„Wir müssen das Problem benennen!“

Interview mit Dr. Sarah Bellows-Blakely anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen – „An Hochschulen kommt es häufig zu sexualisierter Belästigung und Gewalt“, erklärt die Historikern und BUA-Nachwuchsgruppenleiterin. Wann und wie erstmals eine Auseinandersetzung um sexualisierte Gewalt an Hochschulen aufkam ist ebenso Teil ihrer Forschung wie die Frage nach der Enttabuisierung des Themas und geeigneten Maßnahmen.

Am 25. November ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. In einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Aktionstage unter dem Motto „Für die Hochschule! Gegen sexualisierte Belästigung, Diskriminierung und Gewalt“ diskutieren Expert*innen über universitäre Strukturen und Möglichkeiten zur Prävention von sexualisierter Belästigung an der Freien Universität. Eine der Expert*innen ist Dr. Sarah Bellows-Blakely. Die Leiterin der BUA-Nachwuchsgruppe „Fixing the System: Analysen im Kontext der Wissenschaftsgeschichte“ am Margherita-von-Brentano-Zentrum für Geschlechterforschung der Freien Universität ist promovierte Historikerin und Dozentin im Masterstudiengang Global History.

Frau Bellows-Blakely, mit welchen Forschungsaspekten beschäftigt sich die Nachwuchsgruppe „Fixing the System“?

Wir analysieren, wie sich spezifische Rahmenbedingungen für Diversität und Geschlecht im Laufe der Zeit in verschiedenen Kontexten institutionalisiert haben – oder auch nicht. Wir wollen verstehen, was mit dem Verständnis von Diversität und Geschlecht passiert, wenn es in politische Normen übergeht und bürokratische Transformationsprozesse durchläuft.“

Sie analysieren institutionelle Reaktionen auf sexualisierte Belästigung an Berliner Universitäten, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts ereignet haben. Wann und in welchem Rahmen ist das Thema erstmals an der Freien Universität Berlin aufgetaucht?

Dr. Sarah Bellows-Blakely, Foto: Christoph Kalter

Wir haben herausgefunden, dass einige der größten Veränderungen in den 1980er Jahren stattfanden. Hier haben erstmals Personen sexualisierte Belästigung und Gewalt als weit verbreitetes Problem an Universitäten sichtbar gemacht. Häufig waren dies Studentinnen und Mitarbeiterinnen, die das Gefühl hatten, dass die Universitätsstrukturen Täter, oftmals Professoren, schützten und zuließen, dass sexualisierte Gewalt unsichtbar bleibt und dadurch gleichzeitig gedeihen konnte.

Organisierte Studierendenproteste im ehemaligen West-Berlin – wie beispielsweise an der Freien Universität im Jahr 1984 – führten dazu, dass die Aufmerksamkeit der Medien auf das Problem gelenkt wurde, was wiederum zu universitären Maßnahmen führte. Das sehen wir auch heute noch: Institutionen reagieren bei öffentlichem Druck oftmals schneller.“

Warum war der Studierendenprotest an der Freien Universität im Jahr 1984 so bedeutsam? Was hat sich in der Folgezeit innerhalb der Universität verändert?

Der damalige Studierendenprotest ist einer der ersten Fälle, in denen Menschen gemeinsam und öffentlich sexualisierte Belästigung und Gewalt an deutschen Universitäten als ein tief verwurzeltes Problem sichtbar machten. Die Studierenden protestierten gegen zwei Ärzte der Gynäkologischen Klinik der Freien Universität, denen vorgeworfen wurde, eine Medizinstudentin vergewaltigt zu haben. In weißen Kitteln und mit Schildern demonstrierten die Studierenden auf dem Campus, um sowohl gegen die Ärzte als auch die Untätigkeit der Hochschulleitung zu protestieren.

Diese Proteste fanden nicht isoliert statt, sondern waren Teil einer größeren, auch internationalen Bewegung, die auf Gewalt gegen Frauen zwischen den 1970er und 1990er Jahren aufmerksam machte.

Proteste dieser Art lösten öffentliche Diskussionen aus und trugen zu bürokratischen Veränderungen innerhalb der Universitäten und ihrer Leitungsgremien bei. Der West-Berliner Senat gründete beispielsweise 1986 eine Arbeitsgruppe, um sexualisierte Belästigung und deren Verbreitung an Universitäten erstmals zu definieren. Im selben Jahr wurde das Berliner Hochschulgesetz verabschiedet, das mit § 59 den Weg für die Schaffung des Amtes der Frauenbeauftragten an der Freien Universität und der Technischen Universität ebnete.“

In Ihrer Forschung verbinden Sie Geschlechteranalyse mit Organisationstheorie. Warum ist das wichtig?

