Rückblick: Kinder, Corona, Karriereknick?

Unvereinbarkeiten von Wissenschaft und Care-Arbeit in der Pandemie – Drei Jahre nach Beginn des ersten Lockdowns in Deutschland blicken wir mit den Videostatements unserer digitalen Podiumsdiskussion vom April 2021 zurück auf die erschwerten Arbeits- und Lebensbedingungen von Hochschulangehörigen mit Care-Aufgaben in der Corona-Krise.

„Schulen und Kitas stellen in Berlin ab kommender Woche stufenweise den Betrieb ein. Mit dieser Maßnahme soll eine weitere Ausbreitung des Coronavirus verhindert werden,“ meldete der Rundfunk Berlin-Brandenburg in seinem Online-Nachrichtenportal am 13. März 2020. „Die Maßnahmen sollen vorerst bis zum Ende der Osterferien am 19. April gelten.“ In kurzer Zeit wird das öffentliche Leben massiv eingeschränkt, um die Pandemie einzudämmen: Weite Teile des Einzelhandels, Kultur- und Freizeiteinrichtungen müssen ebenso schließen wie Hochschulen; Veranstaltungen und Versammlungen werden bis auf wenige Ausnahmen untersagt. Bundesweite Kontaktverbote und Abstandregeln treten in Kraft.

Der erste Lockdown

Geschlossene Kitas, geschlossene Schulen, gesperrte Spielplätze, Home-Schooling, Home-Office, Mehrbelastung durch digitale Lehre, weniger Zeit zum Forschen und Schreiben: Die Lockdowns ab März 2020 trafen Hochschulmitglieder mit Betreuungsaufgaben besonders hart. Das war auch an der Freien Universität zu merken. Nicht selten verschwanden Studentinnen und Mitarbeiterinnen mit Care-Aufgaben wortwörtlich von der Bildfläche.

Mit der digitalen Podiumsdiskussion Kinder, Corona, Karriereknick? gab das Team Zentrale Frauenbeauftragte in Kooperation mit der Vizepräsidentin für Gleichstellung betroffenen Hochschulmitgliedern ein öffentliches Forum und brachte sie ins Gespräch mit hochschulpolitischen Akteur*innen der FU: der Hochschulleitung, Gremienvertreterinnen und Gleichstellungsakteurinnen. Mit der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung eröffnete eine Expertin die Veranstaltung. Jutta Allmendinger hatte schon früh vor den Auswirkungen der Corona-Krise auf Wissenschaftlerinnen mit Care-Aufgaben gewarnt.

Gut ein Jahr nach dem ersten Lockdown beschrieben Angehörige verschiedener Statusgruppen in der zweistündigen Veranstaltung ihren Spagat zwischen Studium, Beruf, Forschung und Familienaufgaben. Anschließend diskutierten die Podiumsbeteiligten, was die Universität tun kann, um der Benachteiligung von Wissenschaftler*innen mit Care-Aufgaben in der Corona-Krise entgegenzuwirken und deren Studien- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Zentral war die Frage, wie Geschlechtergerechtigkeit unter Pandemiebedingungen hergestellt werden kann.

Mit diesem Beitrag veröffentlichen wir neben kurzen Zusammenfassungen alle neun Videostatements der Podiumsgäste von 2021 sowie ein Resümee der Moderatorin Nina Lawrenz, die bis Juni 2022 Stellvertreterin der zentralen Frauenbeauftragten war.

Pandemie verstärkt bestehende Ungleichheitsverhältnisse

Vizepräsidentin Prof. Dr. Blechinger-Talcott, zuständig für Gleichstellung, betont in ihrer Begrüßung die Relevanz der Vereinbarkeit von Familienaufgaben mit Studium und wissenschaftlicher Arbeit. Dabei verweist sie auf den Forschungsstand, demzufolge die Pandemie bestehende Ungleichheitsverhältnisse verstärkt. Die Publikationsleistungen von Wissenschaftler*innen mit und ohne Familienaufgaben differierten stark aufgrund von Pflege- und Betreuungsaufgaben.

Statement von Prof. Dr. Verena Blechinger-Talcott

Dieser Publication Gap, so Blechinger-Talcott, müsse zukünftig berücksichtigt werden, um zu verhindern, dass Ausschlussmechanismen entstehen, die wissenschaftliche Karrieren von Frauen langfristig benachteiligen.

