Der Börsenverein des deutschen Buchhandels hat die sechs nominierten Romane, die sogenannten „Shortlist“, für den Deutschen Buchpreis bekanntgegeben. Erst seit 2005 verliehen, gilt die mit insgesamt 37.500 Euro dotierte Auszeichnung als deutsche Antwort auf den französischen Prix Goncourt oder den britischen Booker Prize.
Aus 20 mach‘ 6
Die Jury um Sprecherin Katja Gasser (Österreichischer Rundfunk), Silke Behl (Radio Bremen), Mara Delius (Die Welt), Christian Dunker (autorenbuchhandlung berlin), Maria Gazzetti (Casa di Goethe, Rom), Tobias Lehmkuhl (freier Kritiker, Berlin) und Lothar Schröder (Rheinische Post) haben insgesamt 200 Titel gesichtet, die zwischen Oktober 2016 und dem 12. September 2017 erschienen sind. Nachdem sie im letzten Monat die „Longlist“ mit 20 Titeln präsentierten, wetteifern nur noch sechs Autoren – vier Deutsche und zwei Österreicher – um die Auszeichnung:
Der ausgebildete Buchhändler und versierte Lyriker Gerhard Falkner stellt in seinem zweiten Roman Romeo oder Julia (in Erwerbung) einen Schriftsteller in den Mittelpunkt, der mit seltsamen Geschehnissen konfrontiert wird – jemand dringt in sein Hotelzimmer in Innsbruck ein, nimmt ein Schaumbad und hinterlässt absichtlich Spuren. In Madrid wird eine tote Frau vor seinem Zimmerfenster gefunden. Der Grund scheint in der Vergangenheit des Autors zu liegen.
Der Österreicher Franzobel nimmt sich in Das Floß der Medusa der wahren Geschichte einer französischen Fregatte an, die 1816 an der westafrikanischen Küste auf Grund läuft. Für 147 Überlebende wird ein Floß gebaut, das den Kontakt zu den Rettungsbooten verliert und manövrierunfähig zwei Wochen auf dem Ozean treibt. Aus der Sicht des Küchenjungen Victor wird vom Überlebenskampf berichtet – nur 15 Menschen entkommen dem Tod auf dem Meer. Die Tragödie führte zu einem Regierungsskandal und inspirierte auch mehrere Künstler. Bekanntestes Werk ist das großformatige Louvre-Gemälde Le Radeau de la Méduse von Théodore Géricault (1819).
Der studierte Naturwissenschaftler Thomas Lehr hat vor seiner Autorenkarriere bis 1999 als EDV-Spezialist für unser Bibliothekssystem gearbeitet und im Sommersemester 2011 die Heiner Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der FU übertragen bekommen. Sein Roman Schlafende Sonne (in Bearbeitung) spannt den Bogen vom Ersten Weltkrieg bis ins Berlin des Jahres 2011 und wird zu den stilistisch anspruchsvollsten Kandidaten gezählt. Im Mittelpunkt stehen historische Katastrophen und die privaten Verwicklungen dreier Menschen.
Robert Menasses Satire Die Hauptstadt (in Erwerbung) wird von der Kritik als weltweit erster EU-Roman betitelt (vgl. Zeit Online). Beamte der Kulturabteilung sollen das Image der EU-Kommission zu deren Geburtstag aufpolieren und setzen auf ein „Big Jubilee Project“-Event mit KZ-Überlebenden in Auschwitz. Die Lebensgeschichten der handelnden Personen führen in sechs EU-Länder mit eingebauten Krimi-Plot.
Marion Poschmann schickt in ihrem leichten Roman Die Kieferninseln (in Erwerbung) ihre Hauptfigur, einen Privatdozenten und betrogenen Ehemann, auf eine Pilgerreise nach Japan. Doch bevor diese Reise beginnt, trifft er auf einen suizidalen japanischen Studenten.
Einzige Debütantin im Feld ist die in Russland geborene Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann. In Außer sich (vormerkbar) folgt die Hausautorin des Maxim Gorki Theaters einem Zwillingspaar, das erst in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der Postsowjetjahre und dann in einem Asylbewerberheim in der westdeutschen Provinz aufwächst. Salzmann hat für ihr Romandebüt zuvor den mit 15.000 Euro dotieren Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung gewonnen. Die Jury würdigte das Werk als „gewagte wie gelungene Gratwanderung zwischen kulturellen und geschlechtlichen Identitäten“ und als „ein facettenreiches Generationspanorama von der Sowjetunion im 20. Jahrhundert bis ins Europa der Gegenwart“.
Alle Romane verbinden laut Jury ein „Kühnes Denken“ und die „Idee Europa“: „Allen gemeinsam ist das Bewusstsein, dass ernsthaftes literarisches Tun immer auch ein Brechen mit herrschenden Ordnungen im Sprechen, Denken und Fühlen bedeutet. Thematisch ist es die Frage danach, wer ‚wir‘ sind und wer ‚wir‘ sein wollen, die viele der Texte zusammenhält – womit auch Europa auf den Plan kommt“, so Katja Gasser in der offiziellen Pressemitteilung (PDF-Datei). Nicht auf die Shortlist schaffte es u. a. die frühere FU-Studentin Julia Wolf (Walter Nowak bleibt liegen), Sven Regener mit der Wiederauferstehung seines Kulthelden Herrn Lehmann (Wiener Straße) sowie der von vielen Kritikern favorisierte Ingo Schulze mit seiner Kapitalismus-Komödie Peter Holtz.
Die sechs Finalisten im Überblick
(UPDATE: 22.09.17 – verfügbare Titel sind verlinkt und mehrheitlich in der Philologischen Bibliothek vorhanden):
- Gerhard Falkner: Romeo oder Julia (Berlin Verlag, September 2017)
- Franzobel: Das Floß der Medusa (Paul Zsolnay, Januar 2017)
- Thomas Lehr: Schlafende Sonne (Carl Hanser, August 2017)
- Robert Menasse: Die Hauptstadt (Suhrkamp, September 2017)
- Marion Poschmann: Die Kieferninseln (Suhrkamp, September 2017)
- Sasha Marianna Salzmann: Außer sich (Suhrkamp, September 2017)
Die Preisverleihung findet zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse am 9. Oktober 2017 im Kaisersaal des Frankfurter Römers statt.
Zwar ist die kostenfreie App mit Artikelanfängen seit 2014 passé, aber über detektor.fm lassen sich nach und nach kostenfrei Auszüge aus den nominierten Romanen anhören (auch als App verfügbar). Wer nicht darauf warten will, findet auf der Webseite des Buchpreises unter den jeweiligen Romanprofilen alle bereits freigeschalteten Hörproben (zwischen 8-11 Minuten lang).