Physik: Fachkultur jenseits von Geschlecht?

Wie wirken sich Geschlechtergerechtigkeit und Diversität auf die Praxis der Physik aus? Wie können die Fachkulturen der Physik vielfältiger und geschlechtergerechter werden? Diese Fragen erkundet die AG Wissenschaftsforschung am Fachbereich Physik der FU mit ihrer Forschung zur Entstehung und Wirkung sozialer Ungleichheiten in MINT-Fachkulturen.

Schon ein Blick auf die Frauenanteile auf den verschiedenen Karrierestufen zeigt, dass Geschlechterungleichheiten in der Physik eine Rolle spielen: Sind Frauen auf Professuren in allen Fächern in der Minderzahl, so machen sie in der Physik bereits zu Studienbeginn noch nicht einmal ein Drittel aus. Ihr Anteil nimmt mit jeder Karrierestufe ab, so dass die Physik-Professuren in Deutschland derzeit nur zu 13 % mit Frauen besetzt sind. Bis zur Promotion verringert sich der Frauenanteil nur unwesentlich, in der Postdoc-Phase ist der Verlust an jungen Physikerinnen am stärksten.

Die Forschung zu den Ursachen sozialer Ungleichheiten in den Wissenschaften hat sichtbar gemacht, dass ein Großteil dieser Ungleichheiten durch komplexe Prozesse informeller Ausschlüsse aus der jeweiligen Wissenschafts- und Forschungscommunity entsteht. Das gilt nicht nur für Geschlechterungleichheiten, sondern auch für andere benachteiligte Gruppen, etwa People of Colour (PoC) oder Personen nicht-akademischer sozialer Herkunft.

Die Geschlechter- und Bildungsforschung liefert wichtige Erkenntnisse für soziale Ungleichheiten in den Wissenschaften. Die Fachkulturforschung zeigt auf, welche Rolle lokal- und fächerspezifische Arbeitsplatzkulturen, die Fachkulturen, für die Entstehung sozialer Ungleichheiten spielen. Denn wissenschaftliche Praktiken sind fächerspezifisch und somit auch die Arbeitsplatzkulturen, in die sie eingebettet sind.

Martina Erlemann, Professorin für Wissenschafts- und Geschlechtersoziologie der Physik an der FU

Fachkulturen lassen sich als komplexe Gefüge von Handlungsroutinen, Einstellungen, impliziten Regeln und Ritualen begreifen, in denen die Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen Gemeinschaft hergestellt und als selbstverständlich wahrgenommen und erfahren wird. Studierende und Nachwuchswissenschaftler*innen wachsen in die jeweilige Fachkultur hinein, bis sie zu einem akzeptierten und anerkannten Mitglied einer wissenschaftlichen Community werden.

Hier setzt die feministische Fachkulturforschung an. Sie beleuchtet, dass nicht jede Person, die sich darum bemüht, sich eine Fachkultur anzueignen, zu einem anerkannten Mitglied der Fachcommunity wird. Vielmehr sehen sich Frauen und unterrepräsentierte Gruppen in ihrer Laufbahn mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert.

Physik, eine „culture of no culture“?

Eine der ersten, die die Physik als eine Kultur aufgefasst und beforscht hat, ist die US-amerikanische Kulturanthropologin Sharon Traweek. Sie analysierte, dass für eine Karriere in der Hochenergiephysik ein Lebensentwurf als erforderlich angesehen wurde, der nur von Männern erwartet und nur diesen zugetraut wurde. Traweek fand eine von Männern geprägte Kultur vor, die sich selbst als frei von jeglichen kulturellen und sozialen Aspekten betrachtete, deren Praxis sich jedoch als stark maskulinisiert herausstellte. Diese Widersprüchlichkeit hat sie mit der Formulierung einer „culture of no culture“ (Traweek 1988, 162) auf den Punkt gebracht.

Weitere Forschungsarbeiten haben aufgezeigt, dass Frauen in der Physik die Widersprüchlichkeit einer vorgeblichen Geschlechterneutralität in maskulinisierten Fachkulturen individuell bewältigen müssen (Danielsson 2012). Dies gilt umso mehr für Women of Colour, als sie sich mit intersektional wirkenden Geschlechterstereotypen und rassifizierten Diskriminierungen auseinandersetzen und Strategien zu deren Bewältigung entwickeln müssen (Ong 2005; Ko 2014 et al.).

Fachkulturen variieren sowohl regional als auch zwischen verschiedenen Fachgebieten der Physik. Ein hoch kompetitives Arbeitsklima, Einzelkämpfertum und geringer Teamzusammenhalt kennzeichnen Fachkulturen der Physik mit eher geringem Frauenanteil. Weniger Konkurrenzdruck innerhalb der Arbeitsgruppe, dafür höhere Ansprüche an Team-Commitment sowie eine Vermischung von Privat- und Berufsleben weisen Fachkulturen mit einem höheren Frauenanteil auf (Hasse/Trentemöller 2008). Die jeweils gelebten Fachkulturen werden dabei maßgeblich durch Führungspersonen wie Gruppen- und Teamleitungen geprägt (Erlemann 2018).

Aufgrund der eklatanten Unterrepräsentanz von Frauen werden an vielen Physik-Instituten Gleichstellungsmaßnahmen umgesetzt, etwa Zielzahlen zur Erhöhung des Frauenanteils oder Initiativen zur Anwerbung junger Frauen für ein Physikstudium. Auf diese Weise werden Debatten um Gleichstellung in Gang gebracht, das Bewusstsein für die Unterrepräsentanz von Frauen wird geschärft. Diese Sensibilisierung für das Thema ist ein weiterer Aspekt, der die gelebten Fachkulturen in der Physik prägt (Erlemann 2018).

