Vom Überleben erzählen

Der Roman „Blaue Frau“ ist die Geschichte einer Vergewaltigung. Die Schriftstellerin Antje Rávik Strubel wurde dafür mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Die Literaturwissenschaftlerin Lea Haneberg kommentiert diese Entscheidung und postuliert die Notwendigkeit neuer Narrative von sexualisierter Gewalt, die vom Überleben erzählen.

Das Erzählen gilt als zentrale Kulturtechnik unserer Zeit. Im Rahmen von Erzählungen werden Ereignisse sprachlich dargestellt, geordnet und zueinander ins Verhältnis gesetzt. Nicht zuletzt macht diese Fähigkeit auch die Kraft der Literatur aus: Sie ermöglicht es uns Lesenden, die Erlebnisse verschiedenster Figuren und die Verläufe unterschiedlichster Lebenswege in einer unendlichen Zahl literarischer Versuchsanordnungen aus sicherer Entfernung zu beobachten. Stoßen wir bei diesen Beobachtungen allerdings auf Leerstellen, also auf ein Auseinanderklaffen von zwischen Buchdeckeln erzählter Erfahrung und von uns Lesenden gelebter Realität, kann dies schwerwiegende Folgen für uns haben. Vielen Frauen und Mädchen wird im Laufe ihres Lebens sexualisierte Gewalt angetan, eine Tatsache, auf die alljährlich der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen aufmerksam macht.  In der Literatur allerdings sind diese Gewalterfahrungen immer noch unterrepräsentiert.

Hiervon zeugen die Worte der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes, die während einer Reise in den 1980er Jahren im Alter von siebzehn von drei jungen Männern vergewaltigt wurde und rückblickend in ihrem autobiografischen Essay „King Kong Theorie“ schrieb: „In den ersten Jahren nach der Vergewaltigung eine schmerzhafte Überraschung: Keine Hilfe in Büchern. Das war mir noch nie passiert. […] [D]ieses Trauma hat keinen Eingang in die Literatur gefunden.“ Tief erschüttert stellte Despentes fest, dass ihre eigene Sprachlosigkeit nach der Gewalttat auch nicht von der Literatur, die doch die Kunst des Wortes ist, durchbrochen, sondern im Gegenteil nur gespiegelt wurde.

Dem Gewaltakt der Vergewaltigung wird die Bedeutung des Ehebruchs und des Ehrenraubes eingeschrieben

Nun ist es nicht so, dass in der Literaturgeschichte gar keine Charaktere zu finden wären, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Allerdings werden ihre Geschichten oft nach einem ähnlichen Muster, also einem bestimmten Narrativ, erzählt. Zuvorderst ist hier die mythologische Figur der Lucretia zu nennen, welche von Rembrandt gemalt, von Händel besungen und von Shakespeare bedichtet, vielerorts durch unsere Kulturgeschichte geistert – und übrigens auch den Wikipedia-Eintrag des Schlagworts „Vergewaltigung“ prominent bebildert. Der Überlieferung zufolge nahm sich die Römerin Lucretia vor den Augen ihres Ehemanns das Leben, nachdem sie vom Neffen des Königs vergewaltigt worden war. Lucretia habe versucht die Vergewaltigung abzuwehren, indem sie erklärte, lieber sterben zu wollen, als ihrem Mann untreu zu werden, und begründete dann auch die Notwendigkeit ihres Selbstmordes damit, auf diese Weise zu verhindern, dass sich in Zukunft untreue Ehefrauen auf sie berufen könnten. Und so galt ihr Freitod als heroische Tat, die als „Geschichte der Vergewaltigung der tugendsamen Lucretia“ unzählige Male wiedererzählt und wiedergelesen wurde. Im Rahmen dieses dominanten Narratives wird also dem Gewaltakt der Vergewaltigung die Bedeutung des Ehebruchs und des Ehrenraubes eingeschrieben. Und im gleichen Zug die Kunstfigur der entehrten Frau, deren Leben unwiderruflich verwirkt sei, erschaffen. Während die Ehre im Falle des Mannes auf dem Schlachtfeld verortet und als an seine öffentlichen Taten geknüpft galt, wurde die der Frau auf diese Weise an den weiblichen Körper gebunden. So ist es nicht verwunderlich, dass Virginie Despentes nach der Vergewaltigung als junge Frau vergebens in der Literatur nach, wie sie es formulierte, „Überlebenshilfe“ suchte. Denn wenn die Vergewaltigung eines weiblichen Körpers mit dem symbolischen Tod des Opfers gleichgesetzt wird, sind Erzählungen, die vom Überleben erzählen, gar nicht vorgesehen.