Wir verbinden in der Forschungsgruppe Geschlechtergeschichte mit einer Organisationstheorie des Geschlechts. Die Geschlechtergeschichte betrachtet Veränderungen im Zeit- und Raumverlauf und fragt, wann, wo und unter welchen Bedingungen sexualisierte Gewalt zu- oder abnimmt. Das heißt mit anderen Worten, dass das Patriarchat oder Gewalt gegen Frauen nicht als natürlich oder universell gültig betrachtet werden.

Die Organisationstheorie des Geschlechts hinterfragt, wie und warum sexualisierte Belästigung und Gewalt innerhalb bestimmter Institutionen und formalisierter Machtverhältnisse entstehen können.

Ähnlich wie in der katholischen Kirche oder in Hollywood sind Universitäten Orte, an denen es sexualisierte Belästigung und Gewalt gibt. Die geschlechtsspezifische Organisationstheorie hilft uns, dies als strukturelles Problem zu verstehen und nicht auf der individuellen Ebene zu verorten.

Insgesamt erlauben uns Geschlechterperspektiven auf Geschichte und Organisationstheorie die Frage, welche Arten von bürokratischen Strukturen innerhalb von Universitäten die Probleme sexualisierter Belästigung und Gewalt im Laufe der Zeit verschlimmert oder verbessert haben.

Der 25. November, der Internationale Tag gegen Gewalt gegen Frauen, ist ein Anlass, sich in größerem Rahmen mit den bestehenden Machtstrukturen zu befassen, die sexualisierte Belästigung immer noch zulassen. Was muss sich an Universitäten am Dringendsten ändern, um Betroffene zu schützen?

Es gibt vieles, was Universitäten tun können und sollten, um gegen sexualisierte Gewalt vorzugehen. Das Erste mag offensichtlich klingen, ist aber grundlegend: Wir müssen das Problem benennen! An Universitäten kommt es häufig zu sexualisierter Belästigung und Gewalt, das ist durch umfangreiche Studien hinreichend belegt. Sexualisierte Gewalt ist ein tabuisiertes Problem, das ständig unter den Teppich gekehrt wird.

Zweitens sind die bestehenden universitären Melde- und Berichterstattungsmaßnahmen zur Verhinderung und Ahndung von Belästigung noch immer unzureichend. Sie bestrafen und belasten allzu oft die Betroffenen und führen gleichzeitig zu selten zu angemessenen Konsequenzen für die Täter. Unsere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Betroffene entlastet würden, wenn Augenzeug*innen und sogenannte Bystander Fälle sexualisierter Gewalt offiziell der Universitätsverwaltung melden könnten.

Drittens zeigen unsere Untersuchungen, dass Gleichstellungsbeauftragte in ganz Deutschland häufig überarbeitet und unterbezahlt sind und keine Verwaltungsbefugnisse erhalten, um Täter tatsächlich zu sanktionieren. Zu viele Universitäten erwecken den Eindruck, das Problem öffentlich ernst nehmen zu wollen, während intern gleichzeitig das Ausmaß des Problems nicht anerkannt wird oder Expert*innen nicht die Macht haben, Prozesse für Betroffene tatsächlich zu verbessern.“


Das Interview erschien zunächst unter dem Titel „Wir müssen das Problem benennen: An Universitäten kommt es häufig zu sexualisierter Belästigung und Gewalt“ in campus.leben, dem Online-Magazin der FU Berlin.


Die Fragen stellte Merle Büter, Referentin im Team geschlechter*gerecht.


Wo finden Betroffene Informationen und Hilfe?

Wenn Sie von sexualisierter Belästigung, Diskriminierung und Gewalt (SBDG) betroffen sind oder grenzüberschreitendes Verhalten beobachtet haben, bieten Ihnen FU-interne und externe Anlaufstellen Beratung und Unterstützung an:

Blog-Serie zu sexualisierter Belästigung, Diskriminierung und Gewalt

Mit dem diesjährigen Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen startet das Team geschlechter*gerecht eine Blogserie zu SBDG. Über jährliche Aktionstage hinaus berichten Wissenschaftler*innen, Gleichstellungsakteur*innen und Expert*innen aus Forschung und Praxis zum Thema sexualisierte Belästigung, Diskriminierung und Gewalt.

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