Die Initiator*innen der Twitterkampagne #IchBinHanna haben nun ein Buch zum Thema Befristung in der Wissenschaft geschrieben. Unsere Rezensentin Gisela Romain empfiehlt das Buch als kurzweilige, aber tiefgründige Lektüre zur aktuellen Diskussion rund um Beschäftigungsverhältnisse in der Wissenschaft – ein Thema, das auch für die Gleichstellung von hoher Relevanz ist.
Mit einem Tweet von Sebastian Kubon, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Hamburg, begann im Juni 2021 ein Twittersturm, der unter dem Hashtag #IchBinHanna mediale Aufmerksamkeit und kurz vor der Bundestagswahlen auch politische Beachtung finden sollte. Verfasst wurde der Tweet in Reaktion auf ein Erklärvideo des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), in dem das Ministerium am Beispiel der Zeichentrickfigur Hanna, einer auf einer befristeten Stelle promovierenden Biologin, die vermeintlichen Vorzüge des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) darlegen wollte. Das Erklärvideo wurde inzwischen von der Seite des BMBF gelöscht, findet sich aber weiterhin auf YouTube.
Die Sicht der von dem Gesetz betroffenen, befristet in der Wissenschaft angestellten Mitarbeiter*innen ist selbstredend eine andere. Von prekären Arbeitsverhältnissen in der Wissenschaft handelt dann auch das Buch zum Tweet, das unter dem Titel #IchbinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutschland im Frühjahr im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk von drei Autor*innen: Amrei Bahr, Juniorprofessorin an der Universität Stuttgart, Kristin Eichhorn, Privatdozentin der Universität Stuttgart, und Sebastian Kubon. Die drei Autor*innen hatten sich bereits 2021 anlässlich der am Reformationstag gestarteten Twitterkampagne #95 Thesen gegen das WissZeitVG zusammengefunden und kurz darauf auch eine weitere Twitterkampagne unter dem #ACertainDegreeOfFlexibility ins Leben gerufen, die ebenfalls auf große Resonanz unter Betroffenen gestoßen war. Während jedoch die beiden ersten Kampagnen vor allem innerhalb der Community der direkt Betroffenen rezipiert wurden, erreichte der Tweet #IchBinHanna binnen kürzester Zeit über 140.000 Retweets und sorgte damit weit über den Wissenschaftsbetrieb hinaus für mediale und politische Aufmerksamkeit. Unter #IchBinHanna hatten zahlreiche Betroffene durch die Schilderungen persönlicher Schicksale deutlich gemacht, welche Folgen die Befristung für ihr persönliches Leben hat. In dem gleichnamigen Buch befassen sich die drei Autor*innen mit den strukturellen Bedingungen der befristeten Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft, mit deren Entstehung, Folgen und Aussichten für die Zukunft.
Wer ist Hanna?
In einem kurzen Vorwort gehen die Autor*innen auf die konkreten Entstehungsbedingungen des Bandes ein. Alle drei sind, wie sie schreiben, auch selbst „strukturell Hannas“ (S. 9) und das Verfassen des Bandes wie das generelle Engagement der drei für bessere Arbeitsbedingungen fand (und findet) entsprechend unter erschwerten Bedingungen statt, nämlich „häufig zwischen 4:30 und 8:30 Uhr […], wenn in diesen pandemischen Zeiten mal wieder der Kindergarten geschlossen ist“ (ebd.).
Um es vorwegzunehmen: Dies ist kein Buch über Gleichstellungsfragen, zumindest nicht im engeren Sinne. Auf Aspekte der Gleichstellung gehen die Autor*innen nur an wenigen Stellen explizit ein. Und doch ist es ein Buch von hoher Relevanz für die Gleichstellung. Wer also ist Hanna? In der „Einleitung – oder: Wer ist Hanna?“ erläutern die Autor*innen zunächst die Ausgangslage, die für die allermeisten wissenschaftlichen Beschäftigten unterhalb der Professur mit einem befristeten Arbeitsverhältnis verbunden ist. In konkreten Zahlen: Im Jahr 2019 waren laut Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021 92% der wissenschaftlichen Beschäftigten unter 45 Jahren befristet angestellt. Möglich ist die Befristung durch das WissZeitVG, wonach wissenschaftliche Beschäftigte auf sogenannten Qualifikationsstellen jeweils maximal sechs Jahre vor der Promotion und weitere sechs Jahre nach der Promotion beschäftigt werden können. Danach ist eine weitere Beschäftigung unterhalb der Professur lediglich auf einer der sehr seltenen unbefristeten Stellen oder einer durch Drittmittel finanzierten Stelle möglich.
