Bild: Preisträgerin 2020 – Anne Weber (Bildquelle: vntr.media)
Kurz vor Beginn einer zu Pandemiezeiten digital veranstalteten Frankfurter Buchmesse ist am Montag im Frankfurter Römer der Deutsche Buchpreis für den besten „Roman des Jahres“ verliehen worden. Hatte 2019 noch Saša Stanišić mit seinem autofiktionalen Bestseller Herkunft die Nase vorn, ging die Auszeichnung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels nun an Annette, ein Heldinnenepos von Anne Weber.
Damit hat die Buchpreisjury um die Literaturredakteure Katharina Borchardt (SWR2), David Hugendick (Zeit Online) und Felix Stephan (Süddeutsche Zeitung) wohl das eigenwilligste Werk der Shortlist den Vorzug gegeben. Weber schildert auf knapp 200 Seiten in Versform das Leben der Medizinerin und Widerstandskämpferin Anne („Annette“) Beaumanoir. Die 1923 geborene Französin kämpfte während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance und rettete zwei jüdischen Jugendlichen in Paris das Leben. Mitte der 1950er-Jahre während des Algerienkriegs ergriff Beaumanoir Partei für die Nationale Befreiungsfront und entkam mit der Flucht aus Frankreich einer Gefängnisstrafe. Weber habe laut Buchpreisjury einen „Roman über Mut, Widerstandskraft und den Kampf um Freiheit“ verfasst und der alten Form des Epos Frische und Leichtigkeit zurückgegeben (siehe auch Leseprobe bei book2look.com).
Die 1964 in Offenbach geborene Anne Weber lebt seit 1983 in Paris, wo sie an der Sorbonne französische Literatur und Komparatistik studiert hat. Von 1989 bis 1996 arbeitete sie für verschiedene französische Verlage und übersetzte Autoren wie Jakob Arjouni, Marguerite Duras, Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino oder Erich Maria Remarque ins Deutsche bzw. Französische. Seit 1998 veröffentlicht sie eigene Werke und übte sich stets im Erproben neuer literarischer Formen. Für ihren märchenhaften „Roman im Roman“ Luft und Liebe (2010) und die rätselhafte Schelmengeschichte und Heiligenlegende Kirio (2017) war sie jeweils für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden.
Die 20 Nominierten im Überblick
(verfügbare Titel sind verlinkt und für FU-Angehörige über die Philologische Bibliothek in die Campusbibliothek bestellbar):
Shortlist:
- Bov Bjerg, Serpentinen (Claassen, Januar 2020)
- Dorothee Elmiger, Aus der Zuckerfabrik (Carl Hanser, August 2020)
- Thomas Hettche, Herzfaden (Kiepenheuer & Witsch, September 2020)
- Deniz Ohde, Streulicht (Suhrkamp, August 2020) – auch als VÖBB-Onleihe
- Anne Weber, Annette, ein Heldinnenepos (Matthes & Seitz Berlin, Februar 2020)
- Christine Wunnicke, Die Dame mit der bemalten Hand (Berenberg, August 2020)
Longlist:
- Helena Adler, Die Infantin trägt den Scheitel links (Jung und Jung, Februar 2020) – auch als VÖBB-Onleihe
- Birgit Birnbacher, Ich an meiner Seite (Paul Zsolnay, März 2020) – auch als VÖBB-Onleihe
- Arno Camenisch, Goldene Jahre (Engeler, Mai 2020)
- Roman Ehrlich, Malé (S. Fischer, September 2020)
- Valerie Fritsch, Herzklappen von Johnson & Johnson (Suhrkamp, Februar 2020) – auch als VÖBB-Onleihe
- Charles Lewinsky, Der Halbbart (Diogenes, August 2020) – auch als VÖBB-Onleihe
- Leif Randt, Allegro Pastell (Kiepenheuer & Witsch, März 2020)
- Stephan Roiss, Triceratops (Kremayr & Scheriau, August 2020)
- Robert Seethaler, Der letzte Satz (Hanser Berlin, August 2020)
- Eva Sichelschmidt, Bis wieder einer weint (Rowohlt Hundert Augen, Januar 2020)
- Olivia Wenzel, 1000 Serpentinen Angst (S. Fischer, März 2020)
- Frank Witzel, Inniger Schiffbruch (Matthes & Seitz Berlin, Februar 2020)
- Iris Wolff, Die Unschärfe der Welt (Klett-Cotta, August 2020)
- Jens Wonneberger, Mission Pflaumenbaum (Müry Salzmann, Oktober 2019)
Das Jahr der Frauen
Mit Webers Sieg blickt man auf ein außergewöhnliches Jahr zurück, in dem die wichtigsten deutschen Literaturpreise beinahe ausnahmslos an Frauen verliehen wurden:
– Nora Bossong (Joseph-Breitbach-Preis, Thomas-Mann-Preis)
– Elke Erb (Georg-Büchner-Preis)
– Ute Frevert (Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa)
– Iris Radisch (Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay)
– Rachel Salamander (Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf)
– Helga Schubert (Ingeborg-Bachmann-Preis für Vom Aufstehen)
– Ljudmila Ulitzkaja (Siegfried Lenz Preis)
Einzig der Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik ging mit Lutz Seiler (Stern 111) an einen männlichen Kollegen. Aber auch international sorgten Schriftstellerinnen wie die US-amerikanische Dichterin Louise Glück (Nobelpreis für Literatur) und die junge niederländische Romandebütantin Marieke Lucas Rijneveld (International Booker Prize für The Discomfort of Evening / dt. Was man sät) für Aufsehen. Und die Literaturpreissaison ist noch nicht beendet – am 8. November folgt die Vergabe des Schweizer Buchpreises, am 9. November des Österreichischen Buchpreises, am 10. November der französische Prix Goncourt, am 18. November der US-amerikanische National Book Award und am 19. November der britische Booker Prize. Man darf gespannt sein, ob sich der Siegeszug der Autorinnen auch international fortsetzt. In Österreich und im Vereinigten Königreich dominieren erneut Autorinnen die Shortlists.
Danke für die Mitarbeit am Posting an Mehmet Altin (Azubi zum Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste in der Philologischen Bibliothek)