden (Wolf, 2021). Aus persönlicher Perspektive möchte ich hier hinzufügen, dass ich der Meinung bin, dass jede Aussage, die dazu führt, dass sich eine Person herabgestuft, diskriminiert oder angegriffen fühlt, auch als eine problematische Aussage behandelt werden sollte, da sie starken Einfluss auf das Wohlbefinden der betroffenen Personen nehmen kann. Es möchte schließlich der Verharmlosung gegenüber diesen entgegengewirkt werden, was nur funktionieren kann, wenn jede Aussage die als Angriff empfunden wird, auch ernst genommen wird. Die Sozialpsychologin Beate Küpper betont in diesem Zusammenhang, dass Rassismus nicht nur ein Thema individueller Entscheidung sei, sondern eine strukturelle Realität darstellt, die betroffene Personen unweigerlich erleben müssen (2022). Sie formuliert: „Während die einen die Macht haben, zu entscheiden, ob und wann sie sich dem Thema Rassismus zuwenden möchten, auch, inwieweit sie ihn ausspielen, sind die anderen ihm ausgesetzt, müssen sich notgedrungen damit beschäftigen, ob sie wollen oder nicht (Küpper, 2022, o.S.).“ Dieses Zitat verdeutlicht, dass Rassismus für nicht betroffene Personen oft eine Frage der Wahl ist, während betroffene Menschen gezwungen sind, sich mit den Auswirkungen von Diskriminierung auseinanderzusetzen. Daraus ergibt sich die politische, gesellschaftliche und persönliche Verantwortung, Rassismus ernst zu nehmen und ihm konsequent entgegenzutreten, insbesondere von Seiten derjenigen, die privilegiert sind und nicht direkt von Rassismus betroffen sind. Hinsichtlich dieser Perspektive kann schließlich ebenfalls die Kritik von Samira Eissa einbezogen werden. Gemäß ihr sollte ebenfalls die Bezeichnung „Mikro“ aus einer kritischen Perspektive betrachtet werden, da diese wörtlich übersetzt mit etwas Kleinem assoziiert werden kann (Eissa, 2023). Doch ein rassistischer Übergriff, ob verbal oder nonverbal, offen oder subtil, sollte nicht als „weniger schlimm“ oder „klein “ eingestuft werden. Dies könnte nach ihr auf ein hierarchisches System hindeuten, welches Diskriminierung in „Schweregrade“ einteilt, obwohl jede Form von Rassismus, Klassismus, Sexismus etc. schwerwiegende Auswirkungen auf den Alltag und das Selbst der betroffenen Personen nimmt (Eissa, 2023). Dennoch bietet diese Begrifflichkeit eine hilfreiche Grundlage, um subtile Formen von Rassismus sichtbar zu machen und um diesen gegenüber ein Bewusstsein zu schaffen.

5. Auswirkungen auf die Schüler*innen

Anhand hypothetischer und erfahrungsbasierter Beispiele subtiler Diskriminierungserfahrungen von Schüler*innen soll im Folgenden beleuchtet werden, wie Mikroaggressionen das Wohlbefinden und den Schulalltag betroffener Personen beeinflussen. 

Mikroaggressionen können sowohl von Schüler*innen untereinander, als auch von Lehrkräften gegenüber Schüler*innen ausgehen und sind Teil der Alltagskommunikation. Sie haben schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit, auf das Wohlbefinden und die Identität bzw. Selbstwahrnehmung der diskriminierten Menschen.  Darüber hinaus beeinflussen sie die Bildungsteilhabe, Motivation und Leistung der Schüler*innen, was sich wiederum auf deren zukünftige Chancen und Laufbahnen auswirkt.

Eine bedeutsame Wirkung im Schulkontext haben dabei die Leistungserwartungen der lehrenden Personen gegenüber den Schüler*innen, auch bekannt als Erwartungseffekt (Yegane et al., 2020). Je nachdem, ob positive oder negative Erwartungen seitens des sozialen Umfelds sowie der Lehrkräfte bestehen, können Schüler*innen in ihren eigenen Kompetenzen entweder gefördert oder gehemmt werden und Selbstvertrauen gewinnen oder verlieren (Yegane et al., 2020). Insbesondere bei stigmatisierten Gruppen zeigt sich, dass Lehrkräfte ihre Fähigkeiten entgegen ihrer eigentlichen schulischen Kompetenzen als geringer einschätzen, was häufig auf stereotype Vorstellungen zurückzuführen ist (Yegane et al., 2020).

