Digitalisierung und Gleichstellung

„Fix the company – not the women”, so lautet der Appell des Dritten Gleichstellungsberichts der Bundesregierung. Gastautorin Johanna Fuchs stellt den Bericht mit Fokus auf die Unterrepräsentanz von Frauen in der Digitalbranche vor. Diesem Thema widmet sich am 20. September 2022 auch ein politischer Talk an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

Der Dritte Gleichstellungsbericht der Bundesregierung beschäftigt sich mit den Zusammenhängen und Wechselbeziehungen von Digitalisierung und Gleichstellung. Eine Sachverständigenkommission verfasste dafür unter dem Titel „Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten“ ein wissenschaftliches Gutachten mit 101 Handlungsempfehlungen, die sich unter anderem an die Bundesregierung, die Gesetzgeber*innen und an Unternehmen und Bildungsinstitutionen richten.

In einer Zeit, in der Digitalisierung als politisches Projekt zentral verhandelt wird, und die Informatik immer mehr an Bedeutung gewinnt, prägen die Verhältnisse und Arbeitsweisen der Digitalbranche und die dort entwickelten Produkte die Gesellschaft nachhaltig. Sie sind jedoch auch von den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen beeinflusst. Gleichzeitig kann Digitalisierung als gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandlungsprozess eine Gelegenheit bieten, um die Gleichstellung voranzubringen, so die Einschätzung der Sachverständigenkommission.

Argumente für eine gleichstellungsorientierte Digitalisierung

Es ist ein grundlegendes Gleichstellungsziel, alle Berufszweige und Studiengänge Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht zugänglich zu machen – auch die MINT-Fächer. Doch dies ist nicht nur wichtig, damit alle Menschen die Möglichkeit haben, sich ihren Interessen entsprechend beruflich zu verwirklichen. Auch für die fachliche Arbeit der zugehörigen Branchen und Fachbereiche selbst ist es essenziell, dass die Perspektiven von Frauen und allen anderen dort unterrepräsentierten Gruppen nicht fehlen, sei es in der Forschung oder in der Technikentwicklung. Dass die digitale Technik, die unser Leben schon jetzt in vielen Bereichen prägt, die vielfältigen Lebensrealitäten von Menschen bislang nicht ausreichend einbezieht, wird unter anderem daran sichtbar, dass bestehende Ungleichheiten und Diskriminierungen sich in technischen Produkten fortsetzen. Diese Problematik wurde insbesondere im Hinblick auf sexistisch und rassistisch diskriminierende algorithmische Systeme, wie zum Beispiel Gesichtserkennungssysteme oder Bewerbungssoftware, in den vergangenen Jahren vermehrt medial diskutiert. Beispielhaft kann auf die Recherche des Bayerischen Rundfunks zu diskriminierender Bewerbungssoftware und Joy Buolamwinis Forschung zu Gesichtserkennung und Rassismus in dem Film „Coded Bias“ verwiesen werden.

Unterrepräsentation und Diskriminierung von Frauen

Bislang ist Deutschland von der Gleichstellung der Geschlechter in der Informatik und der Digitalbranche noch weit entfernt. Von den Studienanfänger*innen der Informatik sind nur 22% weiblich. Mehr Frauen als Männer brechen das Studium wieder ab, so dass der Frauenanteil bei den Studienabschlüssen bei nur 20% liegt. Der Berufseinstieg stellt einen weiteren Filter dar: In der Digitalbranche arbeiten in Deutschland derzeit nur rund 16% Frauen, ihre Fluktuationsrate und Ausstiegsquote sind hoch. Dieses Muster zeigt sich auch bei internationalen Vergleichsstudien. In der EU liegt die Quote von Frauen im IT-Bereich im Alter von 30 Jahren bei 20 % und im Alter von 45 Jahren bei nur noch 9 %. Dies scheint ein sich zu verstärkender Trend zu sein, 2015 verließen Frauen die Branche noch etwas häufiger als 2011. Erhebungen des Statistischen Amtes der Europäischen Union kommen zu einem ähnlichen Ergebnis mit einem europaweiten Frauenanteil von durchschnittlich 19,1 % in der IT-Branche. 

Neben dem geringen Frauenanteil in der IT-Branche ist auch die hohe Fluktuationsrate von Frauen ein problematisierter Aspekt. Illustration: Ka Schmitz & Imke Schmidt-Sári ©Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht

Zum Anteil von Personen, die nicht dem binären Geschlechtermodell entsprechen, wurden bislang keine umfassenden Daten erhoben. Bisherige Maßnahmen zur Erhöhung des Frauenanteils in MINT-Studiengängen zielen meist darauf ab, Geschlechterstereotypen, die bereits ab der frühen Bildung auf die Interessenentwicklung Einfluss nehmen, etwas entgegenzusetzen und Mädchen und junge Frauen in MINT-Interessen zu bestärken. Der Girls‘Day, der seit 2002 jährlich bundesweit stattfindet und auch in diesem Jahr im April an der FU digital veranstaltet wurde, ist ein Beispiel für eine gezielte Schüler*innen-Förderung, ebenso wie das MINToring-Programm der FU. Bislang weniger verbreitet sind jedoch Ansätze, die die strukturellen Bedingungen in den Studiengängen und in der Branche selbst angehen.