Im Alltag bedeutet dies für die Betroffenen, neben der Unsicherheit vor allem einem extrem hohen Arbeitsdruck bei gleichzeitiger Abhängigkeit von den jeweiligen Vorgesetzten standzuhalten. Beides führte in der Vergangenheit dazu, so die Autor*innen, dass sich seitens der Beschäftigten vergleichsweise wenig Widerstand regte. Der unter Pandemiebedingungen noch mal gestiegene Leistungs- und damit Leidensdruck führte jedoch zu einer Wende, begünstigt auch durch die gesteigerte Nutzung digitaler Medien zur Kommunikation und Vernetzung. So gewann die über Twitter gestartete Bewegung plötzlich an Momentum und erreichte binnen kurzer Zeit auch die politische Bühne. Nicht ohne – berechtigten – Stolz berichten die Autor*innen, dass die Kernforderungen von #IchBinHanna in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung aufgenommen wurden. Wenngleich die Autor*innen die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft einerseits als außergewöhnlich darstellen, so sehen sie die Entwicklung zugleich im Kontext von einem – eher mit der Privatwirtschaft in Verbindung gebrachten – „Trend der Prekarisierung“ (S. 29) , im Falle der Universitäten allerdings unglücklich verbunden mit einer für staatliche Einrichtungen typischen „Schwerfälligkeit“ (ebd.).
Das Dogma der Innovation durch Fluktuation
Wie es dazu kam, dass sich an staatlichen Einrichtungen derart prekäre Arbeitsverhältnisse entwickeln konnten, damit befassen sich die Autor*innen im ersten Kapitel des Bandes. Sie zeichnen nach, wie sich bereits in den siebziger Jahren führende Akteure der Wissenschaftslandschaft, wie etwa der Wissenschaftsrat, für einen Abbau fester Stellen im akademischen Mittelbau ausgesprochen haben. In Verbindung mit der marktliberalen Ausrichtung der Politik in der Ära Kohl hatte sich dann die Überzeugung durchgesetzt, dass die Innovationskraft der Wissenschaft nur durch einen ständigen Wechsel der Mitarbeitenden erhalten werden könne. Eine These, die, wie die Autor*innen hervorheben, durch keine einzige empirische Studie belegt wird und die selbstredend für Professor*innen nicht geltend gemacht wird. Glaubwürdigkeit erhält diese These, so die Autor*innen, letztlich nur durch die ständige Wiederholung durch Wissenschaftsmanagement und Politik, wobei letztere Fakten durch entsprechende Gesetzesänderungen und finanzielle Weichenstellungen schuf. Ideengeschichtlich machen die Verfasser*innen neben dem Dogma der „Innovation durch Fluktuation“ noch ein zweites Dogma aus, das für die wissenschaftspolitische Entwicklung eine wichtige Rolle spielte: Die Überzeugung, dass es sich bei der Wissenschaft in erster Linie um ein Qualifizierungssystem handelt. Beide Dogmen sind, so die Autor*innen, derart etabliert, dass sie kaum mehr in Frage gestellt werden und Veränderungen meist nur innerhalb des vorhandenen Systems gedacht werden. Dabei würde, wie die Verfasser*innen anmerken, ein Blick etwa nach Frankreich schnell zu der Erkenntnis führen, dass auch andere Wege möglich sind.
Vor dem Hintergrund der zuvor skizzierten Entwicklungen gehen die Autor*innen dann im zweiten Kapitel zunächst auf die strukturellen Bedingungen ein, die den unter #IchBinHanna geteilten Einzelschicksalen zugrunde liegen. Sie entwirren dabei die komplexen Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Hochschulen und zeigen auf, dass das WissZeitVG, auch wenn es berechtigterweise im Fokus der Kritik steht, nur ein Teil des Problems ist und Lösungen entsprechend an mehreren Stellen gleichzeitig ansetzen müssten. So führt, wie sie erklären, die Umwandlung von befristeten in entfristete Stellen in der Regel zu einer Erhöhung des Lehrdeputats, was auf Grund der Kapazitätsverordnung wiederum eine geringere Studiengangsauslastung zur Folge hat mit entsprechenden Konsequenzen für die Finanzen der Universitäten. Die dauerhafte Unterfinanzierung der Universitäten führt ihrerseits dazu, dass diese in erheblichem Maße von Drittmitteln abhängig sind, womit zugleich wieder die Befristung vieler Stellen legitimiert wird. Qualifikationsstellen werden dabei meist nur als Teilzeitstellen und oft nur für unzureichende Laufzeiten ausgeschrieben, so dass die Arbeit an der Qualifikation häufig in die „Freizeit“ verlagert wird und der erfolgreiche Abschluss der Qualifikation nach Ablauf des Vertrags nicht selten durch das Arbeitslosengeld finanziert werden muss. Besonders ungünstig wirkt sich dabei das Abhängigkeitsverhältnis zwischen wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und Professor*innen aus, die in der Regel Vorgesetzte, Betreuende und Begutachtende der Qualifikationsarbeiten in Personalunion sind.
