Intersektionalität am Arbeitsplatz Physik

Fachkulturstudie – Inwieweit hängen Arbeitsplatzkulturen in der Wissenschaft mit sozialer Ungleichheit zusammen? In der AG Gender & Science Studies in Physics unter Leitung von Professorin Martina Erlemann erforscht Andrea Bossmann seit Juli 2022 mit C. Reuter und Lisa-Marie Rudek die Arbeitsplatzkultur am Fachbereich Physik der Freien Universität Berlin.

Fachkulturen lassen sich als komplexe Gefüge von Handlungsroutinen, Einstellungen, impliziten Regeln und Ritualen begreifen, in denen die Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen Gemeinschaft hergestellt und als selbstverständlich wahrgenommen und erfahren wird. Studierende und Nachwuchswissenschaftler*innen wachsen in die jeweilige Fachkultur hinein, bis sie zu einem akzeptierten und anerkannten Mitglied einer wissenschaftlichen Community werden.

Für die Physik haben beispielsweise die dänischen Wissenschaftlerinnen Cathrine Hasse und Stine Trentemøller mit ihrem Team in einer großen europäischen Vergleichsstudie drei verschiedene idealtypische Arbeitsplatzkulturen an Physik-Fachbereichen verschiedener Universitäten in verschiedenen Ländern identifiziert (Hasse & Trentemøller 2011). Dabei war in Ländern mit geringem Frauenanteil in der Physik eine kompetitive, individualistische Arbeitsplatzkultur („Hercules“-Kultur) vorherrschend, während in Ländern mit einem vergleichsweise hohen Frauenanteil eine soziale, kooperative Arbeitsplatzkultur („Caretaker“-Kultur) dominierte. In einer dritten Arbeitsplatzkultur, in der Forschung als Pflichterfüllung gesehen wird und es keinen Wettbewerb und klare Arbeitszeiten gibt („Workerbee“-Kultur), wurde kein Zusammenhang mit der Geschlechterverteilung gefunden. Die Ergebnisse zeigen, dass Arbeitsplatzkulturen regional und national unterschiedlich sein können und es nicht die eine Fachkultur der Physik gibt.

Ziel des laufenden Projektes an der Freien Universität ist, im Rahmen von qualitativen, leitfadengestützten Interviews die Arbeitsplatzkultur am Fachbereich zu erheben und zu untersuchen, ob die Zugehörigkeit zu unterrepräsentierten Gruppen innerhalb des Fachbereichs das Erleben der Arbeitsplatzkultur und der Zugehörigkeit zum Fachbereich beeinflusst. Zusätzlich werden partizipative Elemente entwickelt, mithilfe derer alle Fachbereichsmitglieder die Möglichkeit erhalten, sich direkt in die Forschung einzubringen und nach Bedarf gemeinsam mögliche Veränderungsprozesse am Fachbereich anzustoßen und zu begleiten.

Die Studie nimmt insbesondere den wissenschaftlichen Mittelbau in den Blick. Die überwiegende Mehrheit des wissenschaftlichen Mittelbaus ist auf befristeten Prä-Doc- oder Post-Doc-Stellen tätig. Diese Phase einer wissenschaftlichen Laufbahn gehört derzeit zu den besonders kritischen Karrierephasen mit Ziel auf eine Professur, eine Leitungsposition in der Forschung oder eine permanente Mittelbaustelle. In der ersten Erhebungsphase werden zunächst vorrangig promovierte Mittelbaubeschäftigte interviewt, in der zweiten Phase Promovierende. Die Fragen richten sich auf ihre Wahrnehmung der Arbeitsplatzkultur, ihre Karrierewege und -pläne sowie ihre Alltagserfahrungen in Forschung und Lehre am Fachbereich Physik. Im Gegensatz zu quantitativen Fragebögen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten sind qualitative Interviews offen für unerwartete Ergebnisse und geben den Interviewten mehr Möglichkeiten, ihre eigenen Erfahrungen individuell zu artikulieren.

Neben den genannten inhaltlichen Besonderheiten weist die Studie durch die Perspektive der Forschenden auf den Fachbereich auch eine methodische Besonderheit auf: Statt einen externen Fachbereich zu untersuchen, sind alle Beteiligten, auch wir als Forschende, direkt im Fachbereich Physik angesiedelt und auch durch weitere Aufgaben, wie z.B. Lehre, in den Fachbereich eingebunden. Dies gibt uns einen direkten Zugang zum Feld, erleichtert das Sampling und schafft gute Voraussetzungen zur Begleitung der partizipativen Prozesse mit Einbindung der Fachbereichsmitglieder.