Beispielsweise könnte die Mikroaggression herangezogen werden, dass Lehrer*innen die Noten der Kinder mit Migrationshintergrund aufgrund der Vor- oder Nachnamen in deutschsprachigen Unterrichtsfächern insgesamt schlechter erwarten, da sie die Vorannahme haben, dass die Muttersprache nicht deutsch ist und sie deswegen schlechtere sprachliche Kenntnisse haben müssen, obwohl die Fähigkeiten genau dieselben sind. Unter anderem wäre ein weiteres Beispiel zu Geschlechterrollen, welches ich selbst erlebt habe, dass Schülerinnen im Mathe Unterricht auffällig seltener drangenommen und häufiger bei Fragen ignoriert werden als Schüler, da die Lehrkraft Männern vermutlich eine höhere mathematische Kompetenz zuschreibt. Durch solche unterschiedlichen Leistungserwartungen, die auf stigmatisierenden Eigenschaften und Vorurteilen basieren, wird die Motivation, Konzentrationsfähigkeit und Leistung der Schüler*innen negativ beeinflusst (Terodde, 2023). Eine gleichberechtigte Bildungsteilhabe bleibt dadurch unerreichbar. Zudem wird das Selbstbild der betroffenen Gruppen oder Personen langfristig geschädigt, indem sie ihre eigenen Fähigkeiten infrage stellen und ihre Möglichkeiten zur Entfaltung ihres Potenzials begrenzt werden (Yegane et al., 2020). Dadurch sinkt nicht nur der Lernerfolg, sondern betroffene Menschen achten auch zukünftig bei ihrer Berufswahl darauf, dass sie in Berufsfelder gehen, bei denen sie mit weniger Vorurteilen konfrontiert sein werden (ADS, 2018).  Spannend zu erwähnen ist meiner Meinung nach auch, dass nicht nur die unmittelbar betroffenen Personen der Mikroaggressionen die damit verbundenen diskriminierenden Verhaltensweisen und negativen Auswirkungen erleben (Braun, 2024). Laut der Politikwissenschaftlerin Anja Braun werden auch stellvertretende Personen, welche die Situation beobachten und sich mit dem/der diskriminierten Person identifizieren können, durch die Angriffe beeinflusst (2024). Grund dafür ist, dass die beobachtete Situation auch Rückschlüsse auf die eigene gesellschaftliche Position und mögliche Marginalisierung zulässt, wodurch sie oft als direkte persönliche Bedrohung oder Betroffenheit wahrgenommen wird (Braun, 2024). Außerdem können Mikroaggressionen den sogenannten Stereotype Threat aktivieren, welcher die Angst von Schüler*innen bezeichnet, bestehende negative Stereotype über die eigene soziale Gruppe zu bestätigen (Yegane et al., 2020). Beispiel für eine Mikroaggression könnte hier sein, dass eine Lehrkraft einem Schüler mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund einen Ratschlag wie: „Mach dir keine Sorgen, du wirst es auch ohne Studium sicher weit bringen“, gibt. Diese Aussage impliziert, dass Schüler*innen aus sozial benachteiligten Verhältnissen seltener akademischen Erfolg erreichen. Der/Die Schüler*in fühlt sich entmutigt, eingeschüchtert und hat Angst das ihr Verhalten und ihre Leistungen diese Vorannahme bestätigen werden (ADS, 2018; Hamaz, 2023). Diese Sorgen beeinflussen dann tatsächlich die schulischen Leistungen und führen dazu, dass die Schule als ein bedrohendes Umfeld wahrgenommen wird (Yeganeet al., 2020; ADS, 2018). Bei vermehrten solcher Erfahrungen kann es durch soziale Isolation und Schulwechsel zu dem Verlust des sozialen Umfelds kommen (ADS 2018). Zudem führt der Druck durch Stereotype bei Leistungsbewertungen zu einer geringeren Identifikation mit schulrelevanten Bereichen, um den eigenen Selbstwert zu schützen (Yegane et al., 2020). Mikroaggressionen nehmen allerdings auch starke Auswirkungen auf die Gesundheit. Nehmen wir als Beispiel eine freie Sitzauswahl in der Klasse, bei der sich Schüler*innen häufig von einer Mitschülerin wegsetzen, die ein Kopftuch trägt. Diese Verhaltensweise vermittelt unterschwellig die Botschaft, dass sie aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes oder ihrer kulturellen Zugehörigkeit ausgeschlossen wird. Im Gegensatz zu offensichtlichen Angriffen, können diese subtilen Diskriminierungsformen als Verschulden der eigenen sozialen Rolle der Person interpretiert werden und soziale Isolation, aber auch emotionale Belastungen auslösen (Yegane et al., 2020). Beginnen Schüler*innen die negativen Stereotype zu verinnerlichen, wird ebenfalls ihre Selbstwahrnehmung negativ beeinflusst (Peşmen, 2018). Es wird durch Mikroaggressionen die Identität eines Menschen infrage gestellt und sie drängen diesen dazu sich gegenüber Vorannahmen erklären und rechtfertigen zu müssen, um diese richtigzustellen (Peşmen, 2018). Dies kann nicht nur sehr kraftraubend sein, sondern gibt den betroffenen Personen auch ein Gefühl von Minderwertigkeit und führt zu einem geringen Selbstwert. Durch die mehrfache Herabsetzung und Diskriminierung entsteht ein Gefühl der Entfremdung, welches eine Grenze zwischen einen konstruierten „Wir“ und „den Anderen“ etabliert, auch bezeichnet als „Othering“ (ADS, 2018). Wenn Diskriminierung häufig bzw. chronisch erlebt wird, dann können die körpereigenen Stresssysteme durch den immer wiederkehrenden Stress aus der Balance kommen (Hamaz, 2023). Dieses Ungleichgewicht kann zum Entstehen von psychischen Störungen und körperlichen Krankheiten beitragen (Hamaz, 2023). Es können Angstzustände, Erschöpfungssymptome und Depressionen auftreten (Yegane et al., 2020; Hamaz, 2023; Peşmen, 2018). Zudem wird das Immunsystem auf Dauer geschwächt und es kann durch den permanenten Stress zu Bluthochdruck, Herzerkrankungen und stressbedingte physische Krankheiten kommen (Chancengerechtigkeit und Vielfalt Ulm, o.D.). Spannend ist zudem, dass die Täter*innen der Mikroaggressionen ebenfalls Auswirkungen durch ihr Verhalten erleben und diese ihnen schaden können. Gemäß Sofia Hamaz leidet bei mikroaggressivem Verhalten einer Person die Fähigkeit Empathie und Mitgefühl zu entwickeln und gegenüber anderen zu zeigen (2023). Beispielsweise könnte ein Schüler zu einem Mitschüler im Rollstuhl sagen, dass es sehr inspirierend ist, dass er überhaupt zur Schule kommt. Auch hier ist die Mikroaggression subtil und die Aussage wirkt zunächst anerkennend. Dennoch reduziert der Täter den Menschen auf seine Einschränkung und stellt die Teilnahme am normalen Alltag als eine Besonderheit dar. Der Kommentar zeigt, dass der Täter kein echtes Verständnis für die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen hat und an seiner Empathiefähigkeit arbeiten muss.

