Vielfalt verlangt Haltung

Carolin Loysa ist die erste Beauftragte für Diversität und Antidiskriminierung der Freien Universität. Seit Juni 2025 hat die promovierte Anthropologin das neu geschaffene Wahlamt inne. Vielfalt bedeutet für sie, Strukturen kritisch zu hinterfragen und Räume für andere Erfahrungen zu öffnen. Ihr Gastbeitrag verdeutlicht, dass Vielfalt – auch für die Universität – kein Selbstzweck ist und sein darf.

English version below.

In meiner Funktion als Beauftragte für Diversität und Antidiskriminierung an der Freien Universität Berlin ist es mir ein Anliegen, den institutionellen Auftrag ernst zu nehmen, Diskriminierung machtsensibel und intersektional zu erkennen – entsprechend der in der Antidiskriminierungssatzung und im Diversity-Ansatz der Universität festgeschriebenen Prinzipien. In und mit der Kommission für Diversität und Antidiskriminierung beraten wir das Präsidium, um entsprechende Strukturen universitätsweit zu stärken und weiterzuentwickeln. Die Kommission ist dabei so zusammengesetzt, dass unterschiedliche Diskriminierungsdimensionen und -erfahrungen in ihrer Vielfalt vertreten und eingebracht werden können – als Ausdruck einer institutionellen Praxis, die strukturelle Ungleichheiten nicht individualisiert, sondern im Zusammenwirken adressiert.

Soziale Ausschlüsse schreiben sich tief in Körper, Alltag und Sprache ein

Diese Themen – und ihre Bearbeitung im Zusammenspiel von strukturellem Anspruch und gelebter Erfahrung – sind für mich nicht nur beruflich relevant, sondern biografisch verankert. Als queer lebende Frau, als Kind der DDR und des Libanon kenne ich soziale Ausschlüsse, die sich tief in Körper, Alltag und Sprache einschreiben. Solche Erfahrungen sind oft schwer vermittelbar – umso wichtiger ist es, ihnen Sichtbarkeit zu verschaffen und ihre strukturelle Dimension ernst zu nehmen.

Als Anthropologin – geprägt auch durch meine eigene Lebensgeschichte – beschäftige ich mich seit jeher mit Formen sozialer Zugehörigkeit, kultureller Praxis und den Wirkungsweisen von Machtverhältnissen. In meiner gleichstellungspolitischen Arbeit am Lateinamerika-Institut wurde mir besonders deutlich, wie eng Antidiskriminierung und Gleichstellung zusammengehören: Diskriminierung verläuft selten eindimensional – sie entfaltet sich entlang verschränkter Ungleichheitsachsen.

Auch in meiner wissenschaftlichen Arbeit steht die Erfahrbarkeit von Ausgrenzung, Affekt und Zugehörigkeit im Zentrum. Ich arbeite an der Schnittstelle von Stadt- und Politischer Anthropologie, Migrationsforschung und Affekttheorie. Im Mittelpunkt steht für mich, wie Wissen und Erfahrungen der globalen Mehrheit – also der Menschen außerhalb Europas und der USA, insbesondere aus Lateinamerika und Westasien – miteinander in Beziehung stehen und neue Blickwinkel eröffnen. Queer-feministische und dekoloniale Perspektiven bilden dabei das methodische wie theoretische Fundament meiner Arbeit.

Es geht darum, eigene Erfahrungen als Erkenntnisquellen ernst zu nehmen

In meiner Lehre bedeutet das, Räume zu schaffen, in denen Wissen nicht nur vermittelt, sondern gemeinsam hervorgebracht wird – getragen von Achtsamkeit, Neugier und kritischem Denken. Inspiriert von Denkansätzen wie denen von Sara Ahmed, Maria Lugones, Audre Lorde und bell hooks verstehe ich Pädagogik als geteilte Verantwortung. Es geht darum, institutionelle Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen – und nicht nur Studierende, sondern alle Mitglieder der Universität zu ermutigen, eigene Erfahrungen als Erkenntnisquellen ernst zu nehmen.

Gerade in Zeiten, in denen sich Wissenschaftsinstitutionen zunehmend rechtfertigen müssen, ist es zentral, an ihrem emanzipatorischen Potenzial festzuhalten. Wissenschaftsfreiheit bedeutet auch, unbequeme Fragen stellen zu dürfen – insbesondere dann, wenn sie etablierte Machtverhältnisse berühren. Der Ruf nach Neutralität kann hier schnell zur Fassade werden: eine scheinbar ausgewogene Haltung, die strukturelle Ungleichheiten verschleiert und institutionelle Verantwortung ausklammert. Dabei verkennt eine Haltung des Nicht-Positionierens, dass sie nie wirklich neutral ist.

Vielfalt fördern heißt auch, bestehende Ordnungssysteme zu irritieren

Umso wichtiger ist es, Diversitätsgerechtigkeit nicht als additiven Luxus zu behandeln, sondern als strukturelle Notwendigkeit – gerade jetzt. In Zeiten, in denen gesellschaftliche wie institutionelle Ressourcen neu verteilt und gekürzt werden, braucht es bewusste Entscheidungen für Schutz, Teilhabe und Sichtbarkeit. Vielfalt zu fördern heißt nicht nur, unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen – es bedeutet auch, bestehende Ordnungssysteme zu irritieren und Fürsorge als institutionelles Prinzip ernst zu nehmen.