Das Projekt möchte klären, ob bzw. inwieweit Zugehörigkeiten zu marginalisierten Gruppen Auswirkungen auf Arbeitsalltag, Karrierewege und Hindernisse haben, aber auch auf Möglichkeiten und Chancen, die der Fachbereich Mittelbaubeschäftigen bietet. Dabei werden nicht nur einzelne Kategorien sozialer Ungleichheit wie beispielsweise zugeschriebene oder faktische Migrationsgeschichte, Ethnizität, Geschlecht, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung, Religion, körperliche Befähigung, Alter und Sorgeverantwortlichkeiten in den Blick genommen, sondern auch deren intersektionale Verschränkungen.

Darüber hinaus adressiert die Studie auch die Wahrnehmung des Themas Mental Health (mentale Gesundheit) am Fachbereich. 2019 und 2021 wurden Studien zur Studierendengesundheit an der Freien Universität Berlin durchgeführt. Diese ergaben u.a., dass Physik einer der Fachbereiche war, in denen der größte Anteil der Befragten von einem hohen Stresserleben berichtete, zudem von starker Erschöpfung und geringem Wirksamkeitserleben. Da bereits die Studie zur Studierendengesundheit von 2019 diese Ergebnisse aufwies, ist dies kein Effekt der Corona-Pandemie. Eine ähnliche Befragung unter Mitarbeitenden gab es bisher nicht. In unserer Studie interessiert uns neben persönlichen Erfahrungen bzgl. psychischer Gesundheit auch, inwieweit und in welchen Kontexten diese Themen am Fachbereich angesprochen und diskutiert werden, oder aber unsichtbar oder gar tabuisiert sind.

Zum Vergleich verschiedener MINT-Arbeitsplatzkulturen an der FU Berlin besteht Austausch mit der Arbeitsgruppe Gender Studies in der Mathematik unter Leitung von Dr. Anina Mischau. Hier erforscht Dr. Anna-Christin Ransiek aktuell aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mögliche Geschlechterdisparitäten und ihre Gründe in dem Exzellenzcluster MATH+ innerhalb des Projektes MATH+ as a Research Object.

Nach Auswertung der Interviews der ersten Erhebungsphase werden erste Befunde der Studie in den Fachbereich zurückgespielt und Austausch und Diskussionen ermöglicht. Alle Mitglieder des Fachbereichs, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder weiteren Kategorien sozialer Ungleichheit, können so ihre Sichtweisen, Erfahrungen und Bedarfe an Veränderungen einbringen und verschiedene Aspekte der Arbeitsplatzkultur diskutieren, diese aktiv mitgestalten und an einem Fachkulturwandel mitwirken, um eine inklusive Arbeitsplatzkultur und Teilhabe in der Physik sicherzustellen.

Andrea B. Bossmann, Prof. Dr. Martina Erlemann, C. Reuter & Lisa-Marie Rudek, AG Gender & Science Studies in Physics, FU Berlin


Weitere Einblicke in die Fachkulturstudie bietet das hybride Podiumsgespräch:

MINT für alle! Geschlechter- und diversitätsgerechte Studien- und Fachkulturen fördern


Literatur

Hasse, C., Trentemøller, S. (2011): Cultural work place patterns in Academia. In: Science Studies. 24, No. 1: S. 6-23.

Jochmann, A., Kammerer, J., Rafalski, R. A., Thomas, T., Lesener, T., Wolter, C. & Gusy, B. (2019). Wie gesund sind Studierende der Freien Universität Berlin? Ergebnisse der Befragung 01/19 (Schriftenreihe des AB Public Health: Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung: Nr. 01/P19). Berlin: Freie Universität Berlin.

Stammkötter, K., Stauch, M., Thomas, T. & Wolter, C. (2021). Wie gesund sind Studierende der Freien Universität Berlin? Ergebnisse der Befragung 01/21 (Schriftenreihe des AB Public Health: Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung: Nr. 03/P21). Berlin: Freie Universität Berlin.


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