6. Fazit

Abschließend lässt sich festhalten, dass Mikroaggressionen trotz ihrer unbewussten, beiläufigen Natur tiefgreifende Auswirkungen auf die Identität und das Wohlbefinden haben.

Sie verstärken Prozesse des Othering, indem sie betroffene Personen subtil ausgrenzen und sie als „anders“ oder „nicht dazugehörig“ markieren. Dieses Othering führt dazu, dass soziale Barrieren entstehen, die nicht nur das Gefühl der Zugehörigkeit, sondern auch die Möglichkeit eines gleichwertigen Miteinanders beeinträchtigen. Zudem werden die psychische und physische Gesundheit der Schüler*innen langzeitig belastet. Auch im schulischen Umfeld sind die Folgen weitreichend. Sowohl die Motivation und Konzentrationsfähigkeit der Schüler*innen wird negativ beeinflusst, als auch die damit einhergehende Leistungsfähigkeit. Dadurch, dass die individuelle Bildungs- und Leistungschancen eingeschränkt sein können, werden auch das Entwicklungspotenzial und die Zukunftsaussichten der jungen Personen nachhaltig gehemmt. Es ist wichtig noch einmal hervorzuheben, dass nicht nur die direkt betroffenen Personen, sondern auch beobachtende Dritte negative Effekte erleben können. Zudem wirken sich die Mikroaggressionen ebenfalls negativ auf die Lebensqualität der Täter*innen aus. Besonders problematisch ist, dass Mikroaggressionen oft übersehen oder verharmlost werden, was die Isolation der diskriminierten Personen verstärkt und den Zugang zu Unterstützung erschwert. Gleichzeitig zeigen sie, wie stark gesellschaftliche Machtverhältnisse und Diskriminierungsstrukturen auch im schulischen Alltag präsent sind. Das Wissen über die Auswirkungen stellt eine wesentliche Grundlage dar, um gezielt Veränderungen im schulischen Umfeld zu bewirken und eine inklusive sowie respektvolle Schulkultur zu fördern. Durch gezielte Aufklärungsarbeit und Schulungen für Lehrkräfte und pädagogisches Personal kann ich hoffentlich zukünftig dazu beitragen, ein Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen und die Auswirkungen von Mikroaggressionen in der täglichen Interaktion zu reduzieren. Darüber hinaus möchte ich durch individuelle Beratungen und Gruppenangebote das Selbstbewusstsein der Schüler*innen stärken und ihnen helfen, ihre Identität in einem respektvollen und wertschätzenden Umfeld zu entwickeln. Indem ich auf eine offene Kommunikation und den Abbau von Barrieren hinwirke, will ich das Zugehörigkeitsgefühl der Schüler*innen fördern und so die soziale Integration sowie das gemeinsame Miteinander verbessern. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, dass Schulen sich ihrer Verantwortung bewusstwerden, ein diskriminierungsfreies Umfeld für alle Schüler*innen zu schaffen.

7. Quellen- und Literaturverzeichnis

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.). (2018). Diskriminierung an Schulen

erkennen und vermeiden (3. Auflage). Praxisleitfaden zum Abbau von Diskriminierung in der Schule. Berlin: Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

Banse, P. (2016). Gegen Diskriminierung an Schulen. Verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/berlin-gegen-diskriminierung-an-schulen-100.html#:~:text=Rund%20ein%20Viertel%20aller%20Schülerinnen,auch%20viele%20Lehrer%20sind%20betroffen.

