Es darf keine weiteren Opfer geben

Datenbank-Projekt zu Tötungsdelikten an Frauen und Mädchen erhält den Margherita-von-Brentano-Preis der Freien Universität

Ni Una Menos, Ni Una Más! Nicht eine weniger, nicht eine mehr! Mit diesen Forderungen gehen Frauen in Lateinamerika immer wieder auf die Straße.

Was sie antreibt, ist die Angst davor, aufgrund ihres Geschlechts getötet zu werden, und die Wut darüber, dass die Täter selten ermittelt und bestraft werden. In einigen lateinamerikanischen Ländern sind die Zahlen getöteter Frauen besonders hoch – in Mexiko etwa werden pro Tag zehn Frauen getötet. Doch dass Frauen und Mädchen umgebracht werden, weil sie Frauen und Mädchen sind, ist weltweit ein Missstand. „Ausgangspunkt dieser Verbrechen, sogenannte Femizide oder Feminizide, sind hierarchische Machtverhältnisse. Den Opfern wird eine untergeordnete Position zugeschrieben“, erklärt Hannah Beeck. Sie hat an der Freien Universität Interdisziplinäre Lateinamerikastudien studiert und ist Mitglied von „Feminizidmap“. Die Initiative dokumentiert seit 2019 Tötungsdelikte an Frauen und Mädchen in Deutschland. Der Projektgruppe ist der diesjährige Margherita-von-Brentano-Preis der Freien Universität zuerkannt worden, der am 16. November feierlich überreicht wird. Die 13 Mitarbeiterinnen der Initiative sammeln Informationen aus Medienberichten, um die Verbrechen zu systematisieren. Sie wollen so viele Datenwie möglich erfassen, um zu zeigen, wie unterschiedlich Femizide oder Feminizide stattfinden können. „In Deutschland werden die Taten zumeist gleichgesetzt mit Tötungen, die in einer Partnerschaft geschehen. Dass das Opfer eines Feminizids und der Täter eine intime Beziehung führen, ist aber nicht immer das Fall“, sagt Aleida Luján Pinelo, die Mitgründerin des Datenbankprojekts. Auch die Motive für die Verbrechen sind sehr unterschiedlich.

Manche Täter fühlen sich von einer Frau gedemütigt, bei anderen Taten spielen rassistische Motive eine Rolle. In Deutschland seien die Begriffe Femizid und Feminizid noch nicht etabliert, sagt Aleida Luján Pinelo. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass es bislang keine einheitliche Definition gibt. Politikerinnen und Politiker sowie Juristinnen und Juristen vermeiden die Bezeichnungen daher oft.

Nur wenn staatliche Stellen sich dem Problem stellen, kann sich etwas ändern

Wie die Tötung von Frauen und Mädchen bezeichnet wird, hängt auch von der Sprache ab. Im Deutschen und Englischen wird meist von Femizid gesprochen, in romanischen Sprachen wie Spanisch und Italienisch ist auch von Feminizid die Rede. „Die mexikanische Wissenschaftlerin Marcela Lagarde hat die Bezeichnung ‚feminicidio‘, also Feminizid, eingeführt“, sagt Aleida Luján Pinelo. Sie selbst verwendet ebenfalls diesen Ausdruck. „Er betont die Verantwortung staatlicher und gesellschaftlicher Akteure, Frauen und Mädchen vor geschlechterspezifischen Tötungen zu schützen“, erklärt die Doktorandin für Rechtswissenschaft an der Universität Turku.

Lange sei die geschlechtsspezifische Tötung von Frauen und Mädchen in Deutschland als ein Phänomen gesehen worden, das es hier nicht gebe. Hannah Beeck glaubt, dass das mit dem Selbstbild der deutschen Gesellschaft zusammenhängt.

„Viele Menschen meinen, dass Deutschland in Sachen Gleichberechtigung besonders weit ist – schließlich haben wir jahrelang eine Frau als Bundeskanzlerin gehabt – und dass es Verbrechen wie Feminizide deshalb hier nicht geben kann.“

Das Team von „Feminizidmap“ stellt aber fest, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit Femiziden oder Feminiziden zugenommen hat. Seit 2015 erstellt das Bundeskriminalamt Statistiken zu Gewalt in Partnerschaften und macht damit auch auf geschlechtsspezifische Unterschiede aufmerksam. In dem Bericht von 2019 heißt es, 80 Prozent der Opfer seien weiblich gewesen. „Diese Zahlen sprechen für strukturelle Probleme in der Gesellschaft“, sagt Aleida Luján Pinelo. Es fehle an mehr Zufluchtsorten wie Frauenhäusern und an Bildungsangeboten zu Rollenbildern, vor allem für Jungen und Männer, sowie zu den Anliegen Inter-, Trans- und nichtbinärer Menschen.

Aleida Luján Pinelo und Hannah Beeck sehen hier vor allem Politikerinnen und Politiker in der Verantwortung. „Der Staat muss die Tötung von Frauen und Mädchen als ein Problem in Deutschland anerkennen. Wir können nur das bekämpfen, was wir auch benennen können“, betonen sie. Die Projektbeteiligten hoffen, dass sich staatliche Einrichtungen in Zukunft der Analyse geschlechtsspezifischer Gewalt annehmen. Die Daten sollen helfen, Präventivmaßnahmen zu erarbeiten, damit keine Frau und kein Mädchen mehr Opfer eines Femizids oder eines Feminizids wird.

Anne Stiller

Artikel zuerst in der Tagesspiegel-Beilage der Freien Universität am 2. Oktober 2021 erschienen.

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