Beim diesjährigen Sommerfest der Freien Universität gab es eine Premiere: Ein 13-köpfiges Awareness-Team war sichtbar präsent, damit sich alle Besucher*innen auf dem Campus sicherer fühlen konnten. Um dieses Angebot bereitzustellen, kooperierten der Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, die Stabsstelle Diversity und Antidiskriminierung und das Team geschlechter*gerecht.
Das FU-Sommerfest im Juni bot allen Hochschulangehörigen und Gästen die Möglichkeit, sich sportlich zu betätigen, zu tanzen und sich zu vernetzen. Gleichzeitig bergen große öffentliche Veranstaltungen dieser Art die Gefahr von (sexualisierten) Übergriffen und Diskriminierungen – auch an der Freien Universität.
Jede dritte Frau erfährt im Laufe ihres Lebens mindestens einmal körperliche und/ oder sexualisierte Gewalt. Dies ist das Ergebnis einer der größten Erhebungen zu sexualisierter Gewalt aus dem Jahr 2014. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) ließ 42.000 Frauen ab dem 15. Lebensjahr in 28 EU-Mitgliedsstaaten zu ihren Erfahrungen befragen.
Auch die Anzahl rassistischer und antisemitischer Gewalttaten hat laut einer aktuellen Pressemitteilung des Bundeskriminalamtes stark zugenommen. Die Statistik zur politisch motivierten Kriminalität von 2023 zeigt, dass Hasskriminalität in Deutschland auf dem höchsten Stand seit der Einführung des Meldedienstes in 2001 ist.
Damit das Sommerfest ein diskriminierungsarmer und möglichst sicherer Ort für alle sein kann, war in diesem Jahr erstmals ein 13-köpfiges Awareness-Team als Pilotprojekt im Einsatz. Darüber hinaus sollte es darum gehen, das Bewusstsein (engl. awareness) dafür zu schärfen, dass diskriminierende Übergriffe und (sexualisierte) Gewalt zu jeder Zeit und an jedem Ort vorkommen können. Awareness-Arbeit ist ein etabliertes Konzept im Veranstaltungsbereich. So kam im Vorfeld des Sommerfests im Team geschlechter*gerecht der Wunsch auf, diese Veranstaltung mit einem Awareness-Konzept zu begleiten.
Zeitgleich wurde eine Initiative aus dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaft aktiv. Im Rahmen des Mentoringprogramms dieses Fachbereichs wird schon seit einiger Zeit an Awareness-Konzepten gearbeitet; einige Mentor*innen werden zu Awareness-Begleiter*innen für fachbereichsinterne Veranstaltungen ausgebildet. Zudem arbeiten einige studentische Fachschaftsinitiativen – wie in der Rechtswissenschaft, der Physik, der Sonderpädagogik und der Geschichtswissenschaft – schon mit Awareness-Konzepten und -Teams.
Ein ressortübergreifendes Team trug die verschiedenen Impulse zusammen. Damit war der Startschuss für das Pilotprojekt „Awareness-Team“ gefallen. Die Initiator*innen des Projekt sind Johann Voigtsberger, Leiter des Mentoringprogramms am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Kjell Papra, Student der Volkswirtschaftslehre, Anita Orkiszewska, Stabsstelle Diversity und Antidiskriminierung, sowie Wendy Stollberg, zentrale Ansprechperson bei sexualisierter Belästigung, Diskriminierung und Gewalt (SBDG), Nora Tuchelt, Stellvertreterin der zentralen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, und Varvara Mironova, Team geschlechter*gerecht.
In einem sechsstündigen Workshop haben die Beteiligten gemeinsam Interessierte aus dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaft zu Awareness-Begleiter*innen ausgebildet, die dafür ein Zertifikat erhalten haben. Aus diesem Kreis bildete sich ein Awareness-Team, das in zwei Schichten und gut sichtbar mit farblichen Westen gekleidet für alle Besucher*innen des Sommerfests ansprechbar war.
Was heißt Awareness?
„Awareness bezeichnet das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit für Situationen, in denen die Grenzen anderer überschritten werden oder wurden. Alle Formen von Diskriminierung und (sexualisierter) Gewalt können dabei eine Rolle spielen, es geht aber auch um Sensibilität für das Wohlbefinden einer Person,“ so lautet die Definition der Awareness-Akademie. Im Veranstaltungskontext bezeichnet Awareness-Arbeit die Kollektivierung von Verantwortungsübernahme und die Professionalisierung von Präventions- und Unterstützungsarbeit. Ihren Ursprung hat sie in der Club-Kultur.
Awareness ist keine Idee des 21. Jahrhunderts, sondern findet seine Ursprünge unter anderem in der zweiten Frauenbewegung (1960er bis 1980er Jahre) und in der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung (Civil Rights Movement). Beide Bewegungen kennzeichnet das politische Anliegen, solidarisch gegen Diskriminierung und Gewalt vorzugehen. Während der Grundsatz in dubio pro reo („im Zweifel für den Angeklagten“) zurecht vor Gericht gilt, kann dieses Prinzip im Alltag dazu führen, Erfahrungen von Betroffenen unsichtbar zu machen. Die individuelle Betroffenensicht sollte stärker in den Blick gerückt werden. Die Solidarität mit Betroffenen ist auch eine verbreitete Antwort in der BIPoC-Community (Schwarze Menschen, Indigene Menschen und Menschen of Colour) auf rassistische Polizeigewalt. Awareness-Arbeit gründet auf drei Säulen: Prävention, Reaktion und kollektiver Verantwortungsübernahme.