Braun, A. (2024). So beeinträchtigt Diskriminierung die psychische Gesundheit. Verfügbar unter: https://www.swr.de/wissen/diskriminierung-verschlechtert-psychische-gesundheit-100.html

Chancengerechtigkeit und Vielfalt Ulm (o.D.). Folgen von Diskriminierung. Verfügbar unter: https://chancengerechtigkeitundvielfalt.ulm.de/antidiskriminierung/informationen-rund-um-das-thema-diskriminierung/folgen-von-diskriminierung

Eissa, S. (2023). Mikro-Aggressionen. In B. Aygün, P. Bühler, R. Darabos, S. Eissa, I. Hagen-Jeske, I. H. Hans, M. A. Kanbur, F. M. Moukara, S. Ogiemwonyi (Hrsg.), RassisMuss MachtKritisch (S.105-120). Norderstedt: Books on Demand GmbH.

Fusion Comedy. (2017). How microaggressions are like mosquito bites – Same Difference [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=hDd3bzA7450

Hamaz, S. (2023). Mikroaggressionen in der Schule. Erkennen-bennen-abbauen. Berlin: BQN Berlin e.V..

Hasters, A. (2020). Mückenstiche mit System.  Zum Umgang mit Alltagsrassismus. Verfügbar unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antirassismus-2020/316756/mueckenstiche-mit-system/

In Diverse Company. (2023). The What, How and Why of Microaggressions [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=n5U1pN56njE

Küpper, B. (2022). Was ist Alltagsrassismus? Von Mikroaggressionen bis hin zu Gewalt. Politik & Kultur, 07-08, o.S..

Lots*.(2024). Was sind Mikroaggressionen? [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=n5U1pN56njE

Peşmen, A. (2018). Wie tausend kleine Mückenstiche. Verfügbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/rassismus-macht-den-koerper-krank-wie-tausende-kleine-100.html

Terodde, R. (2023). NO GO! Handliche Informationen zum Thema Diskiriminierung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung [Broschüre]. Greifswald: Universität Greifswald.

Wolf, C. (2021). Mikroaggressionen. Wie tausend kleine Mückenstiche. Spektrum Kompakt, 35, o.S.. 

Yegane, A., Uslucan, H., Karakayali, J., Jacobs, M., Volkholz, S. & Brendebach, M. (2020). ADAS /LIFE e.V. (Hrsg.). Schutz vor Diskriminierung an Schulen. Ein Leitfaden für Schulen im Land Berlin. Berlin: LIFE e.V..


Quelle: Chiara Schuri, Diskriminierung an Schulen: Welche Auswirkungen haben Mikroaggressionen auf betroffene Schüler*innen und wie beeinflussen diese ihren Alltag? in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=491

Gender und sexuelle Dysfunktion

Zusammenhang und Auswirkung

Anonym (WiSe 2024/25)

Einleitung

Viele Menschen leiden unter einer sogenannten „sexuellen Dysfunktion“. Dabei wird aufgrund von körperlichen oder psychischen Ursachen das Ausleben der eigenen Sexualität erschwert oder verhindert und es entsteht bei den Betroffenen Leidensdruck. [1]

In der Forschung gibt es bereits einiges an Wissen über sexuelle Dysfunktionen bei Cis-Männern und auch bei Cis-Frauen wurden bereits große Fortschritte erzielt.[2] Bei marginalisierten Gruppen wie Transgender Personen und Non-Binären, sowie Genderqueeren Personen sind leider noch deutliche Lücken in der Forschung zu bemängeln. [3] [4]

Die eigene Sexualität gesund ausleben zu können ist dabei nachgewiesen eine Voraussetzung für viele Menschen, ein gesundes und glückliches Leben führen zu können. Wenig überraschend ist folglich, dass Depressionen eine mögliche Folge von unbehandelten sexuellen Funktionsstörungen sein können.[5]

Sexuelle Dysfunktion kann je nach körperlichen und psychischen Voraussetzungen unterschiedlich bei den Geschlechtern auftreten.[6] [7] In diesem Essay soll auf den Zusammenhang zwischen sexueller Dysfunktion und Gender eingegangen werden. Die binäre Aufteilung in Mann und Frau wird dabei nicht allen Betroffenen von sexuellen Dysfunktionen gerecht. Marginalisierten Gruppen, wie Transpersonen oder on-Binären und Genderqueeren Personen, werden von dieser binären Aufteilung außenvor gelassen.

In vielen der verwendeten Quellen ist von „Mann“ und „Frau“ die Rede und es wird meist nicht genauer definiert, wer gemeint und wer nicht mit einbezogen wird. In den entsprechenden Teilen des Essays werde ich von daher diese Formulierung übernehmen, da es schwierig ist, mit Sicherheit zu sagen, dass beispielsweise ausschließlich Cis-Männer und Cis-Frauen gemeint sind, wenn dies nicht deutlich ausgedrückt wurde. In den Teilen des Essays in denen ich meine Meinung wiedergebe werde ich versuchen, möglichst präzise und angemessene inklusive Sprache zu verwenden.

Im Fazit werde ich meine eigene Meinung wiedergeben und in der Reflexion meinen eigenen Arbeits- und Lernprozess reflektieren. Dementsprechend werde ich teilweise aus der Ich-Perspektive schreiben. Ich habe mich dazu entschieden dem Fazit auch einen Reflexionsteil anzufügen, da ich es interessant fand, wie sich meine eigene Sichtweise beim Schreiben des Essays verändert hat.

Was ist eine sexuelle Funktionsstörung bzw. eine sexuelle Dysfunktion?