Abgänge von Frauen aus der Wissenschaft zu erwarten

Die Soziologin Prof. Dr. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, blickt in ihrem Input auf Geschlechterasymmetrien in der Wissenschaft vor der Pandemie, die sich nach deren Ausbruch zuungunsten von Wissenschaftlerinnen verstärkt haben. Einzelne Aspekte der Pandemie, etwa der mangelnde Zugang zu Laboren, habe Wissenschaftlerinnen besonders benachteiligt. Zugleich hätten Frauen viel Zeit und Engagement für die Umstellung auf Online-Lehre aufgewendet.

Statement von Prof. Dr. Jutta Allmendinger

Ohne zusätzliche Sicherheiten und Maßnahmen seien mehr Abgänge von Frauen aus der Wissenschaft zu erwarten. Allmendinger appelliert an die Hochschulleitung, für zusätzliches Personal, Ruheräume und mehr freie Forschungszeit für Eltern zu sorgen.

Die Wissenschaft kennt kein Später

Dr. Tessa Camenzind, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Biologie, Chemie und Pharmazie, schildert ihre Erfahrungen als Postdoc und Mutter im Home-Office. Dabei betont sie besonders den Zeitverlust in der Forschung, den Wissenschaftler*innen mit Familienaufgaben kaum ausgleichen können – nicht während und nicht nach der Pandemie.

Statement von Dr. Tessa Camenzind

Es gibt kein Später in der Wissenschaft, da Postdoc-Stellen immer befristet sind und dadurch ein hoher Druck entsteht, so Camenzinds Fazit. Entlastungen wie zusätzliche personelle Unterstützung im Labor wären nach ihrer Einschätzung eine Möglichkeit, um auch Studierenden, die ihre Jobs in der Gastronomie, bei Kultureinrichtungen oder als Babysitter verloren haben, eine alternative Einkommensquelle an der FU zu bieten.

Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse aufhalten

Der Präsident der Freien Universität, Prof. Dr. Günter M. Ziegler, mahnte in seinem Redebeitrag an, eine Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse aufzuhalten. Es sei wichtig, Karriereknicks oder -enden aufgrund von Care-Arbeit in der Pandemie auszugleichen bzw. zu verhindern.

Statement von Prof. Dr. Günter M. Ziegler


Für eine faire Einzelfallbeurteilung unter Berücksichtigung von Gender Care Gaps und Gender Time Gaps spricht der Präsident sich ebenso aus wie für ein grundsätzliches Nachdenken darüber, welche Rahmenbedingungen für das Arbeiten geschaffen werden können, z.B. durch flexible Arbeitszeiten und Home-Office-Regelungen.

Studieren in Zeiten von geschlossenen Kitas und Bibliotheken

Sandra Berke, Studentin im Master Medien und politische Kommunikation und Mutter, betont die Schwierigkeit, Studium und Care-Aufgaben zu vereinbaren. Mit den geschlossenen Bibliotheken im Lockdown sei auch der Raum für ruhiges, ungestörtes Arbeiten, besonders in Prüfungszeiten, genommen worden.

Statement von Sandra Berke

Die Verlängerung von Abgabefristen erscheint ihr nicht mehr hilfreich, wenn diese Arbeiten mit in die nächste Vorlesungszeit genommen werden müssen und der Berg von offenen Hausarbeiten immer größer wird.

Ruhige Arbeitsräume finanzieren

Prof. Dr. Doris Kolesch, Sprecherin eines Sonderforschungsbereichs sowie des Frauenrates, plädiert eingangs für einen Kulturwandel hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Verteilung von Care-Arbeit. Ein gesellschaftliches Problem, das durch die Pandemie verschärft werde, dürfe nicht weiter individualisiert werden.

Statement von Prof. Dr. Doris Kolesch

Für Wissenschaftlerinnen sei es wichtig, auch Räume außerhalb der Wohnung zu schaffen, da die private Wohnung nicht nur Stütze, sondern auch Teil des Problems sein könne. Eine Möglichkeit sieht sie in der Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln, um Hotelräume oder Workspaces in der Nähe der eigenen Wohnung zu mieten, in denen in Ruhe gearbeitet werden kann.