Denn auch hier liegt ein zentrales Problem: Die Geschlechterstereotype, mit denen junge Menschen aufwachsen, verlieren ihre Wirkmächtigkeit weder zu Beginn eines Studiums noch beim Eintritt ins Berufsleben. Sie stellen kontinuierlich eine Hürde für alle dar, denen eine Technikaffinität abgesprochen wird und nehmen Einfluss auf die Arbeitsbewertung und Aufstiegschancen. Diese Aspekte wiederum führen besonders in der Digitalbranche zu einem Gender Pay Gap und einem Gender Leadership Gap. Die entsprechende Ungleichheit an Hochschulen wurde in anderen Blogbeiträgen schon in Bezug auf MINT-Professuren aufgezeigt, beispielsweise im Artikel „Wie weiblich ist MINT an der FU?“.

Neben strukturellen Benachteiligungen, sind auch sexualisierte Diskriminierungen in der Digitalbranche zu benennen. Sexismus, sexualisierte Belästigung und andere Formen der Diskriminierung und Gewalt gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen und Berufsfeldern. In der Digitalbranche scheint Diskriminierung jedoch besonders häufig: 42% der Beschäftigten des Felds geben an, aufgrund ihres Geschlechts oder anderer Merkmale schon Diskriminierung erfahren zu haben. Im Vergleich zu anderen Branchen ist der Anteil an Diskriminierungserfahrungen damit 10% höher.

Neue Arbeitsmethoden fördern traditionelle Organisationsmuster

Zusätzlich zu konkreten Diskriminierungserfahrungen stellen auch die Arbeits- und Organisationskultur sowie die in der Branche dominanten Werte Karrierehindernisse für viele Frauen dar. Der Wettbewerbsgedanke ist in Tech-Unternehmen oft stark verankert. Häufig wird dabei im Sinne einer „Heldenkultur“ erwartet, Projekte mit Überstunden zu „retten“ oder in der Freizeit zu arbeiten. Diese Art der Arbeitskultur führt zu Entgrenzung, da sie implizit voraussetzt, dass die Beschäftigten rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Neben den daraus resultierenden grundlegenden Gesundheitsrisiken ist dies mit Sorgeverpflichtungen gegenüber Familie, Kinder oder pflegebedürftigen Angehörigen nicht vereinbar, die nach wie vor mehrheitlich bei Frauen liegen.

Neue, innovative Arbeitsmethoden und -tools, die häufig in der Digitalbranche eingesetzt werden, wie beispielsweise das agile Arbeiten und die Kommunikation über unternehmensinterne, digitale Plattformen, stellen sich oft als zweischneidiges Schwert heraus. Diese suggerieren flachere Hierarchien und teamorientiertes Arbeiten bei höherer Produktivität. Agile Methoden setzen Flexibilität und das gemeinsame Tragen von Verantwortung für die Arbeitsergebnisse ins Zentrum. Die Fokussierung auf Kommunikationsdynamiken, Transparenz und weniger hierarchische Strukturierung im Team eröffnet zunächst Möglichkeiten, um bestehende Ungleichheiten aufzubrechen. Doch werden auch hier Geschlechterstereotype weitergetragen und schlagen sich zum Beispiel darin nieder, dass Frauen häufiger Verantwortung für soziale und kommunikativ anspruchsvolle Aufgaben, wie etwa das Fördern des Teamgeistes oder das Schaffen einer kommunikativen, konstruktiven Arbeitsatmosphäre, zugeschrieben werden und sie dafür weniger Anerkennung erhalten als Männer, die dieselben Rollen übernehmen. Auch gehen vermeintlich flache Hierarchien oft mit einer Verschleierung von Ungleichheiten einher, die dann weniger sichtbar werden und somit weniger angreifbar sind.