Bei einer sexuellen Dysfunktion wird das Ausleben einer sexuellen Beziehung bei der betroffenen Person erschwert oder verhindert.[8] 43% der Frauen und 30% der Männer leider unter sexuellen Problemen. Bei 12% von ihnen werden die diagnostischen Kriterien erfüllt, um eine Störung zu diagnostizieren.[9]

Die ICD-11 unterscheidet bei der sexuellen Dysfunktion zwischen vier Sub-Kategorien. Die Dysfunktion verminderten sexuellen Verlangens, die Dysfunktion der sexuellen Erregung, die Dysfunktionen des Orgasmus, sowie die Dysfunktionen der Ejakulation. Diese Sub-Kategorien haben weitere Sub-Kategorien in welchen teilweise zwischen Männern und Frauen unterschieden wird.[10]

Während in der ICD-10 noch zwischen organischer und nicht-organischer sexueller Dysfunktion unterschieden wurde, wird in der ICD-11 beides in einem Kapitel zusammengeführt.[11]

Physische und psychische Umstände können eine sexuelle Funktionsstörung verursachen. Aus dieser können weitere psychische Probleme wie Depressionen folgen. Allgemein kann das psychische Wohlbefinden die sexuelle Funktion eines Menschen beeinflussen. Depressionen, Ängste, Wut, Schuldgefühle und Trauma sind einige der psychischen Faktoren, welche einen negativen Einfluss auf das sexuelle Wohlbefinden einer Person haben können.[12] 

Depression und sexuelle Dysfunktion

Depressionen und sexuelle Dysfunktion kommen häufig Hand in Hand und zeichnen sich durch ihre relativ häufige Verbreitung aus. Eine sexuelle Dysfunktion kann unter anderem Symptom und Ursache einer Depression sein. Die Zusammenhänge zwischen den beiden Erkrankungen sind durch viele Studien untersucht und belegt.[13]

Während ungefähr ein Drittel der nicht medikamentös behandelten depressiven Patienten von einer negativen Auswirkung ihrer Depression auf ihre Sexualität sprechen, sind es bei der Gesamtzahl der depressiven Patienten über die Hälfte bis hin zu 90% der Betroffenen, welche über eine Beeinträchtigung ihrer Sexualität berichten. Bedingt wird dies unter anderem durch die oftmals medikamentöse Behandlung von Depressionen. Diese Antidepressiva haben vielfach Nebenwirkungen, welche die sexuelle Gesundheit der Patienten beeinflusst. Schwindendes Interesse an sexueller Aktivität ist dabei die häufigste Nebenwirkung. Bei als männlich eingeordneten Personen sind Depressionen einer der größten möglichen Ursachen für Erektionsstörungen.[14]

Folglich ist es wichtig bei einem betroffenen Patienten nicht nur die Depression zu behandeln, sondern wenn vorhanden auch die sexuelle Dysfunktion. Um die Lebensqualität von Individuen mit Depressionen oder sexuellen Dysfunktionen zu verbessern ist es zudem sinnvoll, regelmäßig zu überprüfen, ob sich eine sexuelle Dysfunktion oder eine Depression, wenn das jeweils andere vorhanden ist, bildet, um dann zeitnah eingreifen zu können.[15]

Anzumerken ist allerdings, dass eine Depression nicht unbedingt lustmindernd wirken muss. Bei einigen depressiven, als männlich eingeordneten Personen, kommt es zu erhöhter sexueller Aktivität. Dies könnte eine Art Copingstrategie sein, um mit der Depression umzugehen. In vielen Fällen lassen die sexuellen Probleme nach dem Rückgang der Depression nach.[16]

Sexuelle Dysfunktion bei Männern

Sexuelle Dysfunktionen treten bei Männern häufig auf. Es ist allerdings schwierig genau zu bestimmen wie verbreitet sie auftreten, da unterschiedliche Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Bei einer Auswahl von Studien über die erektile Funktion bei Männer nach einer Prostataentfernung, konnten über 20 unterschiedliche Definitionen für eine erektile Dysfunktion festgestellt werden. Als Folge lag der Anteil von adäquater erektiler Funktion bei den Beteiligten zwischen 25 und 78%.[17]

Die wohl verbreiteteste sexuelle Dysfunktion bei Männern ist die frühzeitige Ejakulation. Dabei haben die Betroffenen wenig bis keine Kontrolle über den Zeitpunkt ihrer Ejakulation und kommen aus eigener Sicht zu früh zum Höhepunkt. Ungefähr 30% der Männer leider darunter. Es ist schwierig die frühzeitige Ejakulation genau zu definieren, da es unmöglich ist genau festzulegen ab wann eine frühzeitige Ejakulation zeitlich vorliegt.[18]

Mangelnde sexuelle Lust, Unfähigkeit zur Ejakulation und die Unfähigkeit einen Orgasmus zu erreichen sind weitere mögliche sexuelle Funktionsstörungen bei Männern.[19]

