Zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse am Sonntag ist Liao Yiwu mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Der chinesische Schriftsteller nahm die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung in der Frankfurter Paulskirche entgegen. Die Laudatio auf ihn hielt die deutsche Journalistin und Schriftstellerin Felicitas von Lovenberg. Liao liefere „einen ernüchternden und verstörenden Blick auf das moderne China“, so von Lovenberg, und lobte sein Werk als „Literatur-verdichtete Oral History Chinas“. Er schildere Hunger, Schmerz, Angst oder Einsamkeit aus bitterster eigener Erfahrung und müsste nichts hinzudichten oder übertreiben, so von Lovenberg.
Unendlich großer „Müllhaufen“
Liao Yiwu selbst erinnerte in seiner Preisrede unter anderem wiederholt an das Tian’anmen-Massaker von 1989, den Bau der chinesischen Mauer sowie Mao Zedongs berüchtigte Kulturrevolution mit Millionen Toten. „Wir sind keine Dichter mehr, wir sind Zeugen der Geschichte.“, zitierte Liao Yiwu einen Dichter, den er im Jahr 1989 nach dem Massaker getroffen hatte. Seitdem hätte die Verelendung zugenommen. Die Menschen würden immer weiter abstumpfen, konträr zum stetigen wirtschaftlichen Aufschwung in China. „Mit jedem Todesstoß steigen die Bilanzen der Wirtschaft […] Die Henker triumphieren, weil das ganze Land zu ihrem Sklaven geworden ist.“, so Liao Yiwu über das heutige Profitdenken in seiner Heimat. Das chinesische Großreich, „dieser unendlich große Müllhaufen“ müsse auseinander brechen, so der Preisträger, der zum Abschluss das Klagelied der betroffenen Mütter des Tian’anmen-Massakers aufführte.
Der Sohn eines während der chinesischen Kulturrevolution verfolgten Intellektuellen wurde 1958 in der Provinzhauptstadt Sichuan geboren und wuchs unter ärmlichen Bedingungen auf. Obwohl Liao Yiwu der Universitätsbesuch verweigert wurde, gelang dem wortgewandten Dichter in den 1970er-Jahren mit seiner Lyrik der Aufstieg zum Staatsschriftsteller. Aufgrund seines westlichen Schreibstils kritisch von der Regierung beäugt, zog er sich den Zorn des Regimes 1990 durch sein episches Gedicht Massaker zu. In diesem verurteilte er das im Jahr zuvor begangene Tian’anmen-Massaker.
Vom Dichter zum Reportageschriftsteller
Ab den 1990er Jahren wandelte sich Liao Yiwu als politischer Häftling zum Reportageschriftsteller und beschrieb in dem spät veröffentlichten Buch Für ein Lied und hundert Lieder (2011) die Einzelschicksale von Mithäftlingen (vormerkbar in der Universitätsbibliothek). Von der Kritik mit Paul Celans Gedicht Todesfuge verglichen, hatte er es dreimal neu schreiben müssen, da das Manuskript mehrfach durch chinesische Behörden beschlagnahmt worden war. Internationale Bekanntheit erlangte er durch Fräulein Hallo und der Bauernkaiser (2008), in dem Liao Yiwu Interviews mit „Chinas Gesellschaft von unten“, wie Wanderarbeitern, Kloputzern, Bauern, Prostituierten oder auch politischen Flüchtlingen aus seiner Heimatregion sammelte (ausleihbar in der Sozialwissenschaftlichen Bibliothek). Im Juli 2011 reiste der prominente Regimekritiker eigenen Angaben zufolge legal aus China aus und lebt seither im deutschen Exil.
Vor der Preisverleihung kritisierte Liao Yiwu in einem Interview mit Spiegel Online die diesjährige Zuerkennung des Literaturnobelpreises an seinen Landsmann Mo Yan. Er sei „fassungslos“ über die Auszeichnung für den „Staatsdichter“. Liaos Freunde in China würden sich fragen, „ob sich der Westen als Verlängerung, als Erweiterung des chinesischen Systems“ verstehe. Bereits zuvor hatte der bekannte Künstler Ai Weiwei Kritik über die Nobelpreisvergabe an Mo Yan geäußert (vgl. Zeit Online).