Interview mit Anja Ahrens: Beratungsstelle für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen

Anja Ahrens ist an der Freien Universität Berlin die Ansprechpartnerin für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Im Gespräch haben wir spannende Details über Ihre Beratungstätigkeit, den Nachteilsausgleich sowie über Ihre Wünsche zur tatsächlichen Umsetzung von Inklusion an der FU Berlin erfahren.

Das Interview führten Svenja Efinger und Jana Gerlach

Toolbox: Laut der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks geben 14% der Berliner Studierenden an, eine Beeinrächtigung zu haben, die sich erschwerend auf das Studium auswirkt. Über die Hälfte dieser Studierenden (57%) sind von einer psychischen Erkrankung betroffen. Decken sich diese Zahlen mit Ihren Erfahrungen? 

Anja Ahrens: Ja, das kann man so sagen. Nach den aktuellen Befragungen der Studierenden der FU Berlin gaben 15% der Bachelor-Studierenden (2019) und 12% der Master-Studierenden (2021) an, von einer Behinderung oder chronischen Erkrankung betroffen zu sein. Studierende mit psychischer Erkrankung wenden sich allerdings auch häufig an die Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung. Der größte Anteil der Studierenden, die zu mir in die Beratung kommen, hat daher eine chronisch-somatische Erkrankung (ca. 40%), rund ein Viertel der Ratsuchenden leidet unter einer psychischen Erkrankung. Dann folgen mit etwa 20% die Studierenden mit einer neurodiversen Beeinträchtigung bzw. Teilleistungsstörung. Dazu gehören u.a. Beeinträchtigungen wie Legasthenie, ADHS oder Autismus-Spektrumsstörungen. 

Diagramm mit einer Übersicht über die Verteilung der Beeinträchtigungen der Studierenden, die im Wintersemester 2020/21 die Beratung in Anspruch nahmen.
41% der Studierenden hatten chronische Erkrankungen,
26% psychische Erkrankungen,
22% neurodiverse Beeinträchtigungen,
8% Mobilitätsbeeinträchtigungen und
3% waren von Sinnesbeeinträchtigungen betroffen
Übersicht über die Verteilung der Beeinträchtigungen der Studierenden, die im Wintersemester 2020/21 die Beratung in Anspruch nahmen

Im Kontext Universität, in der die individuelle Leistungsfähigkeit eine große Rolle spielt, kostet es sicher Überwindung eigene gesundheitliche Beeinträchtigungen offen zu thematisieren und sich Unterstützung zu holen. Zu welchem Zeitpunkt kommen Studierende in der Regel zu Ihnen? Und was sind die zentralen Anliegen? 

Das ist sehr unterschiedlich. Etwa die Hälfte der Ratsuchenden kommen tatsächlich gleich zu Studienbeginn. Viele versuchen aber auch, erst einmal ohne Hilfe auszukommen und melden sich dann im Laufe des Studiums. Ich würde die Studierenden gerne dazu ermutigen, sich gleich beraten zu lassen, um alle Möglichkeiten zu kennen, welche Formen von Unterstützung zur Verfügung stehen und das Studium von Beginn an erleichtern können. 

Ein weiteres wichtiges Anliegen ist die Vorbereitung der Wiederaufnahme des Studiums nach einer längeren Krankheitsphase. Hier kann es hilfreich sein, gemeinsam einen Plan zu entwerfen.

Das klingt nach einer sehr anspruchsvollen und vielseitigen Aufgabe. Worin genau besteht Ihre Arbeit und wer ist alles involviert? Inwieweit können Sie Ihre berufliche Perspektive aus der Rehabilitation, aber auch als systemische Coachin und Psychologin in Ihre Beratung mit einbringen? 

Tatsächlich sind meine Erfahrungen aus der beruflichen Rehabilitation sehr hilfreich. Dort habe ich Menschen mit Behinderungen bei der Rückkehr ins Berufsleben unterstützt und kenne daher die konkreten Hürden im Bewerbungsprozess oder auch im Arbeitsalltag, ebenso wie existierende Unterstützungsmöglichkeiten. Es ist mir in meiner Beratung daher immer wichtig, bereits die zukünftigen beruflichen Wünsche und Ziele der Studierenden mit im Blick zu haben. Es gilt also einerseits, die Ratsuchenden bei Ihrem Studienvorhaben zu unterstützen, anderseits aber auch auf den Umgang mit noch bestehenden beruflichen Hürden vorzubereiten und die Selbstsorge nicht aus dem Blick zu verlieren. Durch meine systemische Coaching-Ausbildung versuche ich ein Problem aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und lösungsorientiert vorzugehen.