Sexuelle Dysfunktion bei Frauen

Es konnte in den letzten Jahrzehnten deutlich mehr Wissen über sexuelle Dysfunktionen bei Frauen erlangt werden. Bei Frauen fallen unter anderem Libidostörung, Erregungs- und Orgasmusstörungen, Lubrikationsstörungen, sowie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr unter die Kategorie der sexuellen Dysfunktion. Der „National Health and Social Life Survey“ zufolge haben 43% der Frauen in der Altersgruppe der 18–59-Jährigen mit einer sexuellen Dysfunktion zu kämpfen. Insgesamt schätzt man mit einer Verbreitung von zwischen 22 und 49%.[20]

Bestimmte sexuelle Funktionsstörungen nehmen im Alter zu. So ist die sexuelle Appetenz Störung in Europa bei Frauen im Alter deutlich verbreiteter. Bei dieser fehlt es den betroffenen unter anderem an sexuellem Interesse. Voraussetzung um den Mangel an sexuellem Interesse als Störung einzuordnen ist, dass die Person dadurch einen Leidensdruck verspürt. Zudem lässt sich die Diagnose in unterschiedliche Kriterien unterteilen. Dabei wird eingeordnet, ob die Störung dauerhaft vorhanden oder erworben ist, ob sie generalisiert oder situationsabhängig auftritt und ob es eine organische oder psychische Ursache gibt.[21]

Die möglichen Ursachen für die entstehen einer sexuellen Funktionsstörung bei Frauen sind vielfältig. Hormone spielen im menschlichen Körper eine vielfältige Rolle und beeinflussen unter anderem die Sexualität. Die Menopause kann bei betroffenen zum Beispiel durch den veränderten Hormonhaushalt die Entstehung einer sexuellen Funktionsstörung begünstigen.[22]

Gesundheitliche und psychosoziale Faktoren können auch verantwortlich für das Entstehen einer sexuellen Dysfunktion sein. Chronische Erkrankungen und Medikamente können zum Beispiel die sexuelle Gesundheit verschlechtern. Frauen, die zum Beispiel eine negative Wahrnehmung ihrer Sexualität internalisiert haben, haben ein hohes Risiko eine sexuelle Funktionsstörung zu entwickeln. Ängste sind ein weiterer Faktor. Während sich bei Männern eher Ängste bezüglich der sexuellen Performance bestehen, haben Frauen oft eher Ängste im Bereich der Selbstwahrnehmung ihrer körperlichen sexuellen Attraktivität.[23]

Transgender Personen

Individuen mit einer Geschlechtsdysphorie identifizieren sich nicht mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht und empfinden folglich einen Leidensdruck. Umgangssprachlich ist hierbei oft von Transgeschlechtlichkeit oder Transidentität die Rede.[24] 

Die Geschlechtsdysphorie macht es für Trans Personen oft schwierig ihre Sexualität auszuleben. Ein hohes Risiko sexuelle Gewalt zu erleben, sowie teilweise internalisierte Transphobie stellen weitere Hürden für Trans Personen dar, ihre sexuelle Gesundheit zu verbessern.[25]

Während in der Vergangenheit die Sexualität von Transmenschen wenig Beachtung in der Forschung gefunden hat, gab es in letzter Zeit diesbezüglich einen Wandel. Mit steigendem Bewusstsein für die Wichtigkeit eines gesunden Sexuallebens für die Gesundheit von vielen Individuen, ist auch das Bewusstsein für die Wichtigkeit eines gesunden Sexuallebens bei Transmenschen gewachsen.[26]

Studien über die sexuelle Funktion bei Trans Personen haben sich bisher häufig auf die sexuelle Funktion nach der geschlechtsangleichenden Operation und Hormontherapie bezogen. Eine systematische Auswertung von 28 Studien kam zu dem Ergebnis, dass 63%% der Transfrauen nach einer Hormontherapie und einer Geschlechtsangleichenden Operation eine deutliche Verbesserung ihrer sexuellen Funktionsfähigkeit wahrnehmen. Folge Studien verweisen zudem auf höhere sexuelle Aktivität, höhere Zufriedenheit mit dem Orgasmus und geringere Schmerzen nach der geschlechtsangleichenden Operation bei Transfrauen. Es kam allerdings auch zu einer Verringerung des sexuellen Verlangens bei vielen der Betroffenen, wobei die Häufigkeit von einer Störung des sexuellen Verlangens bei Transfrauen etwa der von Cisgender Frauen entsprach.[27]

Der Forschungsstand bei Transmännern ist diesbezüglich noch schwächer als bei den Transfrauen. Hormontherapie und eine Geschlechtsangleichende Operation führten aber auch bei Transmännern zu verbesserter sexueller Gesundheit. Die Behandlung führte hier in vielen Fällen zu verbesserten sexuellen Gesundheit und einem Anstieg in sexuellen Bedürfnissen, sowie vermehrter sexueller Aktivität.[28]

Auch wenn die Hormontherapie und die geschlechtsangleichende Operation als Mittel die sexuelle Gesundheit vieler Trans Personen verbessert, gibt es in einigen Fällen auch nach diesen Eingriffen bei einigen der Betroffenen weiterhin sexuelle Dysfunktionen. In Bezug auf sexuelle Dysfunktionen nach der Behandlung fehlt es an groß angelegten Studien, um aufzuzeigen wie verbreitet diese sind.[29]

