Vereinbarkeit vertagt?

Oder: Warum es in der Wissenschaft kein Später gibt. Die Corona-Krise hat die Benachteiligung von Wissenschaftler*innen mit Familienaufgaben verschärft, auch an der Freien Universität. „Natürlich betrifft Corona alle, aber glauben Sie, dass es für mich als Mutter keine besondere psychische Herausforderung ist?“

Mit dieser Frage wies Tessa Camenzind in der Podiumsdiskussion „Kinder, Corona, Karriereknick?” am 26. April 2021 auf die besondere Belastung von Wissenschaftlerinnen mit Familienaufgaben in der Pandemie hin. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Postdoc-Phase berichtete von einem massiven Zeitverlust, den sie nicht ausgleichen könne, „weil wir gerade im Postdoc immer auf Zeit-Stellen sind. Es gibt kein Später in der Wissenschaft. Ich kann nicht das, was ich jetzt nicht schaffe, in einem Jahr machen, während ich mich in ein paar Jahren mit Kolleg*innen vergleichen lassen muss, die jetzt ein Jahr lang ganz viel Zeit hatten.”

Die Benachteiligung von Wissenschaftler*innen mit Familienaufgaben in der Corona-Krise aufzuzeigen und hochschulpolitische Gegenmaßnahmen zu diskutieren, war Ziel unserer Veranstaltung – des Teams Zentrale Frauenbeauftragte – in Kooperation mit Vizepräsidentin Verena Blechinger-Talcott. Auf dem Onlinepodium berichteten Studierende und Wissenschaftlerinnen der FU über ihren Spagat zwischen Studium, Beruf, Homeschooling und Kitas im Notbetrieb. Sie diskutierten mit dem Präsidenten Günter M. Ziegler und Gremienvertreterinnen sowie Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), über die Auswirkungen des pandemiebedingten Lockdowns auf die Chancengleichheit der Geschlechter in der Wissenschaft.

Gender Publication Gap wird größer

Zu Beginn der Veranstaltung präsentierte die Soziologin Allmendinger Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung zu Geschlechterasymmetrien in der Wissenschaft vor und nach Ausbruch der Pandemie. Sie warnte vor einem Gender Publication Gap durch den Lockdown: Wie Studien des WZB zeigen, sei die wissenschaftliche Publikationsleistung von Frauen mit Familienaufgaben während der Pandemie massiv eingebrochen.

Nach wie vor gebe es bundesweit erhebliche Geschlechterasymmetrien in der Wissenschaft, insbesondere was die Besetzung von Führungspositionen betrifft. Schul- und Kitaschließungen während der Pandemie haben dieses Ungleichgewicht massiv zuungunsten von Wissenschaftlerinnen mit Kindern verstärkt. Sie übernahmen weitaus mehr Sorgearbeit und hatten weniger Zeit für Forschung als männliche Wissenschaftler. Die Auswirkungen dieser Unterschiede auf die Karrierewege, so Allmendinger, seien gravierend und bereits jetzt zu spüren: Hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen bevorzugten sichere Positionen, für die sie überqualifiziert seien, anstatt eine Professur anzustreben. So gebe es pandemiebedingt deutlich mehr Abgänge von Frauen aus der Wissenschaft in den wissenschaftsunterstützenden Bereich. Allmendinger rechnet mit langfristigen Folgen dieser „horizontalen Ungerechtigkeit“.

Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, fordern zahlreiche Gleichstellungsakteur*innen im Wissenschaftsbereich seit Beginn der Pandemie, Hochschulangehörige mit Familienaufgaben wirksam zu entlasten und zu unterstützen (vgl. etwa die Zusammenstellung Gleichstellung und Hochschule in der Pandemie der bukof). Auch die Teilnehmerinnen unserer Podiumsdiskussion machten sehr deutlich, welche Unterstützung sie von der Freien Universität erwarten.

Welche Unterstützung ist nötig?

„Viele Drittmittelbeschäftigte leiden unter kurzen Beschäftigungsverhältnissen; da bräuchten wir Überbrückungsfinanzierungen oder andere Unterstützung“, forderte Anette Simonis, Postdoc und Vertreterin des akademischen Mittelbaus im Kuratorium, „das wäre der FU als guter Arbeitgeberin sicher möglich. Dafür könnte man zum Beispiel Gleichstellungsmittel der DFG einsetzen.“ Auch Fonds zur Finanzierung studentischer Mitarbeiter*innen, wie es sie an anderen Hochschulen gibt, könnten Nachwuchswissenschaftler*innen die Arbeit erleichtern und dem Gender Publication Gap entgegenwirken. „Die Einrichtung eines Tutorienprogramms“, so Simonis weiter, „wäre für Studierende und alle Wissenschaftler*innen eine große Hilfe, das heißt studentische Hilfskräfte, die sowohl in Laboren mitarbeiten, aber auch Literaturrecherchen machen können, also den Zeitaufwand reduzieren, sodass wenigstens ein Teil der Forschung weiterhin betrieben werden könnte.“