Der wichtigste Teil meiner Arbeit ist selbstverständlich die Beratung der von einer Behinderung oder chronischen Erkrankung betroffenen Studierenden. Es können aber auch bereits Studienbewerber*innen oder Studieninteressierte zu mir kommen, z.B. um Informationen zu Bedingungen für Härtefallbewerbungen oder über barrierefreie Einrichtungen an der FU zu erhalten. Die Beratung steht aber auch Angehörigen, Lehrenden und Mitarbeitenden offen, die Studierende in ihrer Studiengestaltung unterstützen möchten. 

Oft ist das Hauptanliegen der Ratsuchenden die Beratung zum Nachteilsausgleich. Daneben geht es aber auch ganz generell um die Studienplanung und -gestaltung unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Bedingungen. Oft vermittle ich auch zu weiteren unterstützenden Netzwerkpartner*innen, wie z.B. zu den Berater*innen des Studierendenwerks.

Worum handelt es sich konkret beim Nachteilsausgleich? 

Bei Nachteilsausgleichen geht es um die Umsetzung von angepassten Prüfungs- und Studienbedingungen, damit eine gleichberechtigte Teilnahme an Prüfungen und Studienalltag möglich wird. Nachteilsausgleiche sind nicht standardisiert, sondern an der jeweiligen Einschränkung und den daraus resultierenden individuellen Bedarfen ausgerichtet. Dabei kann es sich um den Einsatz von Hilfsmitteln, veränderte Prüfungsformen oder auch verlängerte Bearbeitungszeiten von Prüfungsleistungen handeln. In einem Beratungsgespräch können wir schließlich klären, welche konkreten Anpassungen für die jeweiligen Beeinträchtigungen hilfreich sein können. Bewilligt wird der Nachteilsausgleich dann letztlich vom jeweiligen Prüfungsausschuss. 

 

Infobox: Nachteilsausgleich

Studierende mit beeinträchtigungsbedingten Benachteiligungen haben einen rechtlichen Anspruch auf Nachteilsausgleiche im Studium. Durch die Gewährung von Nachteilsausgleichen soll eine chancengleiche Erbringung von Studien- und Prüfungsleistungen ermöglicht werden. Der Antrag wird beim zuständigen Prüfungsbüro gestellt und kann formlos erfolgen. 

Voraussetzungen:

Vorliegen einer Behinderung (nach §3 BGG bzw. §2 SGB IX) oder chronischen Erkrankung

Auswirkung der Beeinträchtigung auf Studium und Prüfung

Beispiele:

Bei Prüfungen: zeitliche Anpassungen, Änderung der Form der Prüfung, Nutzung von Hilfsmitteln, kurzfristiger Rücktritt von Prüfungen, Anpassung von Bearbeitungszeiten

Im Studium: bevorzugte Zulassung zu Lehrveranstaltungen, Anpassung von Praktikumsbedingungen, Nutzung von technischen Hilfen oder Assistenzpersonen

Eine vorherige Beratung ist empfehlenswert.

Weitere Informationen finden sich hier:  https://www.fu-berlin.de/sites/studium-barrierefrei/beratung/studierende/index.html

Inwiefern sehen Sie die pandemiebedingte Umstellung auf digitale Lehrformate als Vor- bzw. Nachteil für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen? 

Die Auswirkungen der Pandemie betreffen die Studierenden in Abhängigkeit von ihrer Erkrankung ganz unterschiedlich. Die weggefallenen Fahrtwege erleichtern häufig Einiges in der Organisation des Alltags. Gerade bei der digitalen Lehre ist es aber wichtig, auf die Barrierefreiheit zu achten, zum Beispiel auf eine möglichst gute Bild- und Tonqualität. 

Andererseits fehlt der Austausch unter den Studierenden. Gerade Studierenden mit Beeinträchtigungen fällt es oft schwer Kontakte zu knüpfen. Viele leiden unter der Einsamkeit und haben Motivationsschwierigkeiten. Dies zeigte auch der rege Zuspruch an der Veranstaltung der Studienberatung „Lost in Digitalization“ im letzten Jahr.

Was bedeutet für Sie gelungene Inklusion? Welche strukturellen Änderungen müsste es geben, um die Hochschule inklusiver zu gestalten?