So bleibt es für viele Transpersonen weiterhin schwierig eine sexuelle Beziehung einzugehen und sexuellen Kontakt zu suchen.[30]

Non-Binäre und Genderqueere Personen

Während es bei Transpersonen oft um die Einordnung in männlich und weiblich geht, gibt es auch Personen, die sich weder dem männlichen oder weiblichen Spektrum zuordnen. Während ein Teil dieser Personen sich auf dem Spektrum von männlich und weiblich zwischen diesen einordnen, gibt es andere, die sich als völlig außerhalb dieses Spektrums liegend sehen. Diese Menschen bezeichnen sich meist als Non-Binär und/oder Genderqueer.[31]

Eine niederländische Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass 4,6% der Personen die nach ihrer Geburt als männlich eingestuft wurden und 3,2% der Personen die nach ihrer Geburt als weiblich eingestuft wurden, Unsicherheiten bezüglich ihres Geschlechts verspüren.[32]

Trotz der Einordnung der WHO von sexueller Gesundheit als wichtigen Teilaspekt für die Lebensqualität eines Individuums, gibt es einen deutlichen Mangel an quantitativen Studien bezüglich der sexuellen Gesundheit bei Non-Binären und Genderqueeren Personen.[33]

Eine Online-Umfrage aus dem Jahr 2020 versucht die sexuelle Gesundheit von Non-Binären und Genderqueeren Personen mit denen von binären Transpersonen und Cisgender Personen zu vergleichen.[34] In vielen Hinsichten überschneiden sich die Probleme der Non-Binären und Genderqueeren Personen mit denen der binären Transgender Personen.[35] Sexuelles Selbstbewusstsein in Bezug auf den eigenen Körper wurde in binären Transpersonen und Non-Binären und Genderqueeren Personen niedriger gemessen als bei Cisgender Personen. Dies deckt sich auf mit den Ergebnissen anderer Forschung.  In Bezug auf die transspezifischen Körperwahrnehmung schnitt die Gruppe der von Non-Binären und Genderqueeren Personen schlechter ab als die binäre Transpersonen Gruppe.[36]

Fazit

Es wird deutlich, dass sexuelle Dysfunktionen für alle Gender ein Problem darstellen. Während es beispielsweise zwischen Cis-Frauen und Cis-Männern entsprechend ihrer körperlichen Voraussetzungen und gesellschaftlicher Normen teilweise unterschiedliche sexuelle Dysfunktionen auftreten, gibt es doch auch deutliche Überschneidungen. Depressionen als verbreitete Folge und Ursache sexueller Dysfunktion bei allen betroffenen Gruppen zeigt deutlich die Wichtigkeit für alle Gruppen das Thema mit Ernsthaftigkeit anzugehen.

Der Fakt, dass die ICD-11 lediglich zwischen Mann und Frau unterscheidet, macht ein weiteres Mal deutlich, dass Transpersonen und Non-Binäre, sowie Genderqueere Personen nicht ausreichend inkludiert werden. Das organische und nicht organische Ursachen für sexuelle Dysfunktionen zusammengelegt werden, ist grundsätzlich eine positive Entwicklung, da das Thema nun ganzheitlicher betrachtet werden kann.

Es ist davon auszugehen, dass wenn in der ICD-11 oder anderen Quellen zwischen Mann und Frau unterschieden wird, von Cis-Männern und Cis-Frauen die Rede ist. Diese Unterteilung bleibt unzureichend, da sie nicht ausreichend für Menschen aufkommt, welche sich nicht mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Da es für diese Menschen umso schwieriger sein kann ihre Sexualität auszuleben, können sexuelle Dysfunktionen ein umso größeres Problem darstellen.

Deutlich wurde mir auch, dass sich die sexuelle Gesundheit in vielen Fällen verbessern lässt und nicht immer von Dauer sein muss. Die Verbesserung der sexuellen Gesundheit bei Transpersonen durch geschlechtsangleichende Operationen und eine Hormontherapie unterstreicht wie viel Auswirkung medizinische Unterstützung für diese Gruppen haben kann. Leider gibt es noch zu viele Lücken in der Forschung, obwohl ja ein durchaus nennenswerter Teil der Gesellschaft Unsicherheiten bezüglich des eigenen Geschlechts verspürt. Unabhängig davon hat jede dieser Personen das Recht auf ein gesundes Sexualleben und wir als Gesellschaft sollten unser Bestes geben, um jeder Person ein solches zu ermöglichen. Um dies zu erreichen, benötigt es einen gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Inklusion und verstärkte Bemühungen auch zugunsten kleinerer Gruppen zu forschen.

Reflexion

Beim Schreiben dieses Essays kam ich zum Nachdenken über einige Themen, mit denen ich sonst wenig konfrontiert werde. Die Bedeutung eines gesunden Sexuallebens war mir zwar bereits teilweise bewusst, allerdings wurde mir verdeutlicht, wie sehr dieses Thema nahezu alle Gruppen betrifft, unabhängig von Geschlecht oder hohem Alter.

Zudem hat sich mir verdeutlicht, dass neben den organischen Ursachen für sexuelle Dysfunktionen, die psychischen Ursachen eine enorme Rolle spielen können und das gesellschaftliche Umfeld, dass wir schaffen, einen großen Einfluss auf das psychische Empfinden von allen Menschen unserer Gesellschaft hat.

