Diesen Samstag feiert Wikipedia seinen zehnten Geburtstag. Die englischsprachige Version des beliebten Mitmach-Lexikons ging am 15. Januar 2001 online. Ursprünglich als Enzylopädie mit herkömmlichen Peer-Review-Verfahren („Nupedia“) von dem Internetunternehmer Jimmy „Jimbo“ Wales und Philosophie-Doktoranden Larry Sanger gegründet, gilt Wikipedia heute als eines der Internet-Vorzeigeprojekte. Der Name ist ein Kofferwort und setzt sich aus dem hawaiianischen „wiki“ für „schnell“ und „encyclopedia“ zusammen.
Es existieren über 260 Sprachversionen mit mehr als 16,9 Mio. Artikeln. Die größte ist die englischsprachige Version mit über 3,5 Mio. Artikeln. Auf Platz zwei, etwas weiter abgeschlagen, steht die deutschsprachige Wikipedia mit fast 1,2 Mio. Artikeln. Neben der hohen Anzahl an potentiellen Mitwirkenden ist dies auch strengeren Aufnahmekriterien geschuldet, die man unter „Wikipedia:Relevanzkriterien“ nachlesen kann. Täglich wächst die deutsche Sprachfassung um ca. 430 Beiträge an.
Trotz immer wieder aufkommender Meinungsverschiedenheiten und Kritik an dem Projekt, einen herzlichen Glückwunsch und Dank an die Autoren-Community, die ihre Arbeit unentgeltlich zur Verfügung stellt. Auch im Bibliotheksalltag ist das freie Mitmachlexikon mitunter einer der ersten Anlaufpunkte.
Zum Jubiläum konnte unser Blog Martin Rulsch für ein Interview gewinnen. Seit mehr als fünf Jahren engagiert sich der FU-Student für das Mitmach-Lexikon und hat uns via E-Mail Rede und Antwort gestanden.
Danke für das Bild an WikiCommons!
biblioblog: Wie bist Du das erste Mal auf Wikipedia aufmerksam geworden? Was ist Deine Motivation?
Martin Rulsch: Ich kann mich nicht mehr richtig daran erinnern, wie ich auf die Wikipedia aufmerksam wurde, vermutlich bin ich wie viele andere auch über die früh bei Suchmaschinen genannten Verlinkungen dazu gekommen. Meine erste Bearbeitung habe ich gemacht, als im Artikel meiner damaligen Lieblingsband ein anderer Benutzer die Lieder des neu erschienen Albums ergänzte. Mir war da nicht schlüssig, wieso dies nicht auch für die anderen Alben gelten sollte. Nachdem ich sie ergänzt hatte, war das Verhältnis von Artikelinhalt zu Songliste so unangemessen, dass ein weiterer Benutzer meine Änderung zurücksetzte und mich darauf hinwies, dass ich doch eher Einzelartikel für die Alben anlegen sollte. So meldete ich mich in der Wikipedia an und schrieb die Artikel zu den Alben der Band.
Seitdem ich mich immer mehr in das Projekt eingearbeitet habe, erscheint mir die Idee der Sammlung und Verbreitung von belegten Fakten für andere Personen als ein sehr sinnvolles Hobby. So kann ich auf dem Gebiet, das mich interessiert, durch die Lektüre von Fachliteratur und die Gewichtung und Präsentation selbiger nicht nur mich selbst weiterbilden, sondern auch jemandem, der nicht die Zeit hat, sich durch diese Lektüre zu arbeiten, einen möglichst guten Überblick geben. Dieser Mensch hat dann die Möglichkeit, sich in das gewünschte Thema einzuarbeiten und aus der angegebenen Literatur weitere Informationen für entweder seine Interessen oder seine Verpflichtungen zu erlangen.
bb: Welche Themengebiete bzw. Aufgaben übernimmst Du?
M. R.: Gemäß meiner zuvor angegebenen Motivation gehören zu meinen Themengebieten meine Interessensgebiete. Diese sind fast deckungsgleich mit dem, was ich studiere: Klassische Altertumswissenschaften. Zwar habe ich noch nicht so viele Artikel auf diesem Gebiet geschrieben, dafür meist sehr ausführlich recherchierte und auch so ausführlich dargestellte Beiträge. Dies ist nicht nur durch die knappe Zeit bedingt, die einem Studium, Engagement in der Fachschaftsiniative des Institutes für Griechische und Lateinische Philologie und ähnliches lassen, sondern auch durch mein sonstiges Engagement in der deutschsprachigen Wikipedia. Neben der Betreuung von Neulingen beantworte ich E-Mails, die Nutzer an die Wikipedia stellen, berate fortgeschrittene Wikipedianer, organisiere Veranstaltungen und andere Treffen, schreibe Softwareerweiterungen zum einfacheren Nutzen der Wikipedia, gehe aktiv gegen Unsinn vor, der in Artikel der Wikipedia hereingetragen wird, setze mich für die Einhaltung von Datenschutz und Privatssphäre ein und arbeite viel im Bereich der Verwaltung und internationalen Koordination der verschiedenen Projekte des Betreibers der Wikipedia, der Wikimedia Foundation mit Sitz in den U.S.A.
bb: Wie sieht Deine Recherche bei einem neuen Artikel aus? Welche Informationsmittel nutzt Du häufig?