Doris Kolesch, Professorin, Projektleiterin in einem Sonderforschungsbereich und Sprecherin des Frauenrats, kritisierte die verbreitete Auffassung, das Arbeiten im Homeoffice verbessere die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Familie: „Ich wäre vorsichtig mit der Feier des Homeoffice. Ich sehe ganz viele Kolleg*innen, die sagen, dass sie dringend aus ihrer Wohnung rauskommen möchten. Manchmal sind private Räume nicht nur Stütze, sondern Teil des Problems. Für viele ist das die Verhinderung von Arbeit. Hier sollte die FU Mittel für Arbeitsräume in Laufnähe zur eigenen Wohnung bereitstellen, wo man in Ruhe arbeiten oder sich Zeit schaffen kann.“ Die Master-Studierende Sandra Berke ergänzte: „Ich brauche die räumliche Trennung und Ruhe zum Arbeiten. Jede, die ein Kleinkind zuhause hat, weiß, dass es nicht reicht, sich einfach in ein anderes Zimmer zu setzen, um eine Hausarbeit zu schreiben.“

Cynthia Heiner, Postdoc und Projektkoordinatorin, forderte, die Care-Arbeit während der Pandemie solle bei Berufungen und Förderanträgen auf das akademische Alter angerechnet werden, vergleichbar der Elternzeit. „Ich schreibe die Corona-Zeit wie die Elternzeit in mein CV. Die FU sollte das anerkennen”, verlangte Heiner.

Auch Burnouts und Erschöpfungszustände bei vielen Beschäftigten mit Betreuungsaufgaben waren Thema der Veranstaltung. Die Mehrfachbelastung von Eltern müsse nicht nur gewürdigt, sondern auch gelindert werden. „Wir sollten unsere Beratungsstruktur überdenken. Ich finde das Angebot der psychologischen Beratungsstelle super, aber wer Kinder hat, hat auch dafür keine Zeit. Asynchrone Beratungs- und Betreuungsangebote sollten deshalb ergänzt werden”, schlägt Katharina Schmidt, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Frauenbeauftragte am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie sowie Mitglied des Frauenrats, vor.

Die Diskutantinnen wiesen darauf hin, dass eine differenzierte, bedarfsorientierte Perspektive notwendig sei: Nicht alle Betroffenen haben die gleichen Bedürfnisse. Trotzdem gehe es nicht um Einzelschicksale, die Vielfalt der Forderungen sei vielmehr Symptom einer strukturellen Krise: „Wir sollten flexibel auf die Bedarfe eingehen und proaktiv ein gesellschaftliches Problem nicht weiter individualisieren, das tun wir nämlich gerade”, mahnte Doris Kolesch an.

Präsident Günter M. Ziegler bedankte sich bei den Podiumsteilnehmerinnen für die eindrückliche Schilderung ihrer Situation. Die zu beobachtende Retraditionalisierung – „dass in der Krise die Frauen, ihre Karrieren und ihre Möglichkeiten leiden“ – versteht er als Anstoß für notwendige Veränderungen im System: „Es darf gar nicht wieder normal werden wie vor Corona.“ Der Präsident kritisierte damit auch das Idealbild einer linearen Wissenschaftskarriere, in der familienbedingte Belastungen nicht vorgesehen sind. Gender Care Gap und Gender Time Gap müssten in Zukunft eingerechnet werden, um Chancengleichheit herzustellen. Er betonte, dass die Unterstützung von Nachwuchswissenschaftler*innen mit Familienaufgaben angesichts der pandemiebedingten Benachteiligungen ein wichtiges Anliegen der FU sei: „Unser Interesse muss sein zu unterstützen und zu ermöglichen, was geht.“

Zeit zu handeln!