Kettenverträge und unbezahlte Überstunden
Die Konsequenzen eines solchen Systems für die befristet angestellten Mitarbeiter*innen beschreiben Bahr, Eichhorn und Kubon im zweiten Teil des Kapitels, wobei sie aus den Tweets der Kampagne zitieren. Kettenverträge und unbezahlte Überstunden stehen auf der Tagesordnung und führen von Erschöpfung bis hin zu physischen und psychischen Erkrankungen. Besonders hart betroffen sind ohnehin benachteiligte Gruppen. Hier gehen die Autor*innen auf knapp drei Seiten spezifisch auf die besondere Benachteiligung von Frauen und marginalisierten Gruppen ein. „Wissenschaft“, so resümieren sie, „[…] ist in Deutschland nichts für Leute, die sie sich nicht leisten können.“ (S. 86). Schließlich widmet sich der dritte Teil des Kapitels noch mal den Folgen für das Wissenschaftssystem selbst. Dem Dogma der Innovation durch Fluktuation halten sie entgegen, wieviel Zeit einerseits nicht nur mit Begutachtungen und dem – oftmals vergeblichen – Verfassen von Anträgen für neue Drittmittelprojekte, sondern auch mit Bewerbungsverfahren und der Einarbeitung von neuen Mitarbeiter*innen verbraucht wird, während andererseits mit jedem Wechsel der Mitarbeiter*innen wertvolle Expertise verloren geht. Anreizsysteme führen dazu, dass Mitarbeitende gerade nicht innovativ neuen Ideen nachgehen, sondern vor allem gehalten sind, strategisch vorzugehen, um die nächste Stelle zu sichern, wobei der ständige Konkurrenzkampf Teamarbeit verhindert. Während bei Berufungsverfahren über Stellen für wissenschaftlicher Mitarbeiter*innen noch immer als „Ausstattung“ verhandelt wird, sind auch Professor*innen gehalten, Zielvorgaben zu erfüllen, die wiederum u.a. die Einwerbung von Drittmitteln vorsehen. Die bereits genannte problematische Abhängigkeit wissenschaftlicher Mitarbeiter*innen von ihren professoralen Vorgesetzten wirkt sich aus Sicht der Autor*innen nicht zuletzt auch negativ auf die Qualität von Forschung und Lehre aus. „Das Resultat,“ so schreiben sie, „ist ein Wissenschaftsermöglichungsbetrieb, der Wissenschaft faktisch verhindert, weil die Wissenschaftler*innen ihre Zeit mit allzu oft unerfüllten Antragsfantasien und dem Dichten von Bewerbungsprosa zubringen müssen, statt endlich einmal engagiert lehren und ausgiebig forschen zu können, wie es ihre Stellen eigentlich vorsehen.“ (S.96).
Im dritten und letzten Teil widmen sich die Verfasser*innen schließlich möglichen Lösungsansätzen. Die jüngsten Entwicklungen und insbesondere die Debatten um die Novellierung des Berliner Hochschulgesetzes (BerlHG) interpretieren sie als Beleg dafür, dass Universitäten dazu tendieren, Befristungsmöglichkeiten auszureizen, und daher das Argument, dass das WissZeitVG die Befristung zwar ermögliche, aber nicht vorschreibe, ins Leere laufe. Zugleich halten sie jedoch fest, dass Änderungen bezüglich des WissZeitVG allein die Probleme nicht lösen werden, sondern vielmehr auch die Rahmenbedingungen geändert werden müssten, besonders auf der Ebene der Finanzierung. Die Abhängigkeit der Universitäten von Drittmitteln machen die Autor*innen dabei als besonders problematisch aus. Auf den folgenden Seiten stellen die Autor*innen dann unterschiedliche Personalentwicklungsmodelle vor, ohne sich konkret für ein Modell auszusprechen. Abschließend fassen sie ihre Argumente gegen das bestehende System noch einmal zusammen. Sie schließen mit einem Plädoyer, die anstehenden Veränderungen aktiv mitzugestalten, wobei sie eine Reihe von Mindestforderungen aufstellen.