Besonders hinterfragt habe ich beim Schreiben des Essays die oft verwendete Trennung zwischen „Mann“ und „Frau“. Auch eine Non-Binäre Person, menstruiert unter Umständen, aber identifiziert sich vielleicht nicht als Frau. Diese Person ist dann trotzdem von den hormonellen Folgen der Menstruation betroffen und möglicherweise auf Hilfe angewiesen. Sucht sie nun beispielsweise Online nach Hilfe, wird sie wahrscheinlich der Unterteilung von Mann und Frau begegnen und sich nicht inkludiert fühlen. Auch wenn einige für einen Teil der Gesellschaft an der Einteilung von Mann und Frau festhalten wollen, sollte es zumindest neben den Kategorien Mann und Frau auch Kategorien für beispielsweise Transpersonen, Non- Binäre Personen und Genderqueere Personen geben. Eine Anpassung des Kapitels der sexuellen Dysfunktion in der ICD-11um diese Gruppen zu inkludieren könnte ein Anfang darstellen diese Situation zu verbessern.

Quellen:

Berner, M., Psychopharmakaassoziierte sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung, in: Nervenarzt, Col. 88, 2017-05. S. 459-465.

Briken, Peer; Matthiesen, Silja; Pietras, Laura; et al., Prävalenzschätzungen sexueller Dysfunktion anhand der neuen ICD-11-Leitlinien, in: Deutsches Ärzteblatt, 39/2020, https://www.aerzteblatt.de/archiv/215853/, Stand: 06.02.2025.

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung, https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html, Stand: 06.02.2025.

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[1] Jimbo, Masaya, Überblick über die Sexualfunktion und sexuelle Funktionsstörungen bei Männern, in: MSD Manual Ausgabe für Patienten, 2024, https://www.msdmanuals.com/de/heim/gesundheitsprobleme-von-m%C3%A4nnern/sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-m%C3%A4nnern/%C3%BCberblick-%C3%BCber-die-sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-m%C3%A4nnern, Stand: 05.02.2025.

[2] Korda, J. B., Weibliche sexuelle Dysfunktion, in: Gynäkologe Berlin, Vol. 41, 2008-12, S.1006.

[3] Kerckhof, Mauro E.; Kreukels, Baudewijntje P.C.; Nieder, Timo O.; et al., Prevalence of Sexual Dysfunctions in Transgender Persons: Results from the ENIGI Follow-Up Study, in: Journal of sexual medicine, Vol 16, 2019-12, S. 2019.

[4] Kennis, Mathilde; Duecker, Felix; T’Sjoen, Guy, et al., Mental and sexual well-being in non.binary and genderqueer individuals, in: International Journal of transgender health, Vol.23, 2022, S.442f.

[5] Hartmann, Uwe, Depressionen und sexuelle Funktionsstörungen: Aspekte eines vielschichtigen Zusammenhangs, in: Psychiatrische Praxis, Vol.34, 2007-09, S. 314.

[6] Jimbo 2024.

[7] Conn, Allison; Hodges, Kelly R., Sexualfunktion und sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen, in: MSD Manual Ausgabe für Patienten, 2023, https://www.msdmanuals.com/de/heim/gesundheitsprobleme-von-frauen/sexuelle-funktion-und-funktionsst%C3%B6rung-bei-frauen/%C3%BCberblick-%C3%BCber-die-sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsst%C3%B6rungen-bei-frauen?ruleredirectid=740autoredirectid=23359, Stand: 08.02.2025.

[8] Jimbo 2024.

[9] Berner, M., Psychopharmakaassoziierte sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung, in: Nervenarzt, Col. 88, 2017-05. S. 459.

[10] Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung, https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html, Stand:06.02.2025.

[11] Briken, Peer; Matthiesen, Silja; Pietras, Laura; et al., Prävalenzschätzungen sexueller Dysfunktion anhand der neuen ICD-11-Leitlinien, in: Deutsches Ärzteblatt, 39/2020, https://www.aerzteblatt.de/archiv/215853/, Stand: 06.02.2025.

[12] Jimbo 2024.

[13] Hartmann 2007, S.314.

[14] Hartmann 2007, S.314f.

[15] Hartmann 2007, S.316.

[16] Hartmann 2007, S.316.

[17] Minhas, Suks; Mulhall, John P., Male sexual dysfunction: a clinical guide, Oxford 2017, S. 1.

[18] Minhas, Mulhall, 2017, S.2f.

[19] Jimbo 2024.

[20] Korda 2008, S. 1006.

[21] Korda 2008, S. 1007.

[22] Korda 2008, S. 1008f.

[23] Korda 2008, S. 1009f.

[24] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2018.

[25] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[26] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[27] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[28] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[29] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2019.

[30] Kerckhof, Kreukels, Nieder, et al. 2019, S. 2029.

[31] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al., S.442.

[32] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 442f.

[33] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 443.

[34] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 444.

[35] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 454.

[36] Kennis, Duecker, T’Sjoen, et al. 2022, S. 452.


Quelle: Anonym, Gender und sexuelle Dysfunktion: Zusammenhang und Auswirkung in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=486