Ein Gespräch über Frauen in der Wissenschaft, soziale Herkunft und die ästhetische Dimension von Mathematik mit Hélène Esnault. Die Mathematikerin war von 2012 bis 2019 die erste Einstein-Professorin an der Freien Universität. Die deutsche Mathematiker-Vereinigung bezeichnet Esnault, geboren 1953 in Paris, als „eine der weltweit profiliertesten Persönlichkeiten in der Mathematik“.
Wie würden Sie Ihre mathematische Arbeit einem Laien erklären? Was macht für Sie die Faszination daran aus?
Mathematik ist ein Fach, das Klarheit, Licht und Leidenschaft erfordert. Geduld ist nicht so wichtig: Mathematik ist für mich eine Liebesgeschichte. Ich würde von der Faszination der Abstraktion sprechen, es vergleichen mit der Aktivität eines/r Künstler/in oder eines/r Dichter/in. Ich würde auch auf das Kriterium der Wahrheit eingehen, das die Mathematik von solchen intellektuellen Aktivitäten unterscheidet. Wichtig ist auch der gesellschaftliche Aspekt, also z. B. die Begutachtung von Kolleg/innen, von Institutionen oder die Ausbildung jüngerer Mathematiker/innen, in die ich involviert bin.
Auf Ihrer Website trifft man nicht auf Zahlen oder Formeln, sondern auf Gedichte.
Ja, erst einmal gibt es eine direkte Verbindung zu mir, da ich Literatur, Philosophie, Dichtung liebe, aber ich sehe sie auch in der Ausübung der intellektuellen Freiheit, in der Suche nach der richtigen Gestalt, nach der Schönheit, auch in der Mathematik.
Sie lehren seit über 30 Jahren Mathematik, ein Fach, das immer noch als Männerdomäne gilt. Woran mag es liegen, dass weiterhin trotz stetig gewachsenen Studentinnenanteils wenige Frauen in der Mathematik verbleiben?
Ich weiß es nicht, und vielleicht weiß das niemand. Ich habe in den letzten Jahren ausschließlich fortgeschrittene Kurse gelehrt, da gibt es wesentlich weniger Frauen. Sowohl jetzt als auch vor Jahren war das Problem nicht, dass es bei den Anfänger/innen weniger Frauen gab, es gab damals prozentual schon viele. Es war eher so, dass viele, selbst wenn sie herausragend waren, irgendwann nicht weitermachen wollten. Das hat sich nicht geändert, das habe ich traurigerweise in den letzten Jahren immer neu erleben müssen.
In einem Interview sagten Sie, dass Ihr Geschlecht für Ihre Hochschulkarriere kein so großes Hindernis darstellte wie Ihre soziale Herkunft. In welchen Momenten hat sich die Diskriminierung bemerkbar gemacht?
Die soziale Diskriminierung war am Anfang meiner Karriere eine große Hürde. Ich erzähle dazu eine Anekdote: Ich war in den sogenannten ‚Vorbereitungsklassen‘ in Paris – es geht dabei um die Vorbereitung für französische Elitehochschulen wie z. B. die École Normale Supérieure. Ich war 18. Es gab 50 Jungs und nur zwei Mädchen in meiner Klasse. Das andere Mädchen wurde wegen seiner schlechten Ergebnisse sehr schnell rausgeschmissen, also war ich allein. Nach einigen Wochen kam ein Mitschüler – sagen wir Y – zu mir. Ich beschreibe jetzt das Gespräch zwischen Y und mir. Y: Es gibt in der Klasse Gerüchte über Dich. H: Aha? Y: Einige behaupten, dein Vater sei ein Arbeiter, er sei Kommunist, und du wohnst in Ivry. H: Aha? Y: Aber mach dir keine Sorgen, ich habe denen erklärt, es sei unmöglich. H: Aha, wirklich? Y: Ja. H: warum? Y: Da du sauber bist und gut riechst. Zur Erklärung sei hinzugefügt: Ivry ist ein Arbeitervorort von Paris, und die drei Punkte Arbeiter, Kommunist, Ivry waren natürlich absolut zutreffend. Diesen ‚Schutz‘ werde ich nie vergessen. Vielleicht hat mich diese harte Diskriminierung für mein ganzes Leben motiviert.
Was können Universitäten Ihrer Meinung nach tun, um solchen Benachteiligungen entgegenzuwirken?
Soziale Diskriminierung ist ein riesiges politisches und soziales Problem, es geht um das ganze Schulsystem. Sie trifft heutzutage insbesondere die Kinder von Migrant*innen hart, aber das überschreitet den Rahmen unseres Gesprächs. Wenn Sie die Benachteiligung von Frauen ansprechen, ist diese meiner Meinung nach eher zu überwinden, wobei ich selbst keine Patentlösung habe. Es gibt das Offensichtliche: Kinderkrippen, Elternzeit für Väter, etc. Und man muss die Codes brechen. Gerade im Bereich der Rollenbilder erleben wir jetzt eine Umwälzung. Es hilft vielleicht, klarzustellen, dass keine intellektuelle Aktivität an ein Geschlecht gebunden ist. Eine andere Schwierigkeit ist, dass die meisten jungen Leute in Partnerschaften leben. Wenn das Mann/Frau ist, ist es selten der Fall, dass der Mann akzeptiert, die schlichtere Rolle zu spielen. Wie ich vorher sagte, habe ich selbst keine Lösung zu dem Problem.
Sie haben viele bedeutende Preise und Auszeichnungen erhalten. Sehen Sie sich auch als Vorbild und Ansporn für jüngere Mathematikerinnen, den Weg in der Wissenschaft weiterzuverfolgen?
Es ist eine schwierige Frage. Ich glaube nicht, dass ich für irgendetwas ein Vorbild bin. Unsere Welt lebt von der Vielfalt. Es ist gut, dass wir unterschiedlich sind.
Die Fragen stellten Dr. Mechthild Koreuber, zentrale Frauenbeauftragte, und Susanne Romanowski, ehemalige studentische Mitarbeiterin im Team Zentrale Frauenbeauftragte der Freien Universität Berlin.
Die ungekürzte Erstveröffentlichung des Interviews erschien im Wissenschaftlerinnen-Rundbrief 1/2019: Geschlechterverhältnisse in der Mathematik
Was für ein toller Titel!