Das System der Befristung steht der Gleichstellung entgegen
Gleichstellung steht – wie bereits erwähnt – nicht im Fokus des Bandes. Auf einigen Seiten gehen die Autor*innen dennoch konkret auf Formen und Folgen der strukturellen Diskriminierung von Frauen und weitere benachteiligte Gruppen ein. Sie verweisen darauf, dass der Anteil der Frauen von Karrierestufe zu Karrierestufe geringer wird und zeigen auf, etwa am Beispiel des Umgangs mit Schwangerschaften, wie das System der Befristung dem von Hochschulen gleichzeitig hochgehaltenen Ziel der Gleichstellung entgegensteht. So schreiben sie: „Somit wird mittels Befristung Diskriminierung ermöglicht, die man durch Beratungsstellen und Stellvertretungen (z.B. Gleichstellungsbeauftragte, Schwerbehindertenvertretungen) vor Ort doch eigentlich bekämpfen will. Es zeigt sich, dass alle Investitionen in Sensibilisierungsmaßnahmen und entsprechende Stabsstellen letztlich ins Leere zu laufen drohen, wenn die Rahmenbedingungen Diversität von vornherein verhindern.“ (S. 83).
Sie zitieren auch Reyhan Şahin, die unter #IchBinReyhan darauf aufmerksam gemacht hat, dass Angehörige marginalisierter Gruppen auf Grund von Mehrfachdiskriminierungen wenig Chancen haben, überhaupt eine Stelle in der Wissenschaft zu bekommen. Dabei merken sie jedoch zugleich an, dass diese Thematik von anderen, sich berufen fühlenden Personen bearbeitet werden müsste. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Wissenschaftssystems auf strukturell benachteiligte Gruppen hätte den Umfang des knapp gehaltenen Bandes vermutlich gesprengt. Es bleibt zu hoffen, dass andere den Ball aufgreifen. Hier – wie übrigens auch an anderer Stelle – wäre ein Verweis auf weiterführende Literatur wünschenswert gewesen. Auf knapp 120 Seiten gelingt es Bahr, Eichhorn und Kubon überzeugend und überraschend kurzweilig, das komplexe deutsche Wissenschaftssystem auseinanderzunehmen und dabei einige oftmals für unumstößlich gehaltene Glaubenssätze aus dem Weg zu räumen. Sichtbar wird dabei ein System, das, vordergründig mit Innovation und Effizienz begründet, in Wirklichkeit nicht nur unwürdige Arbeitsbedingungen schafft, sondern zugleich auch noch hochgradig ineffizient zu wirtschaften scheint. Wer allerdings konkrete Lösungen erwartet hat, mag am Ende enttäuscht sein. Die große Stärke des Buches liegt darin, dass die Autor*innen deutlich machen, dass es sich bei der Ausgestaltung des Wissenschaftssystems um Entwicklungen handelt, die so oder auch anders hätten verlaufen können, und zukünftige Möglichkeiten entsprechend auch nicht alternativlos sind.
Das Buch sei allen empfohlen, die selbst von Befristung in der Wissenschaft betroffen sind – so sie die Zeit zum Lesen finden! Auch wenn direkt Betroffene sich unter den aktuellen Bedingungen nicht hochschulpolitisch engagieren möchten oder können, so mag es dennoch hilfreich sein, Belastungen (auch) als strukturelles und nicht nur als persönliches Problem zu sehen. Vor allem aber sollten all jene das Buch lesen, die auf (hochschul-)politischer Ebene an Entscheidungen bezüglich der Personalentwicklung und anderen strukturellen Veränderungen beteiligt sind.
Wenngleich die Autor*innen sich nur am Rande mit Gleichstellung befassen, so ist der Band dennoch auch allen Gleichstellungsbeauftragten sehr zu empfehlen, um die komplexen Zusammenhänge zu verstehen, von denen benachteiligte Gruppen in besonderem Maße betroffen sind.
Gisela Romain, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Sachunterricht sowie stellvertretende Frauenbeauftragte des Fachbereichs Erziehungswissenschaft und Psychologie. Hier bloggt sie u.a. zum Thema Hochdeputat unter dem Titel „Hanna lehrt“.