Ziel der Veranstaltung war nicht nur, die aktuellen Herausforderungen und Bedarfe aufzuzeigen, sondern auch, Lösungsansätze aufzuzeigen und zu diskutieren. Die Diskussion erbrachte eine Fülle an Vorschlägen für kurz- und langfristige Maßnahmen, um pandemiebedingte Benachteiligungen auszugleichen und Familiengerechtigkeit zu fördern. Anregungen für die konkrete Ausgestaltung können Good-Practice-Beispiele anderer Hochschulen geben. So hat die Universität Duisburg-Essen einen Chancengleichheitsfonds für Studierende und Lehrende mit Care-Aufgaben eingerichtet. Die Universität zu Köln hat mit Kopf frei! ein Programm aufgelegt, das Mittel zur Finanzierung einer Lehrvertretung oder einer Hilfskraft bietet, um Postdoc-Wissenschaftlerinnen und Juniorprofessorinnen mit Familienaufgaben von Aufgaben in der Lehre oder der akademischen Selbstverwaltung zu entlasten bzw. sie in ihrer Forschung zu unterstützen. Die Humboldt-Universität, Partnerin der FU im Exzellenzverbund Berlin University Alliance (BUA), hat bereits 2019 einen Familienfonds eingerichtet, der jährlich Mittel zur Verfügung stellt, um die Vereinbarkeit von Studium, Beruf bzw. wissenschaftlicher Karriere mit Familienaufgaben zu fördern.

Die Stimmen, die einen Nachteilsausgleich für Universitätsangehörige mit Familienaufgaben einfordern, sind an der FU spätestens seit unserer Veranstaltung im April unüberhörbar. Im Nachgang dazu erarbeitete die Vizepräsidentin für Gleichstellung, Verena Blechinger-Talcott, in Kooperation mit dem Team Zentrale Frauenbeauftragte eine Maßnahmenliste, die dem Präsidium vorgelegt wurde. Dennoch sind auf zentraler Ebene bislang keine Maßnahmen zum pandemiebedingten Nachteilsausgleich für Wissenschaftler*innen mit Familienaufgaben auf den Weg gebracht worden, nicht zuletzt aufgrund haushaltsrechtlicher Bedenken. Noch nicht entschieden hat das Präsidium über den Vorschlag, einen Fonds für Nachwuchswissenschaftlerinnen mit Familienaufgaben über das Berliner Chancengleichheitsprogramm zu beantragen.

Exzellent ohne Nachteilsausgleich?

Der bis dato fehlende Ausgleich pandemiebedingter Benachteiligungen bedroht nicht nur die Karrierewege der betroffenen Wissenschaftler*innen. Auch die Universität selbst setzt sich damit der Gefahr aus, hervorragenden wissenschaftlichen Nachwuchs zu verlieren. Im Interesse ihres Status als forschungsstarke Exzellenzuniversität sollte der FU daran gelegen sein, alles dafür zu tun, „die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Karrierestufen (…) zu gewinnen, sie optimal zu unterstützen und am Standort zu halten“. Mit diesen Worten beschreibt die BUA ihr Ziel Promoting Talents, das insbesondere Diversitäts- und Gleichstellungsaspekte zu berücksichtigen beansprucht. Darüber hinaus droht die FU, durch ihre Untätigkeit ihre über Jahrzehnte führende Position im Bereich Chancengleichheit zu verspielen – dies liefe den ausdrücklichen Zielsetzungen der BUA im Feld Diversity and Gender Equality zuwider.

Ob der Exzellenzverbund BUA und mit ihm die Freie Universität die selbst gesteckten Ziele erreichen, wird spätestens mit dessen erster Evaluation relevant werden. Eine überzeugende Strategie, pandemiebedingte Benachteiligungen wirksam auszugleichen, könnte ein wichtiger Faktor für die Bewertung der Exzellenzkriterien Personalentwicklung und Chancengleichheit sein (vgl. Verwaltungsvereinbarung Exzellenzstrategie, §4, 3b). Die Förderung der BUA läuft seit bald zwei Jahren; die regelmäßige Evaluation durch ein unabhängiges Expert*innengremium, von deren Ausgang die dauerhafte Förderung abhängt, findet alle sieben Jahre statt. Hat die FU den Ehrgeiz, zu diesem Zeitpunkt eine angemessene Strategie zum pandemiebezogenen Nachteilsausgleich vorweisen zu können? Dann wäre es höchste Zeit, dass Jutta Allmendingers eindringliche Forderung „Gebt den Frauen Forschungszeit“ endlich Gehör findet. Denn auch in der Exzellenz – so ließe sich das prägnante Eingangszitat einer unserer Podiumsteilnehmerinnen variieren – gibt es kein Später.

Nina Lawrenz, Stellvertreterin der zentralen Frauenbeauftragten, Dr. Corinna Tomberger, Referentin im Team Zentrale Frauenbeauftragte

Mitarbeit: Helena Raspe, studentische Mitarbeiterin im Team Zentrale Frauenbeauftragte

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