Für einen Wandel der Fachkulturen

Die feministische Fachkulturforschung erforscht Fachkulturen der Physik nicht nur analytisch-deskriptiv unter Aspekten von Gender und Diversity. Darüber hinaus entwickelt und erprobt sie Strategien, um einen Kulturwandel in der Physik anzustoßen, der sozialen Ungleichheiten entgegenwirkt, Geschlechtergerechtigkeit befördert und Raum für mehr Inter- und Transdisziplinarität eröffnet.

In der Lehre kann feministische Fachkulturforschung einen Kulturwandel vorbereiten bzw. anstoßen, indem Studierende einen kritischen Blick auf Fachkulturen ausbilden. So können sie die Physik überhaupt erst als Fachkultur wahrnehmen und beginnen, deren Praxis zu reflektieren. Dieser Zugang hat üblicherweise keinen Raum, so lange die Physik sich als „culture of no culture“ inszeniert.

Indem Studierende sich Wissen darüber aneignen, wie Kategorien sozialer Ungleichheit in Fachkulturen, Karriereverläufe, naturwissenschaftliches Wissen und Methoden eingewoben sind, lernen sie, die Wirkung sozialer Ungleichheit zu erkennen und die eigene Fachkultur als veränderbar wahrzunehmen und zu hinterfragen. In diesem Reflexionsraum können Ideen für Veränderung generiert und erste Schritte zu einem Kulturwandel der Physik entworfen werden. Zudem kann Physik so als eingebettet in ihre kulturellen, sozialen und historischen Kontexte wahrgenommen werden. Dies ermöglicht Studierenden, ihr eigenes Selbstverständnis zu überdenken.

Die Strategische Partnerschaft „Diversity in the Cultures of Physics”, gefördert im Rahmen des EU-Programms ERASMUS+, eröffnete 2016 bis 2019 einen solchen Reflexionsraum an der FU und den beteiligten Partnerinstitutionen (Erlemann/Schiestl 2019; Erlemann/Scheich/Schiestl 2018). Im Format einer internationalen Sommerschule trafen junge Physikerinnen verschiedener europäischer Physikinstitutionen jährlich an jeweils zwei der beteiligten Hochschulen zusammen. Basierend auf den Erkenntnissen der feministischen Fachkulturforschung lernten die Teilnehmerinnen regionale und institutionelle Unterschiede im Zusammenspiel von Geschlechter- und Arbeitsplatzkulturen kennen. So wurde erlebbar, dass Fachkulturen variieren und daher als veränderbar aufgefasst werden können. Auf diese Weise wirkte das Projekt einer eindimensionalen Vorstellung von Physik entgegen. Die Teilnehmerinnen gewannen ein Wissen über die Vielfalt der Fachkulturen in der Physik, das mitunter auch zu Interventionen an den jeweiligen Heimatuniversitäten anregte.

Werden die Inhalte der feministischen Fachkulturforschung zu einem genuinen Teil der Physik, so können in der Forschung neuartige inter- und transdisziplinäre Fragestellungen entwickelt werden. Diese Ansätze können gezielt historische und kulturelle Aspekte jener erkenntnistheoretischen Prinzipien herausarbeiten, die der Physik zu Grunde liegen, und die Reflexion der eigenen Fachkultur längerfristig als Bestandteil der Disziplin etablieren. Auch wenn dies möglicherweise noch ein weiter Weg ist, eröffnet er eine Perspektive auf geschlechter- und diversitätsgerechte Fachkulturen, deren Herstellung im Sinne einer Zukunft der Disziplin im ureigensten Interesse der Physik liegt.

Prof. Dr. Martina Erlemann, Professur für Wissenschafts- und Geschlechtersoziologie der Physik, AG Wissenschaftsforschung, Fachbereich Physik, Freie Universität Berlin


Literatur

Danielsson, Anna (2012): Exploring woman university physics students ‘doing gender’ and ‘doing physics’. In: Gender and Education 24, 1: S. 25-39.

Erlemann, Martina (2018): Fachkulturen und Geschlecht in den Natur- und Technikwissenschaften – Forschungsergebnisse am Beispiel der physikalischen Fachkulturen. Schriftenreihe der Hochschule Emden/Leer, Band 27.

Erlemann, Martina; Schiestl, Leli (2019): Diversity in the Cultures of Physics: A European Summer School Curriculum. In: Refubium – Freie Universität Berlin Repository. Online-Publ.

Erlemann, Martina; Scheich, Elvira; Schiestl, Leli (2019): Vielfalt für die Physik. In: Physik Journal Nr. 3: 48-51.

Hasse, Cathrine; Trentemøller, Stine (2008): Break the Pattern! A critical enquiry into three scientific workplace cultures: Hercules, Caretakers and Worker Bees. Tartu: Tartu University Press.

Ko, L.; Kachchaf, R.; Hodari, A.; Ong, M. (2014): Agency of women of color in physics and astronomy: Strategies for persistence and success. In: Journal of Women and Minorities in Science and Engineering 20(2): p. 171-195.

Ong, Maria (2005): Body Projects of Young Women of Color in Physics: Intersections of Gender, Race, and Science. In: Social Problems, Bd. 52, H. 4, S. 593-617.

Traweek, Sharon (1988): Beamtimes and Lifetimes. The World of High Energy Physicist, Cambridge: Harvard University Press.

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