Home-Office: bitte nicht nur in Pandemiezeiten

Dr. Cynthia Heiner, Postdoc und bis September 2022 Projektkoordinatorin des MINToring-Programms, freut sich auf die Rückkehr ins Büro, um den Kopf wieder frei zu bekommen. Trotz aller Erschwernisse hat sie das Home-Office auch schätzen gelernt und möchte es als Möglichkeit erhalten wissen, die mehr Flexibilität erlaubt.

Statement von Dr. Cynthia Heiner

Heiner wünscht sich eine Anerkennung der Corona-Zeit in ihrem Lebenslauf vergleichbar der Elternzeit, da ihr ein Jahr für Forschung und Vernetzung fehlt. Mit Nachdruck weist sie darauf hin, dass eine potenzialorientierte Personalauswahl als Konsequenz aus der Pandemie nicht nur Wissenschaftlerinnen mit Betreuungsaufgaben zugutekommen könnte, sondern auch BIPoC (Black, Indigenous and People of Color), die sich im Wissenschaftssystem regelmäßig mehr beweisen müssen als andere.

Abschluss- und Übergangsstipendien als finanzielle Hilfen

Katharina Schmidt, wissenschaftliche Mitarbeiterin, bis Juli 2022 Frauenbeauftragte am FB Erziehungswissenschaft und Psychologie, nachfolgend Stellvertreterin der zentralen Frauenbeauftragten, blickt auf die Erschöpfungszustände von Kolleg*innen. Sie sorgt sich, dass Kolleg*innen mit Care-Aufgaben an Burnouts leiden werden, wenn der Druck nachlässt.

Statement von Katharina Schmidt

Flexible finanzielle Hilfen ebenso wie Abschluss- und Übergangsstipendien sieht sie als geeignete Unterstützungsmaßnahmen. Auch eine veränderte Beratungsstruktur wäre sinnvoll, um Eltern, die sehr eingebunden sind, asynchrone Beratungs- und Betreuungsangebote anbieten zu können.

Nicht vereinbar: Befristung und Sorgeverantwortung

Dr. Anette Simonis, Vertreterin der akademischen Mitarbeiter*innen im Kuratorium, weist auf das strukturelle Problem befristeter Verträge hin. Sie plädiert dafür, Möglichkeiten der pandemiebedingten Vertragsverlängerung an der FU pauschal umzusetzen, statt eine individuelle Antragstellung zu verlangen. Auch die familienpolitische Komponente im Wissenschaftszeitvertragsgesetz sollte bestmöglich genutzt werden, um Wissenschaftler*innen mit Pflege- und Betreuungszeiten Verlängerungen zu gewähren. Darüber hinaus benötigten auch Drittmittelbeschäftigte Überbrückungsfinanzierungen, für die DFG-Gleichstellungsmittel eingesetzt werden könnten.

Statement von Dr. Anette Simonis

Auf der praktischen Ebene wäre ein Tutorienprogramm aus Simonis‘ Sicht eine große Hilfe. Studentische Hilfskräfte könnten in Laboren mitarbeiten und Literaturrecherchen übernehmen. Für Wissenschaftlerinnen würde das den Zeitaufwand reduzieren und ihnen so ermöglichen, ihre Forschung weiterzuführen.

Resümee

Nina Lawrenz, bis Mitte 2022 Stellvertreterin der zentralen Frauenbeauftragten, unterstreicht die Notwendigkeit kurz-, mittel- und langfristiger Ziele. Sie resümiert die genannten konkreten Maßnahmen: im Lockdown zusätzliche Räume schaffen, studentische Mitarbeiter*innen als Unterstützung für Wissenschaftler*innen mit Familienaufgaben zur Verfügung stellen, Lehrreduktion und Stellenverlängerungen gewährleisten.

Resümee von Nina Lawrenz

Längerfristig sieht Lawrenz die Herausforderung, eine geschlechter- und familiengerechte Hochschule in postpandemischen Zeiten zu gestalten, die die Potenziale von Wissenschaftler*innen mit Care-Aufgaben wertschätzt.

Unter dem Titel Vereinbarkeit vertagt? rekapitulierten wir die Podiumsdiskussion im Oktober 2021 und wiesen auf den anhaltenden Mangel an Maßnahmen zum Nachteilsausgleich an der FU hin. Im Februar 2023 nahmen wir die Fäden von 2021 in einer weiteren Podiumsdiskussion auf und fragten nach der Publikationsbremse Pandemie: Wissenschaftliche Karrieren durch Care-Arbeit vor dem Aus?


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