Prävention
Die erste Säule der Awareness-Arbeit ist Prävention und bedeutet, dass neben dem frühzeitigen Einrichten von selbst gesetzten, internen Gewaltschutzstrukturen im Veranstaltungsteam, zum Beispiel durch das Unterzeichnen eines Verhaltenskodex, auch ein Awareness-Team bei der Veranstaltung vor Ort ist. Die Teammitglieder sollen gut sichtbar und erkennbar sein, sodass Betroffene sie in einer grenzüberschreitenden Situation direkt ansprechen können, und sie schnell und niedrigschwellig Hilfe erhalten.
Die Sichtbarkeit dient auch dem wachsenden Bewusstsein Dritter, auf Mitmenschen Acht zu geben. Die Präsenz des Teams soll zudem zeigen, dass die Veranstaltungsleitung konzeptuell gegen Gewalt und ihre Folgen vorgeht, und so auch verhindert, dass es überhaupt zu Übergriffen kommt. Ohne ein Awareness-Team besteht zwar die Möglichkeit, Freund*innen, Kolleg*innen und im Notfall auch das Security-Team anzusprechen. Doch diese Kontaktpersonen verfügen in der Regel nicht über eine Ausbildung im Umgang mit Betroffenen von übergriffigem Verhalten, sodass die Gefahr besteht, dass sich die betroffene Person allein, ängstlich und unsicher fühlen kann.
Reaktion
Die zweite Säule der Awareness-Arbeit ist, dass die Teammitglieder als erste Bezugspersonen die betroffene Person unterstützen. Hierzu kann zum Beispiel ein Rückzugsort aufgesucht werden, an dem die emotionale Reaktion auf einen Übergriff besser bewältigt und bei Bedarf über das Erlebte gesprochen werden kann. Nachdem der Täter[1] durch seine Grenzüberschreitung Macht über die betroffene Person ausgeübt hat, soll diese die Deutungshoheit über das Erlebte wiedererlangen. Indem das Awareness-Team sich mit der betroffenen Person solidarisch zeigt und ihren Bedürfnissen Raum gibt, soll die*der Betroffene wieder Macht über sich selbst und den eigenen Körper zurückgewinnen.
Aufgabe der Awareness-Begleiter*innen ist weder das Festhalten des mutmaßlichen Täters noch die Aufklärung oder das Bewerten des Sachverhalts – dies liegt im Aufgabenbereich des Security-Teams bzw. von Polizei und Justiz. Während bei Sicherheitsdiensten das Wiederherstellen der Sicherheit durch das Einwirken auf die störende Person im Fokus steht, ist das Ziel der Awareness-Arbeit, der betroffenen Person zuzuhören, um ihr zu helfen, und sie darin zu unterstützen, das Erlebte zu bewältigen. Dabei ist das Team stets auf der Seite der Betroffenen und handelt somit parteilich und vertraulich. Die Schilderungen und Erfahrungen der Betroffenen werden nicht hinterfragt, es zählt der Betroffenenschutz. Da das Team nicht die Rolle einer urteilenden Instanz hat, entsteht hier kein Gerechtigkeitskonflikt. Sowohl der Kontakt mit den Betroffenen als auch der Umgang mit dem Täter sollen auf der Veranstaltung diskret verlaufen.
Verantwortung
Die dritte Säule ist die kollektive Verantwortungsübernahme. Das bedeutet, dass die Awareness-Arbeit einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt, indem alle Personen, die an der (organisatorischen) Umsetzung einer Veranstaltung beteiligt sind, auch aktiv in das Awareness-Konzept einbezogen werden. Sicherere Räume können nur geschaffen werden, wenn alle Beteiligten ausreichend informiert sind und eine betroffenenorientierte Haltung einnehmen. Ein wichtiger Pfeiler hierfür ist, ein Awareness-Team bereits zu Planungsbeginn mitzudenken und im gesamtem Veranstaltungsteam das Awareness-Konzept zu kommunizieren. Alle sollten wissen, wofür das Awareness-Team zuständig ist und in welchen Fällen es auch vom Veranstaltungsteam aktiv angesprochen werden kann. Darüber hinaus muss es von Beginn an bei der Finanzierung mitgedacht werden, und es müssen Rückzugsräume eingeplant werden, in denen Betroffene nach einem Übergriff Schutz finden können.
Der erste Einsatz des Awareness-Teams auf dem Sommerfest war erfolgreich: Das Team war sichtbar präsent und wurde in seiner Funktion von Gästen adressiert. Doch dies war nur der Anfang des Projekts: Das gemeinsame Ziel bleibt, die Awareness-Arbeit an der Freien Universität zu verstetigen. Hierfür arbeiten die beteiligten Personen aus dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, der Stabsstelle Diversity und Antidiskriminierung und dem Team geschlechter*gerecht an einem Konzept, das vorsieht, Studierende wie auch Mitarbeitende aus allen Bereichen zu Awareness-Begleiter*innen auszubilden, die für Veranstaltungen zur Verfügung stehen. Zukünftig wäre es dann möglich, Awareness-Teams regelhaft einzusetzen – und damit zu einer möglichst gewalt- und diskriminierungsfreien Universität beizutragen.
[1] Der „Täter“ wird hier bewusst im generischen Maskulinum gehalten, da sexualisierte und/oder körperliche Gewalt laut der Statistik des Bundeskriminalamtes von 2022 überproportional von Männern ausgeht.
Nora Tuchelt, Stellvertreterin der zentralen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten und Studentin der Rechtswissenschaft