Inklusion bedeutet, dass bei jeglichen Projekten die Bedarfe von beeinträchtigten Menschen mitgedacht werden und sie so als gleichwertigen Teil der Gesellschaft einbezieht. Das fängt bei einer barrierefreien Zugänglichkeit von Gebäuden an und geht bis zur rechtzeitigen Bereitstellung von Lehrmaterialien im Blackboard. Am Ende geht es darum, dass sich die Betroffenen nicht um besondere Regelungen für sie bemühen müssen, was meist mit einem hohen organisatorischen Aufwand verbunden ist. 

Wichtig wäre, dem Thema mehr Sichtbarkeit zu geben. Einerseits sollten die betroffenen Studierenden und ihre Anliegen stärker wahrgenommen werden, anderseits möchten wir auch das Beratungsangebot bekannter machen. Zum Beispiel bieten wir jährlich über das Weiterbildungszentrum einen Workshop für Mitarbeiter*innen von Studien- und Prüfungsbüros an. Es können aber alle Beschäftigte, die sich für das Thema interessieren, teilnehmen.

Wenn von Diversity an der Universität die Rede ist, sind die Belange gesundheitlich eingeschränkter Studierender in der Regel nicht das Erste, was vielen in den Sinn kommt. Tatsächlich ist Barrierefreiheit aber ein wichtiger Bestandteil dessen, was wir unter „gender- und diversitätssensibler Lehre“ verstehen. Was können Dozierende konkret tun, um Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen in Lehrveranstaltungen besser zu unterstützen?

Oft haben die betroffenen Studierenden Hemmungen über ihre Erkrankung zu sprechen. Die meisten Beeinträchtigungen sind für andere nicht sichtbar und sie wollen so „normal“ wie möglich durchs Studium kommen. Offenheit zu signalisieren und somit zu erleichtern, dass über Probleme möglichst frühzeitig gesprochen werden kann, ist deshalb eine wichtige Unterstützung. Im Gespräch lassen sich in den meisten Fällen passende Lösungen finden, die auch für die Lehrenden gut umsetzbar sind. Hilfreich ist eine Unterstützung besonders vor oder zu Beginn der Lehrveranstaltung, um den betroffenen Studierenden die Studienplanung zu erleichtern. 

Was sind Ihre Wünsche für die Zukunft? 

Ich wünsche mir, dass die Idee von Inklusion weiter in die Hochschule getragen wird. Es gibt noch viele Dinge, um die FU Berlin zu einem barriereärmeren Lernort zu machen.Dabei sind alle Universitätsangehörigen angesprochen. Alle können dazu beitragen, die Situation der Studierenden mit Behinderungen zu verbessern. Insbesondere ist wichtig, die Erstsemester gleich zu Beginn des Studiums anzusprechen und zu ermutigen, sich bei uns zu melden. Oft braucht es nur kleine Dinge, um viel verändern und erreichen zu können. Für viele Betroffene reicht zunächst ein Gespräch, um sich klarer über die nächsten Schritte zu werden.

Mein Wunsch wäre eine engere Zusammenarbeit mit den Fachbreichen und dass das Thema ein fester Bestandteil bei der Einarbeitung von neuen Mitarbeitenden wird – insbesondere auch bei der Vorbereitung von Lehrenden.

Anja Ahrens hat an der Freien Universität Psychologie studiert und anschließend viele Jahre in der beruflichen Rehabilitation gearbeitet. Bei der Beratung von Studierenden mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen hat sie daher bereits immer die zukünftigen Herausforderungen im Berufsalltag mit im Blick. Sie bringt außerdem eine systemische Coaching-Ausbildung mit. 

Anja Ahrens
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

 

Um die vielfältigen Angebote für Lehrende und Studierende der Freien Universität Berlin sichtbar zu machen, wollen wir im Toolbox-Blog noch weitere Beratungsstellen und -angebote vorstellen und uns mit den verschiedenen Ansprechpartner*innen unterhalten. 

Wenn Sie einen Vorschlag haben über welches Angebot Sie gerne mehr erfahren wollen, schreiben Sie uns eine E-Mail an kontakt@genderdiversitylehre.fu-berlin.de

Ein Überblick über die Beratungsangebote an der Freien Universität Berlin ist auf unserer Toolbox-Webseite zu finden: https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/ressourcen/beratungsstellen/intern/index.html

Weiterführende Informationen: 

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