Der Roman „Blaue Frau“ vor dem Hintergrund aktueller feministischer Debatten

Mit dem neuen Roman von Antje Rávik Strubel ist ein Buch erschienen, das sich der Leerstelle um die Thematik sexualisierter Gewalt annimmt, ohne das althergebrachte Muster der Lucretia-Erzählung zu bedienen. Im Zentrum von Strubels Roman steht die junge Frau Adina Schejbal, die sich mit großen Plänen im Gepäck aufmacht, ihr Dorf im tschechischen Riesengebirge zu verlassen. Um die Kurse für das Sprachdiplom finanzieren und sich für ein Studium in Berlin einschreiben zu können, nimmt Adina spontan ein Praktikum in der Uckermark an. Hier will der umtriebige Unternehmer Razvan Stein ein historisches Landgut zu einer angesehenen Kultureinrichtung umbauen. Im Kontext prekärer Arbeitsverhältnisse, patriarchaler Strukturen und der vielschichtigen Projektionen von West auf Ost gerät Adina in ein komplexes Machtgefüge und wird schließlich eines Abends gezwungen, eine Vergewaltigung über sich ergehen zu lassen. Als sie sich am nächsten Tag einem Gast, der Mitarbeiterin einer Schweizer Kulturstiftung, anvertraut, tut diese Alinas Bericht ab und entgegnet: „Sind solche Anschuldigungen im Moment nicht sehr in Mode?“

Die junge Frau flieht und rettet sich schließlich nach Finnland. Sie versucht, ihre aus den Fugen geratene Welt wieder zu ordnen: „Das sind die Geräusche“; „Das ist die Vergangenheit“; „Das ist der Wille“ und lotet ihren Handlungsraum zwischen Gerechtigkeit und Vergeltung aus. Die Vergewaltigung markiert innerhalb der Erzählung nicht das Ende, sondern einen Ausgangspunkt. Es beginnt ein Abtasten der Strukturen, in denen eine solche Gewalttat stattfinden konnte. Wie reagiert das soziale Umfeld? Welche Erfolgschancen hat ein Gerichtsprozess? Und welche Überlebenshilfen bieten Staat und Gesellschaft Betroffenen sexualisierter Gewalt?

Die Arbeit an ihrem Roman hat Antje Rávik Strubel bereits vor der #Me Too-Debatte begonnen, der Text ist also keine unmittelbare Reaktion auf diese, allerdings trifft seine Veröffentlichung nun auf einen veränderten Resonanzraum. „Me Too“ wurde erstmals von der Aktivistin Tarana Burke in den sozialen Medien verwendet. Burke engagierte sich als Community Organizerin in der US-amerikanischen Stadt Selma und rief eine Kampagne ins Leben, die afroamerikanischen Frauen ein Bewusstsein dafür geben sollte, dass sie mit Erfahrungen von sexualisierter Gewalt nicht alleine waren. Als die Schauspielerin Alyssa Milano dann im Jahr 2017 im Kontext der Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein dazu aufrief, Übergriffe öffentlich zu machen, ging der Hashtag „Me Too“ viral. Seitdem teilten Frauen auf der ganzen Welt millionenfach diese Formel im Netz und sorgten so für eine der großen Stärken dieser Bewegung: die Vielstimmigkeit. So wurden individuelle Erfahrungen mit Übergriffen, Grenzverletzungen und Ungleichbehandlungen öffentlich in Sprache gefasst. Sie wurden in ihrer Heterogenität sichtbar und verwiesen doch in ihrer Gesamtheit auf den strukturellen Charakter von Sexismus. Die feministische Hashtag-Bewegung löste auch im deutschsprachigen Raum eine breite gesellschaftliche Diskussion aus, die bis heute anhält.

Es sind gute Nachrichten, dass Antje Rávik Strubel der literarischen Welt die Figur der Adina Schejbal eingeschrieben und die Jury des Deutschen Buchpreises sich entschieden hat, diesen Roman auszuzeichnen. Es ist dringend notwendig, dass die Erzählung der tugendsamen Lucretia mit all ihren weiblichkeitsfeindlichen Implikationen in den Hintergrund rückt und auch die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema der sexualisierten Gewalt eine vielstimmige wird.

Lea Haneberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin, schreibt ihre Doktorarbeit zum Thema #Me Too und Literatur(betrieb)

Literaturempfehlungen für die Vielstimmigkeit

  • Im Herzen der Gewalt (2016) von Édouard Louis
  • Sagte Sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht (2018) herausgegeben von Lina Muzur
  • Nichts, was uns passiert (2018) von Bettina Wilpert
  • Im Blick (2018) von Marie Luise Lehner

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