Meine eigene soziale Positionierung bildet für mich eine wichtige Ressource, um Wege hin zu Diversitätsgerechtigkeit aufzuzeigen. Queerness – als Rahmen für Diversity – begreife ich nicht nur als soziale Zugehörigkeit, sondern auch als erkenntnistheoretische Perspektive. Sie ermöglicht es, normative Ordnungssysteme zu hinterfragen, Irritationen zuzulassen und neue Denk- und Handlungsspielräume zu eröffnen. Dafür braucht es Mut: Mut zur Reibung, zur Ambivalenz, zur Veränderung.

Dr. Carolin Loysa, Beauftragte für Diversität und Antidiskriminierung, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte am Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin

Kontakt: diversity-officer@diversity.fu-berlin.de


Weiterführende Links

Blogbeitrag zur Antidiskriminierungssatzung: Neue Regelungen für Chancengleichheit (1)


Diversity Requires Commitment

Diversity is not an end in itself — it demands commitment. Carolin Loysa is the Diversity and Anti-Discrimination Officer at Freie Universität Berlin. Her work bridges academic inquiry and lived experience. For her, diversity means questioning structures — and creating space for new ways of thinking and being.

As the Commissioner for Diversity and Anti-Discrimination at Freie Universität Berlin, I am committed to upholding the university’s mandate to address discrimination with awareness of power dynamics and from an intersectional perspective – in accordance with the principles laid out in the university’s Anti-Discrimination Statute and Diversity Approach. In and with the Diversity and Anti-Discrimination Committee, we advise the university’s executive board with the aim of strengthening and further developing institutional structures that promote and secure diversity. The committee is deliberately composed to reflect a broad range of discrimination dimensions and lived experiences — as an institutional practice that does not individualize structural inequality, but addresses it through collective engagement.

Social Exclusion Is Deeply Inscribed in the Body, Everyday Life, and Language

These topics — and the work of engaging with them at the intersection of structural commitment and lived experience — are not only central to my professional role, but deeply tied to my biography. As a queer person, woman, and a child of both East Germany and Lebanon, I’ve experienced forms of social exclusion that settle into the body, shape everyday experience, and mark the ways we speak and are spoken to. These experiences are often difficult to articulate — which makes it all the more important to create space for them and to take their structural dimensions seriously. As an anthropologist — and through my own lived experience — I’ve long been engaged with questions of social belonging, cultural practice, and the ways power shapes thought and action.

My long-standing involvement in gender equality work at the Institute for Latin American Studies has helped me to think more concretely about how anti-discrimination and gender equity are interconnected — because discrimination and inequality rarely operate along a single axis.

My work explores lived experiences of exclusion, affect, and belonging. At the crossroads of urban and political anthropology, migration studies, and affect theory, I am interested in how the knowledges and experiences of the global majority – people outside Europe and the United States, particularly from Latin America and West Asia – come into dialogue and generate new ways of thinking. Queer-feminist and decolonial frameworks guide my approach, both methodologically and theoretically.

It Is About Taking Your Own Experiences Seriously as Sources of Knowledge

This perspective also shapes my teaching. I see the classroom as a space where knowledge is not simply transmitted, but co-created — grounded in attentiveness, curiosity, and critical reflection. Influenced by thinkers such as Sara Ahmed, Maria Lugones, Audre Lorde, and bell hooks, I view pedagogy as a shared responsibility. It’s also about challenging institutional norms — and encouraging everyone at the university, not just students, to take their own experiences seriously as sources of knowledge.

At a time when academic inquiry and institutions are under growing pressure to justify themselves, it is essential to reaffirm their critical and emancipatory potential. Academic freedom includes the right — and the responsibility — to ask uncomfortable questions, especially when they confront established hierarchies. Appeals to neutrality can easily become a façade: a seemingly balanced position that masks structural injustice and deflects responsibility. Not taking a position is never truly neutral.

Promoting Diversity Also Means Disrupting Existing Systems of Order

That’s why diversity, equity, and justice must not be treated as optional additions, but as structural commitments — especially now. As institutional and societal resources are being redistributed and cut, deliberate decisions must be made in favor of protection, participation, and visibility. Promoting diversity is not only about inclusion — it also means questioning dominant logics and taking care work seriously as a shared, institutional task.

I consider my own social positioning an important resource for envisioning and advancing diversity and equity and understand queerness — as a framework for diversity — not only as a social identity, but as an epistemological lens. It allows us to unsettle normative structures, question the taken-for-granted, and imagine new ways of thinking and acting. That takes courage: the courage to face friction, sit with ambiguity, and embrace change.

Dr. Carolin Loysa, Diversity and Anti-Discrimination Officer, Research Associate and Gender Equality Officer at the Institute for Latin American Studies, Freie Universität Berlin

Contact: diversity-officer@diversity.fu-berlin.de


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