M. R.: Mein Ziel bei der Recherche von Artikeln ist es, den Forschungsstand möglichst breit und neutral darzustellen. Dazu ist es in meinen Augen nötig, so viel Literatur wie möglich zum gewählten Thema zu sammeln und die Ansichten sortiert nebeneinander zu stellen. Dabei habe ich bisher auch einige Male meinen Zugang zu FU-Datenbanken und dort vor allem die elektronisch verfügbaren Zeitschriften, die Fachenzyklopädie Der Neue Pauly und bibliographische Datenbanken wie Gnomon und L’Année philologique genutzt. Sehr häufig sind aber die von mir maßgeblich verfassten Artikel durch Aktivitäten in der Freien Universität Berlin entstanden. So flossen die in einem Hauptseminar für ein Referat und anschließendes Essay gesammelten Informationen in einen Artikel über die „Verfassungsdebatte bei Herodot“. Die Literaturrecherche und -präsentation im Artikel über die mythologische Gestalt des „Laokoon“ dienten mir dann für die eigenen Forschungen im Rahmen meiner Bachelorarbeit.
bb: Kritiker bemängeln den rauen Umgangston unter den Benutzern. Welche Tipps würdest Du Neueinsteigern mit auf den Weg geben?
M. R.: Dem zum Teil raue Umgangston in der Wikipedia kann man zu einem gewissen größeren Teil aus dem Weg gehen. Als Neueinsteiger ist es empfehlenswert, sich einen privaten Ansprechpartner im Rahmen eines Mentorenprogrammes zu suchen. Dieser gibt einem dann nicht nur Tipps zum Verfassen von Artikeln und zum Verstehen des Wikipedia-Universums, sondern hilft auch, genau solchen Konfliktfeldern aus dem Weg zu gehen. So ist es nicht sinnvoll, selbst einen aggressiven Stil an den Tag zu legen und von der eigenen Kenntniss allzu überzeugt zu sein. Oftmals kennen sich Benutzer auf dem einen oder anderen Gebiet besser aus, haben eine sinnvollere Anregung oder besseren Argumente. Auch sollte man Konfliktherden wie allzu aktuellen, umstrittenen, politischen, religiösen oder esoterischen Themen erstmal aus den Weg gehen, wenn man nicht durch starke Worte verschreckt werden will. Auch im Bereich hinter der Artikelarbeit, so namentlich einer Seite, in der für Behalten oder Löschen eines Artikels argumentiert werden kann, kann gerade beim neuen Lesen der Anschein erweckt werden, dass manche Mitarbeiter nicht immer die angemessene Wortwahl treffen. Oftmals liegt dies aber auch am wikipediainternen Jargon. In all diesen Fällen sollte man sicher aber dennoch vor Augen führen, dass die meisten Benutzer der Wikipedia das Interesse haben, diese innerhalb der eigenen Regularien diese voranzubringen.
bb: In den USA ist gerade ein Ambassador-Programm gestartet, das darum bemüht ist, Professoren und Studenten für den Artikelbestand zu gewinnen. Ist ein ähnliches Projekt auch für den deutschsprachigen Raum geplant?
M. R.: Das Ambassador-Programm ist vom ehemaligen zweiten Vorsitzenden des Fördervereins der deutschsprachigen Wikipedia, ihrer Schwesterprojekte und des Gedankens des Freien Wissens, Wikimedia Deutschland, und aktuellen Mitarbeiter der Wikimedia Foundation, dem Betreiber der Projekte, initiiert worden. Ideen zog er dabei unter anderem aus dem Mentorenprogramm der deutschsprachigen Wikipedia. Sein erklärtes Ziel ist es, dieses Modell international zu etablieren. Daran ist auch Wikimedia Deutschland interessiert, das zurzeit zwei eigene Projekte, allerdings zur Förderung älterer Personen und zur Aufklärung über der Wikipedia im Kreise von Schülern und Lehrer, betreibt. Ansätze für ähnliche Vertrauensdozenten werden zurzeit diskutiert; hier hofft man natürlich auch auf die Kooperation mit den Hochschulen.
bb: Wie begehst Du das 10. Jubiläum und was erhoffst Du Dir in den kommenden Jahren vom Mitmach-Lexikon?
M. R.: Am 15. Januar, dem Namenstag des englischsprachigen Enzyklopädieprojektes auf Wikibasis als Wikipedia, verbringe ich mit ungefähr 200 anderen Interessierten in der Homebase Lounge in Berlin. Zur gleichen Zeit finden in ganz Deutschland Stammtische statt, mit denen gemeinsam über Videoschalten kommuniziert werden soll. Mit weiteren Überraschungen während der Feier in Berlin ist noch zu rechnen. Für die folgenden Jahre wünsche ich mir eine weitere Steigerung der Qualität der Artikel, vor allem der Überblicksthemen, eine noch bessere Kooperation und Partizipation von Experten der verschiedenen Wissensbereiche und vor allem viel Freude beim gemeinschaftlichen Arbeiten unter dem Gedanken der Verbreitung Freien Wissens.
Martin Rulsch ist Student im Masterstudiengang Klassische Philologie an der Freien Universität Berlin.
„Wikipedia-Splitter“
Erster Artikel: Polymerase-Kettenreaktion (Ursprungsversion vom 12. Mai 2001)
Millionster Artikel: Ernie Wasson
Längster Artikel: Handball-Weltmeisterschaft_2011/Kader (ca. 86 DINA4-Seiten)
Kürzester Artikel: Sphinktermanometrie (186 Byte)
– Wikipedia:Pressespiegel/Jubiläum – Pressespiegel zum Wikipedia-Geburtstag
– Wikipedia:Kuriositätenkabinett – Auflistung von Artikeln zu ungewöhnlichen, kuriosen oder witzigen Themen
Natürlich sind wir auch an Euren Meinungen interessiert. Welche Erfahrungen konntet Ihr mit Wikipedia sammeln?