In der Digitalbranche werden häufig neue, innovative Kommunikationsplattformen eingesetzt, doch diese können ein zweischneidiges Schwert sein. Illustration: Ka Schmitz & Imke Schmidt-Sári ©Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht

Der Dritte Gleichstellungsbericht legt offen, dass Personen, die von Diskriminierung betroffen sind, in Situationen, in denen die Kontrolle nicht zentral durch eine Führungskraft, sondern innerhalb von Gruppendynamiken geschieht, besonders unter Gruppendruck leiden. Ähnliches kann sich auch in der Informalisierung, das heißt mit der Lockerung von Verhaltensstandards, von Kommunikationswegen fortsetzen. In der Digitalbranche werden oft Kommunikationsplattformen eingesetzt, die gleichzeitig Teilhabe- und Kollaborationsfunktionen einnehmen sollen. Wenn organisierte Interessensvertretungen und formelle Mitbestimmungsmöglichkeiten durch scheinbar informelle und „lockere“ Kommunikationswege ersetzt werden, verringert sich die Teilhabe von bereits marginalisierten Personen im Unternehmen. Bestehende Machtverhältnisse verfestigen sich so weiter.

Handlungsempfehlungen: Fix the company, not the women!

Die beschriebenen Faktoren verdeutlichen, welche Hürden Frauen, aber auch andere diskriminierte Gruppen in der Digitalbranche zu überwinden haben. Im Dritten Gleichstellungsbericht fordert die Sachverständigenkommission daher einen Paradigmenwechsel: Vorrangig müssen Arbeits-, Organisations- und Ausbildungskultur geschlechtergerecht gestaltet werden – fix the company; und nicht nur Frauen für den MINT-Bereich und die Digitalbranche ausgebildet werden – fix the women.

Zentrale Aspekte für gleiche Verwirklichungschancen in der Digitalbranche sind der Abbau von Geschlechterstereotypen und die Förderung einer geschlechtergerechten Arbeits- und Organisationskultur. Die Sachverständigenkommission empfiehlt daher folgende Ansatzpunkte und Maßnahmen: Neben der Verstetigung und Ausweitung bestehender MINT-Förderprogramme auf die frühe Bildung, sollte auch die MINT-Bildung mit Genderkompetenzen und Diskriminierungssensibilität verknüpft werden. So kann bei allen Schüler*innen, Auszubildenden und Studierenden ein Bewusstsein für entsprechende Perspektiven und Thematiken gefördert werden.

Der Appell des Dritten Gleichstellungsberichts: Fix the company, not the women! Illustration: Ka Schmitz & Imke Schmidt-Sári ©Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht

Auch in Unternehmen sollten entsprechende Kompetenzen in die Fortbildungen und die Umsetzung von agilen Methoden einfließen. So könnte es beispielsweise zusätzliche Verantwortlichkeiten in Form eines im Team verorteten „Gender- und Diversity-Master“  geben oder ein Modul mit diesem Fokus in die Zertifizierungslehrgänge zu agilen Methoden eingeführt werden. Diese Aspekte sollten jedoch nicht nur auf arbeitsorganisatorischer Ebene, sondern auch in der Technikentwicklung selbst mitgedacht werden. Partizipative Technikentwicklungsansätze können hier einen wichtigen Beitrag leisten, damit betriebliche Mitbestimmung und Beschwerdewege nicht durch unternehmensinterne digitale Plattformen ersetzt werden. Bei der Einführung entsprechender Kommunikationsanwendungen sollte die Belegschaft miteinbezogen werden, um diskriminierungskritische Perspektiven einbeziehen zu können. In diesem Bereich mangelt es bislang an Forschung; die Schließung dieser Lücke wäre wünschenswert.

All diese Schritte können dabei helfen, das Studienfach Informatik und die Digitalbranche zugänglicher für interessierte und qualifizierte Frauen zu machen und darüber hinaus das Ziel zu verfolgen, diese Frauen der Branche auch langfristig als Fachpersonal zu erhalten und damit die Fachkulturen nachhaltig zu ändern. Sie sind zudem darüber hinaus notwendig, um einer Verstetigung und Reproduktion bestehender Diskriminierungen durch die Einschreibung in die in der Digitalbranche entwickelten Produkte entgegenzusteuern.

Veranstaltungshinweis: Politischer Talk „Gleichstellungspolitische Strukturen und Instrumente in der Digitalpolitik“

Am 20. September 2022, 14:00 -18:00h, findet ein Politischer Talk zum Dritten Gleichstellungsbericht am Harriet Taylor Mill-Institut für Ökonomie und Geschlechterforschung (HTMI) der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR) statt. Unter anderem werden Prof. Dr. Aysel Yollu-Tok, Direktorin des HTMI und Vorsitzende der Sachverständigenkommission für den Dritten Gleichstellungsbericht, Daniela Kluckert, Parlamentarische Staatssekretärin Bundesministerium für Digitales und Verkehr, und Lisi Maier, Co-Direktorin Bundestiftung für Gleichstellung, über die Gestaltung einer geschlechtergerechten Digitalisierung diskutieren.

Johanna Fuchs, studentische Mitarbeiterin der Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht und Studentin des MA Gender, Intersektionalität und Politik am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität.

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